Noam Chomsky
Anmerkungen zum Anarchismus (1973)
In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb ein dem Anarchismus nahestehender Autor, der „Anarchismus habe einen breiten Rücken und sei geduldig wie Papier“, und er schließt damit nachdrücklich jene ein, deren Taten auch „von einem Todfeind des Anarchismus nicht übertroffen werden könnten“. [1]
Es gab schon immer viele Denk- und Handlungsweisen, die man dem Anarchismus zuschrieb. Es wäre aussichtslos, zu versuchen, alle diese widersprüchlichen Tendenzen einer generellen Theorie oder Ideologie zuzuordnen. Selbst wenn wir daran gingen, aus der Geschichte des libertären Denkens eine sich lebendig entwickelnde Tradition herauszulesen, wie es der französische Autor Daniel Guerin in seinem Buch „Anarchismus“ [2] tut, bliebe es noch schwierig, diese Meinung zur spezifischen und bestimmenden Theorie für Gesellschaft und gesellschaftliche Veränderung zu machen.
Befreiung der Gesellschaft vom Staat
Der deutsche Anarchosyndikalist und Historiker Rudolf Rocker stellt in seinem Buch „Anarchosyndikalismus“ ein systematisches Konzept der Entwicklung des anarchistischen Denkens in Richtung auf den Anarchosyndikalismus dar. Ähnlich wie es in Guerins Werk geschieht. Er schrieb, dass der Anarchismus „.., kein festes, in sich geschlossenes System darstellt, sondern eher einen bestimmten ‚Trend in der Menschheitsgeschichte‘, welcher in Gegnerschaft zu der intellektuellen Bevormundung, durch kirchliche und administrative Einrichtungen nach freier und unbehinderter Entfaltung aller individuellen und gesellschaftlichen Kräfte im Dasein strebt. Selbst Freiheit ist nur ein relativer und kein absoluter Begriff, da er die stete Tendenz hat, sich auszuweiten und auf mannigfaltige Weise immer größere Kreise zu ziehen. Für die Anarchisten ist Freiheit kein abstrakter philosophischer Wert, sondern die lebensnotwendige und konkrete Möglichkeit, die jeder Mensch hat, um all seine Kräfte, Fähigkeiten und Talente, wie sie ihm von Natur her verliehen sind, zu voller Entfaltung zu bringen und sie für die Gesellschaft gewinnbringend zu machen. Je weniger diese natürliche Entwicklung des Menschen von kirchlicher und politischer Bevormundung beeinträchtigt ist, desto tüchtiger und harmonischer kann die menschliche Persönlichkeit werden und Maßstab der geistigen Kultur der Gesellschaft sein, in der sie aufgewachsen ist“. [3]
Man könnte fragen, was für ein Sinn darin liegt, „einen bestimmten Trend in der historischen Entwicklung der Menschheit“ zu verfolgen, welcher keine spezifische und detaillierte gesellschaftliche Theorie artikuliert. Und in der tat weisen viele Kritiker den Anarchismus als Utopie zurück, als etwas Formloses, Primitives und etwas, was mit den Realitäten nicht vereinbar ist. Man könnte aber auch anders argumentieren: Nämlich das es unser Anliegen sein muss, innerhalb jeder Phase der Geschichte jene Form von Autorität und Unterdrückung bloßzustellen, die noch aus einer Ära herrühren, wo sie Berechtigung gehabt haben könnten aus tatsächlichen Erfordernissen der Sicherheit, des bloßen Überlebens oder der Ökonomischen Fortentwicklung, jetzt aber eher zum materiellen und kulturellen Niedergang beitragen, anstatt ihn zu beheben. Wenn dem so ist, dann kann es auch keine Lehre von einer Gesellschaftsveränderung, geben, die mit Zuverlässigkeit auf die Gegenwart und die Zukunft anwendbar ist, und letztlich auch kein spezifisches und unveränderbares Konzept für das Ziel der Veränderung der Gesellschaft. Sicher ist unser Verständnis von der menschlichen Natur und auf dem Gebiet praktikabler Gesellschaftsformen noch so lückenhaft, dass wir jeder einflussreichen Lehre mit großer Skepsis entgegentreten müssen, so wie Skepsis auch dann angebracht ist, wenn wir zu hören bekommen, dass die „menschliche Natur“ oder die „Erfordernisse des Fortschritts“ oder die „Komplexität des modernen Lebens“ diese oder jene Form von Unterdrückung oder autokratischer Herrschaft verlangen. Nichtsdestoweniger ist zu bestimmten Zeiten Grund vorhanden, soweit es unser Verständnis der Dinge zulässt – eine spezifische Erkenntnis dieses „bestimmten Trends in der historischen Entwicklung der Menschheit“ zu entwickeln, den gegenwärtigen Aufgaben angemessen. Für Rocker ist das Problem, das unserer Zeit gesetzt ist, jenes: Den Menschen von dem Fluch der Ökonomischen Ausbeutung und der politischen und gesellschaftlichen Versklavung zu befreien, wobei die Methode weder Okkupation und Ausübung staatlicher Macht, noch die des völlig wirkungslosen Parlamentarismus sein kann; es geht ihm vielmehr darum, die Ökonomische Existenz der Menschen von Grund auf zu erneuern und sie im Geist des Sozialismus aufzubauen.
„Jedoch sind nur die Produzierenden selbst für diese Aufgabe geeignet, da sie allein das einzig wertschaffende Element in der Gesellschaft sind, aus dem eine neue Zukunft erstehen kann. Ihre Aufgabe muss es demnach sein, die Arbeit von all den Fesseln zu befreien, welche die Ökonomische Ausbeutung ihr angelegt hat, um die Gesellschaft von allen Institutionen und allen Arten politischer Machtausübung zu erlösen, sowie den Weg zu einem Bündnis freier Gruppen von Männern und Frauen zu öffnen, welches auf Kooperation und geplanter Regelung, aller Angelegenheiten für Interesse der Gemeinschaft beruht. Die werktätigen Massen in Stadt und Land auf dieses große Ziel vorzubereiten und sie zu einer militanten Macht zusammenschweißen ist das Ziel des modernen Anarchosyndikalismus und eben darin liegt sein ganzer Sinn.“ [4]
Als Sozialist würde es Rocker nie hinnehmen, „dass die echte, endgültige und vollkommene Befreiung der Arbeiter nur unter der einen Bedingung möglich sei: Nämlich lediglich durch die Aneignung von Kapital, das soll heißen, von Rohstoffen und sämtlichen Arbeitsmitteln – einschließlich des Bodens – durch die Masse der Arbeitenden“ (Bakunin). Als Anarchosyndikalist besteht er außerdem darauf, dass die Arbeiterorganisationen „nicht nur die Ideen, sondern auch die Fakten der Zukunft schaffen“ (Bakunin) und zwar schon in der vorrevolutionären Periode, dass sie in sich selbst die Struktur der zukünftigen Gesellschaft verkörpern, – und in seiner Vorstellung nimmt er bereits jene Soziale Revolution vorweg, welche sowohl den Staatsapparat entlarven, als auch die Enteigner enteignen wird: Was wir an die Steile der Regierung setzen, ist die industrielle Organisation.
