Max Nettlau
Unser Bakunin
Michael Bakunins Lebenswerk
Fünfzig Jahre trennen uns von Bakunins Tode, immer kleiner wird, die Zahl der uns sein Wesen noch aus eigener Erinnerung beschreibenden Menschen, aber immer reicher werden unsere Einblicke in viele Phasen seines bewegten Lebens, von der Kindheit bis zum Grabe, immer geringer die einst weitklaffenden Lücken in seiner Geschichte. Immer mehr ist es möglich, die ihn früh umspinnende Legende, die gleichfalls selten ruhende Böswilligkeit und Einsichtslosigkeit seiner Feinde, die noch heute nicht ruht, beiseite zu schieben und uns dem Verständnis seiner Persönlichkeit, der Würdigung seines Wollens und seiner Ideen zu nähern.
Ich war in der Lage, das sich immer mehr anhäufende Material mehr oder weniger durchzuarbeiten, und gewann dadurch immer mehr den Eindruck einer in dieser inneren Kraft seltenen Stetigkeit in seinem Wesen, seinen Gefühlen und Ideen, wie zahlreich und verschieden die Milieus waren, in die sein rastloses, kampferfülltes Leben ihn verschlug.
Er wuchs in einem Milieu auf, das auf ihn wie eine Utopie, eine idyllische Oase wirkte, und sein ganzes Leben wurde ein Ringen für die Verwirklichung, Verbreitung, Verallgemeinerung solchen Glücks und unversöhnlicher Kampf gegen die sich entgegenstellenden Mächte, die er langsam, aber dann mit vollster Klarheit erkannte. Das Gute, Schöne und Gerechte, das er so früh im kleinen Kreis um sich sah, wollte er ausbilden und verbreiten und sah bald, daß nur seine Ausdehnung auf alle, die Befreiung der ganzen Menschheit, das Glück und die Freiheit des einzelnen und seines engeren Kreises ermöglicht. Dieser Arbeit widmete er sein Leben; sein Wille war mit gespanntester Intensität auf dieses Ziel gerichtet, seine Geisteskraft wußte seine Ziele zu begründen, und er weckte die schlummernden rebellischen Gefühle vieler auf und riß sie mit sich, wenn auch nur wenige ihm dauernd folgen konnten und er fast immer sich bald allein befand und sein Werk von neuem beginnen mußte.
Er tat dies mit unverdrossener Entschlossenheit, denn er glaubte, daß ähnliche Gefühle in allen Menschen schlummern. Glauben wir nicht dasselbe? Wenn er sein Ziel bis 1876 nicht erreichte, haben wir dieses Ziel bis 1926 erreicht? Die der Zahl nach etwas größere Kollektivität, die heute die wirkliche Befreiung der Menschheit will, wie Bakunin, ist mit ihrem Bahnbrecher solidarisch, der, wie die Verhältnisse liegen, nichts weniger als eine Größe der Vergangenheit ist, sondern noch immer unsere stärkste theoretisch und praktisch revolutionäre Kraft.
Michael Bakunin wuchs auf dem Gut seiner Eltern, Premuchino, nordwestlich von Moskau, auf. zusammen mit zwei etwas älteren, zwei etwas jüngeren Schwestern und fünf durchweg noch jüngeren Brüdern. Sein Vater, der als Knabe für viele Jahre nach Italien kam und dort und in Frankreich die humanitären und aufgeklärten Ideen der Jahrzehnte vor der französischen Revolution in sich aufnahm, hielt sich dann vom Hof- und Beamten- oder militärischen Leben des russischen Adels fern und lebte in Premuchino als wohlhabender Kunst- und Naturfreund, Familienvater, durch Verkehr mit den besten geistigen Elementen in Rußland und internationaler Lektüre wohl unterrichtet, zweifellos ruheliebend und im Grunde genommen konservativ, aber ohne Härte und freundlich und mitteilsam für die vielen Kinder.
So kam es, daß in dieser auch von der Natur begünstigten Umgebung Michael Bakunin vom wirklichen russischen Leben nichts sah, sich keine Gedanken machte und unter Schwestern und Brüdern, an den älteren Schwestern ein Vorbild besitzend, die jüngeren beschützend, selbst das Vorbild der Brüder, von dem milden Vater, einem Stück bestes achtzehntes Jahrhundert, geistig gefördert, die glücklichste Jugend hatte: die Erzählungen des Vaters und Reisebeschreibungen brachten ihm die schönsten Teile ferner Länder nahe, bevor er noch Rußland sah.
Wie der spätere Briefwechsel im weitesten Umfange beweist, bestand zwischen diesen Kindern, besonders Michael und den Schwestern zunächst, eine seltene geistige Intimität und Solidarität, eine Gemeinsamkeit ernsten Strebens nach Vervollkommnung, einem idealeren persönlichen Zustand, und da dies auch dem humanen Vater und noch mehr der ganz weltlichen Mutter als eine den normalen Bildungsdrang überschreitende Sonderbarkeit erschien, so schloß die Jugend sich bald zur Verteidigung zusammen, rebellierte wohl auch manchmal, und Michael war der Vorkämpfer aller.
Er selbst wurde diesem Milieu über sechs Jahre entrissen, als er im fünfzehnten Jahre in die Petersburger Artillerieschule gebracht wurde und dann 1833 und 1834 in Petersburg und in westrussischen Gegenden Offizier war. Aber er machte sich 1835 von diesem Beruf frei, sehr zum Erstaunen seines Vaters, den sein weiteres Ziel, philosophische Studien zur einstigen Erlangung einer Moskauer Professur, einer Möglichkeit, zur russischen Jugend zu sprechen, noch mehr erstaunte. Er verließ selbst das Elternhaus im Februar 1856, ein Bruch, der wieder eingerenkt wurde; aber erst im Sommer 1840 konnte er erreichen, daß ihm die Reise nach Deutschland zu philosophischen Studien in Berlin ermöglicht wurde.
In diesen sieben Jahren, 1833–40, machten er, seine Schwestern und ihr Kreis, dann auch die Brüder vielerlei Entwicklungsstadien durch bei ihrem eingehenden Suchen nach geistiger und moralischer Vervollkommnung und persönlicher Befreiung. Von mystischer Religionsauffassung führte Michael seinen kleinen Kreis zur idealsten Philosophie, dem reinsten Fichte-Kultus, und schon damals erkannte er in der Verbreitung des von dem engen Kreis Erreichten auf die ganze Menschheit seine Aufgabe, und ebenso schloß sich schon damals für ihn sein Kreis zur intimen Gruppe, seiner ersten geheimen Gesellschaft sozusagen, zusammen. Bekannt ist, welche Anregung er, Stankewitsch und Bielinski einander gegenseitig verdankten, wie intensiv diese und andere Kreise der Moskauer Jugend der Philosophie lebten, wie der strenge Hegel-Kultus dann die humanen Ideen Fichtes verdrängte usw.; natürlich fehlten andere Beziehungen nicht, die andere Gebiete erschlossen, ohne daß ßakunin ihnen folgte – Bekanntschaft mit mehreren interessanten Murawieffs, mit Tschadaeff, mit den jungen Slavophilen und mit den überzeugten Sozialisten und Atheisten Herzen und Ogareff usw.
Bakunin war in all diesen Jahren ein intensiver Sucher von Wahrheit und Erkenntnis, die er in der Philosophie zu finden wähnte; die Philosophie sollte sein Ideal verwirklichen, das er längst in der Freiheit und der Solidarität erkannt hatte, das heißt, in der Freiheit nicht eines, sondern allen. Wie in früheren Jahrhunderten manche besten Glaubens ein solches Ideal durch religiöse Erkenntnis und Vertiefung zu finden hofften, so glaubte er in jener Zeit der Blüte der Philosophie und in seinen Kreis noch nicht gedrungener sozialer Erkenntnis, daß die Metaphysik in ihrer reinsten und konsequentesten Form, der er nachstrebte, das Glück und die Befreiung bringen könne, deren Verwirklichung er sein Leben gewidmet hatte.
An der Quelle des Hegelianismus, in Berlin, sah Bakunin dann allmählich das Illusorische der Metaphysik und nahm vom Winter 1841–42 ab und 1842 in Dresden intensiven Anteil an jener radikalphilosophischen Entwicklung, die ihren prägnantesten Ausdruck in Ludwig Feuerbach fand. Sein Gesichtskreis umfaßte nun Politik und durch Lamennais, das bekannte Buch von Lorenz Stein usw. angeregt, das soziale Gebiet, und es war für den logischen Denker, der in der philosophischen Einsicht in das Wesen der Religion nun mit Feuerbachs klaren Augen sah, selbstverständlich, daß er zu analoger Einsicht auf dem Gebiet der Politik und der gesellschaftlichen Zustände kam. Er sah, daß Staat und Eigentum Menschenwerk und Menschentrug waren wie Gott, eine die Menschheit fesselnde, ausbeutende, geistesknechtende Dreieinigkeit, die nur durch die vollständige Zerstörung beseitigt werden kann, worauf der Wiederaufbau auf der Grundlage der Freiheit und Solidarität erfolgen müsse. In diesem Sinne schloß sein berühmter Artikel der „Deutschen Jahrbücher“, Oktober 1842, mit den Worten: „... Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist.- Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!“
Er lernte seit 1843 in der Schweiz, in Brüssel und Paris alle Nuancen des damaligen Sozialismus kennen, meist durch persönlichen, oft engen Verkehr mit den Hauptvertretern dieser Richtungen, also aus den denkbar direktesten Quellen: so kannte er Weitling, August Becker und Cabet, Marx, Engels und Heß, Considérant, Villegardelle usw. und Proudhon. Er war nie der Schüler oder Anhänger eines dieser Männer, weil keiner ihn befriedigen konnte, indem jeder einen Sozialismus vertrat, an dem etwas Wichtiges fehlte. Denn Bakunin hatte den vollen und ganzen Sozialismus in sich – die vollständige Zerstörung, den Wiederaufbau aus der Freiheit heraus, durch Schaffung der Grundlage dieser Freiheit, was nur durch Föderation geschehen kann, durch Solidarität, durch Ach tung und Begründung der gleichen Freiheit aller, wozu die Gleichheit eine notwendige Bedingung ist.
Dies war und blieb Bakunins Anarchie, und obgleich, von einigen Spuren in Briefen an Georg Herwegh (1848) abgesehen, schriftliche Spuren fehlen – seine Briefe der Jahre 1840–47 sind meist verloren -, ist kein Grund, anzunehmen, daß er nicht in den Jahren 1842–47 zu derjenigen sozialistischen Auffassung gelangte, die zuerst in Schriften von 1865 und 1866 uns vorliegt.
Einen indirekten Beweis hierfür erbringen seine Ideen nationaler Umgestaltungen, der Föderalismus seiner Grundlagen der neuen slavischen Politik (1848). Die Jahre 1846 bis 1863, eine durch seine Kerker- und sibirischen Exiljahre, Mai 1849 bis Ende 1861, so enorm verlängerte Periode, sahen ihn im Bann slavisch-nationaler Ziele, gewisser Fragen, die er im Sinne seiner autonomistisch – föderalistischen Ideen nach Zerstörung der bestehenden Staatsverbände gelöst zu sehen wünschte.
Wie dieses besondere nationale Interesse entstand, erklärt seine Biographie, seine besondere Stellung als revolutionärer Russe den Polen gegenüber, sein Tätigkeitsdrang und anderes. Er beging einen Fehler gegen seine eigenen Ideen: denn die deren Wesen bildende Unteilbarkeit der geistigen, politischen und ökonomischen Befreiung läßt auch eine besondere nationale Befreiung nicht zu, und Bakunin gelangte durch diese Spezialisierung entweder in die Gesellschaft der vulgären Nationalisten, die seinen Gesamtideen nur feindlich waren, oder er blieb isoliert und machtlos.
Letzteres war tatsächlich der Fall, so sehr er mit anderen Slaven zusammenzuarbeiten wünschte und versuchte, und die Ironie des Schicksals wollte, daß er zuletzt seine beste Kraft unbedenklich einer Revolution der von ihm gehaßten Deutschen zur Verfügung stellte, der Dresdener Mairevolution, 1849, die ihn in den Kerker und an den Rand des Todes durch Hinrichtung brachte.
Dann begannen die Leidensjahre, 1849–1861. In jene Zeit fällt eine neuerdings viel besprochene Episode, die Abfassung der sogenannten „Beichte“, August 1851, eines auf Wunsch des Kaisers Nikolaus I. geschriebenen Dokuments, durch das Bakunin sehr geschickt ein weiteres Untersuchungsverfahren abzuwenden verstand, freilich um den Preis hoffnungsloser Kerkerjahre, die seine Gesundheit untergruben. Wenn die russischen Regierungen von 1851 bis 1917 dieses Dokument hätten gegen Bakunin ausspielen können, hätten sie es getan; dies allein warnt vor dem seit 1919 mit dem Schriftstück getriebenen Mißbrauch, der nach seiner Veröffentlichung, 1921, bald ein Ende fand. Durch 1925 und besonders 1925 erfolgte russische Veröffentlichungen ist man jetzt genauer über diese Vorgänge unterrichtet und wird es durch eine weitere russische Veröffentlichung in einiger Zeit noch mehr sein.
