Murray Bookchin
Hör zu, Marxist!
Die ganze alte Scheiße der dreißiger Jahre kommt wieder: der Quatsch über die "Klassen-Analyse", die "Rolle der Arbeiterklasse", die "geschulten Kader", die "Partei als Avantgarde" und die "Diktatur des Proletariats". Es ist alles wieder da und primitiver als je zuvor. Die Progressive Arbeiter-Partei (Labor) ist nicht das einzige Beispiel hierfür, aber ein besonders übles. Man hört denselben Unsinn auf den Chapter meetings, in den Arbeiter-Komitees, im Nationalbüro des S.D.S., in den verschiedenen marxistischen und sozialistischen Clubs der Universitäten und natürlich vor allem beim "Militanten Arbeiter-Forum", bei den Clubs der Unabhängigen Sozialisten und der Jugend gegen Krieg und Faschismus.
Für die dreißiger Jahre kann man das schließlich noch verstehen. Die Vereinigten Staaten waren durch eine chronische Wirtschaftskrise gelähmt, der schwersten und längsten in ihrer Geschichte. Die einzigen Kräfte, die seinerzeit am Gebäude des Kapitalismus zu rütteln schienen, waren die großen Organisationskampagnen des C.I.O. mit ihren dramatischen Sitzstreiks, ihrer unbedingten Kampfentschlossenheit und ihren blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Durch den Spanischen Bürgerkrieg, der letzten der klassischen Arbeiterrevolutionen, war die politische Atmosphäre in der ganzen Welt wie elektrisiert. Damals konnte sich jede radikale Gruppe der amerikanischen Linken mit ihren eigenen Miliz-Gruppen in Madrid und Barcelona identifizieren. Das war vor dreißig Jahren, und wer zu dieser Zeit "Make Love, Not War" gerufen hätte, den hätte man für verrückt erklärt. Der damalige Ruf lautete "Make Jobs, Not War". Es war die Parole einer vom Elend geprägten Zeit, in der der Aufbau des Sozialismus mit Opfern verknüpft war. Eine lange "Übergangsperiode" schien erforderlich, um zu einer Volkswirtschaft des materiellen Überflusses zu gelangen. Ein Achtzehnjähriger hätte 1937 die spätere kybernetische Entwicklung für wilde Science Fiktion gehalten, so etwa wie das Reisen im Weltraum. Heute wäre dieser Achtzehnjährige fünfzig Jahre alt, aber seine Entwicklungszeit läge so weit zurück, daß sie ihrem Wesen nach mit der jetzigen amerikanischen Wirklichkeit gar nicht mehr zu vergleichen wäre. Sogar der Kapitalismus als solcher hat sich inzwischen verändert, indem er mehr und mehr staatsverbundene Formen übernahm, wie sie vor dreißig Jahren noch kaum zu ahnen waren. Und jetzt sollen wir wieder zurückkehren zu den "Klassen-Analysen", den "Strategien", den "Kadern" und den organisatorischen Formen der Vergangenheit. Das wäre eine offenkundige Mißachtung der neuen Verhältnisse und der neu entstandenen Möglichkeiten.
Wann, zum Teufel, werden wir uns endlich daranmachen, eine Bewegung zu schaffen, die auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit hin ausgerichtet ist? Wann werden wir anfangen, aus der Gegenwart zu lernen, anstatt vom Vergangenen? Es wird Marx immer zur Ehre gereichen, daß er gerade das zu seiner Zeit erreichen wollte; so versuchte er, in den revolutionären Bewegungen der vierziger und fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts einen den Fortschritt bejahenden Geist zu entfachen. "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden", schrieb er in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte".[1] "Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienst herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren. .... Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. .... Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus."
Haben wir heute nicht dieselbe Situation, wo wir auf das 21. Jahrhundert zugehen? Wieder haben wir die Vergangenheit in unseren Reihen – ironischerweise unter Berufung auf Marx, eben jenes Mannes, der mit den überholten Vorstellungen des 19. Jahrhunderts aufräumen wollte. In der Tat ist die Revolution unserer eigenen Zeit nicht viel mehr als eine Parodie, teils auf die Oktober-Revolution von 1917, teils auf den Bürgerkrieg 1918-20. Auch sie hat die "Klassen-Analyse", die bolschewistische Partei, die "Diktatur des Proletariats", die puritanische Moral, ja sogar das Schlagwort von der "Sowjet-Macht". Die vollständige, alles umfassende Revolution unserer Tage, die die aus Elend, Unterdrückung und Hierarchie entstandene "soziale Frage" endlich lösen kann, sie folgt der Tradition der Teilrevolutionen, der unvollständigen und einseitigen Revolutionen der Vergangenheit – Revolutionen, die im wesentlichen nur die Form der "sozialen Frage" veränderten, indem sie das vorhandene System der Unterdrückung und Hierarchie durch ein anderes ersetzten. In einer Zeit, da die bürgerliche Gesellschaft selber dabei ist, die Klassen aufzulösen, die ihr einmal Stabilität gaben, erklingen wieder die leeren Worte von der "Klassen-Analyse". In einer Zeit, da alle die politischen Institutionen einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft zu verfallen beginnen, hören wir wieder die leeren Worte von der "politischen Partei" und vom "Arbeiterstaat". In einer Zeit, da die Hierarchie als solche in Frage gestellt wird, hören wir die leeren Worte von den "Kadern': der "Avantgarde" und den "Führern". In einer Zeit, da die Zentralisation und der Staat mit dem Sprengstoff ihres geschichtlichen Versagens versehen sind, hören wir die leeren Worte von einer "zentralistischen Bewegung" und der "Diktatur des Proletariats".
Dieses Absichern durch die Vergangenheit, dieser Versuch, in einem starren Dogma und einer festgefügten Hierarchie Halt zu finden – alles ein Ersatz für schöpferisches Denken und Handeln – ist der bittere Beweis dafür, daß es nur wenige "Revolutionäre" fertig bringen, sich selbst und die Dinge zu revolutionieren. Erst recht gilt das für das Revolutionieren der Gesellschaft als Ganzes. Der tief verwurzelte Konservativismus der PLP[2]-"Revolutionäre" zeigt mit geradezu peinlicher Deutlichkeit: hier ersetzt die autoritäre Partei die autoritäre Familie; der autoritäre Führer und die Partei-Hierarchie ersetzen den Patriarchen und die Schul-Bürokratie; die Disziplin der Bewegung ersetzt die bürgerliche Gesellschaft; der autoritäre Kodex politischen Gehorsams ersetzt den Staat; der Glaube an die "proletarische Moral" ersetzt die puritanische Sittlichkeit und die Moral des "Bete und Arbeite!". Das alte Bild der ausbeuterischen Gesellschaft erscheint in neuer Form, geschmückt mit einer roten Fahne und dekoriert mit Mao-Bildern (bzw. denen von Castro oder Che), dem kleinen "Roten Büchlein" und sonstigen geheiligten Spruchweisheiten.
Die meisten, die heute noch in der PLP sind, verdienen das auch. Wenn sie es fertig bringen, Mitglieder einer Bewegung zu sein, die ihre eigenen Losungen zynisch unter die Fotos von DRUM[3]-Streikposten setzt; wenn sie eine Zeitschrift lesen können, welche die Frage stellt, ob Marcuse Polizei-Einsätze befürwortet oder ablehnt; wenn sie sich mit einem Gehorsam abfinden, der sie zu maskenhaften, programmierten Automaten macht; wenn sie dazu imstande sind, anderen Organisationen gegenüber höchst verwerfliche Techniken anzuwenden (Techniken, welche der tiefsten Stufe bürgerlicher Geschäftspraktiken und des Parlamentarismus entlehnt sind); wenn sie jede Aktion und Situation richtiggehend vergiften können, nur um ihre Partei zu fördern und ohne Rücksicht auf die Gefährdung der Aktion selbst, dann hört einfach alle Kritik auf. Diese Leute noch "Rote" zu nennen und die Angriffe auf sie als "Kommunistenjagd" zu bezeichnen, ist eine Art von MacCarthyismus mit umgekehrtem Vorzeichen. Um einen Ausdruck aus Trotzkis saftiger Beschreibung des Stalinismus zu gebrauchen, sie sind die Syphilis unserer radikalen Jugendbewegung. Gegen Syphilis aber hilft nur eine Behandlung mit einem Antibiotikum und kein Argument.
Unser Interesse gilt all den aufrichtigen Revolutionären, die darum zum Marxismus, Leninismus oder Trotzkismus fanden, weil sie sich ernsthaft um ein in sich geschlossenes soziales Zukunftsbild und eine wirksame revolutionäre Strategie bemühen. Wir sind auch an denen interessiert, die vom theoretischen Rüstzeug der marxistischen Ideologie beeindruckt sind und mangels einer besseren Alternative mit ihr sympathisieren. An sie wenden wir uns als unsere Brüder und Schwestern, bereit zu einer ernsthaften Diskussion und einem neuerlichen Überdenken aller Fakten. Wir sind der Ansicht, daß der Marxismus seine Bedeutung für unsere Zeit verloren hat, nicht etwa, weil er zu visionär oder zu revolutionär ist, sondern weil er es zu wenig ist. Wir sind der Ansicht, daß er in einer Zeit der Not und des Mangels entstanden ist und eine vorzügliche Kritik dieser Zeit geliefert hat, besonders was ihre industriekapitalistische Form betrifft. Wir glauben an das Heraufziehen einer neuen Ära, welcher der Marxismus nicht mehr ganz gerecht wird, und deren Charakter er nur teilweise und einseitig voraussah. Wir halten das Problem für nicht so bedeutend, daß der Marxismus deswegen preisgegeben oder totgeschwiegen werden mußte; es geht vielmehr darum, ihn dialektisch zu verändern, so wie es Marx mit der Hegelschen Philosophie, der Ökonomie des Ricardo und der Taktik und Organisationsweise des Auguste Blanqui gemacht hat. Wir werden darlegen, daß in dem fortgeschrittenen Stadium des Kapitalismus – anders als vor hundert Jahren bei Marx – und aufgrund der von Marx gar nicht klar erkennbaren technischen Entwicklung eine neue Kritik notwendig ist. Diese Kritik bietet abwechselnd neue Formen des Kampfes, der Organisation, der Propaganda und des Lebensstiles. Man mag diese neuen Formen des Kampfes, der Organisation, der Propaganda und des Lebensstils nennen, wie man will, ja sogar "Marxismus", wenn man von diesem Wort absolut nicht lassen kann. Wir jedenfalls haben für diese neuen Methoden das Wort "Wohlstands-Anarchie" (wörtlich: Nach-Elends-Anarchie, d.U.) gewählt, und zwar aufgrund einer Anzahl zwingender Gründe, wie aus den folgenden Seiten ersichtlich ist.
Die geschichtlichen Grenzen des Marxismus
Daß ein Mann, dessen hauptsächliches theoretisches Schaffen in die Zeit zwischen 1840 und 1880 fiel, die innere Dialektik des Kapitalismus vorhersehen konnte, diese Vorstellung ist, offen gesagt, völlig absurd. Wenn wir noch immer viel aus Marx' Erkenntnissen lernen können, so doch noch mehr aus seinen unvermeidbaren Irrtümern. Wie jedermann war er schließlich ein Kind seiner Zeit, d.h. in diesem Falle einer Ära materieller Not mit einer Technologie, die lediglich den Gebrauch der Elektrizität mit sich brachte. Wir müssen einsehen lernen, wie verschieden unsere eigene Zeit von allen früheren Epochen ist, wie ganz andersartig die uns entgegentretenden Kräfte sind. Es muß uns klar werden, welchen besonderen Problemen, Untersuchungen und Realitäten wir uns gegenübersehen, wenn wir eine Revolution machen wollen und keine neuerliche geschichtliche Fehlgeburt.
Es geht nicht darum, den Marxismus als "Methode" an "neue Situationen" anzupassen, oder einen "Neo-Marxismus" zu entwickeln, um die Unzulänglichkeiten des "klassischen Marxismus" zu überwinden. Der Versuch, die an Marx orientierte Tradition dadurch zu bewahren, daß man die Methode über das System stellt oder das Wörtchen "Neo" vor ein geheiligtes Wort setzt, ist ohne die entsprechenden praktischen Schlußfolgerungen nichts als Mystifikation.[4]
Genau auf diesem Punkt ist die Marx-Auslegung heute angelangt. Die Marxisten stützen sich auf die Tatsache, daß ihr System eine vorzügliche Interpretation der Vergangenheit liefert, ignorieren aber nur allzu gern dessen irreführenden Folgerungen hinsichtlich der Gegenwart und der Zukunft. Sie weisen auf die Zusammenhänge hin, so auf die Bedeutung des historischen Materialismus und der Klassen-Analyse für die Geschichtsauffassung, auf den Wert der ökonomischen Erkenntnisse im Kapital für die Entwicklung des Industriekapitalismus, auf die brillante Deutung früherer Revolutionen durch Marx und die taktischen Folgerungen, die er daraus ableitete. Sie vergessen dabei allerdings, daß inzwischen grundsätzlich neue Probleme entstanden sind, die seine Zeit noch gar nicht kannte. Kann man sich vorstellen, daß eine ökonomische Analyse des Industriekapitalismus mit seiner überwiegend "freien Konkurrenz" auf die Management-Form des Kapitalismus übertragbar ist, auf eine Form, in welcher Staat und Monopole gemeinsam das Wirtschaftsleben manipulieren? Kann man begreifen, daß die strategischen und taktischen Kampfanweisungen, welche in einer von der Kohle- und Stahl-Technologie bestimmten Zeit entwickelt wurden, auf eine Zeit übertragen werden, welche sich völlig neue Energiequellen erschlossen hat und sich der Elektronik und der Kybernetik bedient?
Das Ergebnis solcher Versuche zeigt, daß ein vor hundert Jahren noch befreiendes theoretisches Konzept heutzutage zu einer Zwangsjacke geworden ist. Wir sollen in der Arbeiterklasse die tragende Kraft der Revolution sehen, und das zu einer Zeit, in welcher der Kapitalismus offensichtlich nicht nur Revolutionäre bekämpft, sondern sie auch hervorbringt, und zwar in allen Schichten der Gesellschaft, insbesondere unter den Jugendlichen. Unser taktisches Verhalten soll vom Bild einer "chronischen Wirtschaftskrise" bestimmt sein, obwohl es eine solche Krise seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr gegeben hat.[5] Wir sollen einer "Diktatur des Proletariats" zustimmen, sowie einer langen "Übergangsperiode", die nicht etwa der Bekämpfung von Konterrevolutionären, sondern in erster Linie der Entwicklung einer Technologie des Überflusses dienen soll; eine Technologie des Überflusses gibt es aber bereits. Wir sollen bei unserer Kampfesweise und Taktik "Armut" und "materielle Verelendung" zugrundelegen, und das zu einer Zeit, in welcher revolutionäre Gefühle u.a. durch die Banalität eines vom materiellen Überfluß bestimmten Lebens entstehen. Wir sollen politische Parteien, zentralistische Organisationen, "revolutionäre" Hierarchien oder Eliten und schließlich einen neuen Staat bilden; aber das alles zu einer Zeit, in welcher politische Institutionen als solche zu wanken beginnen und in welcher Zentralisation, Hierarchie, Elitenbildung und der Staat in einem Maße in Frage gestellt werden, wie nie zuvor in der Geschichte der eigentumsbejahenden Gesellschaft.
Kurz gesagt, wir sollen zur Vergangenheit zurückkehren, sollen schrumpfen statt zu wachsen, sollen um der lähmenden Vorurteile einer überholten Zeit willen die pulsierende Wirklichkeit unserer Zeit mit ihren Hoffnungen und Versprechungen unterdrücken. Wir sollen mit Prinzipien arbeiten, welche nicht nur in der Theorie, sondern auch durch die Entwicklung der Gesellschaft selbst überwunden sind. Die Geschichte ist nach dem Tode von Marx, Engels, Lenin und Trotzki nicht stehengeblieben. Sie hat sich auch nicht an die allzu einfachen Vorhersagen der sonst vielleicht sehr scharfsinnigen Denker gehalten, deren Gedanken eben noch immer im 19. Jahrhundert oder in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verwurzelt waren. Wir haben gesehen, wie der Kapitalismus selbst viele der Aufgaben erfüllt hat, welche dem Sozialismus zugedacht waren (etwa die Entwicklung einer Technologie des Überflusses); wir sahen ihn Eigentum "verstaatlichen", wobei er gegebenenfalls die Wirtschaft mit dem Staat verschmolz; wir sahen, wie die Arbeiterklasse als "treibende Kraft des revolutionären Umsturzes" ausgeschaltet wurde, obgleich sie noch immer innerhalb eines bürgerlichen Rahmens um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und zusätzliche Sozialaufwendungen kämpft. Der Klassenkampf im klassischen Sinne ist nicht verschwunden; er spielt nur eine mehr abgeschwächte Rolle, indem er zu einem Teil des Kapitalismus gemacht wurde. Der revolutionäre Kampf in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern bewegt sich auf einem geschichtlich neuen Terrain: es ist der Kampf zwischen einer jungen Generation, welche keine chronische Wirtschaftskrise kennengelernt hat, und der Kultur, den Werten und Institutionen einer älteren, konservativen Generation, deren Weltbild von Mangel, Schuld, Verzicht, Arbeitsethik und dem Streben nach materieller Sicherheit geformt worden ist. Unsere Feinde sind nicht nur das offen abwehrbereite Bürgertum und der Staatsapparat, sondern auch eine Weltanschauung, welche bei Liberalen, gewissen Sozialdemokraten und den Günstlingen der Massenmedien zu Hause ist. Dazu kommen die revolutionären Parteien von freier und, wie peinlich es auch für die Anbeter des Marxismus sein mag, die Arbeiterschaft, soweit sie von den Hierarchien in den Fabriken, von der Arbeitsroutine und von der Arbeitsethik beherrscht wird. Es ist also so, daß die Grenzen heute einfach quer durch die traditionellen Klassen verlaufen. Sie werfen dabei eine Vielfalt von Problemen auf, welche keiner der Marxisten durch irgendwelche Analogien zur Elends-Gesellschaft vorhersehen konnte.