„Die Syndikalisten sind der Überzeugung, dass die Organisation einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsbeschlüsse und Dekrete geregelt werden kann, sondern nur durch den Zusammenschluss aller Kopf- und Handarbeiter in jedem besonderen Produktionszweig: Durch die Übernahme der Verwaltung jedes einzelnen Betriebes durch die Produzenten selbst und zwar in der Form dass die einzelnen Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbstständige Glieder des allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die aufgrund gegenseitiger und freier Vereinbarungen die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung im Interesse der Allgemeinheit planmäßig gestalten“. [5]
Rocker arbeitete auch während der Spanischen Revolution an seinen Werken, als solche Ideen auf dramatische Weise in die Praxis umgesetzt wurden. Unmittelbar vor dem Ausbruch der Revolution hatte der Anarchosyndikalist und Ökonom Diego Abad de Santillàn geschrieben: „... wenn man sich mit dem Problem der Transformation der Gesellschaft befasst, kann die Revolution unmöglich den Staat noch als ein geeignetes Mittel ansehen, sondern muss sich auf die Organisation der Produzenten selbst verlassen. Wir sind diesem Modell gefolgt und wir sehen keine Notwendigkeit für die Hypothese, dass der organisierten Arbeiterschaft noch eine staatliche Macht übergeordnet sein müsste als Voraussetzung für eine Neuordnung. Wir wären jedem dankbar, der uns beweisen könnte, welche Funktion – wenn überhaupt – der Staat innerhalb einer wirtschaftlichen Organisation haben kann, in der das Privateigentum abgeschafft ist und in der Parasitentum und Sonderprivilegien keinen Platz mehr haben. Die Beseitigung der Staatsgewalt darf keine halbe Sache sein; es ist die Aufgabe der Revolution, mit dem Staat ein Ende zu machen. Entweder gibt die Revolution den gesellschaftlichen Reichtum an die eigentlichen Produzenten zurück – wobei diese sich um einer angemessenen kollektiven Verteilung willen organisieren – und damit erübrigt sich der Staat, oder die Revolution verweigert den Werktätigen den gesellschaftlichen Reichtum: In diesem Fall wäre die Revolution zur Lüge geworden und der Staat würde weiterexistieren. Unser föderalistischer Wirtschaftsrat ist keine politische Macht, sondern eine ökonomische und administrativ regulierende Instanz. Sie erhält ihre Anweisungen von unten und operiert in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der regionalen und nationalen Gesetzgeber. Sie ist weiter nichts als ein Bindeglied“. [6]
Friedrich Engels drückte in einem Brief 1883 seinen Unwillen über diese Konzeption aus: „Die Anarchisten stellen die Sache auf den Kopf. Sie erklären, die proletarische Revolution müsse damit anfangen, dass sie die politische Organisation des Staates abschafft. Aber die einzige Organisation, die das Proletariat nach seinem Sieg fertig vorfindet, ist eben der Staat... Aber diesen in einem solchen Augenblick zerstören, das hieße den einzigen Organismus zerstören, vermittels dessen das siegende Proletariat seine eben eroberte Macht geltend machen, seine kapitalistischen Gegner niederhalten und diejenige ökonomische Revolution der Gesellschaft durchsetzen kann, ohne die der ganze Sieg enden müsste in einer neuen Niederlage und in einer Massenabschlachtung der Arbeiter, ähnlich derjenigen nach der Pariser Kommune“. [7]
Im Gegensatz dazu warnten die Anarchisten – ihnen voran Bakunin – vor den Gefahren der „Roten Bürokratie“, welche sich als die „schamloseste und schrecklichste Lüge erweisen würde, die unser Jahrhundert je hervorgebracht hat“. Der Anarchosyndikalist Fernand Pelloutier fragte: ‚Muss denn auch noch die Übergangsregierung, der wir uns notwendiger- und fatalerweise zu unterwerfen haben, ein kollektives Gefängnis sein? Kann sie nicht als freie Organisation bestehen, die ausschließlich durch die Notwendigkeiten der Produktion und Konsumption begrenzt ist, und in der alle politischen Institutionen abgeschafft sind?“ [8]
Ich behaupte nicht, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Aber es ist klar, dass – falls es keine, Antwort gibt – die Chancen für eine echte, demokratische Revolution, welche die humanistischen Ideale der Linken verwirklicht nicht sehr groß sind. Martin Buber skizzierte das Problem kurz und bündig, wenn er schreibt: „Hinsichtlich der Natur der Dinge kann man von einem kleinen Baum, der in einen Prügel verwandelt worden ist, nicht erwarten, dass er Blätter treibt“. Die Frage, ob Okkupation oder ob Zerstörung der Staatsmacht, ist diejenige, die Bakunin als Kernproblem betrachtete, und an der er und Marx sich entzweiten. [9]
In dieser oder ähnlicher Form ist während des Jahrhunderts das Problem wiederholt aufgetaucht und hat immer wieder eine Spaltung von libertären und autoritären Sozialisten verursacht. Trotz Bakunins Warnungen vor der roten Bürokratie und ihrer Verwirklichung unter Stalins Diktatur würde es offensichtlich ein grober Irrtum sein, wenn man die Streitigkeiten des vorigen Jahrhunderts dahingehend interpretieren wollte, dass man nun den Ansprüchen zeitgenössischer sozialer Strömungen hinsichtlich ihres historischen Ursprungs vertrauen sollte. Insbesondere wäre es pervers, den Bolschewismus bereits als praktizierten Marxismus zu betrachten. Da trifft viel eher die linksradikale Kritik am Bolschewismus zu, welche die historischen Umstände der Russischen Revolution mit in Betracht zieht. [10]
„Der linke, anti- bolschewistische Flügel der Arbeiterbewegung kritisierte die Leninisten, weil sie den Umbruch in Russland nicht genügend für streng proletarische Ziele ausgenützt hätten. Sie seien Gefangene der Umstände geblieben und benutzten die internationale revolutionäre Bewegung für die spezifischen Bedürfnisse der Sowjetunion, die bald mit den Bedürfnissen des bolschewistischen Einparteienstaates identisch wurden. Die bürgerlichen Aspekte der russischen Revolution wurden hier im Bolschewismus selbst entdeckt: Der Leninismus weiche von der internationalen Sozialdemokratie nur in taktischen Fragen ab“. [11]