Nachdem Bakunin nach geglückter Flucht, 1861, in den Jahren 1862 und 1865 sein Möglichstes getan hatte, der damaligen polnischen Insurrektion zu helfen und ebenso für die russische Bewegung tätig zu sein, überzeugte er sich endlich davon, daß seine idealen nationalen Bestrebungen mit dem europäischen Nationalismus, dem Werkzeug der Großstaaten und selbst vor allem staatssüchtig, nichts gemein hatten, und hiermit war diese lange Episode abgeschlossen. Der Nationalismus der Mazzini und Garibaldi arbeitete für die Cavour und Victor Emanuel und hing in letzter Linie zusammen mit den Napoleon III. und Bismarck, wie der slavische Nationalismus beim Zaren endete – in diesem Milieu hatte Bakunin nichts zu suchen.
Er sah damals, wie alle, eine neue europäische Revolution, ein neues 1848, voraus, beginnend beim Sturz oder Tod Napoleons III., und er wünschte, daß die Irrtümer von 1848 vermieden, daß diese Revolution nicht wieder die Bourgeoisierepublikaner in den Besitz der Macht bringe, wie damals, sondern daß sie eine soziale werde, und dazu mußte sie eine staatszerstörende werden, die die Staatsmaschine zerschlägt, die revolutionären Volksinstinkte entfesselt und die freie Föderation der produzierenden Assoziationen, Gemeinden, Provinzen und selbstbestimmend sich zusammenfügenden Provinzföderationen oder Länder – bis zur universellen Föderation dieser Länder – von unten nach oben herstellt.
Er war Freund und fleißigster Teilnehmer jeder Art von Propaganda und freiwilligen Organisation, aber er wußte, daß Mittel und Zeit hierzu beschränkt sind und vertraute vor allem der instinktiven Aktion der Volkskräfte, die stets antistaatlich und sozial wirken würden, sobald sie nicht durch Anhänger der Autorität, neuer Diktatur, irregeführt würden. Er kannte diese Gefahr, der noch jede Revolution vor und nach ihm erlegen ist, und versuchte ihr entgegenzuarbeiten durch im Volk operierende intime Gruppen von Revolutionären, die vor Irrwegen warnen und unter sich eng verbunden durch Gleichzeitigkeit revolutionärer Initiativen und ähnliches den zersplitterten Volkskräften einen gemeinsamen Willen einflößen würden. Er vermied nicht, bei Erklärung dieses Vorgehens von unsichtbarer Diktatur oder einem revolutionären Generalstab zu sprechen, und es ist leicht, vom Standpunkt eines theoretisch vollkommenen Systems aus an seiner Methode Kritik zu üben. Ihm schien sie der Diktatur oder einem sich umständlich aufbauenden neuen Parlamentarismus gegenüber Vorzüge und die geringsten Nachteile zu besitzen.
In diesem Sinne gründete er 1864, bevor noch die Internationale bestand, die Internationale revolutionäre Gesellschaft, die auch Internationale Brüderschaft genannt wurde und die, soweit sie seit 1868 innerhalb der Internationale bestand, die Geheime Alliance, später Alliance der sozialistischen Revolutionäre genannt wurde, in Spanien Alianza de la Democracia socialista. In Rußland war sie nicht verbreitet, aber der russischen Jugend riet Bakunin 1872 und 1873, im Volk als propagandistische und Kampfgruppen zu wirken und die sich in isolierten Aufständen aufreibenden Kräfte der Bauern zu gleichartiger, gleichzeitiger Aktion gegebenenfalls zusammenzufügen. In Italien bildeten solche Mitglieder den ersten Kern der neuen Sektionen, nahmen die Initiative zur Föderation der Sektionen, setzten die Arbeit fort, wenn die öffentlichen Sektionen aufgelöst werden.
Bis zum Krieg von 1870–71, der Napoleon III. auf eine leider nicht vorhergesehene Weise liquidierte, waren als republikanische Erhebung beginnende Bewegungen in Italien, Spanien und Frankreich durchaus möglich, und die ganz lockere Form der Internationale, die, soweit sie irgendwo größere Massen umfaßte, sehr verschiedenartige und oft wenig vorgeschrittene Elemente enthielt, war zu wirklicher Aktion ungeeignet und unternahm auch nie eine solche. Ihre glänzenden antiautoritären Theoretiker in Belgien theorisierten, ihre lokalen Politiker in Genf politisierten, der Generalrat administrierte und dekretierte, viele machten Propaganda und organisierten, gar mancher intrigierte, – nur Bakunin versuchte auf die erwähnte Weise eine Aktionsbereitschaft herbeizuführen; Teile von Frankreich und Italien, die ganze spanische Internationale und der Schweizer Jura waren damals durch intime Genossen in beständiger Verbindung mit ihm, und als der Kriegsausbruch die Situation gründlich änderte und die öffentliche Internationale perplex ließ – an papiernen Manifesten fehlte es natürlich nicht -, waren Bakunin und einige wenige seiner engsten Genossen in der großen Internationale die einzigen, die an Ort und Stelle eilten, an den Platz möglicher Aktion, nach Lyon, um eine Bewegung zu entfachen, die den Krieg in eine soziale Revolution umwandeln würde, eine am 28. September 1870 versuchte Unternehmung, deren Fehlschlag lokale Ursachen hatte, die aber der einzige groß gedachte Versuch jener Zeit war, die durch den Krieg bis heute vereitelte europäische Revolution vielleicht doch zu entfesseln; indem sie von Südfrankreich nach Spanien und nach Italien übergegriffen hätte, von Italien vielleicht auf die slavischen Teile Österreich-Ungarns und von dort auf die Ukraine und die russische Bauernmasse. Es sollte nicht sein, und seitdem hat der Krieg und der bewaffnete „Friede“ die Initiative; die Kommune von Paris, 1871, Mar nur ein verzweifeltes, hoffnungsloses Rückzugsgefecht der Revolution, und ihr Fall besiegelte ihre Vertagung für eine bis jetzt endlose Reihe von Jahren.
Statt sich nun enger zusammenzuschließen, zerfiel die Internationale, das heißt, sie wurde von Marx zersprengt, der ihre Schwächung durch die furchtbaren Ereignisse benutzte, um ihr seine Dogmen aufzuzwingen und seinen Haß gegen Bakunin endlich sättigen zu wollen. Diese grenzenlos erbärmlichen Machinationen zerstörten das äußere Gefüge der Gesellschaft und, was bedauerlicher war, die internationalen Gefühle, das internationale Interesse aneinander. Bakunin befürwortete das freundliche Nebeneinander der verschiedenen Richtungen auf Grundlage der ökonomischen Solidarität, des gleichen Interesses aller Arbeiter am Kampf gegen das Kapital. Seine Gegner kannten nur Schimpf, Hohn und, im Fall von Marx in der Alliance – Untersuchungskommission des Haager Kongresses, 1872, noch Schlimmeres. Die Solidarität der anarchistischen Föderationen im Jura, in Italien, Spanien und Belgien bestand weiter, aber die große internationale Solidarität der Arbeiter hat Marx 1872 zerstört; für ihn existierte von damals an – wie persönlich seit jeher – nur die Solidarität der Anhänger seiner Dogmen. So ist es auch geblieben, und den Staaten und dem Kapital stehen die Arbeiter zerstritten und zersplittert gegenüber, mögen sie noch so stark organisiert sein. Der internationale Geist ist damals tief verwundet worden.
Bakunin wußte seit dem Fehlschlag in Lyon, daß er die Revolution nicht mehr erleben würde. Er setzt seine Arbeit unermüdlich fort, beginnt sofort jene Reihe von Manuskripten, die in seinen schönsten Seiten, Gott und der Staat, gipfelt, verteidigt die Kommune, die Alliance, zerfasert Mazzinis nationalbourgeoise Theokratie, fördert wie kein zweiter damals die Ausdehnung der italienischen Internationale, lebt mit der russischen revolutionären Jugend in Zürich, reorganisiert die Alliance am Tage, als Marx sie zerstört zu haben glaubte – im September 1872 in Zürich -, wirkt 1873 und 1874 intensiv nach Spanien und Italien hin, bis im September 1874 seine Tätigkeit ihren Abschluß findet unter Verhältnissen, die nur im Rahmen einer Biographie besprochen werden können.
Es gab keinen Sozialisten vor und nach Bakunin, der praktischer und unmittelbarer für die soziale Revolution gearbeitet hätte. Er wollte die volle Zerstörung, den vollen Wiederaufbau, und nur das. Er wußte, daß man von einer Pest und Seuche nicht die Hälfte, ein Viertel, ein Zehntel zerstören muß, sondern die ganze, und daß man auf verseuchtem Boden kein gesundes Haus baut. Andere haben das Innere des Palastes und die Gärten der kommenden Anarchie geschildert: er fand nicht Zeit dazu und überließ dies den Menschen von später. Er war der Revolutionär der harten Arbeit, der Zerstörung aller Knechtschaft und der ersten soliden Grundlagen des neuen Baues, nicht eines Übergangszustandes (der nie ein Ende nimmt), sondern eines Anfangszustandes, von dem aus sofort weitergebaut wird. Manche mögen glauben, daß Bakunin überwunden ist, daß man eine freiere, weitergehende Anarchie ersonnen hat – andere aber denken, daß man Bakunin noch gar nicht erreicht hat, daß man vieles unendlich Nützliche, das er aussprach, noch gar nicht voll und ganz ins Auge faßte.
Möge ein eingehendes Studium dieser Fragen endlich beginnen; besonders die deutschen Arbeiter, denen der Marxismus Bakunin solange im gehässigst falschen Licht gezeigt hat, haben zu seinen Ideen noch nicht hinreichend Stellung genommen. Diese Ideen, fünfzig Jahre nach seinem Tode, erscheinen mir heute frischer und lebendiger als je.
11. Mai 1926
M. Nettlau
Bakunins Kindheit im Elternhaus, von ihm selbst geschildert
Aus dem in „La Société Nouvelle“ (Brüssel), September 1896 von mir veröffentlichten autobiographischen Fragment. M. N.
... Wir waren elf Kinder. Noch heute habe ich fünf Brüder und zwei Schwestern [1]. Wir wurden unter der Obhut meines Vaters mehr auf westliche als auf russische Art erzogen. – Wir lebten sozusagen außerhalb der russischen Wirklichkeit in einer Welt voll Gefühl und Phantasie, die aber jeder Wirklichkeit bar war. – Unsere Erziehung war zunächst eine sehr liberale. Aber seit dem verhängnisvollen Ausgang der Dezemberverschwörung [1825] änderte mein Vater, den diese Niederlage des Liberalismus erschreckte, sein System. Er suchte seitdem, treue Untertanen des Zars aus uns zu machen. Zu diesem Zweck wurde ich vierzehnjährig 1830 (Irrtum für Dezember 1828] nach St. Petersburg geschickt, um in die Artillerieschule einzutreten. Ich blieb dort drei Jahre, und im Alier von 17 Jahren und einigen Monaten, 1832 [Januar 1833] wurde ich Offizier [im Alter von achtzehneinhalb Jahren].
Einige Worte über meine geistige und moralische Entwicklung während dieser ganzen Zeit. Als ich das Haus meines Vaters verließ, sprach ich ziemlich gut Französisch, die einzige Sprache, die ich grammatikalisch lernen mußte, etwas Deutsch, und ich verstand schlecht und recht Englisch, kein Wort Lateinisch und Griechisch, und ich hatte keine Idee von russischer Grammatik. Mein Vater hatte uns die Geschichte des Altertums nach Bossuet gelehrt und ließ mich etwas Livius und Plutarch lesen, letzteren in Amyots [alter französischer] Übersetzung. Ich hatte dazu noch einige recht ungewisse und vage Begriffe von der Geographie und durch einen Onkel, einen pensionierten Generalstabsoffizier, hatte ich Arithmetik ziemlich gut gelernt, kannte die Algebra bis einschließlich der Gleichungen ersten Grades und die Planimetrie. Das ist mein ganzes wissenschaftliches Gepäck, das ich vierzehnjährig mit mir nahm. Die religiöse Erziehung war null gewesen. Der Familiengeistliche, ein ausgezeichneter Mann, den ich sehr gern hatte, weil er mir Pfefferkuchen brachte, gab uns einige Lektionen im Katechismus, die absolut keinen, weder positiven noch negativen Einfluß auf mein Herz oder meinen Verstand ausübten. Ich war eher skeptisch als gläubig, oder vielmehr indifferent.
Meine Ideen über Moral, Recht und Pflicht waren folglich auch vag. Ich hatte Gefühle, aber kein Prinzip. Ich liebte instinktiv, das heißt durch eine in meiner Kindheit, in dem Milieu, wo ich lebte, angenommene Gewohnheit, die Guten und das Gute und verabscheute die Bösen, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft ablegen konnte, was das Böse und das Gute ist; ich empfand Unwille und Empörung gegen jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit. Ich glaube sogar, daß Indignation und Empörung die ersten Gefühle waren, die sich in mir energischer als andere Gefühle entwickelten.