Der Mythos vom Proletariat
Laßt uns einmal all die ideologischen Trümmer der Vergangenheit beiseite werfen und zu den theoretischen Wurzeln des Problems vorstoßen. Für unsere Zeit besteht der größte Beitrag, den Marx dem revolutionären Gedankengut hinzufügte, in seiner Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung: die große Linie vom ursprünglichen Kommunismus über das Privateigentum zum Kommunismus in seiner höchsten Form, einer in Gemeinden gegliederten Gesellschaft, gestutzt auf eine freiheitliche Technologie.
Nach Marx entwickelte sich die Menschheit vom naturbeherrschten Menschen zu dem vom Menschen beherrschten Menschen und schließlich zum Menschen, der nunmehr die Natur beherrscht und zugleich die sozialen Herrschaftsverhältnisse als solche wieder auflöst.[6] Innerhalb des größeren dialektischen Rahmens untersucht dann Marx die Dialektik des Kapitalismus – desjenigen sozialen Systems, welches die geschichtlich letzte Stufe der Beherrschung des Menschen durch den Menschen darstellt. Marx bringt darin nicht nur wichtige Beiträge zu unserem heutigen Denken (speziell in seiner brillanten Analyse der Warenverhältnisse), sondern deckt auch die Abhängigkeit von den zeitlichen und örtlichen Bedingungen auf, Faktoren, welche gerade in der Jetztzeit nicht übersehen werden dürfen.
Eine besonders schwerwiegende Rolle spielte diese Abhängigkeit bei dem Versuch von Marx, den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu erklären, oder anders gesagt, von einer in Klassen gegliederten zu einer klassenlosen Gesellschaft. Man muß immer wieder darauf hinweisen, daß diese Erklärung nahezu ganz als Analogieschluß entwickelt wurde. Marx dachte dabei an den Übergang des Feudalismus in den Kapitalismus, d.h. den Übergang von einer Klassengesellschaft in eine andere und damit von einem Eigentumssystem in ein anderes. Entsprechend führt Marx aus, daß so, wie sich die Bourgeoisie innerhalb des Feudalismus entwickelt habe, und zwar durch die Aufteilung in Stadt und Land (genauer gesagt, in Handwerk und Landwirtschaft), sich auch das moderne Proletariat innerhalb des Kapitalismus entwickelt habe, und zwar durch die Vervollkommnung der industriellen Technologie. Beide Klassen, so wird uns gesagt, wurden ihre eigenen sozialen Interessen entwickeln. Diese in Wirklichkeit revolutionären sozialen Interessen richteten sich gegen die alte Gesellschaft, aus welcher sie hervorgegangen seien. Wenn die Bourgeoisie die Kontrolle über das Wirtschaftsleben lange vor dem Niederwerfen der Feudalgesellschaft erlangt habe, so werde nunmehr das Proletariat seine eigene revolutionäre Kraft dadurch gewinnen, daß es als Folge des Fabrik-Systems "diszipliniert, geeint und organisiert" sei.[7]
In beiden Fallen sei die Entwicklung der Produktivkräfte mit dem traditionellen gesellschaftlichen System unvereinbar geworden. "Die Hülle falle auseinander." An die Stelle der alten Gesellschaft trat und werde die neue treten.
Hierzu stellt sich folgende kritische Frage: Kann dieselbe Dialektik, die den Übergang zwischen zwei verschiedenen Klassengesellschaften erklärt, auch den Übergang von einer Klassengesellschaft zu einer klassenlosen Gesellschaft erklären? Das ist kein theoretisches Scheinproblem, welches mit fragwürdigen logischen Abstraktionen verknüpft ist, sondern eine sehr reale und konkrete Frage dieser Zeit. In der Tat gibt es bedeutsame Unterschiede zwischen der Entwicklung der Bourgeoisie unter dem Feudalismus und der des Proletariats unter dem Kapitalismus. Entweder unterließ es Marx, diese Unterschiede im voraus zu behandeln, oder er erkannte sie nicht klar genug. Die Bourgeoisie kontrollierte das Wirtschaftsleben, lange bevor sie die Macht im Staate übernahm. Bevor sie ihre politischen Herrschaftsansprüche durchsetzte, war sie bereits zur herrschenden Klasse in materieller, kultureller und ideologischer Hinsicht geworden. Das Proletariat kontrolliert das Wirtschaftsleben aber nicht. Trotz seiner unentbehrlichen Rolle im industriellen Prozeß bildet die Klasse der Industriearbeiter noch nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung, und seine Position als Wirtschaftsfaktor wird durch die Kybernetik und andere technologische Fortschritte laufend geschwächt.[8] Das Proletariat muß deshalb ein sehr hohes Bewußtsein besitzen, wenn es seine Macht für eine soziale Revolution gebrauchen soll. Bis heute ist das Entstehen eines solchen Bewußtseins immer wieder verhindert worden. Es gelang, weil das Fabrik-Milieu einer der am besten geschützten Bereiche ist, sowohl was die Arbeitsmoral betrifft, als auch hinsichtlich der hierarchischen Struktur des Managements, der Gefolgschaftstreue und, wie erst jüngst wieder, der Produktion überflüssiger Waren und Waffen. Die Fabrik hat nicht allein die Arbeiter zu "disziplinieren", zu "einen" und zu "organisieren", sie hat auch dafür zu sorgen, daß dies alles im Sinne der Bourgeoisie geschieht. Mit jedem Tag erneuert die kapitalistische Produktion in der Fabrik nicht nur die sozialen Verhältnisse des Kapitalismus; sie erneuert auch, wie schon Marx beobachtete, die psychischen Schablonen, die Werte und die Ideologie des Kapitalismus.
Marx erschien diese Tatsache so wichtig, daß er sich, um das Proletariat stärker zu aktivieren, nach zwingenderen Gründen umsah, als es die bloße Tatsache der Ausbeutung oder die Kämpfe um Lohn und Arbeitszeit sind. In seiner allgemeinen Theorie der kapitalistischen Akkumulation versuchte er, die strenge, objektive Gesetzmäßigkeit aufzuzeigen, welche dem Proletariat seine revolutionäre Rolle geradezu aufzwinge. In Übereinstimmung damit entwickelte er seine berühmte Theorie der Verelendung: der Wettbewerb zwischen den Kapitalisten zwinge diese zum gegenseitigen Unterbieten der Preise, was wiederum zum ständigen Sinken der Löhne und zur absoluten Verarmung der Arbeiter führe. Das Proletariat sei zum Kampf gezwungen, weil mit dem Wettbewerbsprozeß und der Zusammenballung des Kapitals "die Masse des Elends, der Unterdrückung, der Sklaverei und der Erniedrigung wachse.[9]
Der Kapitalismus ist aber nicht mehr das, was er zu Marx' Zeiten war. Marx schrieb um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Von ihm konnte man nicht erwarten, daß er aus seinem Einblick in die Kapitalkonzentration und die technologische Entwicklung die vollen Konsequenzen zu ziehen vermochte. Er konnte nicht voraussehen, daß sich der Kapitalismus noch weiter entwickeln würde als nur vom Merkantilismus bis zur herrschenden industriellen Form seiner Zeit – von staatlich unterstützten Handelsmonopolen zu hoch konkurrenzfähigen industriellen Einheiten – und daß er mit der Zusammenballung des Kapitals zu seinen merkantilistischen Anfängen zurückkehren würde, nur auf einer höheren Entwicklungsstufe, und wieder die Form staatlich geförderter Monopole annehmen würde. Die Wirtschaft neigt heute zum Zusammengehen mit dem Staat, und der Kapitalismus beginnt, seine eigene Entwicklung zu "planen", anstatt sie ausschließlich den Kräften der freien Marktwirtschaft zu überlassen. Das System will freilich nicht den traditionellen Klassenkampf abschaffen; aber es dämmt ihn sozusagen ein, indem es seine enormen technischen Hilfsmittel dazu verwendet, die wichtigsten Teile der Arbeiterklasse ins eigene Lager hinüberzuziehen.
Auf diese Weise geht die ganze Stoßkraft der Verelendungstheorie ins Leere, und der traditionelle Klassenkampf kann sich, wie in den Vereinigten Staaten, nicht zum offenen Klassenkrieg entwickeln. Er bleibt auch weiterhin im gewohnten bürgerlichen Rahmen. Der Marxismus wird in der Tat zu einer Ideologie, die von den fortgeschrittensten Formen des Staatskapitalismus assimiliert wird, vorab von Rußland. Durch eine kaum glaubliche Ironie der Geschichte ist der Marxsche "Sozialismus" schließlich zum echten Staatskapitalismus geworden – eine Entwicklung, welche Marx in seiner Dialektik des Kapitalismus nicht vorgesehen hatte.[10] Anstatt daß sich das Proletariat zu einer revolutionären Klasse im Schoße des Kapitalismus entwickelt, erweist es sich als ein Organ im Körper der bürgerlichen Gesellschaft.
Wir müssen uns in diesem späten Abschnitt der Geschichte fragen, ob es Überhaupt möglich ist, daß eine soziale Revolution, welche die klassenlose Gesellschaft schaffen will, aus einem Kampf zwischen den traditionellen Klassen einer Klassengesellschaft entstehen kann oder ob eine solche Revolution nur entstehen kann, wenn es keine Klassen mehr gibt. Letzteres hieße, daß die klassenlose Gesellschaft nur aus einer völlig neuen "Klasse" hervorgehen kann – einer Klasse, welche eigentlich keine Klasse ist, sondern eine immer größer werdende Schicht von Revolutionären. Beim Überdenken dieser Frage verzichten wir besser auf das Marxsche Modell, welches auf dem Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft beruht, und greifen dafür auf die weiter gespannte Dialektik zurück, mit der er den Vergesellschaftungsprozeß als solchen erklärt. So wie sich einst primitive Verwandten-Clans nach und nach zu Klassen differenzierten, so tendieren die Klassen in unseren Tagen zur Umbildung in ganz neue Subkulturen, die Ähnlichkeit mit nichtkapitalistischen Formen des Zusammenlebens aufweisen. Es handelt sich bei ihnen nicht mehr um rein ökonomisch bedingte Gruppen; sie zeigen vielmehr, parallel zur sozialen Entwicklung überhaupt, die Tendenz, über die wirtschaftlichen Kategorien der Überflußgesellschaft hinauszuwachsen. Anders ausgedrückt, diese Gruppierungen stellen in Wirklichkeit eine grobe und noch unklare kulturelle Vorwegnahme der Umwandlung in die Überflußgesellschaft dar.
Der Prozeß der Klassenauflösung muß in seinem ganzen Umfang verstanden werden. Dabei ist das Wort "Prozeß" besonders hervorzuheben: die traditionellen Klassen verschwinden nicht einfach, was auch für den Klassenkampf gilt. Allein eine soziale Revolution könnte der herrschenden Klassenstruktur und den von ihr verursachten Konflikten ein Ende machen. Das Dumme dabei ist nur, daß der traditionelle Klassenkampf seine revolutionären Chancen verloren hat; er erweist sich als ein physiologischer Bestandteil der herrschenden Gesellschaft, aber nicht als der Wehenschmerz einer Geburt. In Wirklichkeit festigt der traditionelle Klassenkampf die kapitalistische Gesellschaft noch, indem er ihre Auswüchse "korrigiert" (z.B. bei den Löhnen, der Arbeitszeit, der Inflation, der Unterbeschäftigung usw.). Die Gewerkschaften in der kapitalistischen Gesellschaft wollen selber eine Art von Gegen-"Monopol" zu den industriellen Monopolen bilden und sind in das neomerkantilistische Wirtschaftssystem als fester Bestandteil eingegliedert. Innerhalb dieser Standesorganisation gibt es zwar auch wieder kleinere oder größere Konflikte, aber als Ganzes genommen, stärken die Gewerkschaften das System und suchen es zu erhalten.
Wenn man die Klassenstruktur festigt, indem man von der "Rolle der Arbeiterklasse" schwatzt, wenn man dem traditionellen Klassenkampf neuen Auftrieb gibt, indem man ihm einen "revolutionären" Gehalt zubilligt, wenn man unsere heutige revolutionäre Bewegung mit der "Arbeiteritis" infiziert, dann ist das zutiefst reaktionär. Wie oft müssen die marxistischen Doktrinäre noch daran erinnert werden, daß die Geschichte des Klassenkampfes eine Geschichte des Leidens ist, die Geschichte der von der famosen "sozialen Frage" geschlagenen Wunden, die Geschichte der tendenziösen Entwicklung des Menschen, der die Herrschaft über die Natur durch die Beherrschung seiner Mitmenschen zu erreichen versucht?
Wenn uns als Nebenprodukt dieses Leidens der technologische Fortschritt beschert worden ist, so blieben uns dafür auch die Hauptprodukte nicht erspart, Unterdrückung, entsetzliches Blutvergießen und ein erschreckendes Maß an seelischen Schädigungen.
Wenn dieses Leiden zu Ende geht, wenn auch die tiefsten Wunden zu heilen beginnen, dann erst kann sich der Prozeß der Klassenauflösung voll entfalten. Die revolutionören Folgeerscheinungen des Klassenkampfes sind keine theoretischen Konstruktionen, sondern soziale Wirklichkeit. Der Abbauprozeß erfaßt nicht nur die traditionelle Klassenstruktur, sondern auch die patriarchalische Familie, die autoritären Erziehungsmethoden, die Einflußnahme der Religion und die staatlichen Institutionen. Verschwinden müssen auch bestimmte Zwangsvorstellungen, wie die Ober die Notwendigkeit schwerer Arbeit und gewisser Entbehrungen, über die Schuld und über die Unerläßlichkeit sexueller Normierungen. Kurz gesagt, der Auflösungsprozeß wird allgemein und trifft im Grunde genommen alle traditionellen Klassen, Werte und Institutionen. Er schafft völlig neue Probleme, neue Kampfweisen und Organisationsformen und macht eine ganz neue Einstellung zur Theorie und zur Praxis erforderlich.
Was bedeutet das konkret? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir zwei Einstellungen miteinander vergleichen: die auf Marx zurückgehende und die revolutionäre. Der marxistische Doktrinär will, daß wir an den Arbeiter herantreten – oder besser noch, in die Fabrik "eintreten" – und ihn bekehren, ihn, den Arbeiter, "vorzugsweise" vor allen anderen. Und der Zweck? Um den Arbeiter "klassenbewußt" zu machen. Hierzu ein paar von den steinzeitlich anmutenden Verhaltensmustern der Alten Linken: Man schneide sich die Haare, versorge sich mit dem üblichen Sportdreß, verzichte auf Pot (Marihuana,d.U.) und konsumiere dafür Zigaretten und Bier und tanze auf die herkömmliche Art; im übrigen hat man sich betont "rauh" zu geben und sich einen humorlosen, leeren und herablassenden Gesichtsausdruck zuzulegen.[11] Kurz, man wird zu dem, was wohl die schlechteste Karikatur des Arbeiters ist: nicht zum "kleinen bürgerlich Degenerierten", sondern ganz eindeutig zum bürgerlichen Degenerierten. Man wird zu einer Imitation des Arbeiters, in demselben Maße, wie der Arbeiter eine Imitation seiner Arbeitgeber ist. Hinter dieser Verwandlung in einen "Arbeiter" steckt ein boshafter Zynismus. Es wird versucht, den Arbeiter mit Hilfe der ihm in der Fabrik eingeimpften Disziplin auf die Parteilinie zu dressieren. Der Respekt des Arbeiters vor den hierarchischen Verhältnissen in der Fabrik soll ihn zugleich an die Parteihierarchie binden. Der Erfolg dieses widerlichen Unterfangens, das ohne die gegenseitige Unterstützung der beiden Hierarchien gar nicht durchgeführt werden könnte, ist deshalb so sicher, weil dem Arbeiter eingeredet wird, es sei dies zur Erhaltung des eigenen Lebensstandards unerläßlich. Auch die marxistische Theorie selbst wird durch das Propagieren dieses abgegriffenen und unzutreffenden Bildes des Arbeiters entwürdigt und entwertet. (Das beweist jede Nummer des Challenge – des National Enquirer der Linken. Nichts langweilt den Arbeiter mehr als diese Art von Literatur.) Der Arbeiter begreift schließlich, daß seine Interessen im täglichen Klassenkampf durch seine Gewerkschaftsbürokratie besser vertreten werden als durch eine marxistische Parteibürokratie. Die vierziger Jahre haben das auf geradezu dramatische Weise deutlich gemacht. Damals gelang es den Gewerkschaften, innerhalb von ein bis zwei Jahren die "Marxisten" zu Tausenden hinauszuwerfen, ohne daß es deswegen zu einem Protest aus den eigenen Reihen gekommen wäre. Und das, obwohl die Ausgeschlossenen – unter ihnen alte Spitzenfunktionäre der CIO- (Committee of Industrial Organization) Internationalen – in der Arbeiterbewegung seit mehr als zehn Jahren Pionierarbeit geleistet hatten.