Wenn es jemand darauf abgesehen haben sollte, einen einheitlichen Leitgedanken innerhalb der anarchistischen Tradition zu suchen, dann wäre das meiner Meinung nach jener – was Bakunin ausdrückt, wenn er über die Pariser Kommune schreibt und sich folgendermaßen damit identifiziert: „Ich bin ein leidenschaftlicher Liebhaber der Freiheit, die ich für das einzige Milieu halte, in welchem die Intelligenz, die Würde und das Glück der Menschen sich entwickeln und wachsen können; – nicht jener formellen, vom Staat aufgezwungenen, zugemessenen und reglementierten Freiheit, vom Staat der ewigen Lüge, die in Wirklichkeit nie etwas anderes vertritt als das Vorrecht Einzelner, gegründet auf die Sklaverei anderer; – nicht jener individualistischen, egoistischen, kleinlichen und fiktiven Freiheit, welche die Schute J.J. Rousseaus und alte anderen Schulen des Bourgeoiseliberalismus lobpreisen und welche das sogenannte Recht Aller, das der Staat vertritt, als Grenze des Rechts jedes Einzelnen betrachtet, was notwendigerweise immer das Recht des Einzelnen auf Null reduziert. Nein, ich verstehe darunter die einzige dieses Namens wahrhaft würdige Freiheit, diejenige, welche in der vollen Entwicklung alter materiellen, geistigen und moralischen Kräfte besteht, die im Zustand schlummernder Fähigkeiten jedem zu eigen sind, die Freiheit, die keine anderen Beschränkungen kennt als die von den Gesetzen unserer eigenen – Natur vorgeschriebenen, so dass es genaugenommen keine Beschränkungen sind, da diese Gesetze uns nicht von einem äußeren Gesetzgeber auferlegt sind, der neben oder über uns existiert, – sie sind uns innewohnend und eigen, sie bilden die Grundtage unseres Wesens, des materiellen wie des intellektuellen und moralischen; statt also in ihnen eine Grenze zu sehen, müssen wir sie als die wahren Bedingungen und die tatsächliche Ursache unserer Freiheit betrachten“. [12]
Diese Ideen stammen aus der Aufklärung. Sie haben ihre Wurzeln in Rousseaus „Discours sur lòrigine et les fondements de linègalitè parmi les hommes „, in Humboldts „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ und in Kants konsequenter Verteidigung der Französischen Revolution, wonach Freiheit die Vorraussetzung der Erwerbung der Reife zur Freiheit ist und nicht ein Geschenk, das verlieben wird, wenn diese Reife erreicht ist. [13]
Seit Beginn der Entwicklung zum industriellen Kapitalismus, einem neuen unvorhergesehen System der Ungerechtigkeit, war es der liberale Sozialismus, welcher die radikale humanistische Botschaft der Aufklärung und die klassischen liberalen Ideen bewahrt und weitergetragen hat, die aber bald in eine Ideologie zur Aufrechterhaltung der neuaufstrebenden gesellschaftlichen Ordnung, pervertiert wurde. Tatsächlich sind aufgrund eben derselben Überlegung, die den klassischen Liberalismus dazu geführt hatte, sich dem Eingriff des Staates in das gesellschaftliche Dasein zu widersetzen, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus so unerträglich geworden. So wendete sich z.B. Humboldt in einer Arbeit, in welcher er Mill vorwegnimmt und ihn möglicherweise auch inspiriert, gegen alle staatlichen Eingriffe, weil der Staat dazu neige, den Menschen zu einem Instrument zu machen, das nur seinen, d.h. den unrechtmäßigen Absichten des Staates diene, wobei dieser sich über die individuelle Bestimmung des Menschen hinwegsetze... Alles was nicht dem freien Willen des Menschen entspringe, so erklärt Humboldt, werde auch nicht in dessen wirkliches Sein eintreten und bleibe seiner Natur fremd. Der Mensch werde sich folglich nicht mit seiner ganzen Kräften dafür einsetzen, sondern nur mechanisch handeln. Unter wirklich freiheitlichen Bedingungen könnten alle Kleinbauern und alle Handwerker zu wahren Künstlern werden, d.h. alle Menschen – wenn sie nur immer ihre Tätigkeit um ihrer selbst willen ausübten – könnten sich dank eigener gestalterischer Fähigkeiten und ihres Erfindungsreichtums vervollkommnen. Dabei würden sie Verstand und Charakter immer mehr kultivieren und das Vergnügen an der Sache verfeinern.
Liberalismus und Anarchismus
Wo ein Mensch lediglich auf Autorität und Forderungen von außerhalb reagiert, können wir zwar noch anerkennen, was er tut, aber wir verurteilen was er ist. Humboldt war kein simpler Individualist. Seine Hauptideen fasst er folgendermaßen zusammen: „... wenn sie auch sämtliche gesellschaftliche Fesseln sprengen würden, so würden sie doch auf jede nur mögliche Weise versuchen, zu neuen gesellschaftlichen Bindungen zu finden. Der isolierte Mensch ist auch nicht fähiger, sich zu entwickeln als der gefesselte“. [14]
Dieses klassische Werk liberalen Denkens, das 1792 vollendet wurde, ist in seinem Kern – wenn auch noch frühreif, so doch zutiefst antikapitalistisch. Man müsste wider besseres Wissens viel von seinem Inhalt abstreichen, ehe man es zu einer ideologischen Aussage des industriellen Kapitalismus machen könnte.
Die Vision einer Gesellschaft, in welcher gesellschaftliche Fesseln durch gesellschaftliche Bindungen ersetzt werden und in der die Arbeit befreit ist lässt den frühen Marx [15] vorausahnen in seiner Argumentation über die „Entfremdung der Arbeit (welche eintritt), wenn die Arbeit ihren Zusammenbang mit der Person des Arbeitenden verliert... und nicht mehr Teil seiner Natur ist,... (so dass er sich selbst nicht mehr in ihr bestätigt, sondern verleugnet sieht.. und er sich sowohl physisch als auch geistig erniedrigt erkennt“ – jene entfremdete Arbeit also, welche „den einen in eine barbarische Arbeitsweise zurückwirft und den andern zur Maschine macht“ und dabei den Menschen seines Charakters als Spezies Mensch mit „freier, bewusster Tätigkeit“ und „schöpferischem Sein“ beraubt.