Meine moralische Erziehung war schon durch die Tatsache gefälscht, daß meine ganze materielle, geistige und moralische Existenz auf einer schreienden Ungerechtigkeit begründet war, auf der absoluten Unmoralität, auf der Sklaverei unserer Bauern, die uns in Müßiggang ernährten. – Mein Vater war sich dieser Unmoralität voll bewußt, aber als praktischer Mann sprach er nie zu uns darüber, und wir blieben sehr lange, zu lange darüber in Unwissenheit. -
Ich besaß endlich einen sehr abenteuerlichen Geist. Mein Vater, der viel gereist war, hatte uns seine Reisen beschrieben. Zu unserer Lieblingslektüre, die wir immer zusammen mit ihm Vornahmen, gehörten Reisbeschreibungen. Mein Vater war ein sehr gelehrter Naturkenner. Er verehrte die Natur und übertrug auf uns diese Liebe zur Natur, diese brennende Neugier für alles in der Natur, ohne daß er uns jedoch die geringsten wissenschaftlichen Begriffe davon beibrachte. Die Idee, zu reisen, Länder, neue Welten zu sehen, wurde unser Aller fixes Ideal. – Diese beständige, eindringliche Idee hatte meine Phantasie entwickelt. In meinen Mußestunden erzählte ich mir Geschichten, in denen ich mir immer vorstellte, daß ich aus dem väterlichen Haus weglief und weit, sehr weit Abenteuer suchte. Bei all diesem betete ich meine Brüder und Schwestern an, vor allem meine Schwestern, und ich verehrte meinen Vater wie einen Gott.
So war ich, als ich als Kadett in die Artillerieschule eintrat – und meine erste Begegnung mit der russischen Wirklichkeit ...
Aus einem Brief Bakunins an seinen Bruder Paul
(Paris, 29. März 1845; zuerst veröffentlicht 1925 von A. Korniloff.)
... Du siehst, Paul, mein Glaube und idealer Wagemut haben sich nicht vermindert; ich bin derselbe wie vordem – offener Feind der bestehenden Wirklichkeit, nur mit dem Unterschied, daß ich aufhörte, Theoretiker zu sein, daß ich endlich die Philosophie und Metaphysik in mir besiegt habe und mich ganz, mit ganzer Seele, in die praktische Welt stürzte, die Welt der wirklichen Tat und des wirklichen Lebens. Glaube mir, Freund, das Leben ist sehr schön; jetzt kann ich dies mit vollem Recht sagen, weil ich längst aufgehört habe, es durch die Brille theoretischer Konstruktion zu betrachten und es nur in der Phantasie zu kennen, weil ich seine ganze Bitterkeit tatsächlich erlebt habe, vielen, vielen Kummer hatte und oft in Verzweiflung fiel. Ich liebe, Paul, ich liebe leidenschaftlich; ich weiß nicht, ob ich geliebt werden kann, wie ich es möchte, aber ich verzweifle nicht; – ich weiß wenigstens, daß viel Sympathie für mich vorhanden ist; – ich muß und will die Liebe der von mir geliebten verdienen, indem ich sie fromm (religeusement), das heißt tätig liebe; – sie ist der schrecklichsten und infamsten Sklaverei unterworfen; – und ich muß sie befreien, ihre Unterdrücker bekämpfend und in ihrem Herzen das Gefühl ihrer eigenen Würde entzündend, – indem ich in ihr Freiheitsliebe und -bedürfnis erwecke, die Instinkte der Empörung und der Unabhängigkeit, – indem ich sie aufrufe zum Gefühl ihrer selbst, ihrer Kraft und ihrer Rechte [2].
Lieben, das bedeutet die Freiheit, die vollständige Unabhängigkeit eines andern zu wollen; – die erste Tat wahrer Liebe ist die vollständige Befreiung des geliebten Gegenstandes. – Man kann wahrhaft lieben nur ein ganz freies Wesen, das nicht nur von allen andern, sondern und vor allem von dem liebenden und geliebten unabhängig ist -
Dies ist mein politisches, soziales und religiöses Glaubensbekenntnis, – dies ist der intime Sinn nicht nur meiner politischen Handlungen und Bestrebungen, sondern auch, soweit es in meinen Kräften steht, meiner besonderen, individuellen Existenz. – Denn die Zeit, als diese beiden Arten Tätigkeit getrennt werden konnten, liegt sehr weit hinter uns – jetzt will der Mensch die Freiheit in jeder Auffassung und Anwendung diese Wortes, oder er will sie gar nicht. – Wenn man bei der Liebe die Abhängigkeit der geliebten Person will, dann liebt man eine Sache und nicht einen Menschen, denn der Mensch unterscheidet sich von der Sache nur durch die Freiheit, und wenn Liebe auch Abhängigkeit in sich schließen würde, wäre sie die gefährlichste und infamste Sache, die es geben könnte, denn dann wäre sie eine nie versiegende Quelle von Sklaverei und Verdummung für die Menschheit. -
Alles die Menschen Befreiende, alles durch Selbsteinkehr in ihnen ihr eigenes Lebensprinzip, originale und wirklich unabhängige Tätigkeit Erweckende, alles, was ihnen die Kraft gibt, sie selbst zu sein – ist wahr: – alles übrige ist falsch, – freiheitstötend und absurd. – Den Menschen frei machen, das ist die einzige berechtigte und wohltuende Einflußnahme. – Nieder mit allen religiösen und philosophischen Dogmen! – sifc sind nichts als Lügen; – die Wahrheit ist keine Theorie, sondern eine Tatsache, das Leben selbst; – sie ist die Gemeinschaft freier und unabhängiger Menschen – die heilige Einheit der Liebe heraussprudelnd aus den geheimnisvollen und unendlichen Tiefen der persönlichen Freiheit [3] ...
Aus Briefen Bakunins aus der Festung Konigstein
An Reichels Schwester Mathilde, am 16. Januar 1850 (in deutscher Sprache).
... Was mein hiesiges Leben betrifft, so ist es sehr einfach und mit wenigen Worten geschildert: – Ich habe eine sehr reinliche, warme und wohnliche Stube, viel Licht und sehe durch das Fenster ein Stück Himmel [4]. Um sieben Uhr früh stehe ich auf und trinke Kaffee; dann setze ich mich an meinen Tisch und treibe Mathematik bis um zwölf. Um zwölf bringt man mir mein Essen; Nachmittag werfe ich mich auf mein Bett und lese Shakespeare oder blättere irgendein mathematisches Buch durch. Um zwei holt man mich gewöhnlich zum Spazierengehen; da wird mir eine Kette angelegt, wahrscheinlich, damit ich nicht weglaufe, was aber auch ohnedem unmöglich wäre, da ich zwischen zwei Bajonetten spaziere und eine Flucht aus der Festung Königstein mir wenigstens unmöglich scheint. Vielleicht ist es auch eine Art Symbol, um mich in meiner Einsamkeit an die unsichtbaren Bande zu erinnern, welche jedes Individuum mit der ganzen Menschheit verbinden. Wie dem auch sei, so mit diesem Luxusartikel geputzt, gehe ich eine Weile spazieren und bewundere von weitem die Schönheiten der sächsischen Schweiz.
Nach einer halben Stunde kehre ich zurück, lege den Putz ab und studiere bis um sechs Uhr abends englisch. Um sechs trinke ich Tee und nehme wieder die Mathematik vor bis um halb zehn. Obgleich ich keine Uhr bei mir habe, so kenne ich die Zeit recht genau, da eine Turmglocke mir jede Viertelstunde anzeigt, – und um halb zehn jeden Abend erklingt eine melancholische Trompete, deren Gesang, gleich der jämmerlichen Klage eines unglücklich Verliebten, ein Zeichen ist, daß man das Licht ausblasen und sich ins Bett legen muß. Natürlich kann ich nicht sogleich einschlafen und wache gewöhnlich bis Mitternacht. Diese Zeit gebrauche ich, um an alles mögliche zu denken und besonders an die wenigen Lieben, deren Freundschaft mir so teuer ist. Die Gedanken sind zollfrei, durch keine Festungsmauern beschränkt, und so irren die Meinigen um die ganze Welt herum, bis ich einschlafe.
Jeder Tag wiederholt dieselbe Geschichte. Sie sehen, liebe Freundin, daß meine Lage gar nicht so schlimm ist, und daß mir hier gar nichts fehlt außer zwei Kleinigkeiten, welche den ganzen Wert des Lebens ausmachen. Mein Inneres ist jetzt ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch, darüber darf und will ich nicht sprechen. Wie gesagt, ich bin ruhig, ganz ruhig und auf alles mögliche gefaßt. Ich weiß noch nicht, was man mit mir machen wird; bald werde ich hoffentlich das erste Urteil hören. Ich bin ebenso bereit, wieder in das Leben einzutreten, als von demselben zu scheiden. Jetzt bin ich im Nullpunkte, d.h. ein blos denkendes, d.h. ein nicht lebendes Wesen; denn zwischen denken und sein, wie Deutschland es neuerdings erfahren hat, ist doch eine ungeheure Kluft ...
Am 16. Februar 1850, an dieselbe, nach der Verurteilung zum Tode:
... Ob ich den Tod verdient habe? Nach den Gesetzen, soweit ich sie aus der Erklärung meines Advokaten begriffen, ja. Nach meinem Gewissen – nicht. Die Gesetze stimmen selten mit der Geschichte überein und bleiben fast immer hinter derselben. Darum gibt es ja auch Umwälzungen auf der Erde und wird es auch immer solche geben. -
Ich habe nach meiner besten Überzeugung gehandelt, und nichts für mich selbst gesucht. Ich habe gestrandet wie viele andere und bessere vor mir, – aber das, was ich gewollt, kann nicht untergehen, nicht weil ich es gewollt, sondern weil das, was ich gewollt habe, ein Notwendiges, Unvermeidliches ist. Spät oder früh, mit mehr oder weniger Opfern, wird es zu seinem Rechte, zu seiner Verwirklichung kommen. Das ist mein Trost, meine Kraft und mein Glaube. -
Liebe Freundin, Sie träumen sich ein Himmelreich auf Erden, Sie glauben, daß das Wort allein genügt, um die Welt zu bekehren, die Menschen zur Menschlichkeit und zur Freiheit zu führen. Öffnen Sie aber nur die Annalen der Geschichte, und Sie werden finden, daß der kleinste Fortschritt der Menschheit, jede neue lebendige Frucht aus einem mit menschlichem Blute begossenen [Boden] entstanden ist, – und so können wir hoffen, daß das unsrige auch nicht gänzlich verloren sein wird. Selbst Christus – mit dem ich übrigens gar nicht im Sinn habe, uns zu vergleichen, – ist als Staatsverbrecher durch die jüdischen Gesetze zum Tode verurteilt worden. – Er hat aber keines vergossen, werden Sie sagen, – ja, andere Zeiten, andere Sitten. -
Um diese Frage in ihrer ganzen Wahrheit zu ergreifen, müssen Sie sich, liebe Freundin, auf einen etwas höheren Standpunkt stellen ... Die Geschichte ist eine Tragödie, ein fortwährender, großartiger Kampf des Alten mit dem Neuen. Das Alte hat recht, weil es besteht – das Neue, weil es das dem Alten selbst innewohnende Lebens- und Vernichtungsprinzip ist, die schöpferische Quelle der Zukunft. Vergessen Sie nie, daß es eine Zeit gab, wo das Alte auch neu und somit ungesetzlich erschien. Nun ist es solid geworden, hat sich gesetzt, d.h. ist zum Gesetze geworden – und bekämpft das neue Neue ebenso wie es vormals selbst von dem älteren Alten bekämpft wurde. In diesem Kampfe siegt bald das Neue, und das nennt man Revolution, bald das Alte, und das nennt man Reaktion und gesetzliche Strafe. Beide Parteien haben von ihrem Standpunkt recht: die richtende wie die gerichtete. Die erste, weil sie die Gesetze für sich hat, die andere, weil sie nach ihrer Überzeugung handelt ...
... Ich weiß, Sie hassen die Stürme: ob mit Recht? Das ist die Frage. Stürme in der sittlichen Welt sind ebenso notwendig wie in der Natur: sie reinigen, sie verjüngen die geistige Atmosphäre, sie entfalten die schlummernden Kräfte, sie zerstören das Zerstörbare und leihen dem ewig lebenden einen neuen, unverwelklichen Glanz. Im Sturme atmet man leichter; erst im Kampfe erfährt man, was ein Mensch kann, was er soll – und wahrlich tat ein solcher Sturm not der jetzigen Welt, welche sehr nahe daran war, an ihrer verpesteten Luft zu ersticken. Nur ist er lange noch nicht vorbei; ich glaube, ich bin fest überzeugt, daß, was wir erlebt haben [1848–49], nur ein schwacher Anfang dessen gewesen, was noch kommen und lange, lange dauern wird. – Die Heilung wird uns desto schwieriger werden, als die Krankheit gefährlich war, und die Krankheit ist maßlos.
Blicken Sie um sich und sehen Sie, wie diese sogenannte zivilisierte Welt hilflos und machtlos dasteht und nicht weiß, was sie anfangen, wohin sie sich flüchten soll. – Sie ist in ihrem Fortschritt stecken geblieben, sie kann nicht weiter; denn sie ist von allen Triebfedern des Lebens und des Weitergehens verlassen. – Sie glaubt an nichts mehr, weder an sich selbst, noch an die Zukunft.... Ihre Stunde hat geschlagen, ihr jetziges Leben ist nichts als ein letzter Todeskampf; – aber fürchten Sie sich nicht, liebe Freundin, eine jüngere und schönere Welt wird ihr folgen, nur schade, daß ich diese nicht sehen werde und Sie auch nicht, denn der Kampf, wie gesagt, wird noch lange dauern und wird uns beide überleben ...
