Titel: Anarcha-Feminismus
Untertitel: Eine Darstellung
Datum: 1977
Quelle: Anarcha-Feminismus, Edition Schwarze Kirsche, Libertad Verlag Berlin, 1979.
Bemerkungen: Originaltitel: "Anarcha-Feminism - Two Statements in: Soil of Liberty", Vol. 1., No. 1, o.J.. Ein Nachdruck dieses Artikels erschien in: Anarchist Review, Vol. 1, No. 3, Cienfuegos Press, 1977. Der deutschen Übersetzung liegt die letztgenannte Ausgabe des Textes zugrunde. Übersetzt von Gisela Kuhlendahl.

Wir fühlen ein großes Bedürfnis, eine anarchafeministische Ideologie zu entwickeln, weil die Verbindung des Anarchismus mit dem Feminismus eine vollkommene Vereinigung von Prinzipien und Idealen wäre. Keine der beiden Lehren würde sich verändern oder gegen die andere verwehren müssen, denn sie entsprechen einander. Beide würden sich durch ihre Integration gegenseitig bereichern.

Da gibt es viel zu lernen, neue Konzepte müssen entwickelt werden, nach denen wir dann auch handeln. Viele Feministinnen suchen nach einem Gerüst, um in diesem die Revolution zu aktualisieren. Der Feminismus alleine beinhaltet für viele Frauen viele Dinge. Allerorts suchen Frauen nach besonderen politischen Ideologien, mit deren Hilfe sie die Verhältnisse angreifen können, die alle Menschen unterdrükken. Aufgrund ihrer Zuneigung zu nicht-hierarchischen Beziehungen, ihrer Vorliebe für Arbeit in kleinen Gruppen und ihrer Fähigkeit, aus der Kraft der Massen einen Nutzen zu ziehen, werden die Feministinnen natürliche Anarchisten genannt. Obwohl dies alles stimmt, ist es an der Zeit, diese Verbindung genauer zu untersuchen. Der Anarchismus kommt ihr am nächsten, da er eine eindeutige Analyse der politischen, ökonomischen und staatlichen Unterdrückung liefert, und er sollte eigentlich aufgrund seines Inhalts den Feminismus mit einschliessen, doch das war bisher nicht der Fall.

Die meisten Anarchisten und Feministinnen sprechen die gleiche Sprache; eine der Aufgaben, die den Anarcha-Feministinnen zukommt, ist, das zu ändern, was im traditionellen anarchistischen Gedankengut dem Feminismus entgegengesetzt ist. Einer der Hauptgründe, warum Anarchismus und Feminismus sich so gut entsprechen, ist, daß beide gesellschaftliche Grundkonzepte sind, die menschlich genug Bewegung und Veränderung fördern, indem sie in ihrer Lehre an die Notwendigkeit der permanenten Revolution erinnern. Die Idee der freien Verbindung, die in beiden Lehren enthalten ist, bietet Frauen und Männern ein Gerüst zur totalen persönlichen, politischen und sozialen Revolution.

Warum Anarchismus? Was bringt der Anarchismus dem Feminismus?

Der Anarchismus basiert auf dem freien Zusammenschluß. Dies bedeutet ein klares Verständnis von Hierarchie und Autorität und deren Funktion zur politischen und ökonomischen Unterdrückung. Der Anarchismus gibt uns eine ökonomische Analyse, er schlägt uns ein Organisationssystem vor und einen möglichen Plan für die revolutionäre Aktion. An dieser Stelle müssen wir darauf hinweisen, daß der Anarchismus, über den wir sprechen, der kommunistische Anarchismus ist, der einzige Anarchismus, der mit unseren feministischen Prinzipien und unserer Geschichte der Zusammenarbeit und der Teilnahme vereinbar ist. Revolution ist ein andauernder Prozeß im anarchistischen Gedankengut. Er nimmt die geistigen, emotionalen und individuellen Aspekte der menschlichen Natur ernst, die auch für den Feminismus grundlegend sind. Der Anarchismus beruht auf der Überzeugung, daß Menschen ungeachtet ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten im Grunde konstruktiv sind, wenn man ihnen nur eine Chance dazu gibt. Der Anarchismus bestärkt das gefühlsmässige Verständnis des Feminismus nach der Notwendigkeit einer Massenbewegung und der Notwendigkeit einer Revolution, die von den Massen getragen und geführt wird, anstelle einer elitären Gruppe von Berufsrevolutionären.