Ähnlich sieht Marx auch den „neuen Typus des menschlichen Wesens, der seinen Mitmenschen auf unentbehrliche Weise braucht... (Die Arbeiterorganisationen) werden zur echten konstruktiven Anstrengung, um das gesellschaftliche Gewebe zukünftiger menschlicher Beziehungen herzustellen‘. [16]
Zwar bekämpft das klassische libertäre Denken jeden staatlichen Eingriff in das gesellschaftliche Leben aufgrund seines stärkeren Anspruchs auf die freiheitliche ungehemmte Entwicklung des Menschen und auf sein Recht auf freie Vereinigung. Vom selben Anspruch her erklären sich aber auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse: Dasjenige von Lohn und Arbeit, das Wettbewerbsprinzip und die Ideologie des auf Besitz ausgerichteten Individualismus. Alle sind sie grundsätzlich gegen den Menschen gerichtet. Der libertäre Sozialismus muss korrekterweise als Erbe der liberalen Ideen der Aufklärung verstanden werden.
Rudolf Rocker beschrieb den modernen Anarchismus als das Zusammenfließen der zwei großen Strömungen von Sozialismus und Liberalismus, welche auf diese Weise während der Französischen Revolution und seither ihren charakteristischen Ausdruck im geistigen Leben Europas gefunden haben. Und er argumentiert dass die klassischen liberalen Ideen an den Realitäten der kapitalistisch-ökonomischen Formen gescheitert wären. Der Anarchismus sei notwendigerweise anti- kapitalistisch dadurch, dass er die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bekämpft. Aber er bekämpfe zugleich die Vorherrschaft des Menschen über den Menschen; er beinhalte ferner, dass der Sozialismus entweder freiheitlich sein oder überhaupt nicht sein wird. In dieser Erkenntnis läge die echte und tiefe Rechtfertigung für das Fortbestehen des Anarchismus. Aus dieser Sicht heraus kann der Anarchismus als der libertäre Flügel des Sozialismus betrachtet werden. Vom gleichen Ansatz her ist Daniel Guèrin in seinem Buch „Anarchismus“ und in anderen Arbeiten an das Studium des Anarchismus herangegangen. [17] Er zitiert Adolph Fischer, welcher sagt, dass jeder Anarchist ein Sozialist sei, aber nicht jeder Sozialist notwendigerweise ein Anarchist. Ähnlich legte Bakunin in seinem „Katechismus der revolutionären Gesellschaft“ von 1865/66, dem Programm seiner geplanten internationalen revolutionären Verbrüderung den Grundsalz fest, dass jedes Mitglied zuallererst einmal Sozialist sein müsse.
Aufhebung der Arbeitsteilung
Ein konsequenter Anarchist müsse gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln und gegen Lohnsklaverei kämpfen, beides seien unabdingbare Komponenten dieses Systems und unvereinbar mit dem Prinzip, dass alle Arbeit aus freien Stücken geschieht und allein der Kontrolle des Produzierenden unterliegt. Oder wie Marx es ausdrückt: Ein Sozialist sieht sich in Erwartung einer zukünftigen Gesellschaft, in welcher die Arbeit „... nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden...“ [18], was unmöglich sei, wenn der Arbeiter statt von innerem Impuls von äußerer Autorität oder Notwendigkeit angetrieben sei: „Keine Art der Lohnarbeit selbst wenn sie im Einzelfall erträglicher wäre, kann das Elend der Lohnarbeit als solche leugnen“. [19] Ein konsequenter Anarchist müsse nicht nur die Entfremdung der Arbeit bekämpfen, sondern auch die Manipulation des Menschen durch die Arbeitsteilung, welche da einsetzt wo die Art und Weise der fortschreitenden Produktion „... den Arteiter in einen Teilmenschen (verstümmeln),... ihn zum Anhängsel der Maschine (entwürdigen),... mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt (vernichten),... ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maß (entfremden), worin letzterem die Wissenschaft als selbstständige Potenz einverleibt wird...“ [20]
Marx sah darin nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Industrialisierung, sondern vielmehr einen Wesenszug der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die zukünftige Gesellschaft muss darauf bedacht sein, ... das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum zu ersetzen, „für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind“. [21]
Die Voraussetzung dafür ist die Abschaffung des Kapitals und der Lohnarbeit (ganz zu schweigen von den industriellen Armeen des „Arbeiter- Staates“ sowie den verschiedenen modernen Formen des Totalitarismus oder des Staatskapitalismus). Die Degradierung des Menschen zu einem bloßen Zubehör der Maschinerie, zu einem Spezialwerkzeug der Produktion könnte aufgrund der fortschreitenden Technologisierung eher überwunden als verstärkt sein, was aber nicht möglich ist unter den Bedingungen der diktatorischen Überwachung der Produktion durch jene, welche den Menschen zu einem Mittel ihrer Zwecke machen und seine individuellen Bedürfnisse missachten.
Die Anarchosyndikalisten waren bestrebt – sogar unter kapitalistischen Verhältnissen-, einen „freien Zusammenschluss von freien Produzenten“ zu schaffen, die sich für einen militanten Kampf aussprachen und sich darauf vorbereiteten, auf demokratischer Basis die Organisierung der Produktion zu übernehmen. Diese Zusammenschlüsse sollten als „praktische Schule des Anarchismus“ dienen. [22]
Wenn – nach Proudhons oft zitiertem Ausspruch – Privateigentum an Produktionsmitteln lediglich eine Form von „Diebstahl“ ist – die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken – [23], dann schafft die Überwachung der Produktion durch eine staatliche Bürokratie, ganz gleich, wie wohlwollend auch immer ihre Bestrebungen sind, eben doch nicht jene Bedingungen, unter welchen die Arbeit – sei sie manuell oder intellektuell – zum erstrebenswertesten Bedürfnis im Dasein wird. Beides muss also überwunden werden.
In seinem Angriff gegen die Berechtigung privater oder bürokratischer Kontrolle der Produktionsmittel nimmt der Anarchist die gleiche Position ein wie jene, welche darum kämpfen, dass die „drille und emanzipatorische Phase der Geschichte“ sich erfüllt: Die erste Phase hatte Sklaven zu Leibeigenen gemacht, die zweite hatte aus den Leibeigenen Lohnarbeiter gemacht, und erst die dritte schafft in einem abschließenden Befreiungsakt das Proletariat ab, welches nunmehr die Kontrolle über die Wirtschaft in die Hände freier und freiwilliger Zusammenschlüsse der eigentlichen Produzenten legt (Fourier, 1848) [24].