Bakunin und der Staat
Aus Le Principe de l‚Etat, einem undatierten Manuskript von zirka 1871 in „La Société Nouvelle“ (Brüssel), November 1896 von mir herausgegeben. M. N.
Im Grunde ist Eroberung nicht nur der Ursprung, sondern auch das höchste Ziel aller Staaten, großer oder kleiner, mächtiger oder schwacher, despotischer oder liberaler, monarchischer, aristokratischer, demokratischer und selbst sozialistischer, falls das Ideal der deutschen Sozialisten, ein großer kommunistischer Staat, je verwirklicht wird.
Daß Eroberung der Ausgangspunkt aller alten und modernen Staaten war, kann niemand bezweifeln, da jede Seite der Weltgeschichte es hinreichend beweist. Niemand wird auch bestreiten, daß die jetzigen Großstaaten als mehr oder weniger eingestandenes Ziel die Eroberung haben. Aber die mittleren und vor allem die kleinen Staaten, wird man sagen, denken nur an ihre Verteidigung, und es wäre lächerlich, von ihnen an Eroberung zu denken.
So lächerlich ist es, wie man nur will, aber es ist nichtsdestoweniger ihr Traum, wie es der Traum des kleinsten lächerlichen Besitzers ist, sich zum Schaden seines Nachbarn zu arrondieren; sich zu arrondieren, zu vergrößern, um jeden Preis, und immer zu erobern ist eine unvermeidlich jedem Staat innewohnende Tendenz, welches immer seine Größe, seine Schwäche oder seine Stärke sei, weil es eine Naturnotwendigkeit für ihn ist. Was ist der Staat anderes als die Organisation der Macht; in der Natur jeder Macht aber liegt es, keine höhere und keine gleiche dulden zu können, – da die Macht kein anderes Ziel hat, als die Beherrschung und die Beherrschung nur Wirklichkeit wird, wenn alles sie Hindernde ihr unterworfen ist; keine Macht duldet eine andere, außer wenn sie dazu gezwungen ist, das heißt, wenn sie sich ohnmächtig fühlt, sie zu zerstören oder umzustürzen. Die bloße Tatsache des Vorhandenseins einer gleichen Macht ist eine Verneinung ihres Prinzips und eine beständige Drohung gegen ihre Existenz; denn sie ist eine Offenbarmachung und ein Beweis ihrer Ohnmacht. Folglich ist zwischen allen nebeneinander bestellenden Staaten permanenter Krieg, und ihr Frieden ist nur ein Waffenstillstand.
Es liegt in der Natur des Staates, sich sowohl für sich selbst, als für all seine Untertanen als absolutes Ziel aufzustellen. Seinem Wohlstand, seiner Größe, seiner Macht zu dienen ist die oberste Tugend des Patriotismus. Der Staat erkennt keine andere an. Alles, was ihm dient, ist gut, alles seinen Interessen Entgegenstehende wird als verbrecherisch erklärt – so ist die Staatsmoral.
Deshalb war die politische Moral stets der menschlichen Moral nicht nur fremd, sondern absolut entgegengesetzt. Dieser Widerspruch ist eine gezwungene Folge seines Prinzips: der Staat, der nur ein Teil ist, stellt sich auf und zwingt sich auf als das Ganze; er ignoriert das Recht von allem, das, da es nicht der Staat selbst ist, sich außerhalb des Staates befindet, und wenn er dieses Recht ohne eigene Gefahr verletzen kann, so verletzt er es. – Der Staat ist die Negation der Menschheit ...
Daß Bakunin aus der in dieser Stelle zusammen gefaßten Einsicht in das Wesen des Staates auf die Notwendigkeit der Abschaffung des Staates schloß, ist bekannt. Wie er sich das Zusammenleben lokaler territorialer Einheiten dachte für eine Zeit noch nicht vorhandener wirklicher Anarchie, zeigt sein dem Berner Zentralkomitee der Friedens- und Freiheitsliga, dem er angehörte, im Herbst 1867 vorgelegter Vorschlag, etwas später genauer ausgearbeitet in dem schließlich „Fédéralisme, socialisme et antithéologisme“ genannten langen Fragment (Oeuvres, Paris 1895):
... Wir müssen proklamieren:
1.) Daß es zum Sieg der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens in den internationalen Beziehungen in Europa, zur Unmöglichmachung des Bürgerkrieges zwischen den verschiedenen Völkern der europäischen Familie nur ein einziges Mittel gibt: die Vereinigten Staaten von Europa zu konstituieren.
2.) Daß diese Staaten, sich nie mit den Staaten, wie sie jetzt bestehen, bilden können angesichts der monströsen Ungleichheit zwischen der Macht der einzelnen Staaten.
3.) Daß das Beispiel des weiland Deutschen Bundes peremtorisch bewies, daß eine Konföderation von Monarchien ein Hohn ist, daß sie ohnmächtig ist, Friede und Freiheit der Bevölkerungen zu garantieren.
4.) Daß kein zentralisierter, bürokratischer und dadurch schon militärischer Staat, auch wenn er sich Republik nennt, ernstlich und aufrichtig in eine internationale Konföderation eintreten kann. Durch seine Verfassung, die stets eine offene oder maskierte Negation der Freiheit im Innern sein wird, würde er notwendigerweise eine permanente Kriegserklärung, eine Existenzbedrohung der Nachbarländer sein. Im wesentlichen auf einem Gewaltakt begründet, der Eroberung oder dem, was man im Privatleben Einbruchdiebstahl nennt, – einem von der Kirche irgendwelcher Religion gesegneten, von der Zeit geweihten und dadurch in historisches Recht verwandelten Akt, – und auf dieser göttlichen Weihe triumphierender Gewalttätigkeit wie auf einem ausschließlichen und höchsten Recht begründet, stellt jeder zentralistische Staat sich dadurch schon als absolute Verneinung des Rechts aller andern Staaten auf, die er in den mit ihnen abgeschlossenen Verträgen stets nur aus einem politischen Interesse oder aus Ohnmacht anerkennt.
5.) Daß alle Teilnehmer der Liga deshalb suchen müssen, die Länder, denen sie angehören, umzugestalten, um die alte, von oben nach unten, auf Gewalt und dem Autoritätsprinzip begründete Organisation durch eine neue Organisation zu ersetzen, deren einzige Grundlage die Interessen, Bedürfnisse und die natürliche Anziehungskraft der Völker sind, deren Prinzip die freie Föderation der Einzelpersonen in Gemeinden, der Gemeinden in Provinzen, der Provinzen in Nationen, endlich der Nationen in den Vereinigten Staaten zuerst Europas, dann der ganzen Welt ist.
6.) Folglich absolutes Aufgeben von allem, was man historisches Recht der Staaten nennt; alle Fragen über natürliche, politische, strategische, kommerzielle Grenzen müssen von jetzt ab als zur Geschichte der Vergangenheit gehörend betrachtet und mit Energie von allen Teilnehmern der Liga zurückgewiesen werden.
7.) Anerkenung des absoluten Rechts jeder großen oder kleinen Nation, jedes schwachen oder starken Volks, jeder Provinz und Gemeinde auf volle Autonomie, vorausgesetzt, daß ihre innere Verfassung nicht eine Bedrohung und Gefahr für die Autonomie und Freiheit der Nachbarländer sind.
8.) Der Umstand, daß ein Land, selbst durch freiwilligen Hinzutritt, Teil eines Staates ist, legt ihm keineswegs die Verpflichtung auf, dies immer zu bleiben. Die menschliche Gerechtigkeit, die einzige, die für uns Autorität besitzt, kann keine ewige Verpflichtung akzeptieren, und wir werden nie andere Rechte und Pflichten anerkennen, als die auf der Freiheit begründeten. Das Recht des freien Anschlusses und der ebenso freien Trennung (secession) ist das erste und wichtigste aller politischen Rechte: ohne dasselbe wäre eine Konföderation stets nur eine maskierte Zentralisation.
9.) Aus all diesem ergibt sich, daß die Liga offen die Allianz irgendeiner nationalen Fraktion der europäischen Demokratie mit den monarchischen Staaten verwerfen (proscrire) muß, selbst wenn sie die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit oder Freiheit eines unterdrückten Landes zum Ziel hätte, da eine solche Allianz, die nur zu Täuschungen führen könnte, zugleich ein Verrat an der Revolution wäre.
10.) Dagegen muß die Liga, gerade weil sie die Friedensliga ist und die Überzeugung hat, daß der Friede nur durch die intimste und vollständigste Solidarität der Völker in der Gerechtigkeit und der Freiheit gewonnen und auf ihr begründet werden kann, laut ihre Sympathie mit jeder nationalen Insurrektion gegen jede fremde oder innere Unterdrückung proklamieren, vorausgesetzt, daß die Insurrektion im Namen unserer Prinzipien und im politischen und ökonomischen Interesse der Volksmassen stattfindet, nicht aber mit der ehrgeizigen Absicht, einen mächtigen Staat zu gründen.
11.) Die Liga wird aufs äußerste alles bekämpfen, was man Ruhm, Größe und Macht der Staaten nennt. All diesen falschen und schädlichen Götzen, denen Millionen von Menschenopfern dargebracht wurden, stellen wir den Ruhm des Menschengeistes gegenüber, der sich in der Wissenschaft offenbart, und den Ruhm allgemeinen Wohlstandes, der auf Arbeit, Gerechtigkeit und Freiheit begründet ist.
12.) Die Liga wird die Nationalität als natürliche Tatsache anerkennen, die ein unbestreitbares Recht auf freie Existenz und Entwicklung besitzt, aber nicht als ein Prinzip – denn jedes Prinzip muß den Charakter der Universalität besitzen und die Nationalität ist im Gegensatz dazu nur eine besondere, getrennte Tatsache. Das sogenannte Nationalitätenprinzip, das gegenwärtig von den Regierungen Frankreichs, Rußlands und Preußens und selbst von vielen deutschen, polnischen, italienischen und ungarischen Patrioten aufgestellt wird, ist nur ein von der Reaktion dem Geist der Revolution entgegengestelltes Ablenkungsmittel: eminent aristokratisch im Grunde, so daß es die Dialekte ungebildeter Bevölkerungen verachtet, mit verstandenermaßen die Freiheit der Provinzen und die wirkliche Autonomie der Gemeinden leugnend, und nirgends von den Volksmassen unterstützt, deren wirkliche Interessen es systematisch einem sogenannten öffentlichen Wohl opfert, das stets nur das Wohl der privilegierten Klassen bedeutet, – unter diesen Umständen drückt das Nationalitätenprinzip nur die angeblichen historischen Rechte und den Ehrgeiz der Staaten aus. Das Recht einer Nationalität kann also von der Liga stets nur als natürliche Folge des obersten Prinzips der Freiheit betrachtet werden und hört auf, ein Recht zu sein, sobald es sich gegen die Freiheit oder selbst nur außerhalb der Freiheit stellt.
13.) Die Einheit ist das Ziel, dem die Menschheit unwiderstehlich zustrebt. Die Einheit wird aber stets verhängnisvoll, Verstand, Würde und Wohlstand der einzelnen und der Völker zerstörend, sobald sie sich außerhalb der Freiheit bildet, durch Gewalt oder unter der Autorität irgendeiner theologischen, metaphysischen, politischen oder selbst ökonomischen Idee. Der der Einheit außerhalb der Freiheit zustrebende Patriotismus ist ein schlechter Patriotismus, den wirklichen Volksinteressen des Landes, das er emporheben, dem er dienen will, stets verhängnisvoll, schädlicher, oft, ohne es zu wollen, ein Freund der Reaktion – und ein Feind der Revolution, das heißt der Befreiung der Nationen und der Menschen. Die Liga kann nur eine einzige Einheit anerkennen: die sich frei bildende durch die Föderation der autonomen Teile in einem Ganzen, das nicht die Negation der besonderen Rechte und Interessen, nicht die Begräbnisstätte jeder lokalen Prosperität ist, sondern im Gegenteil die Bestätigung und Quelle all dieser Autonomien und dieser lokalen Prosperität. Die Liga wird also jede religiöse, politische, ökonomische und soziale Organisation, die nicht vollständig von dem großen Freiheitsprinzip durchdrungen ist, kräftig angreifen: ohne dieses Freiheitsprinzip gibt es keine Intelligenz, keine Gerechtigkeit, keinen Wohlstand, keine Menschheit... [5]
Bakunin und die Religion
Aus der in der dritten Sitzung des Berner Kongresses der Friedens- und Freilieilsliga am 24. September 1868 gehaltenen Rede [6].
... Sagte nicht ein Redner auf dieser Tribüne, das Christentum sei die einzige Grundlage jeder Moral?
Wir haben ihn angehört, aber lasse man uns ebenso frei auf derselben Tribüne unsere tiefe Überzeugung kundgeben, daß nicht nur das Christentum, sondern die Religion im allgemeinen, alle Religionen, mit der menschlichen Moral unvereinbar sind.
Nicht leichtfertig, von kapriziösem und frivolem Gefühl inspiriert, bekämpfen wir hier die Religion. Wir tun dies im Namen der Moral, der Gerechtigkeit und der Menschheit selbst, deren Sieg auf der Erde unmöglich ist, solange auf dieser Erde religiöse Phantome herumspuken, sie terrorisieren und regieren.