Der Arbeiter wird nicht dadurch zum Revolutionär, daß er ein noch besserer Arbeiter wird, sondern dadurch, daß er sich von seinem "Arbeitertum" distanziert. Und darin ist er nicht allein; dasselbe gilt für den Farmer, den Studenten, den Angestellten, den Soldaten, den Bürokraten, den Geistesschaffenden – und für den Marxisten. Der Arbeiter ist genau so ein "Bourgeois" wie jeder, der eben Aufgeführten. Sein "Arbeitertum" ist die Krankheit, an der er leidet, es ist die auf die Größenordnung des Individuums reduzierte Krankheit der Gesellschaft. Lenin verstand das recht gut, wie sein Was sollen wir tun? zeigt, aber er schmuggelte es unter Zuhilfenahme einer roten Fahne und einiger revolutionärer Redensarten wieder in die alte Hierarchie ein. Der Arbeiter fängt erst dann an, ein Revolutionär zu werden, wenn er sein "Arbeitertum“ aufgibt und, wenn er seinen Klassenstatus wirklich und ohne Einschränkung verabscheut. Er wird zum Revolutionär, wenn er gerade diejenigen Eigenschaften abzulegen beginnt, welche die Marxisten am meisten an ihm loben – seine Arbeitsmoral, seinen von der Fabrikdisziplin geprägten Charakter, seinen Respekt vor der Hierarchie, seine Unterwürfigkeit gegenüber Vorgesetzten, sein Verhalten als Konsument und seine puritanischen Relikte. Nur auf diese Weise wird der Arbeiter ein Revolutionär, und zwar in demselben Maße, wie er seinen Klassenstatus aufgibt und dafür ein klassenloses Bewußtsein entwickelt. Dann entartet er, und wie er es tut, ist einfach großartig. Er legt genau jene Klassen-Ketten ab, welche ihn an alle die verschiedenen Formen der Herrschaft binden. Er verzichtet genau auf jene Klassen-Interessen, welche ihn zum Sklaven eines bestimmten Konsumverhaltens, einer Vorstadtmentalität und einer kleinkarierten Lebensphilosophie machen.[12]
Die vielversprechendste Erscheinung in den Fabriken ist heutzutage das Auftreten junger Arbeiter, die Pot rauchen, auf ihren Job pfeifen und nicht lange in ein und derselben Fabrik bleiben. Sie lassen ihre Haare wachsen, wollen lieber mehr Freizeit als mehr Geld, stehlen, foppen alle autoritären Personen, schneiden auf und törnen ihre Arbeitskameraden an. Noch mehr versprechend ist das Auftreten dieser Typen auf den Handels- und Oberschulen, von denen der Nachwuchs der in der Industrie Beschäftigten kommt. In dem Maße, wie Arbeiter, Berufsschüler und Oberschüler ihren Lebensstil an die verschiedenen Aspekte der anarchistischen Jugendkultur anpassen, in ebendem Maße wird das Proletariat aus eine systemerhaltenden Kraft zu einer revolutionären.
Es entsteht eine von Grund auf neue Situation, sobald der Mensch die Umwandlung einer vom Mangel bestimmten repressiven Klassengesellschaft in eine vom Überfluß bestimmte freiheitliche Gesellschaft erlebt. Der Zersetzungsprozeß der traditionellen Klassenstruktur schafft zugleich eine stetig wachsende Anzahl von Menschen eines neuen Typs: die Revolutionäre. Ein solcher Revolutionär stellt nicht mehr nur die ökonomischen und politischen Voraussetzungen der hierarchischen Gesellschaft in Frage, er wendet sich gegen die Hierarchie selbst. Er behauptet nicht nur die Notwendigkeit einer sozialen Revolution, sondern versucht auch, auf eine so revolutionäre Weise zu leben, wie es die gesellschaftliche Situation überhaupt zuläßt.[13] Er bekämpft nicht nur die herrschaftsbedingten Lebensformen, sondern improvisiert neue Formen freiheitlichen Seins, deren Poesie in der vorweggenommenen Zukunft liegt.
Dieses Vorbereiten auf die Zukunft, dieses Experimentieren mit freiheitlichen, den Überfluß voraussetzenden Formen zwischenmenschlicher Beziehungen muß illusorisch werden, wenn die Zukunft lediglich den Ersatz der einen Klassengesellschaft durch eine andere mit sich bringt; es ist jedoch unerläßlich, wenn statt dessen eine klassenlose Gesellschaft aus den Trümmern der Klassengesellschaft entstehen wird. Und was wird dann den "Anstoß" zu der revolutionären Umbildung geben? Das wird niemand anderes als die große Mehrheit der Gesellschaft sein, die keiner der traditionellen Klassen mehr angehören und aufgrund des Absterbens der Institutionen, der sozialen Gliederungen, der Normen und des Lebensstils der einstigen Klassenstruktur eine gemeinsame revolutionäre Kraft bilden wird. Typisch daran wird sein, daß die Jugend zu den Initiatoren dieses Geschehens zählen wird – eine Generation, welche keine ökonomischen Dauerkrisen mehr erlebt hat, und für die der Mythos von der materiellen Sicherheit, der die Menschen der dreißiger Jahre so beherrschte, kaum noch von Bedeutung ist.
Wenn es stimmt, daß eine soziale Revolution nicht ohne die aktive oder passive Mithilfe der Arbeiter durchgeführt werden kann, dann stimmt es auch, daß sie auf die Mithilfe der Farmer, der Techniker und der anderen Berufstätigen nicht verzichten kann. Vor allem aber stimmt es, daß eine soziale Revolution der Mithilfe der Jugend bedarf, aus der die herrschende Klasse ihre bewaffneten Kräfte rekrutiert. Wenn die herrschende Klasse ihre bewaffnete Macht behält, ist eine Revolution verloren, ganz unabhängig davon, wieviele Arbeiter ihr zu Hilfe eilen. Das hat sich nicht nur in den dreißiger Jahren in Spanien deutlich gezeigt, sondern auch in den fünfziger Jahren in Ungarn und in den Sechzigern in der Tschechoslowakei. In unseren Tagen hat eine Revolution – aufgrund ihres ganzen Wesens und ihrer Tendenz zum Totalen – nicht nur den Soldaten und den Arbeiter für sich zu gewinnen, sondern die ganze Generation, aus der sich Soldaten, Arbeiter, Techniker, Farmer, Wissenschaftler, Künstler und sogar Bürokraten rekrutieren. Die kommende Revolution wird auf die taktischen Handbücher von einst verzichten und den Weg des geringsten Widerstands gehen. Sie wird sich in die anfälligsten Teile der Bevölkerung hineinfressen, ohne Rücksicht auf deren "Klassenzugehörigkeit". Sie nährt sich nicht nur von den Widersprüchen der Jahre um 1860 und 1917, sondern von der Gesamtheit der Widersprüche in der bourgeoisen Gesellschaft. So zieht sie alle diejenigen an, die unter der Last der Ausbeutung, der Armut, des Rassismus und des Imperialismus leiden. Ja, sie zieht auch die an, deren Leben durch den Konsumzwang, das Vorstadtmilieu und die Massenmedien, durch die Familie, die Schule und die Supermärkte, sowie durch die herrschenden Formen der sexuellen Unterdrückung keine richtige Erfüllung findet. Die Totalität der Revolution wird somit von ihren Eigenschaften bestimmt – von der Abschaffung der Klassen, des Eigentums und der Hierarchien, kurz von der totalen Befreiung.
Wenn man sich in diese revolutionäre Entwicklung hineinstürzt und dabei, wie es die verworrenen Rezepte des Marxismus wollen, von einer "Klassenfront" und der "Rolle der Arbeiterklasse" schwafelt, dann wird die Vergangenheit zur Fessel für das Heute und Morgen. Wenn man die sterbende Ideologie des Marxismus weiterentwickeln will und aus diesem Grunde von "Kadern", von "Avantgarde", vom "demokratischen Zentralismus" und von der "Diktatur des Proletariats" schwatzt, dann ist das nichts als Konterrevolution. Wir stoßen hier auf die "Organisationsfrage", diesen so überaus wichtigen Beitrag des Leninismus zum Marxismus, den wir nunmehr etwas näher betrachten müssen.
Der Mythos von der Partei
Soziale Revolutionen werden nicht von Parteien, Gruppen oder Kadern gemacht, sondern sind das Resultat tief eingewurzelter geschichtlicher Kräfte und Widersprüche, durch die weite Kreise der Bevölkerung zum Handeln gezwungen werden. Sie finden nicht nur deswegen statt, weil die "Massen" die jeweilige Gesellschaft unerträglich finden (wie es Trotzki folgerte), sondern vor allem als Folge der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Das tiefe Elend als solches löst keine Revolution aus; aber es führt fast immer zum Verfall der Moral oder, noch schlimmer, zum persönlichen Kampf der einzelnen ums Überleben.
Die russische Revolution von 1917 erscheint den Lebenden noch heute wie ein böser Traum, weil sie in außergewöhnlich hohem Maße die Folge "unerträglicher Lebensbedingungen" war, zu denen noch die Verwüstungen eines imperialistischen Krieges kamen. Welche Wunschträume in ihr auch lebendig gewesen sein mögen, sie fielen wohl alle dem nicht weniger blutigen Bürgerkrieg, der Hungersnot und dem Denunziantentum zum Opfer.
Was die Revolution zurückließ, waren nicht die Ruinen der alten Gesellschaft, sondern die zerstörten Hoffnungen auf eine neue. Die Russische Revolution scheiterte kläglich; sie ersetzte den Zarismus durch den Staatskapitalismus.[14] Die Bolschewiki wurden die tragischen Opfer ihrer eigenen Ideologie und viele von ihnen bezahlten dies in den Säuberungen der dreißiger Jahre mit dem Leben. Der Versuch, aus dieser Elends-Revolution unvergängliche Weisheiten zu ziehen, ist einfach lächerlich. Was wir aus den vergangenen Revolutionen lernen können, das sind lediglich ihre Gemeinsamkeiten und die außerordentliche Begrenztheit ihrer Möglichkeiten, gemessen an denen, die sich uns heute bieten.
Was an den Revolutionen der Vergangenheit am meisten auffällt, ist ihr spontanes Aufflammen. Ob man die Anfänge der Französischen Revolution von 1789 nimmt oder die Revolutionen von 1848, die Pariser Kommune oder die russische Revolution im Jahre 1905, den Sturz des Zaren im Jahre 1917, die ungarische Revolution von 1956 oder den französischen Generalstreik des Jahres 1968, die Anfangsstadien sind grundsätzlich gleich: nach einer kurzen Gärungszeit kommt es explosionsartig zu einem Massenaufstand. Ob dieser Aufstand dann erfolgreich ist oder nicht, hängt davon ab, wie entschlossen die Aufständischen sind, und ob sich die Truppen auf die Seite des Volkes schlagen.
Die "ruhmreiche Partei", wenn sie zu dieser Zeit Oberhaupt existiert, hinkt meist hinter den Ereignissen her. Im Februar 1917 stemmte sich die Petrograder Sektion der Bolschewiki gegen die Ausrufung des Generalstreiks, und zwar genau am Vorabend der Revolution, welche den Zaren beseitigen sollte. Glücklicherweise ignorierten die Arbeiter die bolschewistischen Direktiven und streikten auch so. In der darauffolgenden Zeit war niemand so sehr überrascht Ober die Revolution wie die revolutionären Parteien, die Bolschewiki eingeschlossen. Der bolschewistische Führer Kajurow meinte dazu: "Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren... Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben."[15] Vielleicht war das ein Glücksumstand. Denn bevor das Petrograder Komitee verhaftet worden war, war seine Einschätzung der Lage und seine eigene Rolle so unglücklich, daß es zweifelhaft ist, ob die Revolution auch dann stattgefunden hätte, wenn die Arbeiter seiner Führung gefolgt wären.
Nicht viel anders ist es mit den Unruhen, welche dem Jahr 1917 vorangingen, und, um nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte anzuführen, mit den Vorgängen, welche sich im Mai und Juni 1968 nach dem Studentenaufstand und dem Generalstreik in Frankreich abspielten. Es ist natürlich sehr bequem, zu vergessen, daß zu dieser Zeit in Paris etwa ein Dutzend "straff zentralisierter" Organisationen vom Typ der Bolschewiki existierten. Es wird auch höchst selten erwähnt, daß vor dem 7. Mai, dem Beginn der blutigen Straßenkämpfe, wirklich jede dieser "avantgardistischen" Gruppen den studentischen Bemühungen in hochmütiger Ablehnung gegenüberstand. Nur die trotzkistische Jeunesse Communiste Revolutionnaire machte eine bemerkenswerte Ausnahme – und sie segelte vor allem deswegen im gleichen Boot mit, weil sie im wesentlichen den Initiativen der Bewegung des 22. März folgte.[16] Bis zum 7. Mai lehnten alle maoistischen Gruppen den Studentenaufstand als unwichtige Randerscheinung ab; die trotzkistische Föderation Revolutionärer Studenten bezeichneten ihn als "abenteuerlich" und versuchten am 10. Mai, die Studenten zum Verlassen der Barrikaden zu bewegen; die Kommunistische Partei spielte selbstverständlich eine besonders hinterhältige Rolle. Obwohl die Maoisten und Trotzkisten nichts mit der Führung der Volksbewegung zu tun hatten, waren sie gleichwohl ganz und gar abhängig von ihr. Es klingt wie eine Ironie, daß die meisten dieser bolschewistischen Gruppen bei dem Versuch, die Studentenversammlungen in der Sorbonne unter "Kontrolle" zu bekommen, ohne jede Scham zu manipulativen Techniken Zuflucht nahmen. Natürlich entstand dadurch eine Atmosphäre der Zerrissenheit, welche geradezu demoralisierend wirkte. Um das Maß der Ironie voll zu machen, schwatzten alle diese bolschewistischen Gruppen beim Zusammenbrechen der Volksbewegung von der Notwendigkeit einer "zentralen Führung" – und das bei einer Bewegung, welche sich trotz der „Direktiven" dieser Schwätzer entwickelt und denselben oft direkt zuwidergehandelt hatte.
Revolutionen und Aufstände von einigermaßen Bedeutung weisen nicht nur eine erstaunlich anarchische Anfangsphase auf, sondern zeigen auch die spontane Neigung, sich ihre eigenen Formen der Selbstverwaltung zu schaffen. Die Pariser Sektionen von 1793-94 waren die bemerkenswertesten Formen der Selbstverwaltung, welche jemals in einer der uns bekannten sozialen Revolutionen geschaffen wurden.[17] Eine noch bekanntere Form waren die Räte oder "Sowjets", welche 1905 von den Petrograder Arbeitern eingesetzt wurden. Obwohl Räte nicht so demokratisch sind wie die Sektionen, konnten sie dennoch in einigen der späteren Revolutionen aufs neue ihre Funktionsfähigkeit beweisen. Eine weitere Form revolutionärer Selbstverwaltung waren die Fabrik-Komitees, welche die Anarchisten in der Spanischen Revolution von 1936 ins Leben riefen. Zuletzt erschienen die Sektionen wieder, diesmal als Studentenversammlungen und Aktionskomitees während des Mai-Juni-Aufstands und des Generalstreiks im Paris des Jahres 1968.[18] In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, welche Rolle die "revolutionäre" Partei bei alledem spielt. Wie wir sahen, kommt ihr anfangs eher eine hemmende Funktion als die Rolle der "Avantgarde" zu. Wo sie Einfluß gewonnen hat, versucht sie, den Gang der Ereignisse zu verlangsamen und eine "Koordination" der revolutionären Kräfte zu verhindern. Das geschieht nicht etwa zufällig. Die Partei besitzt eine hierarchische Struktur. Sie ist darin ein genaues Abbild jener Gesellschaft, welche sie zu bekämpfen vorgibt. Was sie auch immer für sich in Anspruch nehmen mag, sie ist ein bürgerliches Gebilde, ein Staat im Kleinen, mit einem Apparat und mit Kadern, welche Macht verschaffen, aber nicht Macht zerstören sollen. Die vorrevolutionäre Periode ist das eigentliche Lebenselement der Partei, und demzufolge nimmt sie die Formen, die Methoden und die Denkweise der Bürokratie an. Ihre Mitglieder sind auf Gehorsam gedrillt und auf die vorgefaßten Meinungen starrer Dogmen. Man hat sie gelehrt, den führenden Funktionären Verehrung entgegenzubringen. Umgekehrt hat man den Funktionären der Partei Gewohnheiten beigebracht, wie sie sich aus dem Zusammenspiel von Befehlsgewalt, Autorität, Manipulation und Selbstvergötterung ergeben. Diese Situation verschlechtert sich noch weiter, wenn die Partei an parlamentarischen Wahlen teilnimmt. In den Wahlkämpfen bedient sich nämlich die Partei der Avantgardisten der bestehenden bürgerlichen Gepflogenheiten und übernimmt das ganze Drum und Dran der übrigen an der Wahl beteiligten Parteien. Ausgesprochen kritische Ausmaße nimmt die Situation dann an, wenn die Partei große Tageszeitungen erwirbt, über kostspielige Parteizentralen und zahlreiche zentral kontrollierte Periodica verfügt und sich einen "Apparat" von Berufsfunktionären aufbaut - kurz, wenn eine Bürokratie mit ihren handfesten materiellen Interessen entstanden ist.