Bereits 1848 wurde die der „Zivilisation“ drohende Gefahr durch den aufmerksam beobachtenden Tocqueville bemerkt: „Solange das Recht auf Besitz der Ursprung und die Grundlage vieler anderer Rechte war, war es unschwer zu verteidigen – oder vielmehr wurde es nicht angegriffen; es war somit die Burgfeste der Gesellschaft, während die anderen Rechte ihre Außenbastionen waren. Dieses Recht war nie dem Hauptstoß des Gegners ausgesetzt und tatsächlich gab es auch keinen ernsthaften Versuch, es zu stürzen. Aber heute, wo das Recht auf Besitz als letztes unzerstörtes Überbleibsel aus der Welt der Aristokratie betrachtet werden muss, wo es auf einsamen Posten verlassen dasteht als übriggebliebenes Privileg in einer egalisierten Gesellschaft, da ist das eine andere Sache. Man sollte bedenken, was sich in den Köpfen der Werktätigen ereignet, obgleich ich zugeben muss, dass sie sich so ruhig wie eh und je verhalten. Zwar sind sie, genau gesagt, politisch weniger leidenschaftlich als früher: Aber seht ihr nicht, dass ihre vom Politischen so distanzierten Leidenschaften nunmehr gesellschaftlicher Natur sind? Seht ihr nicht, dass ihre Vorstellungen und Meinungen mehr und mehr unter ihnen Verbreitung finden, wobei als Ziel nicht bloß die Beseitigung dieser oder jener Gesetze, oder eines Ministeriums oder einer Regierung zu gelten bat, sondern der vollkommene Abbruch der Grundfesten der Gesellschaft selbst?“ [25]
Die Pariser Arbeiter durchbrachen 1871 die Stille und gingen daran, „... das Eigentum, die Grundlage aller Zivilisation, abzuschaffen. Jawohl meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt“ [26]
Die Kommune brach bekanntlich blutig zusammen. Der wahre Charakter der „Zivilisation“, wie ihn die Pariser Arbeiter mit ihrem Angriff auf die „eigentlichen Grundlagen der Gesellschaft selbst“ zu besiegen trachteten, wurde noch ein zweites Mal entlarvt, als die Versailler Regierungstruppen Paris gegen die Bevölkerung zurückeroberten. So schildert Marx es, bitter und in aller Genauigkeit: „Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeois-Ordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitterschwangeren Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit dar als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache... Die höllischen Taten der Soldateska (strahlen) den eingeborenen Geist jener Zivilisation (zurück), deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind. – Die Bourgeoisie der ganzen Welt sieht der Massenschlächterei nach der Schlacht wohlgefällig zu, aber sie entsetzt sich über die Entweihung von Dach und Fach“. [27]
Trotz der gewaltsamen Vernichtung der Kommune schrieb Bakunin, dass Paris ein neues Weltalter eröffne, „dasjenige der endgültigen und vollkommenen Befreiung der Volksmassen und das ihrer zukünftigen Solidarität, entgegen und trotz aller staatlichen Einengungen. Die nächste Erhebung der Menschen wird international und in Solidarität aller die Wiedererstehung von Paris sein“ – eine Revolution, auf die die Welt noch immer wartet.
Radikaler Marxismus und konsequenter Anarchismus
Der konsequente Anarchist muss demnach Sozialist sein – aber ein Sozialist besonderer Art. Er wird nicht nur die entfremdete und die spezialisierte Arbeit bekämpfen, und auf die Aneignung des Kapitals durch die gesamte Arbeiterschaft hinarbeiten, sondern er wird konsequent verlangen, dass diese Aneignung eine unvermittelte sei und nicht von einer Elite im Namen des Proletariats durchgeführt wird, d.h.: „Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, sich von der Ausbeutung zu befreien. Dieses Ziel wird und kann nicht durch eine neue Führungsgruppe, welche die Bourgeoisie ersetzt, erreicht werden. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass die Arbeiter selbst Herren über die Produktion werden. „Arbeiter als Herren der Produktion“ drückt an erster Stelle aus, dass in jeder Fabrik, in jedem Unternehmen die Organisation der Arbeit das Werk der Arbeiter sein muss. Anstatt durch einen Direktor und dessen Aufpasser reglementiert zu werden, werden die Produktionsabläufe durch die Gesamtheit der Arbeiter bestimmt. Diese, alle Arbeiter, Spezialisten, Techniker umfassende Gesamtheit also alle die an der Produktion teilnehmen, bestimmt in Versammlungen über alles, was sie bei der gemeinsamen Arbeit betrifft. Diejenigen die eine Arbeit erfolgreich durchführen sollen, müssen auch über sie die Leitung haben, die Verantwortung übernehmen in den Grenzen der Gesamtheit.“ [28]
Dieses Zitat ist entnommen aus den „Fünf Thesen über den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus von dem holländischen linksextremen Marxisten Anton Pannekoek, einer der hervorragendsten Theoretiker der Rätekommunistischen Bewegung. Und in der Tat geht radikaler Marxismus immer einher mit marxistischen Strömungen.