Nicht wir haben diese so wahre Idee erfunden, daß die Religion durch ihr Wesen selbst absolut jeder menschlichen Moral, Würde und Gerechtigkeit entgegengesetzt ist. Sie wurde lange vor uns von den großen Denkern des vorigen [18.] Jahrhunderts proklamiert, – was sage ich, schon lange vorher inspirierte sie die edelsten Geister, die Helden und Märtyrer der Renaissance: die Giordano Bruno, Vanini, Servet, den Calvin in Genf verbrannte, und viele andere, die in der christlichen Finsternis durch das aus dem alten Griechenland kommende Licht erweckt, den Kult der Wahrheit und der Menschheit auf den Ruinen der Lüge und des göttlichen Despotismus gründen wollten ...
... Nun, meine Herren, wer war dieser große Ulrich von Hutten, dieser Held der Reformation? War er ein religiöser Mann, und hatte er sich aus den katholischen Ketten befreit, um die fromme Tyrannei Calvins, Melanchthons oder Luthers über sich ergehen zu lassen? Nein, er war ein Humanist, ein Atheist, Freund und Schüler der Atheisten von Florenz, wo er sich ausgebildet hatte und in die großen Lehren der humanistischen Unterweisung eingeweiht worden war.
All diese großen Helden des freien Gedankens, all diese berühmten Befreier der Menschheit, verfolgt, eingekerkert, gefoltert, verbrannt oder auf andere Weise vom Henker ermordet, erlagen auf elende Weise der grausamen Tyrannei der Zäsaren und Päpste der Kirche und des Staates. Aber ihr Werk erlag nicht. Es wurde langsam fortgesetzt, in schüchterneren und bescheideneren Formen zwar, aber immer dem Ziel zuschreitend, durch die ebenso lichtbringende wie hartnäckige Arbeit der Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts, deren berühmtester Vertreter jedenfalls der gelehrte und geistreiche Erasmus war.
Im siebzehnten Jahrhundert wurde diese der Renaissance entsprossene Geistesströmung mächtig verstärkt durch die neue Strömung der entstehenden Naturwissenschaft: Galilei, Kepler, Newton, Gassendi und Baton, der Großvater des modernen Positivismus, begründeten die Wissenschaft auf wirklicher Grundlage und brachten dadurch, die einen mit Wissen, andere ohne es zu wissen und zu wollen, allen metaphysischen Lehren einen tödlichen Schlag bei – und hierdurch der Religion selbst. Dem Zusammenschluß dieser beiden Strömungen entsprang die große französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts.
Ja, dieses große achtzehnte Jahrhundert, dessen Kinder wir alle sind, und das uns noch heute durch die ungeahnte Weite seiner Gedanken erdrückt, war vornehmlich das humanitäre und atheistische Jahrhundert. Es bejahte den Menschen und verneinte Gott. Es begriff, daß um den Menschen zu befreien, all seine Ketten zu brechen, ihn dem Glück, der Freiheit, der Würde zurückzugeben, – es notwendig war, die Infame zu zermalmen [7], – das heißt all diese religiösen Phantome, diese metaphysischen und theologischen Abstraktionen zu zerstören, die seit Anbeginn der Geschichte allen Tyrannen Vorwand und Mittel der Demoralisierung, Knechtung und Ausbeutung der Menschheit waren.
Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts waren glücklicher als die der Renaissance. Die Zeit war herangereift, und ihre lichtvolle, beredte, leidenschaftliche Propaganda schenkte der Revolution das Leben.
Soll ich von den Menschen sprechen, welche verhinderten, daß diese große Revolution ihre volle Frucht brachte? ... Ich begnüge mich, Sie zu erinnern, daß die sentimental terroristische, das heißt religiöse Lehre J. J. Rousseaus, die in der schönen humanitären Harmonie des achtzehnten Jahrhunderts als Mißklang ertönte, auf einer andern Seite unterstützt von dem inkonsequenten, frivolen und bourgeoisen Deismus von Voltaire, der die Religion für absolut notwendig für die Canaille gehalten hatte. – daß diese Lehre also der Revolution den Kult einer abstrakten Gottheit sowie den abstrakten Staatskultus vermacht hatte. Diese beiden Kulte, personifiziert in der düsteren Figur Robespierres – dieses Calvins der Revolution -, haben die Revolution getötet.
Dann folgte die Diktatur des ersten Kaiserreichs mit seinem utilitären Konkordat – nützlich gewiß im Sinn des Despotismus. Dann die Restauration mit ihrer romantischen Fäulnis, mit den Chateaubriand, den Lamartine und den Schlegel als Vertretern. Schließlich die spekulative Philosophie der Deutschen, die in Frankreich unter dem Namen Eklektizismus eine Staatseinrichtung wurde.
Dies, meine Herren, sind die Ursachen der tiefen Dekadenz, aus der wir uns heute so mühsam herausarbeiten. Und wenn wir uns wirklich retten wollen, müssen wir offen und kühn die Fahne der Renaissance und der Revolution aufpflanzen – die der menschlichen Empörung gegen das göttliche Joch.
Haben wir also den Mut, logisch und aufrichtig zu sein, und zögern wir nicht, kundzugeben, daß die Existenz eines Gottes unvereinbar ist mit dem Glück, der Würde, der Intelligenz, der Moral und der Freiheit der Menschen. – Denn tatsächlich, wenn es einen Gott gibt, sind meine Intelligenz, wie groß, mein Wille, wie stark sie sein mögen, vor dem göttlichen Willen und der göttlichen Intelligenz nichtig. Meine Wahrheit ist eine Lüge vor ihm, mein Wille wird ohnmächtig und meine Freiheit wird zur Empörung gegen ihn. Er oder ich; wenn er existiert, muß ich zu nichts werden, und wenn er so gnädig ist, mir Propheten zu schicken zur Offenbarung seiner meinem Verstand stets unfaßbaren göttlichen Wahrheit, und Priester, um mein Gewissen, das unfähig ist, das Gute zu fassen, zu leiten, von seiner Hand gesalbte Könige, um mich zu regieren, und Henker, um mich zu züchtigen, so bin ich ihnen den Gehorsam des Sklaven schuldig. Wer also Gott will, will die Sklaverei der Menschen. Gott und die Unwürdigkeit des Menschen oder die Freiheit des Menschen und die Annullierung des Gottesphantoms. Dies ist das Dilemma, einen Mittelweg gibt es nicht, wählen wir also.
... Die Anhänger der friedlichen Revolution durch Bildung allein, all diese Freidenkergesellschaften, die heute die Macht des religiösen Aberglaubens bloß durch die Propaganda der Kongresse, Vereine, Zeitschriften und Bücher zu zerstören sich bemühen, irren sich sehr, wenn sie glauben, durch diese Mittel allein ihr Ziel zu erreichen. Die Religion ist nicht nur eine geistige Verirrung, sie ist auch und vor allen Dingen ein leidenschaftlicher und permanenter Protest der Fülle des menschlichen Wesens, des unendlichen Reichtums des Menschenherzens, gegen die Enge und das Elend des wirklichen Lebens. Der auf dieser Erde nur Dummheit, Ungerechtigkeit und Elend findende Mensch schafft durch seine Einbildungskraft eine erdichtete Welt, in welche er all seine Bestrebungen, Hoffnungen und sein Ideal überträgt. Er hat den Himmel bereichert, indem er die Erde arm machte. So wurde die Religion geschaffen, und die Religion wird allmächtig sein auf der Erde, solange hier Unvernunft und Ungerechtigkeit herrschen. Schaffen wir also Gerechtigkeit, geben wir der Erde zurück, was ihr gehört, Glück und Brüderlichkeit! Zerstören wir das siegreiche Übel in all seinen Formen, mit allen Einrichtungen der Unbill. Errichten wir die Brüderlichkeit, das heißt das gleiche Recht eines jeden, durch die Solidarität aller, die Freiheit in der Gleichheit, und die Religion wird keinen Existenzgrund mehr besitzen.... Um also die Religion zu zerstören, um all diese Gottesphantome, die uns so versklaven und so roh und elend machen, zu zerstreuen und verschwinden zu machen, dazu genügt die bloße geistige Propaganda nicht – dazu gehört die soziale Revolution.
Bakunin und die Politik der Internationale
Aus seinem letzten die Internationale besprechenden französischen Manuskript, November 1872 (Oeuvres, IV, Paris 1910. S. 397 ff.).
... Da die bourgeoise Ausbeutung solidarisch ist, muß ihre Bekämpfung es auch sein und die Organisation dieser militanten wehrhaften Solidarität der Arbeiter aller Länder unter sich ist das einzige Ziel der Internationale ...
Aber jede Macht zieht Ehrgeizige an. Und die Herren Marx und Kompanie, die sich, scheint es, von der Natur und den Ursachen der so jungen und wunderbar starken Macht der Internationale nie Rechenschaft gegeben haben, bildeten sich ein, sie könnten aus ihr einen Fußschemel oder ein Werkzeug zur Verwirklichung ihrer politischen Ansprüche machen. Herr Marx ... hätte doch besser als jeder andere zwei in die Augen springende Tatsachen verstehen sollen ...
1. Daß die Internationale sich nur so wunderbar entwickeln und ausdehnen konnte, weil sie aus ihrem offiziellen und obligatorischen Programm alle politischen und philosophischen Fragen ausschied; und
2. Daß sie dies nur tun konnte, weil sie, hauptsächlich auf der Freiheit der Sektionen und Föderationen begründet, alle Wohltaten einer zentralisierenden Regierung entbehrte, welche ihre Entwicklung geleitet, das heißt behindert und gelähmt hätte, da der Generalrat bis 1870, also gerade in der Periode ihrer größten Entwicklung, nur eine Art Schattenkönig war, der immer nachträglich räsonnierte und, nicht weil ihm ehrgeizige Prätentionen gefehlt hätten, wohl aber aus Ohnmacht, und weil niemand auf ihn gehört hätte, sich von der spontanen Bewegung der Arbeiter Belgiens, Frankreichs, der Schweiz, Spaniens und Italiens ins Schlepptau nehmen ließ.
Was die politische Frage betrifft, so ist bekannt, daß ihre Ausscheidung aus dem Programm der Internationale nicht Herrn Marx zu verdanken ist. Wie von dem Verfasser des berühmten, 1848 von ihm und seinem Freund, Vertrauten und Komplizen, Herrn Engels, veröffentlichten Programms der deutschen Kommunisten zu erwarten war, verfehlte er nicht, in der Inauguraladresse, welche der provisorische Generalrat 1864 veröffentlichte, und deren alleiniger Verfasser er ist, diese Frage an die erste Stelle zu stellen ...
Bekanntlich räumte der erste Kongreß der Internationale, 1866 in Genf abgehalten, mit all diesen politischen und patriotischen Anwandlungen des Mannes auf, der sich heute als Diktator unserer großen Gesellschaft aufstellt. Nichts davon ist in dem von diesem Kongreß beschlossenen Programm und den Statuten übriggeblieben, die von da ab die Grundlage der Internationale bilden ...
„Daß die Befreiung der Arbeiter ihr eigenes Werk sein muß, daß ihre Anstrengungen zu ihrer Befreiung nicht neue Privilegien errichten dürfen, sondern gleiche Rechte und Pflichten für alle;“
„Daß die Knechtung der Arbeiter durch das Kapital die Quelle jeder Knechtschaft ist: der politischen, moralischen und materiellen;“
„Daß daher die ökonomische Befreiung der Arbeiter das große Ziel ist, dem jede politische Bewegung untergeordnet werden muß,“ usw.
Dies ist der entscheidende Satz des ganzen Programms der Internationale ...
Die Alliance, eine Sektion der Internationale in Genf, hatte diesen Absatz der Erwägungsgründe in folgende Worte übersetzt und näher erklärt:
„Die Alliance verwirft jede politische Aktion, die nicht den Sieg der Arbeiter über das Kapital zum unmittelbaren und direkten Zweck hat; folglich setzte sie sich als Ziel die Abschaffung des Staates, aller Staaten, und die Organisation der „universellen Assoziation aller lokalen Assoziationen durch die Freiheit.“
Die deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei dagegen, die im gleichen Jahr 1869 unter den Auspizien von Herrn Marx von den Herren Liebknecht und Bebel gegründet wurde, kündigte in ihrem Programm die Eroberung der politischen Macht als Vorbedingung der ökonomischen Befreiung des Proletariats an ...
Zwischen beiden Richtungen besteht, wie man sieht, derselbe Unterschied, derselbe Abgrund, wie zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Darf man sich dann wundern, daß sie sich in der Internationale als unversöhnbare Gegner begegneten, und daß sie sich bis heute in jeder Form und bei jeder Gelegenheit bekämpfen? ...
... Ich glaube, nicht nötig zu haben, zu beweisen, daß die Internationale, wenn sie eine Macht sein und bleiben will, die ungeheure Majorität des europäischen und des amerikanischen Proletariats an sich ziehen, umfassen und organisieren muß. Welches politische oder philosophische Programm aber könnte sich schmeicheln, Millionen unter seinem Banner zu vereinigen? Nur ein äußerst allgemeines, das heißt unbestimmtes und vages Programm könnte diese zustande bringen, denn jeder näheren theoretischen Bestimmtheit entspricht unvermeidlich ein praktischer Ausschluß, eine Ausscheidung.