Was bringt der Feminismus dem Anarchismus?

Der revolutionäre Feminismus ist die erste politische Ideologie, die alle Arten der Unterdrückung ablehnt, egal ob sie sich auf Geschlecht, Klasse, Alter, Rasse oder geistige und körperliche Eigenschaften begründet. Da viele Frauen Unterdrückung nicht nur auf sexuellen Gebieten erleiden, sondern auch aufgrund ihrer Klasse und Rasse, haben wir ein Interesse und eine handfeste Basis, um alle unterdrückten Menschen miteinander zu vereinigen. Der Feminismus sieht im Patriarchat, im Kapitalismus und in der Staatlichkeit die Wurzeln aller Unterdrückung. Der Feminismus erkennt, daß alle Arten der Unterdrückung miteinander in Beziehung stehen, daß sich die persönliche, ökonomische und politische Unterdrückung in dem Leben von uns allen manifestiert. Der Feminismus bietet den anarchistischen Männern Aufschluß über ihr maskulines Erbe, welches ihre Emotionen und Ausdrucksfähigkeiten verkrüppelt. Der Feminismus gibt dem Anarchismus den Sinn für das Kreisförmige, für Verbindungen, die das existierende anarchistische Bewußtsein abrunden und vervollkommnen und für die menschlichen Bedürfnisse nach Schönheit, Freude und Ausdruck.

Ziele und Wege

Was meinen wir nun, wenn wir von kommunistischem Anarcha-Feminismus reden? Es sollte betont werden, daß hierbei viele Aspekte wichtig sind. Wir wollen damit beginnen, daß wir über die Einheit von Zielen und Mitteln sprechen. Unter Revolution verstehen wir einen andauernden Prozeß. Die Werte, die wir uns für die Zukunft ersehnen, müssen wir schon heute anwenden. Was wir machen und wie wir es machen, legt fest, was wir einmal erreichen werden. Wir glauben nicht, daß die Menschen zwangsläufig durch eine magische Revolution eine befreite Gesellschaft erlangen werden, sondern wir sind der Meinung, daß diese nur durch die direkte und allgemeine Teilnahme, also bewußt und revolutionär erreicht werden kann.

Individualität und Kollektivität

Als einen Teil unseres Fortschritts verstehen wir die Einheit von Individualität und Kollektivität. Wenn wir von Individualität reden, reden wir nicht über den individualistischen Wettkampf, den die hierarchische Gesellschaft heranzüchtet. Wir reden von der Freiheit der Individuen, sich in alle Richtungen zu entwickeln, auf die ihre Wahl gefallen ist. Diese Freiheit kann durch kollektive oder gemeinsame Arbeit beim Zusammentreffen der individuellen und allgemeinen Bedürfnisse erreicht werden. Durch kollektive Analysen und Rückkoppelungen werden die Individuen ein besseres Verständnis für die Kräfte erlangen, die ihre Persönlichkeit und ihr Leben geformt haben und sie weiterhin beeinflussen. Unsere Vorstellung vom Leben führt direkt zu der Erkenntnis, daß das Persönliche das Politische ist, eine Basis, auf der sich Menschen täglich ihr Vertrauen und ihre Bedürfnisse bestätigen.