Als weitere Erläuterung wäre die folgende Charakterisierung des „revolutionären Sozialismus“ zu betrachten: „Der revolutionäre Sozialist verneint, dass Staatseigentum zu irgend etwas anderem führen kann als zu bürokratischem Despotismus. Wir haben es erfahren, weshalb der Staat keine demokratische Kontrolle in der Industrie gewährleisten kann. Die Wirtschaft kann nur demokratisch reguliert und demokratisch kontrolliert sein, wenn die Arbeiter in direkter Wahl aus ihren eigenen Reihen industrielle Verwaltungsausschüsse wählen. Der Sozialismus versteht sich grundsätzlich als industrielles System. Seine Wahlbezirke haben Industriecharakter. Daher werden diejenigen, welche die industriellen und gesellschaftlichen Angelegenheiten leiten, unmittelbar in den örtlichen und zentralen Räten der (gesellschaftlichen) Verwaltung vertreten sein. So müssen die Befugnisse dieser Delegierten von unten her, d.h. von denen kommen, welche die Arbeit ausführen und welche die Bedürfnisse der Gesamtheit kennen. Wenn dieses zentrale industrielle Verwaltungskomitee zusammentritt, ist es repräsentativ für die jeweilige Phase gesellschaftlicher Aktivität. Von daher wird also im Sozialismus der kapitalistische Staat – sei er politisch oder geographisch verstanden – durch industrielle Verwaltungskomitees abgelöst. Der Übergang von einem zum anderen Gesellschaftssystem ist die Soziale Revolution. Der politische Staat der ganzen bisherigen Geschichte verstand sich als die Verwaltung von Menschen durch die herrschenden Klassen; die sozialistische Republik bedeutet die Verwaltung der Industrie zu Gunsten der Gesamtheit der Menschen. Der erstere beinhaltete die ökonomische und politische Unterwerfung von Vielen, die letztere bedeutet die ökonomische Freiheit für Alle- und deshalb ist die wirkliche Demokratie.“ [29]
Diese Gedanken von William Paul sind Anfang 1917 geschrieben worden, kurz vor Lenins „Staat und Revolution“ – möglicherweise stellen sie seine freiheitlichste Schrift dar (siehe auch Fußnote 8). Paul war Mitglied der „Marxist – Leonist Socialist Labor Party“ und später einer der Gründer der britischen Kommunistischen Partei. [30]
Seine Kritik am Staatssozialismus ähnelt der libertären Doktrin der Anarchisten in dem Punkt, der besagt, dass die gesellschaftliche Revolution das zum demokratischen Despotismus führende staatliche Eigentum und die staatliche Verwaltung durch eine industrielle Wirtschaftsorganisation ersetzen müsse mit einer direkten Kontrolle durch die Werktätigen. Viele ähnliche Aussagen ließen sich hier noch anführen. Aber weitaus wichtiger ist es, dass diese Ideen bereits in spontanen revolutionären Aktionen verwirklicht worden sind, so z.B. in Deutschland und Italien nach dem ersten Weltkrieg und 1936 in Spanien – besonders in der Industriestadt Barcelona. Man könnte sagen, dass die Form des Rätesystems etwa die natürliche Form des revolutionären Sozialismus in einer Industriegesellschaft darstelle. Darin spiegelt sich die intuitive Erkenntnis wider, dass Demokratie da, wo das industrielle System von irgendeiner Art autokratischer Elite kontrolliert wird, ganz gleich, ob es sich um Privateigentümer, Manager und Technokraten oder um eine „Avantgarde“ – Partei oder die staatliche Bürokratie handelt, meistenteils ein Vorwand ist. Unter solchen Bedingungen autoritärer Herrschaft können die klassischen libertären Ideale, wie Marx und Bakunin und alle anderen wahren Revolutionäre sie weiterentwickelt haben, nicht verwirklicht werden; der Mensch wird dann nicht die Freiheit haben, seine eigenen Möglichkeiten voll zu entwickeln und der Produzierende wird nichts als das „Fragment eines menschlichen Wesens bleiben, er wird degradiert sein, ein Werkzeug des von oben her gelenkten Produktionsprozesses. Der Ausspruch „spontane revolutionäre Aktion“ kann irreführend sein besonders zu einer Zeit, in der nichts als ein loses Gerede von „Spontanität“ und gleicher weise von „Revolution“ stattfindet. Die Anarchosyndikalisten nahmen zumindest Bakunins Bemerkung sehr ernst, dass die „Arbeiterorganisationen nicht nur die Ideen, sondern auch. die Fakten der Zukunft“ schon in der vorrevolutionären Periode erschaffen müssten. Die Errungenschaften der vom spanischen Volk getragenen Revolution lassen sich insbesondere auf die geduldige und jahrelange organisatorische und erzieherische Arbeit zurückzuführen, welche nur eine Komponente einer langen Tradition der Verbundenheit und Kampfbereitschaft ist. Die Resolutionen des Kongresses von Madrid im Juni 1931 und von Saragossa im Mai 1936 kündeten in vielerlei Weise die Taten der Revolution an, wie es schon auf andere Art die Ideen Santillàns (siehe Fußnote 4) in seiner recht einschlägigen Darstellung der sozialen und ökonomischen Verwaltung vorgezeichnet haben, deren Errichtung Aufgabe der Revolution ist.
Guèrin schreibt: „Über die Spanische Revolution gab es in den Köpfen der libertären Denker und auch im öffentlichen Bewusstsein relativ ausgereifte Vorstellungen.“ Und die Arbeiterorganisationen lebten schon ganz für Bewusstsein ihrer Strukturen, ihrer Erfahrung und ihres Einblicks, um die Aufgabe des Neuaufbaues der Gesellschaft übernehmen zu können, als – durch den Francoputsch – die Unruhen des beginnenden Jahres 1936 in eine Gesellschaftsrevolution umschlugen. Der Anarchist Augustin Souchy schreibt in seiner Einleitung zu einer Sammlung von Dokumenten über die Kollektivierung in Spanien: „Seit langen Jahren betrachteten es die spanischen Anarchisten und Syndikalisten als ihre höchste Aufgabe, die Träger der sozialen Umwälzung zu sein. Das Problem wurde in ihren Syndikats- und Gruppenversammlungen, in ihren Zeitschriften, Broschüren und Büchern unaufhörlich und systematisch diskutiert“. [32] All diese Dinge sind Folgen der spontanen Errungenschaften und der konstruktiven Arbeit der Spanischen Revolution.
Die Idee des libertären Sozialismus in dem beschriebenen Sinne, ist in den industriellen Gesellschaften, in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, untergegangen. Die dominanten Ideologien waren die des Staatssozialismus und Staatskapitalismus (der in den USA, aus Gründen die offen auf der Hand liegen, zunehmend militaristische Züge trägt). [33]
In den allerletzten Jahren ist jedoch ein neues Interesse erwacht. Die Thesen von Anton Pannekoek, wie ich sie zitiert habe, sind der kürzlich erschienen Streitschrift einer Gruppe radikaler französischer Arbeiter entnommen (Information Correspondence Ouvriere). Das Zitat aus William Paul über den revolutionären Sozialismus erscheint in einem Papier von Walter Kendall anlässlich der „National Conference on Workers Control“ in Sheffield in England, März 1969. Die „Workers Control Movement“ ist in den letzten paar Jahren zu einer bedeutsamen Kraft in England geworden. Sie hat verschiedene Konferenzen einberufen und eine beträchtliche Literatur an Streitschriften produziert. Sie wählt Anhänger aus ihren Reihen als Vertreter für einige der wichtigsten Gewerkschaften. Zum Beispiel hat die „Amalgated Engineering and Foundryworkers Union“ als offizielle Politik das Programm der Grundindustrien unter „Workers Control at all Levels“ übernommen. [34] Auf dem Kontinent gibt es ähnliche Entwicklungen. Besonders bat der Mai 68 das wachsende Interesse am Rätekommunismus und verwandten Ideen in Frankreich und Deutschland gefördert, und das gilt auch für England.