... Glaubt man, daß die Internationale, wenn sie das einfache Wort „Atheismus“ auf ihr Banner geschrieben hätte, auch nur einige hunderttausend Anhänger zusammengebracht hätte? Man weiß, daß dies nicht der Fall gewesen wäre, nicht, weil das Volk wirklich religiös ist, sondern, weil es glaubt, religiös zu sein, und es wird dies weiter glauben, solange nicht eine soziale Revolution ihm den Weg eröffnet hat, all seine Aspirationen auf der Erde zu verwirklichen ...
Genau dasselbe ist der Fall mit allen politischen Prinzipien. Zunächst gibt es – an dieser heute überall zutage tretenden Tatsache werden die Herren Marx und Engels nichts ändern, wie sie sich auch hin- und herbewegen mögen, – zunächst gibt es kein politisches Prinzip mehr, das die Massen in Bewegung setzen könnte. Nach einigen Jahren wird sich der Mißerfolg herausstellen, selbst in Deutschland. Was die Massen überall wollen, das ist ihre unmittelbare ökonomische Befreiung, denn in dieser liegt wirklich für sie die ganze Frage von Freiheit und Menschlichkeit, liegt Leben oder Tod. Wenn es noch ein Ideal gibt, das die Massen heute leidenschaftlich zu verehren fähig sind, ist dies die ökonomische Gleichheit. Und darin haben sie tausendmal recht, denn solange die ökonomische Gleichheit nicht das heutige Regime ersetzt hat, wird alles andere, das dem Menschenleben Wert und Würde gibt, Freiheit, Wissenschaft, Liebe, intelligente Tätigkeit und brüderliche Solidarität, für die Massen nur wie eine furchtbare Lüge sein.
... Heute beginnen die Massen überall einzusehen, daß kein Despotismus ihnen die [ökonomische Gleichheit] geben will und kann. Das Programm der Internationale drückt sich hierüber sehr glücklich aus: Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.
Ist es nicht erstaunlich, daß Herr Marx auf diese so genaue uud klare Erklärung, die er wahrscheinlich selbst abfaßte, seinen wissenschaftlichen Sozialismus aufpfropfte, nämlich die Organisation und Regierung der neuen Gesellschaft durch die gelehrten Sozialisten – die schlechteste aller despotischen Regierungen!
Dank der lieben großen Volkskanaille, die aus sich selbst heraus, von unbesiegbarem und direktem Instinkt getrieben, allen Regierungsanwandlungen der kleinen Arbeiterminorität Widerstand leisten wird, die schon so diszipliniert und eingeteilt ist, um sich zu Helfershelfern eines neuen Despotismus zu eignen, wird der gelehrte Sozialismus des Herrn Marx immer ein marxistischer Traum bleiben. Diese neue Erfahrung, trauriger vielleicht als alle vergangenen, wird der Gesellschaft erspart bleiben, weil das Proletariat im allgemeinen und überall heute von tiefem Mißtrauen gegen Politik und alle Politiker jeder Farbe erfüllt ist, die es alle in gleicher Weise betrogen, unterdrückt und ausgebeutet haben, die rötesten Republikaner ebensogut wie die absolutesten Monarchisten.
... Durch Einführung der politischen Frage in das obligatorische Programm der Internationale [durch die Marxisten auf dem Haager Kongreß, September 1872], brachte man unsere Gesellschaft in ein schreckliches Dilemma, nämlich folgendes: Entweder Einheit mit Knechtschaft, oder Freiheit mit Spaltung und Auflösung.
Welches ist der Ausweg? Einfach die Rückkehr zu unseren ursprünglichen Statuten, die von der eigentlichen politischen Frage absehen und ihre Entwicklung der Freiheit der Föderationen und Sektionen überlassen. Dann wird also jede Föderation, jede Sektion der ihr beliebenden politischen Richtung folgen? – Gewiß. – Dann würde die Internationale zum Turm von Babel werden? – Ganz das Gegenteil, erst dann würde sich ihre wirkliche, erst ökonomische, dann notwendigerweise politische Einheit herausbilden; dann würde sie, gewiß nicht mit einem Schlage, die große Politik der Internationale schaffen, die nicht aus einem einzigen, ehrgeizigen, sehr gelehrten und doch bei aller Hirnfülle zur Erfassung der tausend Bedürfnisse des Proletariats unfähigen Kopf hervorgehen würde, sondern aus der absolut freien, spontanen und gleichzeitigen Tätigkeit der Arbeiter aller Länder.
Die Grundlage dieser großen Einheit, die man vergeblich in den philosophischen und politischen Tagesmeinungen suchen würde, ist von selbst gegeben in der Solidarität der Leiden, Interessen, Bedürfnisse und wirklichen Aspirationen des Weltproletariats. Diese Solidarität braucht nicht erst geschaffen zu werden, sie ist als Tatsache vorhanden, sie bildet das ihr eigentümliche Leben, die tägliche Erfahrung der Arbeiterwelt, und es bleibt nur zu tun übrig, ihr dieselbe zur Kenntnis zu bringen und ihr zu helfen, sie bewußt zu organisieren. Es ist die Solidarität der ökonomischen Forderungen ... [Sollte man sich also in der Internationale nur mit ökonomischen Fragen beschäftigen, fragt dann Bakunin.] ... Diese ausschließliche Sorge um ökonomische Interessen wäre für das Proletariat der Tod ...
Selbst wenn also Fragen der Politik und Philosophie in der Internationale nicht aufgeworfen worden wären, würde das Proletariat sie unfehlbar selbst aufwerfen.... [Alle solche Fragen werden frei aufgeworfen und diskutiert werden, was gerade das Bestehen einer offiziellen Wahrheit verhindern würde, die man dann nur wie neue zehn Gebote auswendig zu lernen hätte!] ...
[Bakunin würde diese Ausführungen wahrscheinlich mit Worten geschlossen haben, wie folgende in einem einige Wochen vorher geschriebenen Manuskript:] ... Was ist aber heute zu tun? Da heute eine Lösung und Versöhnung auf dem Gebiet der Politik unmöglich ist, muß man sich gegenseitig dulden [il faut se tolerer mutuellement] und jedem Lande das unbestreitbare Recht lassen, den politischen Tendenzen zu folgen, die ihm besser gefallen und ihm für seine besondere Lage die geeignetsten erscheinen. Indem man also alle politischen Fragen aus dem obligatorischen Programm der Internationale hinauswirft, darf man die Einheit dieser großen Assoziation nur auf dem Terrain der ökonomischen Solidarität suchen. Diese Solidarität vereint uns, während die politischen Fragen uns unvermeidlich trennen ... (Werke, III, 1924, S. 225.)
[Dieses Angebot ist noch heute offen, und solche Verhältnisse verknüpfen Bakunin mehr mit der Gegenwart und lassen die Beachtung seiner Argumente wertvoller erscheinen, als mancher glaubt, der noch keine Gelegenheit nahm, ihn näher kennenzulernen. M. N.]
Bakunins letzte Krankheit und Tod
Auszüge aus dem französisch geschriebenen Brief Adolf Reichels an C. Gambuzzi (Bern, 6. Juli 1876).
... Bakunin kam hier Mittwoch, den 14. (Juni), abends, nach recht beschwerlicher Reise aus Lugano an. Herr Vogt (sein alter Freund, der Arzt, Professor Adolf Vogt), der ihn erwartet hatte, führte ihn sofort in eine Krankenpension in Mattenhof, außer der Stadt gelegen, nahe bei meiner Wohnung (J. L. Hug-Brauns Krankenpension, Mattenhof, Nr. 317) ... (Als Reichel ihn denselben Abend aufsuchte) ... ich fand ihn auf, mit den Herren Vogt Vater und Sohn (Dr. Robert Vogt), seinem Reisebegleiter, einem Italiener ... (dem anarchistischen Flüchtling Giuseppe Sant‚Andrea, Schuhmacher) ... und Herrn Hug, dem Anstaltsleiter. Wir begrüßten uns heiter und geräuschvoll, wie immer, das Gespräch ging etwas drunter und drüber, wie stets bei einer ersten Begegnung. Keiner von uns fürchtete noch eine so schnelle und kurze Entwicklung der Krankheit, und es fehlte nicht an Scherzen... Herr Vogt ... sagte: „Vor allem, mein Lieber, mußt du dich zu einem etwas geregelteren Leben bequemen“, worauf Bakunin erwiderte: „Ach was! Ich lebte immer ungeregelt – nun, so soll man von mir sagen: unordentlich gelebt, aber ordentlich gestorben!“ Ich lud ihn dann zum Tee bei mir ein, was er gern annahm, und wir gingen zu meinem Haus, kaum tausend Schritt weit. Er liebte die Musik sehr und wollte welche hören; es wurde ihm einiges aus einem Trio vorgespielt, er hörte aufmerksam zu trotz der Schmerzen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen. Aber schon vor dem dritten Teil sagte er: „Genug! Ich leide zu sehr, ich werde mich niederlegen“ – das war sein letzter Besuch bei mir.
Am nächsten Tag, dem 13., fand die Operation statt, das heißt die Untersuchung der Blase durch die Sonde. Er selbst glaubte, er habe den Stein, aber der Arzt erklärte nach dreimaliger Untersuchung, die Krankheit sei die vorerwähnte [8]... (An diesem Abend traf Reichel den Kranken ganz zufrieden.) ... Als Lektüre hatte er einen Band Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, verlangt. Wir sprachen darüber, und er machte die ganz richtige Bemerkung, daß all unsere Philosophie von einer falschen Grundlage ausgehe, indem sie stets mit dem Menschen als Individuum beginnt, statt als einem zu einer Kollektivität gehörenden Wesen. Daher die meisten Irrtümer der Philosophen, die zu einem Glück in den Wolken gelangen oder zu einem Pessimismus wie Schopenhauer und Hartmann. Es wäre zu lang, das ganze Gespräch anzuführen, aber diesen Abend sprach Bakunin noch mit einer Klarheit und Verve wie in seinen guten Tagen.
Am nächsten Tag, dem 16., fand ich ihn nicht mehr so zufrieden wie Tags vorher ... (Am 19. war sein Zustand wenig verändert; am 20. wurde ein Krankenwärter für nötig erachtet, wogegen Bakunin, der überhaupt ein schwer zu behandelnder Patient war, sich lange wehrte. Er hatte seine eigenen Theorien über seine Krankheit, die er immer den ärztlichen Vorschriften entgegenstellte, auch gab er nicht immer klare Antworten über seinen Zustand, sprach manchmal ausweichend. Der Anstaltsleiter mußte selbst dazusehen, daß er die Medizin richtig nahm.)
... Mittwoch, den 21., sprachen wir noch ziemlich frei zusammen und erinnerten uns an vieles aus unserem gemeinsamen Leben (1843–47) und über alte Bekannte, und ich sagte: „Es ist doch schade, Bakunin, daß du nie Zeit gefunden hast, deine Memoiren zu schreiben.“ – „Für wen hätte ich sie schreiben sollen?“ antwortete er, „Es ist nicht der Mühe wert, den Mund aufzumachen. Die Völker aller Länder haben heute den revolutionären Instinkt verloren. Sie sind alle zu sehr mit ihrer Lage zufrieden, und die Furcht, auch das, was sie haben, noch zu verlieren, macht sie harmlos und träg. Nein, wenn ich noch ein bißchen Gesundheit wiederfinde, möchte ich eine Ethik schreiben, auf kollektivistischer Grundlage, ohne philosophische und religiöse Phrasen [9].“
Donnerstag, den 22., fand ich ihn auf dem Kanapee, und auf die Frage, wie es ihm gehe, sagte er: „Ich hin dumm“. Ich bemerkte bald eine Art Benommenheit (torpeur), die ich einigen Schlafmitteln zuschrieb, die er in der Nacht genommen hatte. Herr Vogt begann sich etwas beunruhigt zu fühlen, aber man fürchtete noch nicht, daß die Krankheit unbesiegbar sei [10].
... Die Schlafsucht (somnolence) nahm kein Ende, und oft, wenn ich bei ihm war, war er halb im Schlaf (25.) ... (Am 24. diktierte er Frau Reichel auf das genaueste einen russischen Brief nach Lugano, seine Rückkehr in vierzehn Tagen in Aussicht stellend. Am 25. oder 26. kam der Krankenwärter [es waren deren zwei, Isenschmied und Liechtil; Bakunin schien nicht gerade zu leiden, wurde aber schwächer. Er trank viel Tee, Wasser mit Wein und sehr kaltes Wasser.]
... Montag, den 26., abends, hatte ich noch ein Gespräch über Musik mit ihm. Er fragte mich, ob Beethoven auch Fugen komponiert hätte, und an was ich dächte, wenn ich solche komponierte. Er folgte meiner Erklärung mit ziemlichem Interesse. Dann sprachen wir über moderne Musik, und er ließ sich über den Komponisten Wagner aus, den er sehr richtig beurteilte, sowohl seinen Charakter als seine Musik betreffend. Dienstag, 27., abends, sprachen wir wieder, und als ich sagte, es sei Zeit für mich, zu gehen, und für ihn, sich niederzulegen, sagte er ohne jede Sentimentalität: „Ja, geh, aber umarme mich, mein lieber, mein guter Freund!“ Ich tat dies, ohne zu vermuten, daß er vielleicht von mir bei vollem Bewußtsein Abschied nehmen wollte.