Wächst die Mitgliederzahl der Partei, wächst auch die Kluft zwischen den Funktionären und dem einfachen Fußvolk. Die Führer der Partei werden zu "hohen Persönlichkeiten" und verlieren den lebensnahen Kontakt nach unten. Die Ortsgruppen, welche die jeweilige Situation immer besser kennen als irgendein Führer, der sonstwo sitzt, dürfen nicht der eigenen Einsicht folgen, sondern müssen die Weisungen von oben befolgen. Die Führungsgremien, mit keiner unmittelbaren Kenntnis der örtlichen Probleme belastet, reagieren langsam und vorsichtig. Obwohl sie Anspruch auf den "umfassenden Einblick" und das größere "theoretische Verständnis" erheben, sinkt das Niveau ihrer Leistungen mit der Höhe der von ihnen in der Hierarchie erreichten Stufe. Je näher man der eigentlichen Entscheidungsebene kommt, desto konservativer wird die Natur der Beschlußfassungsvorgänge, desto mehr bürokratische und sachfremde Faktoren kommen ins Spiel und umso stärker treten Prestigedenken und Vereinfachungen in den Vordergrund. Was dafür entfällt, sind Einfallsreichtum, Einfühlungsvermögen und der uneigennützige Einsatz für die Ziele der Revolution.
In revolutionärer Hinsicht büßt die Partei umso mehr an Wirkung ein, je mehr sie diese mit den Mitteln der Hierarchie zu erzwingen versucht, d.h. durch Kader und durch Zentralisation. Es halten sich zwar alle Mitglieder an die gegebenen Befehle, aber gerade diese sind gewöhnlich falsch. Das wird besonders dann offenkundig, wenn sich die Ereignisse überstürzen und einen unerwarteten Verlauf nehmen, wie es bei Revolutionen fast immer der Fall ist. Die Partei ist nur in einer Hinsicht erfolgreich, dann nämlich, wenn sie nach einer geglückten Revolution die Gesellschaft nach dem eigenen hierarchischen Bild umgestaltet. Dann schafft sie wieder eine neue Bürokratie, zentralistische Gliederungen und einen neuen Staat. Sie begünstigt diese Schöpfungen auch späterhin. Darüberhinaus begünstigt sie sogar die sozialen Bedingungen, welche dieser Form der Gesellschaft einen Anschein von Berechtigung verleihen. Die Partei stirbt nun nicht etwa ab, nein, der von der "ruhmreichen Partei" kontrollierte Staat behält alle die Zustände bei, welche die Notwendigkiet der Existenz eines Staates beweisen – und darüberhinaus beweisen, daß es eine Partei geben muß, welche ihrerseits wieder über den Staat "wacht". Andererseits ist diese Art von Partei in Zeiten der Verfolgung extrem anfällig. Die Bourgeoisie braucht sich lediglich die leitenden Funktionäre zu greifen, wenn sie die Bewegung zerschlagen will. Sind ihre Führer inhaftiert oder müssen sie sich verstecken, ist die Partei praktisch gelähmt. Die ans Gehorchen gewöhnten Mitglieder haben niemand mehr, dem sie gehorchen können, und werden fast immer von Ratlosigkeit befallen. Schnell folgt dann die Demoralisation. Die Partei zerfällt nicht nur aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen, sondern auch deshalb, weil ihr die inneren Reserven fehlen.
Bei dieser Aufzählung handelt es sich nicht um hypothetische Schlußfolgerungen, es ist vielmehr eine zusammenfassende Charakterisierung der marxistischen Massenparteien des vorigen Jahrhunderts – der Sozialdemokraten, der Kommunisten und der Trotzkistischen Partei Ceylons (der einzigen Massenpartei dieser Bewegung). Der Einwand, daß diese Parteien ihre marxistischen Prinzipien einfach nicht ernst genug genommen hätten, wirft nur eine andere Frage auf: Wieso kam es immer wieder zu solchen Unterlassungssünden? Der wahre Grund hierfür lag in der Zugehörigkeit der marxistischen Massenparteien zur bürgerlichen Gesellschaft, weil sie nach bürgerlichen Gesichtspunkten aufgebaut waren. Sie trugen schon bei ihrer Gründung den Bazillus des Verrats in sich.
Dessen ungeachtet war die bolschewistische Führungsspitze für gewöhnlich ausgesprochen konservativ, ein Charakterzug, gegen den Lenin im Jahre 1917 anzukämpfen hatte – zuerst bei seinen Bemühungen um Umstimmung des Zentralkomitees gegen die provisorische Regierung (der berühmte Streit über die "April-Thesen") und später bei dem Versuch, das Zentralkomitee zum Oktober-Aufstand zu veranlassen. Beide Male mußte er erst drohen, das Zentralkomitee zu verlassen und seine Ansichten den unteren Funktionären der Partei zu unterbreiten.
Im Jahre 1918 nahmen dann die internen Auseinandersetzungen über den Vertrag von Brest Litowsk ein solches Ausmaß an, daß sich die Bolschewiki um ein Haar in zwei sich bekämpfende kommunistische Parteien gespalten hätten. Oppositionelle Gruppen unter den Bolschewiki, wie die Demokratischen Zentralisten und die Arbeiteropposition, lösten in den Jahren 1920 bis 1921 heftige Kämpfe innerhalb der Partei aus, gar nicht zu sprechen von den oppositionellen Bewegungen in den Reihen der Roten Armee, die sich wegen Trotzkis Hang zum Zentralismus gebildet hatten. Die vollständige Zentralisation der Partei der Bolschewiki – die Vollendung der "Leninschen Einheit", wie sie später genannt wurde – erfolgte erst im Jahre 1921, als es Lenin gelang, den X. Parteitag der KPR zur Verurteilung aller ideologischen Streitigkeiten zu überreden. Damals waren die Weißgardisten zum größten Teil schon vernichtet, und die ausländischen Interventionsmächte hatten ihre Truppen aus Rußland zurückgezogen.
Es kann nicht eindringlich genug darauf hingewiesen werden, daß die Bolschewiki aus sich heraus die Zentralisation ihrer Partei bis zur Isolation von der Arbeiterklasse treiben wollten. Diese Einstellung ist später in leninistischen Kreisen recht selten zur Sprache gekommen, obwohl Lenin selbst ehrlich genug war, sie zuzugeben. Die Geschichte der Russischen Revolution ist nur zum geringeren Teil die Geschichte der Partei der Bolschewiki und ihrer Helfershelfer. Unter der oberflächlichen Schicht der Ereignisse, wie sie von den sowjetischen Historikern geschildert werden, verlief eine tiefer greifende Entwicklung – die spontane Bewegung der Arbeiter und revolutionären Bauern, die bald darauf zum heftigen Zusammenprall mit der bürokratischen Politik der Bolschewiki führte. Gleich nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 setzten die Arbeiter in den Fabriken Rußlands spontan und ohne Ausnahme Betriebskomitees ein, durch die sie ihre immer stärker werdenden Ansprüche auf Mitbestimmung bei der industriellen Fertigung geltend machten. Im Juni 1917 wurde in Petrograd eine gesamtrussische Konferenz der Betriebskomitees abgehalten, auf welcher die "Einführung einer echten Kontrolle der Produktion und der Distribution durch den Arbeiter" gefordert wurde. Die Forderungen dieser Konferenz werden in den Darstellungen der Russischen Revolution nur selten erwähnt, und dies trotz der Tatsache, daß sich die Konferenz selber zur Sache der Bolschewiki bekannt hatte. Trotzki, der die Betriebskomitees als "die unmittelbarste und unbezweifelbare Repräsentation des Proletariats des ganzen Landes" bezeichnet, erwähnt sie in seiner großen dreibändigen Geschichte der Revolution nur am Rande. Trotzdem kam diesen spontan gebildeten Körperschaften der Selbstverwaltung eine solche Bedeutung zu, daß Lenin im Sommer des Jahres 1917, als die Gewinnung der Sowjets noch nicht feststand, dazu bereit war, die Losung "Alle Macht den Sowjets" über Bord zu werfen und durch die Losung "Alle Macht den Betriebskomitees" zu ersetzen. Die Forderung dieser neuen Losung hätte die Bolschewiki mit einem Schlage in eine ananrcho-syndikalistische Position gebracht, was natürlich nicht heißen soll, daß sie diesen Standpunkt auch für längere Zeit beibehalten hätten.
Mit der Oktoberrevolution übernahmen die bestehenden Betriebskomitees zugleich die Kontrolle über die Werksanlagen und kontrollierten, nachdem sie die Bourgeoisie überall verdrängt hatten, schließlich die gesamte Industrie. Lenins berühmtes Dekret vom 14. November 1917, in dem das Konzept der Arbeiterkontrolle anerkannt wurde, bestätigte im Großen und Ganzen nur eine bereits vollzogene Tatsache; die Sowjets wagten es zu diesem frühen Zeitpunkt einfach noch nicht, den Arbeitern entgegenzutreten. Dafür begannen sie, die Machtbefugnisse der Betriebskomitees zu beschneiden. Im Januar 1918, knapp zwei Monate nach der "Dekretierung" der Arbeiterkontrolle, setzte sich Lenin erstmals dafür ein, die Verwaltung der Fabriken der Kontrolle der Gewerkschaften zu unterstellen. Die Geschichte, daß die Sowjets die Arbeiterkontrolle "mit viel Geduld" ausprobiert und sie dann doch als "unwirksam" und "chaotisch" erkannt hätten, ist eine Erfindung. Ihre "Geduld" dauerte gerade ein paar Wochen. Nicht nur, daß Lenin der unmittelbaren Kontrolle durch die Arbeiter schon wenige Wochen nach Erlaß des Dekrets vom 14. November entgegentrat, auch die Kontrolle durch die Gewerkschaften wurde kurz nach ihrer Einführung wieder abgeschafft. Im Sommer des Jahres 1918 arbeitete der größte Teil der russischen Industrie wieder unter den von der Bourgeoisie her bekannten Verwaltungsformen. Wie Lenin es ausdrückt[19]; "Heute aber fordert dieselbe Revolution, … eben im Interesse des Sozialismus, die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses."[20] Etwas später wird die Arbeiterkontrolle von ihm nicht mehr nur als "unwirksam", "chaotisch" und "unpraktisch", sondern auch als "kleinbürgerlich" abgetan!
Der Linkskommunist Osinski wandte sich erbittert gegen all diese falschen Ansprüche und warnte die Partei: "Der Sozialismus und die sozialistische Organisation müssen vom Proletariat selbst errichtet werden oder sie werden es nie; alles andere muß zum Staatskapitalismus führen".[21] Im "Interesse des Sozialismus" verdrängte die Partei der Bolschewiki das Proletariat aus allen Positionen, die es sich aus eigener Kraft und eigener Initiative errungen hatte. Die Partei einte weder die verschiedenen Strömungen innerhalb der Revolution noch nahm sie eine führende Rolle in ihr ein; sie beherrschte die Revolution ganz einfach. Die ursprüngliche Arbeiterkontrolle und die darauf folgende Kontrolle durch die Gewerkschaften wurden durch eine komplizierte Hierarchie gigantischen Ausmaßes ersetzt, wie es sie vor der Revolution noch nirgendwo gegeben hatte. Die Entwicklung dieser Jahre beweist jedenfalls, wie richtig Osinskis Prophezeiung gewesen war.
Das Problem des "Wer wird die Macht erobern" – die Bolschewiki oder die russischen Massen – blieb keinesfalls auf die Fabriken beschränkt. Es entschied sich sowohl auf dem Lande wie in den Städten. Eine schnell um sich greifende Bauernrevolte hatte der Arbeiterbewegung wieder neuen Auftrieb gegeben. Im Gegensatz zu der offiziellen leninistischen Version war der Bauernaufstand durchaus nicht nur eine Sache der Wiederaufteilung des Bodens in private Ländereien. In der Ukraine richteten die Bauern zahlreiche ländliche Kommunen ein. Sie standen,dabei unter dem Einfluß der anarchistischen Miliz Nestor Machnos[22] und hielten sich an die kommunistische Maxime "Von jedem nach seinen Fähigkeiten; für jeden nach seinen Bedürfnissen". Aber nicht nur hier, auch im nördlichen Sowjetasien wurden mehrere Tausend solcher Kommunen gegründet, einige auf Initiative der linken Sozialrevolutionäre, die meisten jedoch als Folge der traditionellen kollektivistischen Impulse, welche von der russischen Dorfgemeinde, dem Mir, ausgingen. Es ist in diesem Falle nicht so wichtig, wie zahlreich die Kommunen waren, oder wieviele Bauern ihnen angehörten; ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, daß sie ureigentliche Schöpfungen des Volkes waren, Keimstätten einer moralischen und sozialen Gesinnung, welche turmhoch über den enthumanisierenden Werten der bürgerlichen Gesellschaft stand.
Die Bolschewiki waren von Anfang an gegen solche Organisationsformen und verurteilten sie schließlich ganz offen. Wie Lenin, bevorzugten sie die "sozialistischere" Form der Landwirtschaft, das Staatsgut – eine Art landwirtschaftlicher Fabrik,in welcher der Boden und das zur Bearbeitung erforderliche Gerät dem Staat gehörten. Der Staat setzte auch Verwalter ein, welche Landarbeiter anzuwerben und ihnen einen bestimmten Lohn zu zahlen hatten.
Diese grundsätzliche Einstellung gegen die Arbeiterkontrolle und die bäuerlichen Kommunen zeigt das zutiefst bürgerliche Fühlen und Denken, welches die Partei der Bolschewiki beherrschte – ein Fühlen und Denken, das nicht allein von ihren Theorien herrühren konnte, sondern in erster Linie eine Folge ihrer korporativen Organisationsweise war. Im Dezember 1918 startete Lenin einen Angriff gegen die Kommunen unter dem Vorwand, die Bauern seien zum Beitritt gezwungen worden. In Wahrheit war wenig oder gar kein Zwang für die Errichtung dieser kommunistischen Formen der Selbstverwaltung angewandt worden. Robert G. Wesson, welcher die Sowjetkommunen im einzelnen studiert hatte, faßt das folgendermaßen zusammen: "Diejenigen, welche in die Kommunen eintraten, müssen dies zum überwiegenden Teil aus eigener Entscheidung heraus getan haben".[23] Die Kommunen wurden zwar vorerst nicht verboten, aber es wurde auch nichts für ihre Entwicklung getan. Schließlich fiel alles bis dahin Entstandene den Stalinschen Zwangskollektivierungen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre zum Opfer.
Etwa um das Jahr 1920 hatten sich die Bolschewiki von der russischen Arbeiter- und Bauernschaft isoliert. Zusammenfassend läßt sich sagen, die Abschaffung der Arbeiterkontrolle, die Unterdrückung der Machnowzy, die verödete politische Atmosphäre auf dem Lande, die aufgeblähte Bürokratie und, als Erbe der Bürgerkriegsjahre, die niederdrückende materielle Not hatten eine tiefe Feindschaft gegen die bolschewistische Herrschaft entstehen lassen. Als Folge der Feindseligkeiten brach aus den Tiefen der russischen Gesellschaft eine Bewegung hervor, welche nach einer "dritten Revolution" verlangte – nicht, um die Vergangenheit neu erstehen zu lassen, wie die Bolschewiki behaupteten, sondern um die wahren Freiheitsziele zu verwirklichen, die wirtschaftlichen wie die politischen, um derentwillen sich die Massen unter dem bolschewistischen Programm des Jahres 1917 zusammengefunden hatten. Besonders selbstbewußte Anhänger fand die neue Bewegung im Petrograder Proletariat und unter den Kronstädter Matrosen. Sie fand auch Widerhall innerhalb der Partei: die antizentralistischen und anarchosyndikalistizchen Tendenzen unter den Bolschewiki nahmen so stark zu, daß ihre Befürworter einmal auf einer Moskauer Provinziolkonferenz 124 Sitze gewannen. Diesem starken Oppositionsblock standen 154 Sitze der Anhänger des Zentralkomitees gegenüber.