Wenn man das als durchweg konservativ zu verstehende Ensemble unserer ideologisch festgelegten Gesellschaft als gegeben nimmt, ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Vereinigten Staaten von dieser Entwicklung unberührt geblieben sind. Aber selbst das kann sich ändern. Die Aufweichung der Legende vom Kalten Krieg macht es zumindest möglich, in verhältnismäßig weiten Kreisen diese Frage zu erörtern. Wenn die gegenwärtige Welle der Repression abgeschwächt werden kann, wenn die Linke über ihre eher selbstmörderischen Tendenzen hinwegkommen kann und auf dem aufbaut, was im letzten Jahrzehnt erreicht worden ist, dann kann das Problem, wie eine Industriegesellschaft auf wirklich demokratische Art mit demokratischer Kontrolle des Arbeitsplatzes und der Gemeinden organisiert werden kann, zu einem vorrangigen intellektuellen Ausgangspunkt für diejenigen werden, die den Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft aufgeschlossen gegenüber stehen, und falls sich eine breite Bewegung für einen libertären Sozialismus entwickelt, kann die bloße Spekulation zur Aktion hin fortschreiten. Bakunin sagte in seinem Katechismus 1865 voraus, ein Element der sozialen Revolution werde es sein, „dass intelligente und qualifizierte Teile der Jugendlichen – obgleich sie aufgrund ihrer Geburt zu den privilegierten Klassen gehörten, diejenigen sein werden, die aus freier Überzeugung und von einem enthusiastischen Wunsch erfüllt, sich der Sache der breiten Massen annehmen werden.“
Vielleicht ist in der Studentenbewegung der 60er Jahre der Beginn der Erfüllung dieser Voraussage zu erkennen. In seinem Buch „Anarchismus“ hat Daniel Guèrin aufgegriffen, was er an anderer Stelle als „Rehabilitationsprozess“ beschreibt. Er sagt, er sei überzeugt, dass die konstruktiven Ideen des Anarchismus ihre Lebenskraft zurückerhalten, dass sie, wenn sie überprüft und geläutert seien, das moderne sozialistische Denken in seinem erneuten Aufbruch unterstützen... (und) zur Bereicherung des Marxismus beitragen wird. [35] Was den „breiten Rücken des Anarchismus“ betrifft so habe er dazu aus Gründen sorgfältigerer Untersuchung jene Ideen und Aktionen ausgewählt, die man libertär – sozialistisch nennen kann. Das ist natürlich und gerechtfertigt. Dieses Rahmenwerk bat sowohl Raum für den erfahrenen Wortführer des Anarchismus als auch für jene Massenaktionen, welche in anarchistischen Überzeugungen und Vorstellungen ihren Ursprung haben. Guerin befasst sich nicht nur mit anarchistischer Theorie, sondern auch mit spontanen Aktionen der breiten Massen, welche im Rahmen des revolutionären Kampfes neue soziale Modelle hervorbringen. Er befasst sich sowohl mit gesellschaftlicher als auch mit individueller Kreativität. Darüber hinaus versucht er, aus den positiven Errungenschaften der Vergangenheit Lehren zu ziehen, welche die Theorie der Befreiung der Gesellschaft bereichern. Für all diejenigen, welche die Welt nicht nur interpretieren, sondern verändern wollen, ist das Studium der Geschichte des Anarchismus der angemessenste Weg. Guèrin charakterisiert den Anarchismus des 19. Jahrhunderts als vom Wesen her lehrhaft während das 20. Jahrhundert für die Anarchisten ein Zeitalter revolutionärer Praxis sei. [36] Das vorliegende Werk überprüft dieses Urteil. Seine Interpretation des Anarchismus weist ganz bewusst in die Zukunft. Arthur Rosenberg zeigte einmal auf, dass Volksaufstände auf charakteristische Weise danach trachten, „eine feudale oder zentralistische Gewaltherrschaft“ durch eine Art kommunales System zu ersetzen, welches den „Abbau und die Auflösung der bisherigen Staatsform“ mit sich bringt. Ein solches System wird entweder sozialistisch sein, oder es wird eine „extreme Form der Demokratie...“ darstellen, welche die Vorausbedingung für den Sozialismus ist, insofern als der Sozialismus nur in einer Welt verwirklicht werden kann, die sich des höchstmöglichen Maßes individueller Freiheit erfreut.“ Dieses Ideal ist, wie er bemerkt bezeichnend für Marx und die Anarchisten. Der natürliche Kampf für die Befreiung geht gegen die herrschenden Tendenzen der Zentralisierung des wirtschaftlichen und politischen Lebens an. Vor einem Jahrhundert schrieb Marx, dass die große Masse der Pariser Mittelklasse – Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute – die reichen Kapitalisten allein ausgenommen... fühlte, dass es nur noch eine Wahl gab: Die Kommune oder das Kaisertum, gleichviel unter welchem Namen.
„Das Kaisertum hatte diese Mittelklasse ökonomisch ruiniert durch seine Verschleuderung des öffentlichen Reichtums, durch den von ihm großgezogenen Finanzschwindel, durch seine Beihilfe zur künstlich beschleunigten Zentralisation des Kapitals und die dadurch bedingte Enteignung eines großen Teils dieser Mittelklasse. Es hatte sie politisch unterdrückt sie sittlich entrüstet durch seine Orgien, es hatte ihren Voltairianismus beleidigt durch Überlieferung der Erziehung ihrer Kinder an die unwissenden Brüderlein‘ (Tieres Ignoranlins, siehe Bemerkung 336 im Marxzitat), es halte ihr Nationalgefühl als Franzosen empört, indem er sie kopfüber in einen Krieg stürzte, der für alle die Verwüstung, die er anrichtete, nur einen Ersatz ließ – die Vernichtung des Kaisertums.“ [38] Das miserable Zweite Kaiserreich „war die Regierungsform, die die einzig mögliche zu jener Zeit darstellte, als die Bourgeoisie bereits verloren hatte und die Arbeiterklasse noch nicht die Fähigkeiten besaß, die Nation zu regieren.“
Es ist nicht sehr schwierig, diese Aussagen so umzuformulieren, dass sie auch auf die imperialistischen Systeme von 1970 angewendet werden können. Das Problem der „Befreiung des Menschen von dem Fluch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen und gesellschaftlichen Versklavung“ bleibt das Problem unsere Tage. Solange das so ist, muss die Lehre und revolutionäre Praxis des libertären Sozialismus als Anregung und als Leitfaden dienen.
[1] Ocave Mirbeau Zitat aus: ja mes toll, Die Anarchisten, Ullstem Vlg. L969
[2] erschienen in Suhrkamp Edition, Frankfurt 1969
[3] Rudolf Rocker, Anarchosyndicalism, Secker und Warburg 1938
[4] derselbe
[5] Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung des Svndikalismus, in: Arleiterselbslverwaltung – Räte – Syndikalismus S. 1L, Berlin 1973
[6] „After the Revolution“, New York, Greenberg L937. Im letzten Kapitel, das geschrieben wurde nachdem die Revolution bereits einige Monate andauerte, drückt er sein Unbehagen darüber aus, was in dieser Richtung bisher erreicht wurde. Obgleich dieser Gegenstand noch einer sorgfältigen Überprüfung, bedarf, scheint mir doch, dass die Ergebnisse bis jetzt beeindruckend sind.