Den nächsten Tag aber, Mittwoch, den 28., sprach ich mit Herrn Vogt, der mir sagte, daß die Krankheit eine schlimme Wendung nehme, und daß er an der Heilung verzweifle.... (Am 28. setzten die körperlichen Funktionen plötzlich ganz aus und die Somnolenz – Schlafsucht – nahm zu. Er wollte nichts mehr essen und nahm mit Mühe etwas Bouillon. Er verließ das Bett nicht mehr und schlief immer mehr.) ... Als ich ihn bat, etwas Bouillon zu nehmen, sagte er, ohne die Augen aufzumachen: „Ich brauche nichts, ich habe meine Sache gut zu Ende gebracht.“
(Auch von russischem Kasdia, einem Brei, auf den er sich zuerst freute, und den ihm Frau Reichel am 29. zubereitete, aß er nur einige Löffel. Es wurde immer schlechter, er war stets mehr oder weniger bewußtlos, erkannte aber alle, sprach zu Frau Reichel Russisch, zu Reichel Deutsch, sagte Du oder Sie, je nach den Personen.)
... Samstag, den 1. Juli, um 9 Uhr früh, sah ich ihn zum letzten Mal. Sein Zustand war wenig verändert. Meine Frau fand ihn um 10 Uhr viel ruhiger und mit besserem Gesichtsausdruck. Um 11 Uhr besuchte ihn Herr Vogt, und 4 Minuten vor 12 Uhr tat er den letzten Atemzug. – Man kann sagen, daß er keinen Todeskampf hatte. Die beiden letzten Tage schlief er am meisten, sehr laut atmend, aber seine Züge zeigten selten einen schmerzlichen Ausdruck. Von Zeit zu Zeit schien er einen Augenblick die Geduld zu verlieren und verzog dann das Gesicht und sagte: „Diavolo!“ (Teufel!). Aber im ganzen schien er immer mehr einzuschlafen ...
(Reichel, am 7. Juli schreibend, fügt hinzu:) ... Er machte mir die ganze Zeit den Eindruck, daß er immer Herr seiner selbst blieb, und ich kann nur sagen: Bakunin ist gestorben, wie er gelebt, als ganzer Mann. Wie er sich sein ganzes Leben hindurch gezeigt hatte, wie er war, ohne Phrasen und Verstellung, so ging er auch weg in voller Kenntnis von sich und seiner Lage. – Im ganzen schien er mir des Lebens müde. Er beurteilte die heutige Welt richtig, und im Gefühl, daß das nötige Material für seine Art der Arbeit fehle, schloß er ohne Bedauern die Augen, vielleicht wollte er sogar sterben, aber es ist ihm nie ein Wort entschlüpft, das darauf hingedeutet hätte).
Eine Stunde nach dem Tode fand ich ihn gewaschen und bekleidet und war frappiert von der Schönheit seiner Züge, auf welchen grandiose Ruhe lag ... [11]
„Die Beichte“ M. A. Bakunins
Von M. Saschin (Arm. Ross). (Übersetzt von M. N.)
Ich verbrachte die Zeit der Oktoberrevolution [November 1917], des Bürgerkrieges bis Mitte 1920 mit meiner Frau im nördlichen Kaukasus in der Stadt Trosno in der Familie meines Sohnes, Bergingenieurs bei der Naphthagewinnung. Der Kaukasus war damals, besonders in den letzten 1 1/2 bis 2 Jahren, fast ganz vom übrigen Rußland abgeschnitten: Post, Telegraph, Eisenbahnen funktionierten fast gar nicht. Keine Nachrichten von Verwandten im Norden, die hungerten, Kälte litten und starben. Sehr selten kamen allgemeinpolitische Nachrichten und nur in kurzer, auszugsweiser Form.
Im Sommer 1920 kam einmal ein junger Mann zu mir, N., ein Menschewikisozialdemokrat, der als Sekretär eines Volkskommissars, der in Angelegenheiten der Naphthaindustrie in einem Extrazug nach Baku reiste, und sich nur 2–3 Stunden aufhielt.
Von diesem hörte ich, daß er meine Verwandten kenne und von mir wisse als bakunistischen Anarchisten. Er erzählte dann als allerletzte Neuigkeit, die er einige Tage vor seiner Abreise aus Moskau erfahren habe: im Geheimarchiv des Zaren sei die „Beichte M. A. Bakunins“ gefunden worden, die er für Nikolaus I. im Alekseiravelin bald nach seiner Überführung aus einer österreichischen Festung schrieb. Er teilte mir ihren Inhalt mit; er war unter den ersten, die sie in Moskau gelesen hatten. Dabei machte ich verbessernde oder ergänzende Bemerkungen, so daß er mich fragte: wie könne ich davon etwas wissen und den Inhalt kennen, da sie doch erst gefunden sei und keine Verbindung mit Moskau bestehe. „Letzteres ist richtig,“ sagte ich, „den Inhalt aber kenne ich durch Bakunin persönlich, der ihn mir recht ausführlich mitteilte.“ Tatsächlich, als ich später in Moskau das von Bakunin geschriebene Original las, überzeugte ich mich davon, daß er in seiner Erzählung nichts verschwiegen und alles ausführlich mitgeteilt hatte, den Brief an Alexander II. [1857] einbegriffen.
[Ross erzählt dann, wie ihm infolge dieser Zusammenkunft mit N. schließlich ermöglicht wurde, nach Moskau abzureisen, was in einem Extra-Last- und Personenzug geschah, der zweiundeinehalbe Woche zu dieser Fahrt brauchte.]
In Moskau beim Zusammentreffen mit alten und neuen bekannten Sozialrevolutionären, bolschewistischen und menschewistischen Sozialdemokraten und „Freunden“ Bakunins im allgemeinen kam sofort die Rede auf die „Beichte“, Bakunins schimpflichen Fall usw., trotzdem ich die Aufklärung gab, daß er die „Beichte“ schrieb, bewußt beabsichtigend, den Zar in Irrtum zu versetzen, ihn zu täuschen, daß auf keine Weise von einem „Fall“ auch nur die Rede sein könne. Man legte meinen Worten keine Bedeutung bei, glaubte ihnen nicht. So ging es, bis man den Brief fand, den Bakunin [1854] in der Festung an seine Schwester [Tatjana] schrieb und ihr im geheimen mit ungeheurem Risiko übergeben hatte. Dieser Brief ist auf schmalen Papierstreifen geschrieben und wurde bis zur Revolution im Bakuninschen Familienarchiv aufbewahrt. Dort fand ihn Professor Korniloff, der dieses Archiv studierte, und druckte ihn in seinem Werk M. A. Bakunins „Wanderjahre“ ab [erschienen im Mai 1925]. Aus dem Brief ist vollständig ersichtlich, daß Bakunins „Fall“ auf keine Weise in Frage kommt. Der bekannte marxistisch-bolschewistische Historiker V. P. Polonski nahm ebenfalls diese Stellung zur „Beichte“ ein, nachdem er diesen Brief gesehen hatte [in der zweiten Ausgabe seiner Bakunin-Biographie, 1925], vor Bekanntschaft mit diesem Brief aber sprach er vom „Fall“.
Bei einem meiner Besuche bei Bakunin in Locarno – wenn ich nicht irre 1872 nach der Auslieferung Netschaeffs von der Schweiz an die russische Regierung [nach Bakunins Tagebuch kam Ross am 9. Dezember aus Zürich an und reiste am 10. vormittags über den Simplon nach Genf weiter; es liegt sehr nahe, daß das Gespräch über Netschaeffs Schicksal, die russische Festung, zu Erinnerungen Bakunins an seine eigenen Festungsjahre hinüberleitete], – erzählte er mir, daß in den österreichischen Kerkern seine Behandlung durch die Behörden und seine Lebensverhältnisse streng, hart und schwer waren, daß er aber unerschüttert das Ende abwartete; er war überzeugt, daß er der Hinrichtung nicht entgehen werde. Als er aber von seiner Auslieferung an den russischen Zar vernahm, versetzte ihn dies in Bestürzung; er nahm an, daß der Zar ihn noch härter behandeln, wenn nicht hinrichten lassen werde.
Er war bei der Überführung an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt, die Behandlung durch den begleitenden Offizier war eine grobe, zynische; er bekam empörend schlechte Nahrung. Nach der Übergabe an der Grenze an russische Gendarmen änderte sich das ganze Benehmen zu ihm plötzlich: der russische Gendarmerieoffizier befahl, sofort ihm die Fesseln abzunehmen, ließ ihm gute Nahrung geben, man behandelte ihn zuvorkommend. All dies verwunderte Bakunin, und er wußte nicht, was es bedeuten sollte. In Petersburg, im Alekseiravelin war dasselbe der Fall. Damals bildete sich zum erstenmal in ihm der Gedanke, daß Nikolaus ihn bei weitem nicht so hart behandeln werde, wie er sich vorstellte, und daß er sich vielleicht in einiger Zeit auf irgendeine Weise werde herausreißen können, wenn er auch für die erste Zeit nach Sibirien müßte.
Er stand unter dem Einfluß dieser Idee, als er den vom Zar geschickten Grafen Orloff sah, der den Vorschlag brachte, er solle seine „Beichte“ schreiben; er begegnete ihm äußerlich ziemlich kalt, seine Gefühle verbergend, und ließ den Zaren bitten, ihm Zeit zu lassen, über den Vorschlag nachzudenken. Aber er hatte sofort die Absicht gefaßt, sich dieses Vorschlags als Mittel zu seiner Befreiung aus der Festung zu bedienen. In einigen Tagen arbeitete er den ganzen Plan der „Beichte“ aus und schrieb sie dann nieder. Das Schwerste für ihn war, soviel ich mich erinnere, zu vermeiden, keine Fingerzeige zu geben, auf niemand hinzuweisen, der kompromittiert werden könnte, besonders in polnischen Angelegenheiten, die mehr als alles andere den Zar interessierten.
Der Zar ließ ihn nicht aus der Festung heraus, aber es war doch, wie er überzeugt war, der „Beichte“ zu verdanken, daß seine Haftverhältnisse ganz erträgliche waren; ausreichende Ernährung, der Besuch von Verwandten, Briefe, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen; zur [Krim-] Kriegszeit erfuhr er durch Zeitungen und ständige Besuche des Kommandanten und Platzadjutanten ziemlich viel über die Lage in Rußland. Er wartete geduldig das Kriegsende ab, in der Hoffnung, daß sich dann seine Lage bestimmt zum Besseren wenden müsse.
Nikolaus starb, der Krieg war zu Ende, der neue Zar Alexander II. amnestierte die Dekabristen, die Petraschevzy [1848 verurteilt], aber von Bakunin war wider Erwarten nicht die Rede. Auf die Bemühungen seiner Mutter erwiderte der Zar mit einer entschiedenen Ablehnung. Da begriff dann Bakunin, wie er mir sagte, sehr gut, daß, wenn er jetzt nicht aus der Festung herauskommen könne, sein Untergang unabwendbar sei. Es mußten also die entschlossensten Mittel ergriffen werden, und da schrieb er den bekannten Brief an Alexander II., der dem Zar die Möglichkeit nehmen sollte, seine Bitte abzuschlagen [Februar 1857]. „Ich war damals“, sagte Bakunin, „von dem leidenschaftlichen Wunsch nach revolutionärer Tätigkeit erfaßt, ich fühlte in mir ungeheure Kraft, ich war überzeugt, daß ich viel tun könnte; ich kannte recht gut alle revolutionären Elemente Europas“. Und er erreichte das so leidenschaftlich und beharrlich angestrebte Ziel. Man schickte ihn nach Sibirien. Dort richtete er sein Leben und seine Haltung so ein, um die ihn scharf beobachtenden Gendarmen von der Aufrichtigkeit und Wahrheit seiner „Beichte“ zu überzeugen.
Es ist seltsam, daß fast alle, die von Bakunins „Fall“, von der „Dämmerung seiner großen Seele“ usw. usw. geschrieben haben, nach Erscheinen des Briefes [der geheime Festungsbrief an seine Schwester, 1854, ist gemeint] geschwiegen und es nicht für möglich und notwendig gehalten haben, nicht nur ihren Irrtum einzugestehen, sondern dem beleidigten Mann Genugtuung zu geben. Sie haben ihn bespuckt, geschmäht und Schluß – die Sache ist abgetan. Mit einem Wort, sie nahmen ihm die Möglichkeit, zu beweisen, daß er „kein Taugenichts“ ist, wie einer seiner Hauptgegner (sich ausdrückte, wenn ich diesen Satz des russischen Textes richtig verstehe).
Zum Schluß einige Worte darüber, daß die russische Regierung Alexanders II. eine auf der „Beichte“ beruhende Broschüre druckte, um Bakunin moralisch zu töten. Dies geschah, als er in Schweden 1863 Hilfe für die aufständischen Polen organisierte. Diese Broschüre ist nicht erschienen; die Regierung selbst hielt sie aus unbekannten Ursachen zurück. „Freunde“ [ironisch] Bakunins nehmen daher an, dies sei nicht ohne Intrigen Bakunins geschehen; wahrscheinlich, sagen sie, ist es ihm irgendwie gelungen, die Broschüre zu verhindern. Mir dagegen erklärt sich dieser Umstand vielmehr dadurch: durch Herausgabe einer solchen Broschüre hätte die Regierung den Beweis erbracht, wie man sie getäuscht hat, wie sie aufgesessen ist. Ich stand Bakunin sehr nahe und wir waren sehr aufrichtig zueinander, aber nie hörte oder sah ich das geringste Anzeichen davon, daß er die Veröffentlichung der „Beichte“ gefürchtet hätte (eine 1926 in Berlin von dem deutschen Herausgeber der „Beichte“ in einer Zeitschrift ausgesprochene phantastische Vermutung). Warum hätte er sich fürchten sollen? War er nicht immer derselbe geblieben, wie vor seiner Gefangenschaft? Hat er sich verändert, als er die „Beichte“ schrieb? Diese „Freunde“ Bakunins müssen ihn um jeden Preis schuldig befinden und denken sich alle möglichen Vorwände dazu aus. Auf diesem Gebiet sind die Marxisten Meister.