Das Persönliche und das Politische

Der Anarcha-Feminismus erkennt die Einheit zwischen dem Persönlichen und dem Politischen. Unsere Analyse muß auf das tägliche Leben angewandt werden — wir müssen unser Leben auf revolutionäre Art und Weise führen. Unsere Art zu denken, zu handeln und die Wirklichkeit wahrzunehmen, muß sich gemeinsam mit der sozialen und ökonomischen Grundlage der Gesellschaft verändern. Mit Hilfe anderer müssen wir uns zu selbstbewußten Individuen entwickeln, wir müssen die Kontrolle über unser Leben und unsere Schwierigkeiten übernehmen und uns selbst von unseren verinnerlichten Hindernissen befreien, die zwischen uns und der Freiheit stehen. Dies setzt eine Haltung gegenüber der Revolution voraus, die ein Verständnis für das Bedürfnis nach Freude und Festivität beinhaltet. Die Erneuerung unserer Energien durch das Spiel und die Feier ist unbedingt notwendig für die Revolution. Unser persönliches Leben ist die Bühne der Revolution. Wir müssen uns immer bewußt sein, daß die Revolution eine soziale ist, und wir müssen uns bemühen, das freiheitliche Ideal zu einem allgemeinen Ideal zu machen.

Kultur

Die Kunst ist vielleicht eines der deutlichsten Beispiele für die Verschmelzung des Persönlichen mit dem Politischen, obwohl diese Verbindung oft mißbraucht oder verschleiert wurde. Kunst ist mehr als nur eine Art Genuß für diejenigen, welche sich daran erfreuen. Für viele ernsthafte revolutionäre Frauen ist die Kunst eine Art, zu leben und zu arbeiten. Der Anarcha-Feminismus sieht in der kulturellen Vielfalt und in der Freiheit der Auswahl wichtige Aspekte einer befreiten Gesellschaft, zu denen wir schon jetzt ermutigen sollten. Im Hintergrund der autoritären Gesellschaft gibt es Erscheinungen kultureller Freiheit, die wir unbedingt erfassen und vorantreiben müssen. Einer dieser Aspekte ist zum Beispiel die Sexualität. Die Freiheit, sich von Schuld unbelastet sexuell und sinnlich zu entwickeln, die Selbstbestimmung darüber, zu wem, wann, wo und wie wir sexuelle Beziehungen eingehen, sind lebenswichtige Aspekte einer befreiten Gesellschaft.

Die feministische Analyse leitet sich aus den Erfahrungen von Frauen in der Kleinfamilie ab, und sie erweitert die anarchistische Analyse der Hierarchie auf die Lebensbereiche des Alltags und der Familie. Wir sehen in der Kleinfamilie die Grundlage der besitzorientierten und autoritären Gesellschaft. Es ist das Merkmal dieser Gesellschaft, daß sie die Energien der Menschen zu konstruktiver und kreativer Arbeit in Kämpfe der Lebenserhaltung umformt. Die Kleinfamilie isoliert Frauen und junge Menschen, und sie unterdrückt ernsthaft die kulturelle, intellektuelle und physische Entwicklung der Jugend. Unser revolutionärer Prozeß sollte daher Alternativen zur Kleinfamilie beinhalten. Alternative Wege müssen gesucht werden, um die Funktionen der Kleinfamilie und die Methoden der Jugendfürsorge zu ersetzen. Das Konzept des Privateigentums, das eng mit der Kleinfamilie verbunden ist, muß zerstört werden und durch das Prinzip ersetzt werden, daß derjenige eine Sache besitzt, der sie auch benutzt. Benutze es oder verliere es, wie meine Mutter immer so schön sagte. Ein Weg, mit der Zerstörung des Privateigentums zu beginnen, ist die nachbarschaftliche und gemeinsame Nutzung bestimmter Werkzeuge (z.B. Harken, Rasenmäher usw.) oder die personelle Aufstellung von Hausreinigungs- oder Schneeräumungs- Brigaden.

Organisation

Der Anarcha-Feminismus ist sich der Notwendigkeit von Organisation bewußt. Es ist wichtig, daß die Organisation freiwillig ist. Mit anderen Worten, die Organisation sollte selbst geschaffen und zweckorientiert sein. Die Organisation darf nicht hierarchisch sein. Keine Person oder Gruppe darf die Kontrolle über andere haben. Eine Methode, um Fortschritte in einer Struktur der Gleichheit zu erzielen, ist der Prozeß von Gruppenentscheidungen. Bedingt durch Übereinstimmung hat jeder Einzelne oder jede Gruppe die gleiche Macht, und wir erkennen, daß die Verbreitung und der Austausch von Informationen eine grundsätzliche Voraussetzung der Übereinstimmung sind.