Am 2. März 1921 brachen die "roten Matrosen" von Kronstadt in offenen Aufruhr aus und hißten das Banner der "Dritten Revolution der Schwerarbeiter". Im Mittelpunkt des Kronstädter Programms standen freie Wahlen zu den Sowjets, Rede- und Pressefreiheit für die Anarchisten und die linkssozialistischen Parteien, freie Gewerkschaften und die Freilassung aller inhaftierten Anhänger der sozialistischen Parteien. Von den Bolschewiki wurden die unverschämtesten Geschichten über diesen Aufstand fabriziert, die sich in späteren Jahren als freche Lügen erwiesen. Die Revolte wurde als "weißgardistischer Anschlag" hingestellt, und das, obwohl sich die große Mehrheit der Mitglieder der Kommunistischen Partei in Kronstadt mit den Matrosen solidarisiert hatte – wohlgemerkt als Kommunisten – und die eigenen Parteiführer verächtlich als Verräter an der Oktoberrevolution bezeichnet hatte. Robert Vincent Daniels beschrieb dies in seiner Studie Ober die bolschewistischen oppositionellen Bewegungen folgendermaßen: "Gewöhnliche Kommunisten waren in der Tat so unzuverlässig ...., daß sich die Regierung nicht auf sie verließ, weder beim Angriff auf Kronstadt selbst, noch bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in Petrograd, dem zentralen Ort für die Kronstädter Hoffnungen auf Unterstützung. Das Hauptkontingent der eingesetzten Truppen bildeten Tschekisten und Offiziersanwärter von den Kadettenschulen der Roten Armee. Der Schlußangriff auf Kronstadt wurde von der Führungsspitze der Kommunistischen Partei geleitet – einer großen Gruppe von Delegierten zum X. Parteitag, welche zu diesem Zweck eiligst aus Moskau herbeibeordert worden waren."[24] Das Regime war so schwach im Innern, daß die Elite ihre schmutzige Arbeit ganz allein ausführen mußte.
Noch bezeichnender als die Kronstädter Revolte war die Streikbewegung innerhalb der Petrograder Arbeiterschaft, jener Bewegung, von der der Anstoß zum Aufstand der Matrosen ausgegangen war. Die leninistische Geschichtsschreibung erwähnt diese für die Kritik so bedeutsame Bewegung Oberhaupt nicht. Die ersten Streiks brachen am 23. Februar 1921 in der Troubotchny-Fabrik aus. In wenigen Tagen hatte die Bewegung von Fabrik zu Fabrik übergegriffen, bis am 28. Februar auch die bekannten Putilow Werke – der "Schmelztiegel der Revolution" – vom Streik erfaßt worden waren. Dabei wurden nicht nur wirtschaftliche Forderungen geltend gemacht, die Arbeiter erhoben auch politische. Mit ihnen nahmen sie bereits die Forderungen vorweg, welche wenige Tage später von den Kronstädter Matrosen aufgestellt wurden. Am 24. Februar verhängten die Bolschewiki den "Belagerungszustand" über Petrograd, verhafteten die Anführer des Streiks und lösten die Demonstrationen der Arbeiter durch Offiziersanwärter mit Waffengewalt auf. Sie unterdrückten in der Tat weit mehr als nur eine "Meuterei unter den Matrosen", sie schlugen die Arbeiterklasse als solche zu Boden. Die Entwicklung hatte damit einen Punkt erreicht, der es Lenin erlaubte, die Ächtung jeglicher Fraktionsbildung in der Kommunistischen Partei zu verlangen. Es kam zur vollständigen Zentralisation der Partei – der Weg für Stalin war geebnet.
Diese Ereignisse sind hier deshalb so eingehend behandelt worden, weil sie einen Schluß zulassen, den die Marxisten-Leninisten der späteren Zeit zu vermeiden suchen: die Partei der Bolschewiki erreichte ihr Maximum an Zentralisation in Lenins Tagen nicht, um eine Revolution durchzuführen oder eine weißgardistische Konterrevolution zu zerschlagen, sondern um selber eine Konterrevolution durchführen zu können; eine Konterrevolution gegen jene gesellschaftlichen Kräfte, die sie doch repräsentieren wollte. Jede Fraktionsbildung war verboten und eine monolithische Partei geschaffen worden, aber nicht, um eine "kapitalistische Restauration" zu verhindern, sondern um einer Massenbewegung der Arbeiter für eine Sowjet-Demokratie und die soziale Freiheit entgegenzuwirken. Der Lenin des Jahres 1921 war genau das Gegenteil des Lenins von 1917. Später war Lenin einfach am Ende mit seinem Latein. Er, der vor allem versuchte, die Probleme seiner Partei als eine Folge der sozialen Widersprüche hinzustellen, spielte in Wirklichkeit nur noch ein organisatorisches "Spiel mit Zahlen". Es war der von vornherein ausssichtslose Versuch, die ganze, von ihm selbst ins Leben gerufene Bürokratisierung wieder zu bremsen. Nichts ist so bemitleidenswert und tragisch wie Lenins letzte Lebensjahre. Gefangen in dem viel zu primitiven System marxistischer Leitsätze, vermag er keine besseren Gegenmaßnahmen zu erkennen als solche organisatorischer Art. Um die bürokratischen Auswüchse in der Partei und im Staat auszumerzen, schlägt er die Bildung der Arbeiter- und Bauerninspektion vor – und diese Körperschaft gerät unter Stalins Kontrolle und wird ihrem Wesen nach selber extrem bürokratisch. Lenin schlägt daraufhin vor, daß die zahlenmäßige Stärke der Arbeiter- und Bauerninspektion reduziert und mit der Kontrollkommission verschmolzen wird. Er tritt zugleich für die Erweiterung des Zentralkomitees ein. Das spielt sich dann folgendermaßen ab: man vergrößert das Ganze, indem man zwei Teile miteinander vereinigt, um einen dritten wieder abzuändern oder verschwinden zu lassen. Dieses sonderbare Theater mit den Organisationsformen hält bis zu Lenins Tode an, als ob das Problem mit organisatorischen Mitteln gelöst werden könnte. Ganz in diesem Sinne schreibt Mosche Lewin, sonst ein eindeutiger Bewunderer Lenins, daß der Führer der Bolschewiki "die Regierungsprobleme eigentlich mehr wie ein leitender Beamter mit ausgesprochen "elitärer" Einstellung angepackt" habe."Bei der Führung des Staates verzichtete er auf sozialanalytische Methoden und blieb bei seinen Überlegungen im Bereich der organisatorischen Möglichkeiten."[25]
Wenn es stimmt, daß in den bürgerlichen Revolutionen die "Losungen mehr versprachen, als sich erfüllen ließ", dann ersetzten in der bolschewistischen Revolution äußere Formen die echte Erfüllung. So traten die Sowjets an die Stelle der Arbeiter und der Betriebskomitees und die Partei an die Stelle der Sowjets. An die Stelle der Partei trat dann das Zentralkomitee und an dessen Stelle schließlich das Politbüro. Kurz, an die Stelle des eigentlichen Zweckes traten die Mittel. Diese kaum faßbare Ersetzung des Zweckes durch äußere Formen ist eines der charakteristischsten Merkmale des Marxismus-Leninismus. In Frankreich war es während des Verlaufs der Mai- und Juniereignisse das Ziel aller bolschewistischen Organisationen, die Studentenversammlung in der Sorbonne zu sprengen, um dadurch den eigenen Einfluß zu vergrößern und neue Mitglieder zu gewinnen. Es ging ihnen in erster Linie nicht um die Revolution oder um die von den Studenten geschaffenen sozialen Formen, sondern um den Machtzuwachs der eigenen Partei.
Nur eine einzige Macht hätte dem Anschwellen der Bürokratie in Rußland Einhalt gebieten können: die Macht der Gesellschaft als solche. Wenn das russische Proletariat und die Landbevölkerung mehr Erfolg auf dem Gebiet der Selbstverwaltung gehabt hätten, wenn mehr lebensfähige Betriebskomitees, ländliche Kommunen und freie Sowjets entstanden wären, vielleicht hätte dann die Geschichte Rußlands eine dramatische Wendung genommen. Es steht außer Frage, daß das Fehlschlagen der sozialistischen Revolutionen im übrigen Europa nach dem ersten Weltkrieg zur Isolierung der Russischen Revolution führte. Rußlands materieller Mangel, dazu der Druck der umliegenden kapitalistischen Länder, waren schwerwiegende Hindernisse für den Aufbau einer sozialistischen oder gar einer wirklich freiheitlichen Gesellschaft. Es gab jedoch keinerlei Gründe dafür, daß sich Rußland nach staatskapitalistischen Gesichtspunkten entwickeln mußte. Hätte die aus dem Volke kommende Bewegung die ursprünglichen Ergebnisse der Revolution von 1917 wieder erneuert, hätte sich höchstwahrscheinlich eine vielfältige Gesellschaftsstruktur herausgebildet. Die Voraussetzungen hierfür wären durch die Arbeiterkontrolle in der Industrie, durch freie Märkte in der Landwirtschaft und durch eine lebendige Wechselwirkung zwischen Ideen, Programmen und politischen-Bewegungen gegeben gewesen. Auf jeden Fall aber wären Rußland die totalitären Ketten erspart geblieben, und der Stalinismus hätte nicht die revolutionären Bewegungen der ganzen Welt vergiften können, was dann letztlich zum Faschismus und zum zweiten Weltkrieg führte.
Man mag sich dazu stellen, wie man will, die Entwicklung der Partei der Bolschewiki war der Schlüssel für die Gesamtentwicklung – wobei die guten Absichten Lenins oder Trotzkis nicht bezweifelt werden sollen. Dadurch, daß die Bolschewiki den Einfluß der Betriebskomitees in der Industrie gebrochen und die Machnowzy, die Petrograder Arbeiter und die Kronstädter Matrosen vernichtet hatten, besiegelten sie den endgültigen Triumph der russischen Bürokratie über die russische Gesellschaft. Die zentralisierte Partei – diese ganz und gar bürgerliche Einrichtung – wurde zum Schlupfwinkel einer Konterrevolution übelster Art. Es war eine verschleierte Konterrevolution, die sich hinter der roten Fahne und der Marxschen Terminologie versteckte. Abschließend läßt sich sagen, was die Bolschewiki im Jahre 1921 bekämpften, war keine "Ideologie" oder "weißgardistische Verschwörung", sondern ein elementares Aufbegehren des russischen Volkes, das seine Fesseln loswerden und sein Schicksal selber bestimmen wollte.[26] Der Ausgang dieses Kampfes brachte Rußland den Alptraum der Stalinschen Diktatur. Den Menschen der dreißiger Jahre brachte er die Schreckenszeit des Faschismus und den Verrat der kommunistischen Parteien in Europa und den Vereinigten Staaten.
Die zwei Überlieferungen
Es wäre unglaublich naiv, wollte man den Leninismus für das Werk eines einzelnen halten. Diese Krankheit sitzt viel tiefer. Ihre Ursache liegt nicht so sehr in der Begrenztheit der Marxschen Theorie als vielmehr in den geistigen Grenzen jener gesellschaftlichen Epoche, welche den Marxismus entstehen ließ. Wer das nicht begreift, ist gegenüber der Dialektik und den Ereignissen unserer Zeit ebenso blind, wie es Marx, Engels, Lenin und Trotzki zu ihrer Zeit waren. Für uns ist eine solche Blindheit umso weniger zu entschuldigen, als wir uns auf eine Unmenge von Erfahrungen stutzen können, welche den eben Genannten bei der Entwicklung ihrer Theorien nicht zur Verfügung standen.
Karl Marx und Friedrich Engels waren Zentralisten – nicht nur in politischer, sondern auch in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht. Sie haben diese Tatsache nie bestritten, und ihre Schriften enthalten zahlreiche Loblieder auf die politische, die organisatorische und die wirtschaftliche Zentralisation. Bereits im März 1850 rufen sie in der berühmten "Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten" die Arbeiter auf, "nicht nur auf die eine und unteilbare deutsche Republik, sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinzuwirken". Damit diese Aufforderung nicht zu leicht genommen würde, wird sie in diesem Abschnitt mehrmals wiederholt. Der Abschnitt schließt mit dem Satz: "Wie in Frankreich 1793 ist heute in Deutschland die Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei".[27]
Dasselbe Thema taucht auch in den darauffolgenden Jahren immer wieder auf. So schreibt z.B. Marx bei Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges an Engels: "Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so wäre die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht wurde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen Überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc." (MEGA, Briefwechsel, III, 4, S. 340)
Marx und Engels waren aber nicht deshalb Zentralisten, weil sie an den Eigenwert des Zentralismus als solchen glaubten. Ganz im Gegenteil: Marxismus wie Anarchismus stimmten darin überein, daß eine befreite kommunistische Gesellschaft die Beseitigung der Zentralisation, die Auflösung der Bürokratie, das Absterben des Staates und das Verschwinden der großen Städte mit sich bringen wird. "Die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist hiernach nicht nur möglich", schreibt Engels im Anti-Dühring, "sie ist eine direkte Notwendigkeit der industriellen Produktion selbst geworden,... Nur durch Verschmelzung von Stadt und Land kann die heutige Luft-, Wasser- und Bodenvergiftung beseitigt werden,..."[28] Für Engels bedeutet das zugleich eine "möglichst gleichmäßige Verteilung[29] über das ganze Land"[30] – kurz, die wörtlich aufzufassende Dezentralisation der großen Städte.
Die Gründe für den Marxschen Zentralismus liegen in den Problemen, die nach der Bildung eines Nationalstaates auftreten. Bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein zerfielen Deutschland und Italien in eine Vielzahl unabhängiger Herzogtümer, Fürstentümer und Königreiche. Die Vereinigung dieser geographischen Einheiten zu geeinten Nationen war nach Ansicht von Marx und Engels eine unerläßliche Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Industrie und des Kapitalismus. Ihr Eintreten für den Zentralismus war nicht der Ausdruck innerer Überzeugung, sondern eine Konzession an die Umstände der damaligen Zeit – die Entwicklung der Technologie, des Handels, einer geeinten Arbeiterklasse und des Nationalstaats. Kurz gesagt, ihre Einstellung entsprach der Problematik der bürgerlichen Revolution in einer Zeit, welche noch vom materiellen Mangel geprägt war. Die Einstellung von Marx zu einer "proletarischen Revolution" war denn auch ganz anders. Enthusiastisch preist er die Pariser Kommune als "ein Muster für alle gewerblichen Mittelpunkte Frankreichs". "Sobald die kommunale Ordnung der Dinge", so schreibt er, "einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen."[31] (Hervorhebung durch den Verfasser) Die Einheit der Nation sollte erhalten bleiben, das stand fest, und für die Zeit des Übergangs zum Kommunismus sollte es eine Zentralregierung geben, wenn auch mit begrenzten Befugnissen.
Wir wollen uns hier nicht über einzelne Zitate von Marx und Engels auslassen; wir wollen vielmehr deutlich machen, wie manche Kernsätze des Marxismus – die heute so kritiklos übernommen werden – tatsächlich in einer Epoche konzipiert wurden, die durch die Entwicklung des Kapitalismus in den USA und in Westeuropa längst zur Vergangenheit geworden ist. Marx beschäftigte sich zu seiner Zeit nicht nur mit den Fragen der "proletarischen Revolution", sondern auch mit denen der bürgerlichen Revolution, die vor allem in Deutschland, Spanien, Italien und im Osten Europas zu erwarten war. Er befaßte sich mit den Problemen des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus in kapitalistischen Ländern, welche sich noch nicht viel über die Kohle- und Stahlproduktion der industriellen Revolution hinaus entwickelt hatten, und er befaßte sich mit den Problemen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in Ländern, welche kaum über die handwerkliche Fertigungsweise und das Zunftwesen hinausgelangt waren. Um diesen Stoff möglichst ausführlich behandeln zu können, beschäftigte sich Marx vorwiegend mit den allgemeinen Voraussetzungen der Freiheit (technologische Entwicklung, nationale Einigung und materieller Überfluß) und erst in zweiter Linie mit den besonderen Bedingungen der Freiheit (Dezentralisation, Bildung von Gemeinschaften, menschliche Gleichberechtigung und direkte Demokratie). Der Schwerpunkt seiner Theorien lag noch im Bereich des Überlebens und nicht im Bereich des Lebens.
Wenn man das einmal begriffen hat, läßt sich das theoretische Vermächtnis von Marx zu einem sinnvollen Zukunftsbild ordnen – lassen sich seine geistvollen Beiträge von den geschichtsbedingten, heute tatsächlich lähmenden Fesseln befreien. Die Marxsche Dialektik, die vielen schöpferischen Gedanken im Zusammenhang mit dem historischen Materialismus, die ausgezeichnete Kritik der Warenverhältnisse, vieles aus seiner ökonomischen Theorien, die Theorie der Entfremdung und nicht zuletzt das Aufzeigen der materiellen Voraussetzungen der Freiheit – dies alles sind Beiträge von bleibendem Wert für das revolutionäre Denken.