[7] Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Engels an van Patten, 18. April 1883, S.433, Dietz Verlag Berlin 1953
[8] Nach JolL Die eigentliche Quelle ist: „L Anarchisme et ]es Syndicats Ouvriers“, Los Temps Nouveaux, 1895. Der gesamte Text ist erschienen in : Daniel Guèrin (Hrsg.:) „Ni Dieu, ni Maitre Lausanne, „Le Citè Editeur“, ohne Datum, eine ausgezeichnete historische Anthologie des Anarchismus
[9] Marx sah die Sache natürlich aus völlig anderer Sicht. Zur Frage der Auswirkung der Pariser Kommune auf diesen Streit vergleiche Daniel Guerins Kommentare in „Ni Dieu, ni Mattre‘“; diese erschienen auch etwas erweitert in seiner Schrift „Tour une Marxisme libertaire“, Robert Laffont, Paris 1969
[10] Zu Lenins „intellektueller Abweichung von der Linken im Jahr L917 vergleiche: Robert Daniels, Das Gewissen der Revolution. Kommunistische Opposition in Sowjetrussland, Kiepenheuer & Witsch
[11] Paul Mattick: Marx und Kevnes, Frankfurt 1971, S. 305
[12] Michael Bakunin: Die Kommune von Paris und der Staatsbegriff, in: Gott und der Staat, S. 193/193, Rowohlt, Texte des Sozialismus und Anarchismus 1969
[13] Bakunins abschließendes Urteil zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur des Individuums als der Bedingung der Freiheit könnte mit jener Auffassung kreativen Denkens verglichen werden, wie es die rationalistische und romantische Tradition entwickelt hat. Vergleiche Noam Chomsky: Cartesianische Linguistik, Niemever, Tübingen 1971 und Sprache und Geist, Suhrkamp, Frankfurt 1970
[14] Neuauflage der Cambridge University Press, in engl. Übersetzung von 1969, hrsg. Und mit einer Einführung von J.W. Burrow
[15] Die Verwandtschaft zu Marx wird schon von Burrosw bemerkt vergleiche auch Chomsky Cartesianische Linguistik s.o.
[16] Shlomo Avineri: „The Social and Political Thought of Karl Marx“, Cambridge 1968, bezieht sich auf Textstellen in der „Heiligen Familie“, L845 Avineri meint, dass innerhalb der sozialistischen Bewegung lediglich der Kibuzzim „erkannt habe, dass‘ die Praktiken und Formen gegenwärtiger sozialer Gruppen die Struktur einer zukünftigen Gesellschaft bestimmen können.“ Dies stellt jedoch eine charakteristische Einstellung des Anarchoyndikalismus dar, wie bereits erwähnt.
[17] Zusätzlich zu den bereits zitierten Arbeiten siehe auch: „Jeunesse du socialisme lilertaire“, Paris, Libraine Marcel Rivière 1959
[18] in: „Kritik des Gothaer Programms‘, zitiert nach Marx/Engels ausgewählte Schriften in 2 Bänden, Band 2, S. 17
[19] „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“, angeführt von Mattick, a.a.o.; vergleiche auch Matticks kürzlich erschienen Essay „Workers Control“ in E. L eng: ‚The New Left‘, Porter-Sargent und Avineri, a.a.o.
[20] Karl klare, Das Kapital Band 1, MEW Band 23, S. 674 Robert Tucker zitiert diese Stelle und er betont mit Recht, dass Marx im Revolutionär eher den „enttäuschten Produzenten“ als den „unbefriedigten Konsumenten“ sieht (Die Marman Revoluhonary Idea). Diese radikalere Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist eine unmittelbare Konsequenz des liberalen Gedankenguts der Aufklärung.
[21] Karl Marx, Das Kapital Band 1, a.a.o., S. 512
[22] Pelloutier, a.a.n.
[23] „Qu est-ce que la Pro prietet „; Marx mißfiel der Satz „ Eigentum ist Diebstahl „, weil er in seiner Anwendung ein logisches Problem sah. Der Begriff Diebstahl setzt die legitime Existenz von Eigentum woraus. Siehe Avineri, a.a.o.
[24] Zitat aus Bubers „Pfade in Utopia“, Hegner Vlg. Köln L961
[25] Zitiert bei: J. Hampden Jackson: Marx, Proudhon and European Socialism, Collier L962
[26] Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Band d, S. 504 und 506
[27] Marx: Bürgerkrieg in Frankreich, Marx/Engels Ausgewählte Schriften Band 1, S. 491, Dieb Vlg. Berlin 1963. Avineri bemerkte, dass diese und andere Kommentare von Marx zur Kommune sich direkt auf Absichten und Pläne beziehen; wie Marx es im übrigen kundtat, war seine wohlüberlegte Einschätzung viel kritischer als in 1‘ u dieser Schrift.
[28] s. Anton Pannekoek: 5 Thesen über den Kampf der Arbeiterklase gegen den Kapitalismus, in: Partei und Revolution, 5. 79, Berlin 1971
[29] William Paul: The State, ist Origin and Function, Glagow, Socialist LabourPress
[30] zur näheren Information, siehe Walter Kendall: The Revolulionary Movement in Britin, Weidenfeld and Nicolson 1969 (3L) siehe Norm Chomsky :Objeklivität und liberales Gelehrtentum, in: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, S. 59 ff., Edition Suhrkamp 1971
[32] Collectivisations i‘ ‚Oeuvre construdive de la Revolution Espagnole, Edition. CNT Toulouse 1965. Erstausgabe Barcelona L937, dt. Ausgabe: Die Soziale Revolution in Spanien. Kollektivierung der Industrie und Landwirtschaft 1936–1939, Berlin 1974
[33] Als Diskussionsgrundlage, siehe: Michael Kidron Western Capitalism seine the War, Weidenfeld and Nicolson 1968
[34] siehe Flug ScanIon: „The Wav Forward for Workers Control“, Institute for Workers Control, Nottingham. Paniplilet Series No. 1, 1968. Scanlon ist der Präsident der AEF. Das Institut wurde als Ergebnis der 6. Konferenz der „Workers Control“ im März 1968 eingerichtet und diente als Zentrum für die Herausgabe von Info Information und unterstützender Forschung.
[35] siehe: Einführung zu „Ni Dieu, ni Maitres‘, a.a.o.
[36] ebd.
[38] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, Marx/Engels, Ausgewählte Schriften Band L, S.492/493, Dietz Verlag Berlin 1970