Das Problem der Führung ist ein wichtiger Diskussionspunkt. Einzelne werden innerhalb einer Gruppe zu „Führern”, indem sie aufgrund ihrer Erfahrung, Persönlichkeit usw. einen Einfluß auf die anderen ausüben. Wenn wir uns über die Einheit von Mitteln und Zielen bewußt sind, verstehen wir, daß es immer Wege gibt, um die Aufteilung der Führung zu erleichtern. Aufgabenwechsel und Aufgabenteüung sind notwendig, um sicher zu gehen, daß nicht die gleichen Leute auch ständig die gleichen Rollen besetzen. Die Einübung von Selbstdisziplin beim Ergreifen von Initiativen ist wichtig. Aufgrund unserer

Besessenheit, was die Leistungsfähigkeit angeht, sind Frauen — und Männer — bisher davon abgehalten worden, eigene Fähigkeiten zu entwickeln. Wegen dieser „Religion der Leistungsfähigkeit” müssen die Anarcha-Feministinnen den Mythos der Führung zerstören, indem sie die „unfähigen” Personen ermuntern, Führungsrollen zu übernehmen, und die aktiv unterstützen. Während wir einerseits Zusammenschlüsse erwarten, die auf dem Geschlecht, der Klasse oder Rasse beruhen, und wir ihre Gründung anregen, erkennen wir aber auch, daß wir es mit einer Bewegüng zu tun haben werden, die gemischt sein wird. Aus diesem Grund haben wir eine Betrachtung der anarcha-feministischen Ideologie vorgenommen, und stellen wir gewisse Erwartungen an die Menschen — speziell an die Männer —, mit denen wir eine Zusammenarbeit eingehen.

Die Menschen müssen ein aktives Verständnis für die Unterdrückungsmechanismen entwickeln, die den meisten ihrer gewohnheitsmäßigen und alltäglichen Standpunkten und Handlungen zugrunde liegen. Wir müssen sogar solche Allerweltsdinge wie Humor, Sprache und Launen untersuchen, die gewöhnlich in allen kräftemäßig ungleichen Beziehungen gegen den Schwächeren benutzt werden — Unternehmer gegen Arbeiter, Mann gegen Frau, starkes Individuum gegen schwaches Individuum. Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Rasse privilegiert oder unterdrückt sind, haben Handlungs- und Denkweisen entwickelt, die mit einer revolutionären Ideologie unvereinbar sind. Wir erwarten ein Verständnis gegenüber der Lebensnotwendigkeit der Erkenntnis, des Ausdrucks und der Erfüllung emotionaler Bedürfnisse, und wir erwarten die Bereitschaft, nach diesen Wahrnehmungen auch zu handeln. Ebenso erwarten und unterstützen wir Zusammenschlüsse mit gleichgesinnten Gruppen von Frauen und Männern, Rassen und Klassen. Dies gibt uns die Möglichkeit, die Ursachen und Formen ihrer Unterdrückung kennen und verstehen zu lernen, sie in ihrem Kampf dagegen zu unterstützen, als auch Unterstützung von ihnen zu erhalten.

Wie wir schon früher sagten, hat der Feminismus bisher intuitiv anarchistische Richtlinien entwickelt. Die Zeit ist gekommen, beide — Feminismus und Anarchismus — bewußt miteinander zu verschmelzen, um eine anwendbare revolutionäre Ideologie und Analyse zu bekommen. Wir sind uns bewußt, daß unsere Praxis uns befähigt, eine Theorie zu entwickeln, und wir wissen, daß diese Theorie uns befähigen wird, unsere Praxis klarer und gezielter zu gestalten. Auf diese Weise werden sich der Anarchismus und der Feminismus fortwährend ergänzen und unterstützen. Wir hoffen, daß unsere kurze Darstellung der anarcha-feministischen Ideologie diesen Prozeß anregen und Früchte tragen wird.


Nancy Everchild, Margot Rideau, Beverly Adams und Mary Hastings.

Für ihre Anregung und Unterstützung möchten wir den Frauen des anarcha-feministischen Kollektivs von Des Moines New World unseren Dank aussprechen.