Aber weiter, die Marxsche Überbewertung des Industrieproletariats als "Antriebskraft" des revolutionären Umschwungs, seine "Klassentheorie" zur Erklärung des Übergangs von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft, sein Konzept von der "Diktatur des Proletariats", sein Eintreten für den Zentralismus, seine Theorie von der kapitalistischen Entwicklung (die Staatskapitalismus und Sozialismus miteinander verbinden will), seine Befürwortung der politischen Betätigung in Gestalt gewählter Parteien – diese und noch einige andere Stellungnahmen erweisen sich unter den heutigen Umständen als falsch, ja, sie waren schon damals irreführend, wie wir noch sehen werden. Diese Irrtümer sind eine Folge des begrenzten Einsichtsvermögens von Marx oder, besser gesagt, der begrenzten Erkenntnismöglichkeiten seiner Zeit. Sie werden verständlich, wenn wir daran denken, daß Marx den Kapitalismus für progressiv im Sinne der Geschichte hielt und ihn als eine unerläßliche Vorstufe in der Entwicklung zum Sozialismus ansah. Die Möglichkeit, verwirklicht zu werden, hatten die Marxschen Konzepte nur zu der damaligen Zeit, als speziell Deutschland vor besonderen bürgerlich-demokratischen Aufgaben und vor seiner nationalen Einigung stand. (Wir versuchen also nicht zu behaupten, daß Marx mit seiner Einstellung recht hatte, sondern nur, daß diese aus der damaligen Zeit und ihren Umständen heraus zu verstehen ist.)
So wie die Russische Revolution unter ihrer Oberfläche eine gegen den Bolschewismus gerichtete "Massen"-Bewegung barg, so gab es schon immer in der Geschichte eine Bewegung, welche sich mehr oder weniger offen gegen das jeweilige autoritäre System richtete. In unserer Zeit tritt diese Bewegung unter dem Namen "Anarchismus" auf, obgleich sie sich niemals durch eine bestimmte Ideologie oder durch eine Sammlung geheiligter Schriften einengen ließ. Anarchismus ist eine Bewegung, die sich aus innerem Bedürfnis heraus für die Humanität einsetzt und sich gegen alle Formen des Zwanges wendet, die seit dem Aufkommen der Eigentumsgesellschaft, der Klassenherrschaft und des Staates entstanden sind. Eine besonders auffallende Rolle spielte der Anarchismus immer dann, wenn sich die sozialen Kämpfe in einer Zeit des Übergangs zwischen zwei geschichtlichen Epochen abspielten. Der Niedergang der alten feudalistischen Welt ließ Massenbewegungen aufbranden, mitunter von dionysischer Wildheit, welche die Abschaffung aller Systeme der Autorität, der Privilegien und der Unterdrückung verlangten.
Die anarchistischen Strömungen der Vergangenheit blieben weitgehend ohne Erfolg, weil der materielle Mangel, eine Folge des niedrigen technologischen Niveaus, kein organisches Aufeinanderabstimmen der menschlichen Interessen erlaubte. Alle Gesellschaften, welche in materieller Hinsicht etwas mehr als nur gleichbleibende Armut zu bieten hatten, zeigten ohne Ausnahme einen tiefverwurzelten Hang zur Bildung neuer Systeme von Privilegien. Da es noch keine Technologie gab, die einen merklich kürzeren Arbeitstag gestattet hätte, schloß schon die Menge der zu bewältigenden Arbeit die sozialen Institutionen der Selbstverwaltung aus. Die Girondisten der Französischen Revolution hatten schnell erkannt, daß sie den Arbeitstag gegen das revolutionäre Paris ausspielen konnten. Um radikale Elemente von den Sektionen fernzuhalten, versuchten sie ein Gesetz zu erlassen, wonach alle beratenden Versammlungen spätestens um 10 Uhr abends beendet sein sollten, gerade zu der Stunde, an welcher die Pariser Arbeiter von ihrer Arbeit heimkehrten. Freilich waren es nicht nur die manipulativen Techniken und der Verrat der "avantgardistischen" Organisationen, welche der anarchistischen Phase früherer Revolutionen ein Ende machten, es waren auch die begrenzten materiellen Möglichkeiten dieser Zeitabschnitte. Die "Massen" mußten immer wieder in ein Leben der harten Arbeit zurück und nur selten waren sie frei genug, Selbstverwaltungsorgane zu schaffen, welche die Revolution überdauerten.
Anarchisten, wie Bakunin und Kropotkin, taten jedenfalls recht daran, wenn sie Marx wegen seines Eintretens für den Zentralismus und wegen seiner elitären Vorstellungen betreffs der Organisationen kritisierten. War der Zentralismus in der damaligen Zeit wirklich notwendig für den technologischen Fortschritt? Profitierte etwa die Arbeiterbewegung vom Entstehen stark zentralisierter Wirtschaftsunternehmen und eines "unsichtbaren" Staates? Wir neigen dazu, diese Behauptungen des Marxismus viel zu kritiklos zu übernehmen, größtenteils wohl deswegen, weil sich der Kapitalismus selber unter zentralistisch orientierten politischen Verhältnissen entwickelt hat. Die Anarchisten des vorigen Jahrhunderts warnten davor, daß das Marxsche Bekenntnis zum Zentralismus, insoweit es den Gang der Ereignisse beeinflusse, zu einer Stärkung der Bourgeoisie und des Staatsapparates führen müsse, und daß die Abschaffung des Kapitalismus dadurch aufs äußerste erschwert werde. Die revolutionäre Partei könne, sobald sie diese zentralistischen und hierarchischen Merkmale nachahme, in der nachrevolutionären Gesellschaft auch nur wieder hierarchische und zentralistische Verhältnisse schaffen.
Bakunin, Kropotkin und Malatesta waren nicht so naiv, um anzunehmen, der Anarchismus lasse sich über Nacht verwirklichen. Gerade das aber behaupteten Marx und Engels von Bakunin und verdrehten so die Ansichten dieses russischen Anarchisten. Überhaupt glaubten die Anarchisten des vorigen Jahrhunderts nicht daran, daß die Abschaffung des Staates mit dem "Niederlegen der Waffen" unmittelbar nach der Revolution verbunden sein müsse. Marx hatte diese irreführende Behauptung aufgestellt, und Lenin wiederholte sie gedankenlos in "Staat und Revolution". In Wirklichkeit ist vieles, das in "Staat und Revolution" für Marxismus ausgegeben wird, nichts anderes als Anarchismus, z.B. die Einberufung revolutionärer Milizen anstelle eines Berufsheeres und die Schaffung von Selbstverwaltungsorganen anstelle von parlamentarischen Körperschaften. Das wenige wirklich Marxistische in Lenins Kampfschrift sind die Forderung noch "striktem Zentralismus", die Billigung einer "neuen" Bürokratie und die Gleichsetzung der Sowjets mit dem Staat.
Die Anarchisten des vorigen Jahrhunderts beschäftigten sich sehr eingehend mit der Frage, wie man die Industrialisierung durchführen könne, ohne dabei den revolutionären Geist der "Massen" zu zerstören und der Befreiung neue Hindernisse in den Weg zu legen. Sie befürchteten, daß die Zentralisation die Widerstandskraft der Bourgeoisie gegen die Revolution verstärken und beim Arbeiter ein Gefühl der Abhängigkeit hervorrufen könnte. Sie versuchten, alle diejenigen vorkapitalistischen Gemeinschaftsformen wieder ins Leben zu rufen, welche möglicherweise das Sprungbrett zu einer freien Gesellschaft abgeben konnten (solche wie den russischen mir und den spanischen pueblo). Es ging dabei nicht nur um die Gliederung der neuen Gesellschaften, sondern auch um den sie beseelenden Geist. Jedenfalls betonten alle Anarchisten des vorigen Jahrhunderts nachdrücklich die Notwendigkeit der Dezentralisation, selbst unter kapitalistischen Verhältnissen. Anders als die marxistischen Parteien, richteten ihre Organisationen ihr besonderes Augenmerk auf die sogenannte "ganzheitliche Erziehung" – die Entwicklung des ganzen Menschen – um dem verderblichen und verflachenden Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzuarbeiten. Die Anarchisten versuchten, nach den Wertbegriffen der Zukunft zu leben, zumindest, soweit dies unter dem Kapitalismus möglich war. Sie glaubten an die direkte Aktion, weil sie die Initiative der "Massen" anregen, den revolutionären Geist aufrechterhalten und zu spontanem Handeln ermutigen würde. Sie versuchten, Organisationen auf der Grundlage der gegenseitigen Hilfe und der Brüderlichkeit aufzubauen, Organisationen, in welchen die Kontrolle von unten nach oben und nicht von oben nach unten ausgeübt werden sollte.
Hier müssen wir einmal eine kurze Pause einlegen, um die anarchistischen Organisationsformen etwas näher zu untersuchen, und sei es nur deshalb, weil diese durch eine Menge Unsinn in ein ganz falsches Licht gerückt wurden. Anarchisten, oder zumindest Anarcho-Kommunisten, bejahen die Notwendigkeit der Organisation.[32]Das noch einmal erläutern zu müssen, wäre ebenso absurd, als wenn man am Marxschen Eintreten für eine soziale Revolution zweifeln wollte.
Die eigentliche Fragestellung unseres Themas lautet nicht Organisation oder Nicht-Organisation, sondern welche Art der Organisation die Anarcho-Kommunisten zu verwirklichen suchen. Was allen Arten der anarcho-kommunistischen Organisationen gemeinsam ist, ist der organische Aufbau von unten. Es gibt also keine Körperschaften, die sich eine absteigende Reihe von Unterorganisationen schaffen. Stets handelt es sich um soziale Bewegungen, die einen schöpferischen revolutionären Lebensstil mit einer schöpferischen revolutionären Theorie verbinden. Sie unterscheiden sich damit grundsätzlich von den politischen Parteien, deren Lebensweise mit der ihrer bürgerlichen Umgebung Übereinstimmt, und deren Ideologie nicht über unbewegliche "Programme des Ausprobierens" hinauskommt. Soweit es im Bereich menschlicher Möglichkeiten liegt, versuchen sie ihr Ziel, die befreite Gesellschaft, schon im kleinen zu verwirklichen und dabei jedes Kopieren des herrschenden Systems der Hierarchie, der Klassen und des autoritären Verhaltens zu vermeiden. Sie verteilen sich auf eng in sich verbundene Gruppen von Brüdern und Schwestern – Affinitätsgruppen –, deren Aktionsfähigkeit hauptsächlich auf der Eigeninitiative und der freien Übereinkunft beruht. Diese Übereinkunft ist Ausdruck einer tiefen persönlichen Anteilnahme und hat nichts mit jenen bürokratischen Apparaten zu tun, welche von einer fügsamen Gefolgschaft am Leben erhalten und von oben durch eine Handvoll allwissender Führer gegängelt werden.
Die Anarcho-Kommunisten bestreiten nicht die Notwendigkeit der Koordination zwischen den Gruppen, der Disziplin, des genauen Planens und der einheitlichen Aktionen. Sie sind jedoch davon überzeugt, daß Koordination, Disziplin, Planen und Aktionseinheit freiwillig erfolgen müssen, aus einer durch Zustimmung und Einsicht entstehenden Selbstdisziplin heraus und nicht als Folge irgendeines Zwanges oder in Form gedankenloser und blinder Befolgung höherer Befehle. Sie versuchen, die dem Zentralismus zugeschriebene Wirksamkeit mit Hilfe ihrer inneren Überzeugung und mit den durch die Vernunft gebotenen Mitteln zu erreichen, wozu sie keiner hierarchischen oder zentralistischen Gliederung bedürfen. Affinitätsgruppen können diese Wirksamkeit durch Abhalten von Versammlungen, durch Aktionskomitees und durch lokale, regionale oder nationale Konferenzen erreichen. Immer aber verzichten sie auf organisatorische Strukturen, wenn sie nur dem Selbstzweck dienen, lassen Komitees nur bis zur Erfüllung ihrer praktischen Aufgaben bestehen und verwerfen jegliches Führertum, weil es den Revolutionär zum geistlosen Roboter macht.
Diese Haltung ist nicht das Ergebnis flüchtiger "individualistischer" Neigungen; ganz im Gegenteil, sie ergibt sich aus dem eingehenden Studium der früheren Revolutionen, aus der Untersuchung über den Einfluß der zentralistischen Parteien auf den revolutionären Prozeß und aus der Natur der sozialen Veränderungen in einer Ära, welche durch die Möglichkeit des materiellen Überflusses gekennzeichnet ist. Den Anarcho-Kommunisten geht es vor allem um Erhalt und Fortbestehen der revolutionären Phase, mit der alle großen sozialen Revolutionen beginnen. Sie betonen, mehr noch als die Marxisten, daß Revolutionen der Ausdruck tiefgehender geschichtlicher Prozesse sind. Eine soziale Revolution wird nicht von irgendeinem Zentralkomitee "gemacht"; bestenfalls kann ein solches einen Staatsstreich inszenieren, wobei dann eine Hierarchie durch eine andere ersetzt wird, – oder ungünstigenfalls wird es den revolutionären Prozeß unterdrücken, sobald sein Einfluß ein gewisses Maß überschreitet. Ein Zentralkomitee ist ein Mittel, um an die Macht zu kommen, um an der Macht zu bleiben und um sich das anzueignen, was die "Massen" durch ihren revolutionären Einsatz erreicht haben. Wer diese bedeutsamen Tatsachen ignoriert, hat die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte nicht begriffen.
Früher konnten die Marxisten immerhin noch einen plausiblen (wenn auch sehr schwachen) Grund für die Notwendigkeit einer zentralistischen Partei anführen, weil die anarchistische Phase der Revolution infolge des materiellen Notstands nicht in Erscheinung treten konnte. Es waren im wesentlichen ökonomische Grunde, welche die "Massen" bisher zur Wiederaufnahme des täglichen Arbeitsrythmus zwangen. Die Revolution endete um zehn Uhr, ganz wie es die reaktionären Bestrebungen der Girondisten des Jahres 1793 bezweckten; sie endete aufgrund des niedrigen technologischen Niveaus. Heute ist selbst diese Entschuldigung wegen der bestehenden Überfluß-Technologie nicht mehr aufrechtzuerhalten, zumal nicht in den USA und in Westeuropa. Es ist nunmehr der Punkt erreicht, wo die "Massen" den "Bereich ihrer Freiheit", wie er von den Marxisten verstanden wird, unverzüglich und in ganz erheblichem Maße erweitern können – um so die Zeit zu gewinnen, die zur Erreichung des höchstmöglichen Grades an Selbstverwaltung erforderlich ist.
Die Ereignisse des Mai und Juni in Frankreich machten deutlich, daß es bei den Massen durchaus nicht an dem entsprechenden Bewußtsein fehlte. Was Paris zeigte, war das Fehlen einer Organisation zur systematischen Propagierung von Ideen – wobei nicht Ideen schlechthin gemeint sind, sondern solche, die das Konzept der Selbstverwaltung zum Ausdruck bringen. Den französischen "Massen" fehlte kein Zentralkomitee oder ein Lenin, um sie zu "organisieren" oder zu "befehligen"; es fehlte die Überzeugung, daß sie imstande seien, die Fabriken auch in Betrieb zu halten und nicht bloß zu besetzen. Wir dürfen nicht vergessen, daß keine einzige der Parteien bolschewistischen Typs in Frankreich die Forderung nach Selbstverwaltung erhob. Diese Forderung stellten nur die Anarchisten und die Situationisten.
So notwendig eine revolutionäre Organisation ist, man muß sich stets ihrer Funktion bewußt bleiben. Sie hat in erster Linie der Propaganda zu dienen, "geduldig zu erklären", wie sich Lenin ausdrückte. In einer revolutionären Situation erhebt die revolutionäre Organisation die schärfsten Forderungen: sie ist zu jedem Zeitpunkt des Geschehens bereit, unverzüglich und in ganz konkreter Form alles das zu verlangen, was zur Vorantreibung des revolutionären Prozesses erforderlich erscheint. Sie stellt die militanten Elemente, bei den Aktionen wie in de entscheidenden Organen der Revolution.
Worin unterscheiden sich nun eigentlich die anarcho-kommunistischen Gruppen von der Partei bolschewistischen Typs? Bestimmt nicht darin, was die Notwendigkeit der Organisation, des Planens, der Koordination und jegliche Art von Propaganda angeht, oder hinsichtlich der Notwendigkeit eines sozialen Programms. Der grundsätzliche Unterschied zu einer Partei bolschewistischen Typs besteht vielmehr in der Überzeugung, daß wirkliche Revolutionäre in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Revolution handeln müssen und nicht als Vollstrecker der von der Partei gefaßten Beschlüsse.
Das bedeutet: der Revolutionär hat sich den revolutionären Organen der Selbstverwaltung und nicht der revolutionären "Organisation" verpflichtet zu fühlen, oder anders ausgedruckt, den sozialen Körperschaften und nicht den politischen. Anarcho-Kommunisten versuchen, die Fabrikkomitees, die Versammlungen oder die Räte zu überreden, sich selbst in echte Organe der Selbstverwaltung umzuwandeln und auf Herrschaft, Manipulationen oder Unterwerfung unter eine unfehlbare politische Partei zu verzichten. Anarcho-Kommunisten versuchen nicht, die revolutionären Organe irgendwelchen staatlichen Einrichtungen zu unterstellen; ganz im Gegenteil, sie wollen alle Einrichtungen der vorrevolutionären Periode (einschließlich ihrer eigenen) in diesen revolutionären Organen aufgehen lassen.
Diese Unterschiede sind deutlich genug. Was sollen alle Redereien und Slogans; in Wirklichkeit haben die russischen Bolschewiki nie an die Sowjets geglaubt, für sie waren sie nur Werkzeuge ihrer Partei. Genau so verhielten sich dann auch die französischen Trotzkisten in der Studentenversammlung der Sorbonne, die französischen Maoisten gegenüber den französischen Gewerkschaften und die verschiedenen Gruppierungen der alten Linken gegenüber dem SDS. Etwa um das Jahr 1921 waren die Sowjets praktisch bedeutungslos geworden; alle Entscheidungen wurden vom Zentralkomitee und Politbüro der Partei der Bolschewiki getroffen. Die Anarcho-Kommunisten versuchen heute, nicht nur die marxistischen Parteien von einer Wiederholung dieses Fehlers abzuhalten, sie sind auch bestrebt, ihre eigene Organisation vor dem Abgleiten in eine ähnliche Rolle zu bewahren. Entsprechend achten sie darauf, daß sich auch in den eigenen Reihen keine bürokratischen, hierarchischen und elitären Gewohnheiten herausbilden. Darüberhinaus versuchen sie, selber zu neuen Menschen zu werden; sie versuchen, die eigene Persönlichkeit von all den autoritären Zügen und elitären Neigungen zu befreien, die diese in der hierarchisch ausgerichteten Gesellschaft fast von Geburt an aufgenommen hat. Insgesamt gesehen, gilt das Interesse der anarchistischen Bewegung jedoch nicht so sehr der eigene Vervollkommnung als vielmehr der Vollkommenheit der Revolution als solcher.[33]
Unter all den neben- und durcheinanderlaufenden ideologischen Gedankengängen unserer Zeit dürfen wir niemals diese eine Frage aus dem Auge verlieren: Was, zum Teufel, wollen wir denn mit einer Revolution erreichen? Wollen wir die Revolution, um wieder ein neues hierarchisches System zu schaffen und auch weiterhin, ganz im Banne der Humanität, den verschwommenen Traum von einer fernen Freiheit träumen? Wollen wir mit ihrer Hilfe den technologischen Fortschritt noch mehr forcieren, um einen noch größeren Überfluß an Gütern produzieren zu können? Wollen wir die Revolution, um mit der Bourgeoisie "gleichziehen" zu können? Wollen wir sie, um die PL an die Macht zu bringen? Oder die Kommunistische Partei? Oder die Sozialistische Arbeiter-Partei? Wollen wir mit ihrer Hilfe abstrakte Begriffe ins Spiel bringen, Begriffe wie "Proletariat", "Volk", "Geschichte", "Gesellschaft"?
Oder ist es der Sinn der Revolution, Hierarchie, Klassenherrschaft und Unterdrückung zu beseitigen – um es jedem von uns zu ermöglichen, den Ablauf seines Alltags selbst zu bestimmen? Soll durch sie jede Stunde unseres Lebens so herrlich werden, wie es nur eben geht, und soll das Leben jedes einzelnen zum fortwährenden, ihn ganz erfüllenden Erleben werden? Wenn es bei der Revolution nur darum ginge, die Neandertaler der PL an die Macht zu bringen, dann brauchten wir erst gar nicht damit anzufangen. Schluß auch endlich mit den sinnlosen Diskussionen, ob sich die individuelle Entwicklung trennan läßt von der gesellschaftlichen und kommunalen Entwicklung; es ist doch ganz offensichtlich, daß dies nicht möglich ist. Die Grundlage für ein wirklich menschenwürdiges Dasein ist und bleibt nun mal die freie Gesellschaft.
Im übrigen sehen wir uns noch immer der Frage gegenübergestellt, die schon Marx im Jahre 1850 aufwarf: Wann werden sich unsere Dichter mit der Zukunft beschäftigen anstatt mit der Vergangenheit? Der Tote soll endlich den Toten verbrennen dürfen. Der Marxismus ist tot, weil er aufs engste mit den Zeiten des materiellen Mangels verknüpft war, und weil sich, als Folge dieser Verbundenheit, seine Möglichkeiten ausschließlich mit der Befriedigung materieller Bedürfnisse befaßten. Mit der Entwicklung einer Technologie, vor der zur Zeit von Marx selbst die wildeste Science Fiction kapituliert hätte, ist uns nunmehr die Möglichkeit zur Errichtung einer Überflußgesellschaft gegeben. Die vielen Institutionen der Eigentumsgesellschaft – die Klassenherrschaft, die hierarchischen Strukturen, die patriarchalische Familie, die Städte und der Staat – sie alle haben jetzt zu verschwinden. Heutzutage ist die Dezentralisation nicht nur wünschenswert, weil sie der Wiederherstellung des innergesellschaftlichen Gleichgewichts dient, sie ist sogar unerläßlich geworden, weil wir eine lebenserhaltende Ökologie brauchen, wenn wir das Leben auf diesem Planeten vor den schädlichen Abfallprodukten und der Bodenerosion bewahren wollen, und wenn uns eine gesunde Luft und das Gleichgewicht in der Natur erhalten bleiben sollen. Ebenso notwendig ist eine stärkere Entwicklung der allgemeinen Spontaneität, denn nur so wird es die soziale Revolution dem einzelnen möglich machen, die Gestaltung des eigenen Alltags selbst zu übernehmen.
Mit dem Abbau der Klassengesellschaft werden die in ihr üblichen Kampfformen nicht sofort und völlig verschwinden, sondern zunächst einmal den Problemen der klassenlosen Gesellschaft angepaßt werden. Da es keine soziale Revolution ohne Gewinnung der Arbeiterschaft geben kann, muß diese in ihrem Kampf gegen die Ausbeutung von uns tatkräftig unterstützt werden. Wir bekämpfen die Verbrechen an der Gesellschaft, wo immer sie verübt werden – und die industrielle Ausbeutung ist ein solches Verbrechen. Aber auch der Rassismus, die Verweigerung der Selbstbestimmung, der Imperialismus und das zwangsweise Aufrechterhalten der Armutsverhältnisse sind gemeine Verbrechen an der Gesellschaft – und weiter zählen dazu die Umweltverseuchung, die uferlose Verstädterung, die Sozialisierung zum Schaden der Jugend und die sexuelle Repression. Was das Problem der Gewinnung der Arbeiterklasse für die Sache der Revolution angeht, so dürfen wir nicht vergessen, daß wir im Proletariat einen der Entstehungsgrunde der Bourgeoisie vor uns haben. Der Kapitalismus, als ein soziales System, setzt die gleichzeitige Existenz dieser beiden Klassen voraus und sieht in deren Weiterentwicklung die Garantie für sein eigenes Fortbestehen. Wir unterminieren das Fundament der Klassenherrschaft in eben dem Maße, in dem wir zur Aufhebung der Klassenschranken beitragen, zumindest in institutioneller, psychologischer und kultureller Hinsicht.
Zum ersten Male in der Geschichte kann die anarchistische Phase, die alle großen Revolutionen der Vergangenheit eingeleitet hat, zu einem Dauerzustand werden, und zwar aufgrund der fortgeschrittenen Technologie unserer Zeit. Die anarchistischen Einrichtungen dieser Phase – die Versammlungen, die Fabrikkomitees und die Aktionskomitees – können zu bleibenden Elementen der befreiten Gesellschaft und eines neuartigen Systems der Selbstverwaltung werden. Wollen wir eine Bewegung aufbauen, die das einmal verteidigen wird? Ist es nicht möglich, eine Organisation von Affinitätsgruppen zu gründen, die einmal in diesen revolutionären Institutionen aufgehen kann? Oder wollen wir eine hierarchisch gegliederte, zentralisierte und bürokratische Partei schaffen, die sie zu beherrschen, zu verdrängen und schließlich aufzulösen versucht?
Hör zu, Marxist: Die Organisation, die wir aufbauen wollen, ist von der gleichen Art wie die Gesellschaft, die durch unsere Revolution entstehen wird. Entweder wir lösen uns von der Vergangenheit – als einzelne und in der Gruppe – oder wir werden den Kampf um die Zukunft verlieren.
New York, Mai 1969.
Eine Anmerkung zu den Affinity Groups
Die Bezeichnung "affinity group" ist die englische Übersetzung der spanischen grupo del afinidad (wörtlich: Verwandtschaftsgruppe, d.U.). So hieß eine in den Tagen vor Franco entstandene Organisationsform, deren Gruppen die gefürchtete Federación Anarquista Ibericá, die Iberische Anarchistische Föderation, bildeten (die FAI war das Sammelbecken für die militanten Idealisten in der CNT, der mächtigen Anarcho-syndikalistischen Arbeiter Union). Selbstverständlich wäre eine sklavische Nachahmung der Organisationsformen der FAI und ihrer Methoden weder möglich noch wünschenswert. Die spanischen Anarchisten der dreißiger Jahre standen ja ganz anderen sozialen Problemen gegenüber als Amerikas Anarchisten unserer Zeit. Die Affinitätsgruppen als solche besitzen jedoch Eigenarten, welche sie für jede soziale Situation geeignet machen. Amerikas Radikale haben diese Eigenarten schon oft ganz intuitiv übernommen. Das Resultat, die so entstandenen Organisationen, nannten sie dann "Kollektive", "Kommunen" oder "Familien".
Man könnte die Affinitätsgruppen am ehesten als eine neue Art von erweiterter Familie bezeichnen. In ihr sind die verwandtschaftlichen Bande durch tiefempfundene menschliche Bindungen ersetzt – Bindungen, die von den gemeinsamen revolutionären Ideen und ihrer gemeinsamen Verwirklichung getragen werden. Lange Zeit bevor das Wort "tribe" (wörtlich: Stamm, Sippe, d.U.) in der amerikanischen Gegenkultur populär wurde, nannten die spanischen Anarchisten ihre Kongresse assembleas de las tribus – Versammlungen der Stämme. Jede Affinitätsgruppe hält von sich aus die Zahl ihrer Mitglieder niedrig, damit sich zwischen diesen ein möglichst hoher Grad von Vertraulichkeit bildet. Unabhängig, sich selbst versorgend und nach demokratischen Prinzipien lebend, verbindet die Gruppe ihre revolutionäre Theorie mit einem revolutionären Lebensstil. Sie schafft einen Freiraum, damit sich die Revolutionäre innerhalb desselben als Persönlichkeiten und als Glieder der Gemeinschaft erneuern können.
Affinitätsgruppen sollen innerhalb der Volksbewegung als Katalysatoren wirken, aber nicht als Avantgarde; sie regen die Initiative und das Bewußtsein an, aber nicht als "Generalstab" oder als "Befehlsgeber". Die Gruppen vermehren sich auf der molekularen Ebene und sie haben ihre eigene "Brownsche Bewegung". Sie wirken entweder gemeinsam oder sie trennen sich, wenn es der aktuelle Anlaß erforderlich macht; aber sie handeln nicht aufgrund bürokratischer Weisungen einer irgendwo anders gelegenen Zentrale. Unter den Bedingungen politischer Verfolgung sind Affinitätsgruppen gegen polizeiliche Unterwanderung gefeit. Dank der engen Verbundenheit ihrer Mitglieder untereinander sind die Gruppen in der Regel schwer zu durchsetzen; und selbst, wenn das einmal geschehen sollte, existiert kein zentraler Apparat, der dem Eindringling einen Überblick über die Bewegung als Ganzes verschaffen könnte. Affinitätsgruppen können aber selbst unter solch außergewöhnlichen Bedingungen die Kontakte untereinander durch ihre Zeitschriften und ihre Literatur aufrecht erhalten.
Andererseits können Affinitätsgruppen in Zeiten stärkerer Aktivität eng miteinander zusammenarbeiten, ganz wie es die jeweilige Situation erfordert. Sie können sich ohne weiteres zu örtlichen, regionalen oder nationalen Versammlungen zusammenfinden, etwa um Angelegenheiten der Allgemeinheit zu klären, und sie können vorübergehend Aktionskomitees ins Leben rufen (wie die der französischen Studenten und Arbeiter im Jahre 1968), um spezielle Aufgaben miteinander zu koordinieren. Affinitätsgruppen sind stets aufs engste mit der Volksbewegung verwachsen. Ihre Treue gilt der sozialen Wirklichkeit, wie sie vom revolutionären Volk gestaltet wird, nicht einer unpersönlichen Bürokratie. Ihre Unabhängigkeit und ihr Vertrautsein mit dem Lokalkolorit gestattet den Gruppen das gefühlsmäßige Erfassen neuer Möglichkeiten. Immer wieder Erfahrungen sammelnd und völlig frei in ihren Gewohnheiten, geben sie sich selbst und der Volksbewegung laufend neue Impulse. Jede Gruppe versucht, sich in erster Linie solche Hilfsquellen zu erschließen, mit denen sie den eigenen Bedarf befriedigen kann. Sie strebt außerdem nach einem hohen Maß an Wissen und Erfahrung, um die sozialen und psychologischen Hindernisse zu überwinden, welche die bürgerliche Gesellschaft der individuellen Weiterentwicklung in den Weg stellt. Die einzelnen Gruppen stellen auf diese Weise Kristallisationspunkte der Bewußtseinsbildung und der Erfahrung dar. Sie versuchen, die spontane revolutionäre Volksbewegung bis zu einem Punkt voranzutreiben, an dem sie selber in den organischen Gesellschaftsformen der Revolution aufgehen können.
[1] Karl Marx, Der achtzehnte Brummaire des Louis Bonaparte, Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. I, S. 226f., Dietz Verlag Berlin, 1970
[2] Diese Zeilen entstanden zu einem Zeitpunkt, an dem die Progressive Labor Party (PLP) noch einen großen Einfluß im SDS besaß. Obwohl die PLP nunmehr den größten Teil ihres Einflusses bei der Studentenbewegung verloren hat, bietet sie trotzdem ein gutes Beispiel für die Mentalität und die Werte der Alten Linken. Die obige Charakterisierung steht gleichwertig für alle marxistisch-leninistischen Gruppen, weshalb dieser Passus und andere Bemerkungen über die PLP den Sinne nach unverändert bleiben konnten.
[3] Die Dodge Revolutionary Union Movement, ein Teil der in Detroit beheimateten Liga der Revolutionären schwarzen Arbeiter.
[4] Marxismus ist in erster Linie eine Theorie, welche sich auf die Praxis bezieht, oder korrekt ausgedruckt, eine von der Theorie bestimmte Praxis. Das ist die eigentliche Bedeutung der Marxschen Transformation der Dialektik aus dem subjektiven Bereich (der nach Ansicht der Junghegelianer allein von Hegel gemeint war) in den objektiven Bereich, d.h. der Transformation der philosophischen Kritik zur sozialen Aktion. Wenn Theorie und Praxis getrennt werden, wird der Marxismus nicht getötet, sondern begeht Selbstmord. Das ist sein erstaunlichstes und vornehmstes Charakteristikum. Die Anstrengungen der Schwachköpfe unter den Marxschen Epigonen, dessen System mit Hilfe eines Flickwerks von Korrekturen, Auslegungen und vor allem einer Scheingelehrsamkeit à la Mauric Dobb und George Novack am Leben zu erhalten, sind erniedrigende Beleidigungen des Namens von Marx und eine widerliche Befleckung alles dessen, für das er eintrat.
[5] Es ist erstaunlich, wie wenig die Marxisten in unseren Tagen von einer chronischen Wirtschaftskrise des Kapitalismus sprechen, obwohl die Annahme einer solchen das Kernstuck der marxistischen Wirtschaftstheorie bildet.
[6] Marx gebrauchte vor hundert Jahren den Ausdruck "Beherrschung der Natur durch den Menschen" in einem so vereinfachenden Sinn, daß wir ihn heute aus ökologischen Gründen nicht mehr akzeptieren können. Näheres hierzu siehe "Ökologie und revolutionäres Denken".
[7] Es ist bittere Ironie, daß alle Marxisten, welche von der "wirtschaftlichen Kraft" des Proletariats sprechen, in Wirklichkeit Nachbeter des anarchosyndikalistischen Standpunkts sind, eines Standpunkts, welcher von Marx heftig angegriffen wurde. Marx vertrat nicht die "wirtschaftliche Kraft" des Proletariats, sondern dessen politische Macht: wohlgemerkt, wenn es die Majorität der Bevölkerung bilden wurde. Er war überzeugt, daß die Industriearbeiter vor allem durch das Elend – eine Folge des kapitalistischen Akkumulationsstrebens – zur Revolution gezwungen würden. Durch das Fabrik-System organisiert und dank der industriellen Routine diszipliniert, könnten sie Gewerkschaften und, mehr noch, politische Parteien bilden. Diese müßten dann in bestimmten Ländern Methoden des Aufruhrs anwenden, in anderen aber (so in England und den Vereinigten Staaten, nach Engels später auch noch in Frankreich) würden sie leicht durch Wahlen und demokratischen Sozialismus an die Macht gelangen. Für viele Marxisten ist es charakteristisch, daß sie ihren Marx und Engels ebenso verleugnet haben, wie es die P.L. mit den Lesern des „Challenge“ gemacht hat, als sie wichtige Bemerkungen der beiden einfach wegließ oder als sie Sinn und Grunde bestimmter Schlußfolgerungen von Marx grob verdrehte.
[8] An dieser Stelle können wir gleich von der Vorstellung Abschied nehmen, ein "Proletarier" sei jemand, der nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen habe. Gewiß, Marx gebrauchte diese Worte für das Proletariat, aber er wies auch die geschichtliche Dialektik in der Entwicklung des Proletariats nach. Es entwickele sich aus einer besitzlosen, ausgebeuteten Klasse und erreiche seine letzte und höchste Form im Industrie-Proletariat. Nach Marx entsprach diese fortgeschrittenste Form der Klasse einer ebenso fortgeschrittenen Form des Kapitals. Marx selbst war davon Überzeugt, daß er z.B. in seinen späteren Lebensjahren die Pariser Arbeiterschaft deswegen verachtete, weil sie hauptsächlich mit der Herstellung von Luxus-Gütern beschäftigt war. Im Gegensatz zu ihr, bezeichnete er "unsere deutschen Arbeiter" – die roboterähnlichsten in Europa – als das "Modell"-Proletariat der Welt.
[9] Der Versuch, die Marxsche Verelendungstheorie in ihrer Gültigkeit auf internationale Verhältnisse zu beschränken (Marx bezog sie auf nationale), ist nichts als ein Täuschungsmanöver. Dieser theoretische Taschenspielertrick versucht ganz einfach von der Frage abzulenken, warum die Verelendung nicht in den hochindustrialisierten Gebieten des Kapitalismus eingetreten ist, den einzigen Gebieten, in denen die technologischen Voraussetzungen für das Entstehen einer klassenlosen Gesellschaft gegeben sind. Sollten wir aber auf die koloniale Weit hoffen und in ihr „das Proletariat" sehen, dann steckt darin eine sehr große Gefahr: Völkermord. Amerika und Rußland, sein jüngster Verbündeter, besitzen alle technischen Voraussetzungen, um die Unterwerfung der unterentwickelten Welt mit Bomben zu erzwingen. Eine drohende Gefahr zeichnet sich am Horizont der Geschichte ab – die Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einem echten faschistischen Imperium, wie das der Nazis. Es ist glatter Unsinn zu behaupten, daß dieses Land ein "Papiertiger" sei. Es ist ein thermonuklearer Tiger, und Amerikas Führerklasse, von kulturellen Hemmungen völlig frei, kann noch verbrecherischer sein als die Deutschen.
[10] Lenin war sich dessen bewußt und beschrieb den "Sozialismus" als nichts anderes als das staatskapitalistische Monopol, geschaffen zum Wohle des ganzen Volkes. Wenn man die Bedeutung dieser Worte bedenkt, so ist dies eine ganz außergewöhnliche Feststellung, die obendrein auch einige Widersprüche enthält.
[11] In dieser Hinsicht überträgt die Alte Linke das ihr eigene Neandertaler-Image auf den amerikanischen Arbeiter. Es kommt in der Tat dem Bild des Gewerkschaftsbonzen oder dem Stalinistischen Kommissar recht nahe.
[12] In diesem Sinne rückt der Arbeiter allmählich in die Nähe jener gesellschaftskritischen Persönlichkeiten, welche bestimmten Abschnitten der Geschichte ihr besonders revolutionäres Gepräge gaben. Ganz allgemein gesagt, das "Proletariat" war in den Übergangszeiten immer dann besonders revolutionär, wenn es nicht dem seelischen Druck der "Proletarisierung" durch das industrielle System ausgesetzt wer. Die großen Brennpunkte der klassischen Arbeiterrevolutionen waren Petrograd und Barcelona, wo die Arbeiter direkt aus einer ländlichen Umwelt herausgerissen waren, und Paris, wo sie noch immer handwerklich tätig waren oder doch dem Handwerker-Milieu entstammten. Diesen Arbeitern fiel es außerordentlich schwer, sich an die industrielle Beherrschung zu gewöhnen, und sie wurden so zu einem nie versiegenden Quell sozialer und revolutionärer Unruhen. Im Gegensatz dazu zeigt eine in Generationen herangewachsene Arbeiterklasse überraschend wenig Lust zu revolutionärer Betätigung. Selbst die deutschen Arbeiter, die von Marx und Engels als Modell eines europäischen Proletariats gepriesen wurden, ließen in der Mehrzahl die Spartakisten im Jahre 1919 im Stich; sie sandten jedoch starke Abordnungen von eingetragenen Sozialdemokraten zum Kongreß der Arbeiterräte und in den Jahren darauf in den Reichstag. Bis zum Jahre 1933 standen sie fest hinter der Sozialdemokratischen Partei.
[13] Dieser revolutionäre Lebensstil kann sich in den Fabriken genauso entwickeln wie auf der Straße, in den Schulen ebensogut wie in den Elendsquartieren und in den Vorstädten ebenso wie im Gebiet der Achse Bay Area - East Side. Das Wesen dieses Lebensstils ist die Herausforderung und eine persönliche 'Propaganda der Tat', die alle Bräuche, Einrichtungen und Losungen der Herrschaft zerstört. Befindet sich die Gesellschaft an der Schwelle der revolutionären Periode, werden die Fabriken, die Schulen und die Nachbarschaften zur aktuellen Arena des revolutionären "Spiels" – eines sehr ernsthaften "Spiels". Die Streiks werden dabei zu einer unentbehrlichen Voraussetzung. Ihnen fällt es zu, auch im Interesse der eigenen Durchführbarkeit, den Routinerahmen zu sprengen, die Gesellschaft in kurzen Abständen immer wieder neu zu provozieren und die positive Einstellung zu dem von der Bourgeoisie geforderten Normalverhalten zu zerstören. Die so entstehende neue Stimmung unter den Arbeitern, den Studenten und den nächsten Nachbarn ist eine wichtige Vorstufe vor der eigentlichen revolutionären Umbildung. Am klarsten drückt sich das erstarkte Selbstbewußtsein in der Forderung nach "Selbst-Verwaltung" aus; der Arbeiter will nicht mehr nur ein "verwaltetes" Etwas sein, ein Klassen-Wesen. Das war sehr deutlich in Spanien am Vorabend der Revolution von 1936, an dem die Arbeiter in fast allen Städten und Ortschaften zu Streiks "for the hell of it" aufriefen – um ihrer Unabhängigkeit, ihrem erwachenden Bewußtsein und ihrem Bruch mit der Gesellschaftsordnung und den bourgeoisen Lebensbedingungen Ausdruck zu geben. Genau das war auch ein Überaus wichtiges Charakteristikum des französischen Generalstreiks im Jahre 1968.
[14] Eine Tatsache, welche Trotzki niemals einsah. Nie zog er bei seinem eigenen Konzept von der "kombinierten Entwicklung" die letzten logischen Konsequenzen. Er sah (ganz richtig), daß Rußland als Nachzügler in der bürgerlichen Entwicklung Europas nur die fortgeschrittensten Industrie- und Klassenformen übernehmen konnte, wenn es nicht die ganze bürgerliche Entwicklung von Anfang an noch einmal durchlaufen wollte. Dabei dachte er jedoch nicht daran, daß das von einer schrecklichen Umwälzung zerrissene Rußland selber der kapitalistischen Entwicklung im Übrigen Europa weit vorauseilen könnte. Hypnotisiert von der Formel "Nationalisiertes Eigentum bedeutet Sozialismus", vermochte er nicht zu erkennen, daß der Monopolkapitalismus, aufgrund der ihm innewohnenden Dialektik, selber die Tendenz hat, mit dem Staat zu verschmelzen. Nachdem die Bolschewiki erst einmal die traditionellen Formen der bürgerlichen Sozialordnung beseitigt hatten (die der staatskapitalistischen Entwicklung in Europa und Amerika heute noch entgegenwirken), schufen sie unabsichtlich die Grundlagen für eine "reine" staatskapitalistische Entwicklung, in welcher dem Staate schließlich die Rolle der herrschenden Klasse zufällt. Als dann noch die Unterstützung durch das technisch fortgeschrittenere Europa ausblieb, entwickelte sich die Russische Revolution zur internationalen Konterrevolution; das staatskapitalistische Sowjetrußland diente durchaus nicht mehr "dem Wohle des ganzen Volkes". Die Leninsche Analogie zwischen "Sozialismus" und Staatskapitalismus wurde unter Stalin zu einer Schrecken erregenden Realität. Trotz seiner humanistischen Grundhaltung begriff der Marxismus nicht, welche Ähnlichkeit zwischen seinem Konzept des "Sozialismus" und einer Spätform des Kapitalismus besteht – beide kehren sie zu merkantilen Formen zurück, nur eben auf höherem industriellen Niveau. Das Nichtbegreifen dieser Entwicklung ist die eigentliche Ursache der theoretischen Verwirrung und ihrer verheerenden Folgen für die heutige revolutionäre Bewegung. Man bedenke nur einmal die verschiedenen Meinungen der Trotzkisten zu dieser Frage.
[15] siehe: Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S. 132, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967
[16] Die Bewegung des 22. März wirkte bei den Ereignissen als Katalysator und nicht als ein Anführer. Sie gab keine Weisungen; sie gab Impulse und überließ die Dinge dem freien Spiel der Kräfte. Dieses freie Spiel, das den Studenten das Vorantreiben der eigenen Stoßkraft erlaubte, war eine unerläßliche Voraussetzung für die Dialektik des Aufstandes. Ohne dasselbe hätte es am 10. Mai keine Barrikaden gegeben, welche ihrerseits wieder den Generalstreik der Arbeiter auslösten.
[17] Vergleiche: M. Bookchin, The Forms of Freedom, in: Post-Scarcity-Anarchism, San Francisco 1971, S. 141ff.
[18] In ihrer maßlosen Arroganz, teilweise auch aus Unwissenheit heraus, wollen einige der marxistischen Gruppen tatsächlich die eben aufgeführten Formen der Selbstverwaltung zu "Sowjets" erklären. Dieser Versuch, die verschiedenen Formen insgesamt in einer einzigen Rubrik unterzubringen, ist nicht nur mißverständlich, sondern bewußt verdummend. Die seinerzeitigen Sowjets waren von allen revolutionären Formen die am wenigsten demokratische, und die Bolschewiki benutzten sie auf raffinierte Weise dazu, der eigenen Partei die Macht zuzuspielen. Die Sowjets entsprachen nicht dem direkten, aus dem persönlichen Kontakt sich ergebenden Volkswillen, wie es bei den Pariser Sektionen oder den Studentenversammlungen von 1968 der Fall war. Sie beruhten auch nicht auf wirtschaftlicher Selbstverwaltung wie die anarchistischen Fabrik-Komitees in Spanien. In Wirklichkeit bildeten die Sowjets ein hierarchisch gegliedertes Volksparlament, dessen repräsentative Bedeutung von den Fabriken und später vom Militär und von den ländlichen Gemeinden garantiert wurde.
[19] W.I. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Dietz Verlag, Berlin 1964
[20] W.I. Lenin, "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht". In dieser streng gehaltenen Abhandlung, die er im April 1918 veröffentlichte, rückt Lenin völlig von jener freiheitlichen Perspektive ab, welche er ein Jahr zuvor in "Staat und Revolution" aufgestellt hatte. Die Hauptthemen sind nun die Notwendigkeit der "Disziplin", der autoritären Kontrolle über die Fabriken und der Errichtung des Taylor-Systems (eines Systems, welches Lenin vor der Revolution noch als Versklavung des Menschen durch die Maschine abgelehnt hatte). Die Abhandlung wurde während einer vergleichsweise friedlichen Periode der bolschewistischen Herrschaft geschrieben, etwa zwei Monate nach der Unterzeichnung des Brest Litowsker Vertrags und einen Monat vor der Revolte der Tschechischen Legion im Ural – jener Revolte, welche den Bürgerkrieg auslöste und die direkte Intervention der Alliierten in Rußland nach sich zog. Weiter ist dazu zu sagen, daß die Abhandlung rund ein Jahr vor dem Zusammenbruch der deutschen Revolution abgefaßt wurde. Es ist also nicht gut möglich, "Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" unter den Gesichtspunkten des Russischen Bürgerkriegs und des Scheiterns der Revolution in Europa zu sehen.
[21] V.V. Osinski, On the Building of Socialism, Kommunist, Nr. 2, April 1918, zitiert nach R.-V. Daniels, The Conscience of the Revolution, Cambridge, 1960, S. 85f.
[22] s. hierzu P. Arschinoff, Geschichte der Machno-Bewegung 1918-1921, Berlin 1974
[23] Robert G. Wesson, Soviet Communes, New Brunswick 1963, S. 110
[24] R.V. Daniels, a.a.O., S. 145
[25] Mosche Lewin, Lenin's Last Struggle, New York 1968, S. 122
[26] Mit der Umfälschung dieses elementaren Aufbegehrens der russischen Arbeiter und Bauern zu einer Reihe von "weißgardistischen Verschwörungen", zu "Widerstandsaktionen der Kulaken" und zu "Anschlägen des internationalen Kapitals" erreichten die Bolschewiki den Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit. Sie täuschten mit ihren Versionen allenfalls die eigenen Leute. In den Reihen der Partei machte sich zudem ein geistiger Verfall bemerkbar, der zu einer Politik der Geheimpolizei, zum Rufmord und schließlich zu den Moskauer Prozessen und zur Liquidierung des größten Teils der alten Bolschewiki führte. Neuerdings erlebt man das Wiederaufleben dieser verabscheuungswürdigen Geisteshaltung in verschiedenen Artikeln der PL-Presse, so etwa bei "Marcuse: Cop-out or Cop?" - ein Artikel, welcher Marcuse als Agenten des CIA hinzustellen versucht (siehe in "Progressive Labor", Februar 1969). Der Artikel bringt u.a. ein Bild von demonstrierenden Parisern und darunter die Zeile: "Marcuse kam zu spät nach Paris, um die Mai-Aktion zu stoppen". Die Gegner der PLP werden von diesem Schmierblatt abwechselnd als "Kommunistenfresser" und als "Anti-Arbeiter" bezeichnet. Wenn Amerikas Linke diese Handlangerdienste für die Polizei und diese Rufmordmethoden nicht zurückweist, wird sie dafür in den kommenden Jahren teuer zu bezahlen haben.
[27] Karl Marx/Friedrich Engels, MEW, Bd. 7, S. 252
[28] Friedrich Engels, Anti-Dühring, BUcherei des Marxismus-Leninismus, Bd. 3, S. 369, Dietz Verlag Berlin, 1957
[29] Im Original steht (S. 37): "...Verteilung der Industrie über das ...". Das im englischen Text stehende "of the population" wurde deshalb hier weggelassen.
[30] Friedrich Engels, Anti-Dühring, a.a.O., S. 369
[31] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, S. 71, Dietz-Verlag Berlin 1952
[32] Der Ausdruck "Anarchist" ist ein verallgemeinernder Begriff, so wie der Ausdruck "Sozialist", und es gibt wahrscheinlich unter den Anarchisten mehr voneinander abweichende Richtungen als unter den Sozialisten. In beiden Fällen reicht die Reihe der Erscheinungen von den Individualisten (Individual-Anarchisten bzw. Sozialdemokraten), die gewissermaßen einen erweiterten Liberalismus vertreten, bis zu den revolutionären Kommunisten (Anarcho-Kommunisten, bzw. revolutionäre Marxisten, Leninisten und Trotzkisten).
[33] Dieses Ziel, so dürfen wir hinzufügen, liegt auch dem Dadaismus zugrunde, jenem anarchistischen Geniestreich, der in der Regel nur Bestürzung auf den hölzernen Gesichtern der PLP-Typen hervorruft. Das Ganze ist ein aus der anarchistischen Geisteshaltung heraus zu verstehender Versuch, die von der hierarchischen Gesellschaft Übernommenen inneren Wertvorstellungen zu erschüttern, und die im bürgerlichen Sozialisationsprozeß gebildeten starren Formen zu sprengen. Kurz, es ist ein Versuch, die Macht des Über-Ichs zu brechen, die einen so lähmenden Einfluß auf die Spontaneität, die Vorstellungskraft und die Welt der Gefühle ausübt. Dafür gilt es, den Sinn für das Wünschen, für die eigenen Fähigkeiten und für das Wunderbare zu entwickeln – sowie den Sinn für die Revolution als ein befreiendes und beglückendes festliches Ereignis.