Moskau, 12. Mai 1926.
M. Saschin (Armand Ross)
Bakunins jetzt ältester Genosse, M. P. Saschin, geboren 1845, schrieb diese Darstellung, deren Kenntnisnahme den Lesern und kritischen Besprechern der jetzt erscheinenden deutschen Übersetzung der „Beichte“ zu empfehlen ist. Die 1862 beginnende sozialistische, später anarchistische Laufbahn Saschins, 1876 durch vieljährigen Kerker und sibirische Verbannung unterbrochen, ist unter anderem seinen Erinnerungen aus den sechziger bis achtziger Jahren (russisch; Moskau, 1925, 143 S.) zu entnehmen. Im vorausgehenden ist das in Klammern Befindliche von mir hinzugefügt.
18 Mai 1926.
M. Nettlau
Bakunin und seine „Beichte“
Eine Erwiderung auf Kurt Kersten (Der Dichter der Revolution, Die neue Bücherschau, 6. Jahr, die erste Schrift).
Das Wesen von Bakunins „Beichte“ war schon 1851 in Petersburger Hofkreisen bekannt, eine Dame dieser Kreise schrieb im Herbst ihrer Kusine Frau K. J. Elagin in Moskau: ... „Dein früherer Bekannter ... lebt hier am Nevaufer und schreibt jetzt seine Memoiren, natürlich nicht für den Druck, sondern für den Zar. Er verbessert seine Sache ganz geschickt, schlüpfrig wie eine Schlange: aus den schwierigsten Verhältnissen zieht er sich heraus, hier durch Spott über die Deutschen, dort durch aufrichtige Reue, anderswo durch enthusiastische Lobeserhebungen. Nichts zu sagen, er ist klug!“ ...
Diese seit 1925 bekannten Worte zeigen, daß man in diesen Kreisen, die besser als jemand wußten, daß der Zar nie ein wahres Wort hörte, sich darüber amüsierte, daß auch der gefangene Bakunin die allgemeine Regel befolgte. Anders war die „Beichte“ nie aufzufassen, als eine unendlich wohlberechnete Schrift, mittels welcher Bakunin, dessen nicht auf Dresden und Prag bezügliche Angelegenheiten in den dortigen Untersuchungen, 1849–51, nicht aufgeklärt wurden, einer Inquirierung betreffs dieser russischen und polnischen Angelegenheiten zu entgehen suchte, was ihm auch dadurch gelang, daß er sich aufs äußerste verkleinerte, als isoliert, machtlos, phantastisch hinstellte usw. Seine Lage würde sich wesentlich verschlechtert haben, und andere Interessen würden gefährdet worden sein, wenn ein ehrgeiziger Untersuchungsrichter den Befehl erhalten hätte, ihm Geständnisse zu entreißen; einem solchen hätten die damals öffentlich oder durch die Untersuchungen von Dresden und Prag bekannten Daten der „Beichte“ nicht genügt. Der Zar gewann den Eindruck, daß eine Untersuchung nichts Neues ergeben würde, und ließ Bakunin in Ruhe; „wofür ich ihm wirklich dankbar bin, ist, daß er nachher mich um nichts mehr fragte.“ (Bakunin an Herzen, 8. Dezember a. St. 1860).
Aus diesem 1883 gedruckten Brief wissen wir von der „Beichte“. Wir wissen auch, daß Bakunin mit seinen jungen russischen Genossen Z. Ralli und A. Ross über die „Beichte“ sprach, was von Ralli im Oktober 1908 veröffentlicht wurde (Min. Gody, Petersburg, 1908, X, S. 148–149), während die mir mündlich mitgeteilte Erinnerung von A. Ross (M. P. Saschin) auch in Polonskis Biographie Bakunins, I, 2. Auflage, S. 436, gedruckt ist. Diese beiden Zeugen leben. Unter diesen Umständen verstehe ich nicht, warum Herr Kersten schreibt: „Wir wissen nicht einmal, ob er sich im Verkehr mit seinen Freunden darüber geäußert hat“, dem seine eigene folgende Bemerkung widerspricht: „Bakunin wich aus, wenn auf sie die Rede kam.“ Wer konnte von ihr reden? Gibt es hierfür den geringsten Beweis?
Während man seit 1919 in der „Beichte“, die erst 1921 im Druck erschien, eine moralische und faktische Selbstvernichtung Bakunins zu sehen vermeinte, wurde diese Auffassung schon 1922, als der Druck außerhalb Rußlands bekannt wurde, vollständig bestritten, und der Herausgeber V. Polonski selbst gibt das Unrichtige des ersten Eindrucks zu (S. 292–293 seiner erwähnten Biographie, Juni 1925).
Dieser Auffassung schließt sich auch Herr Kersten an, aber sein Artikel ist geeignet, eine neue irrtümliche Auffassung zu erwecken. Das Dokument, meint er, „habe ihn wie ein drohender Schatten bis zum Tode verfolgt“ – und er sucht dies sogar in drei Fällen materiell nachzuweisen, indem er Handlungen in Bakunins Leben aus der Furcht vor diesem Dokument ableitet. Hierbei wird auf die wirklichen Tatsachen nicht die geringste Rücksicht genommen.
Erster Fall. „Feststeht nur, daß Bakunin Hals über Kopf Schweden verließ, die Verbindung zu den Polen abbrach, in einen Konflikt mit Herzen geriet. Alles verliert sich im Dunkel ...“ – Feststeht, daß die vorbereitete Broschüre im Juni 1863 dem Zar gezeigt wurde, – daß Bakunin im Oktober Schweden verließ, um eine seit 1862 geplante Reise nach Italien anzutreten, und daß er im Sommer 1864 wieder nach Schweden kam, – daß seine polnischen Angelegenheiten mit dem Niedergang der Insurrektion und bei der Unmöglichkeit, sich betreffs der nichtpolnischen Völker im historischen Polen zu einigen, sich von selbst erledigten, – daß der Konflikt mit Herzens Sohn ganz bestimmte, nicht von Bakunin abhängende Ursachen hatte usw. Kurz: absolut nichts deutet auf eine Beeinflussung Bakunins durch eine Drohung, und all seine Handlungen finden ihre Erklärung in genau bekannten Verhältnissen.
Zweiter Fall. Es „brechen in Marseille und Lyon Aufstände aus. Beide Male ist Bakunin beteiligt ... Damals berät man aufs neue den Druck, um Bakunin moralisch zu töten.... Wieder unterbleibt die Publikation. Aber wieder zieht sich Bakunin scheu und jäh zurück.“ – Hier wird vor allem die Quelle selbst (Polonski, S. 437) unrichtig resümiert, indem es dort heißt: „Als Vorwand des neuen Versuchs, Bakunin moralisch zu töten, dienten seine zusammen mit Netschaeff herausgegebenen Flugschriften,“ und nicht der leiseste Zusammenhang mit Lyon und Marseille wird angedeutet. Der 24. September (6. Oktober) ist das letzte notierte Datum der russischen Akten. Damals war Bakunin seit dem 30. September in Marseille, wo bis zu seiner Flucht, Ende Oktober, überhaupt kein Aufstand stattfand. Wir kennen für jene Zeit seine Pläne, Verbindungen, Geldmittel, Schriften usw. sehr genau aus seinen Briefen, Manuskripten, den Erinnerungen anderer usw. Wir kennen für 1871 und 1872 seine Lebensweise fast Tag für Tag. All das berücksichtigt Herr Kersten nicht, sondern wie Bakunin „Kopf über Hals Schweden verließ“, zieht er sich nun wieder „scheu und jäh zurück“!
Dritter Fall. „Zwei Jahre später – mitten in italienischen Unruhen – soll zum dritten Male das Gespenst aufgetaucht sein. Zum dritten und letzten Male. Jetzt entsagte Bakunin endgültig jeder aktiven revolutionären Tätigkeit. Es lag ein Fluch auf seinem Leben.“ Was soll ich dazu sagen? Zwei Jahre nach dem Herbst 1870 ist der Herbst 1872, und damals rührte sich in Italien nichts, und Bakunin war in vollster Tätigkeit. Drei Jahre nachher, Herbst 1873, erklärte er aus genau bekannten Gründen seinen Rücktritt aus der öffentlichen Bewegung; in Italien herrschte tiefste Ruhe. Vier Jahre nachher, im August 1874, war er allerdings in einer italienischen Stadt in Erwartung von Unruhen, und er faßte einige Wochen später aus genau bekannten und auch im Druck zugänglichen Gründen den Beschluß, von nun ab auch auf die geheime revolutionäre Tätigkeit Verzicht zu leisten.
All diese Angaben sind dokumentarisch zu belegen. Indem Herr Kersten diese Tatsachen zur Illustrierung seiner These des beständig vor der „Beichte“ auf der Flucht befindlichen, man möchte sagen heulenden und zähneklappernden Bakunin in dem hier nachgewiesenen so unendlich ungenauen Licht vorführt, verläßt er das Gebiet, auf dem ich ihm folgen kann, und begibt sich auf das Gebiet des Romans, wozu dieser ernste Fall ungeeignet ist.
Glaubt wirklich jemand, daß Bakunin vor der „Beichte“ Angst hatte? Schon die russischen Machthaber von 1863, 1870 und – ich kenne den letzterwähnten Fall nur aus Herrn Kerstens Darstellung – 1874 (?) hatten so viel Einsicht, daß sie dem plumpen Drängen ihrer Untergebenen widerstanden und sich sagten, daß Bakunin eine Erwiderung veröffentlichen würde, die ihnen nur hundertfache Schmach und Schande bringen würde. Sie widerstanden auch nach Bakunins Tode, 1876, solchen Versuchungen, weil Bakunins Freunde immer zur Erwiderung bereit gewesen wären und der Welt die Frage vorgelegt hätten: Wie müssen russische Gefangene gemartet werden, wenn einer der energischsten und bewußtesten von ihnen, wie Bakunin, sich gezwungen sah, ein solches Dakument in einem solchen Ton zu schreiben? Kurz: diese Machthaber hatten sehr gute Gründe, zu schweigen, und nichts berechtigt zu den daran geknüpften romanhaften Konstruktionen.
Bakunin war 1851 Anarchist wie später, keineswegs „ein Anhänger der sozialen Demokratie, ein sozialer Republikaner“. Seine „sozialistische Diktatur“ war etwas wesentlich anderes als das, womit Herr Kersten sie durch Fäden verbunden glaubt: gerade das Gegenteil. Er hat auch, wenn es erforderlich war, „formal abgeschlossene Arbeit“ geleistet, wie irgendeiner. Die „verhängnisvolle Zwiespältigkeit eines Deklassierten“ ist eine Ausdrucksweise, die mir für Bakunin nichts sagt, sowie ich auch die geheimen Briefe, die er 1854 seiner Schwester zusteckte, nicht gern gerichtstechnisch „Kassiber“ genannt sehe. Doch wünschte ich vor allem, daß nicht tatsächliche Ungenauigkeit und darauf basierte Fiktion in das Bakunin-Studium getragen werden.
26. April 1926
Max Nettlau
Einige ausländische Kameraden über Bakunin
Emma Goldman (London):
Hundert Worte über Bakunin zu schreiben, das heißt das Weltmeer mit einem Eimer ausschöpfen zu wollen. Bakunins Persönlichkeit und Leben waren so reich, ausgedehnt und allumfassend, daß man nicht weiß, mit welcher Phase desselben man beginnen soll, um dem Andenken dieses wundervollen Mannes gerecht zu werden.
Wie sehr auch seine Theorien zur Klärung meiner eigenen Gedanken beitrugen, übte doch vor allem sein flammender Geist zwingenden Einfluß auf mich. Denn Bakunin war der Vulkan der revolutionären Bewegung, dessen Flammen zu Himmelshöhe emporschossen, den europäischen Horizont beleuchtend und den Weg weisend zu sozialer und politischer Befreiung. Und dieser glühende Geist durchleuchtete viele finstere Stunden meines eigenen Kampfes und half mir, die Ideale, für die Bakunin lebte, arbeitete und starb, hochzuhalten.
Alexander Berkman:
Je mehr ich Bakunin studiere, erfasse ich seine große revolutionäre Klarheit und die Tiefe seines sozialen Verständnisses. Ich glaube, daß er selbst in unseren Reihen nicht hinlänglich gewürdigt wird; Man sieht in ihm gewöhnlich einen großen Revolutionär, einen Rebell von Ausnahmsgröße, dessen Geist von Freiheitsliebe glühte, und der nach Aktion dürstete. Er besaß tatsächlich diese charakteristischen Züge, aber sie erschöpfen sein Wesen keineswegs.
Bakunin stellt die seltene Kombination eines philosophischen Geistes und revolutionärer Intuition vor, die ihm die richtige und gründliche Beurteilung von Lage und Verhältnissen ermöglichte, und die von innigster Zielbewußtheit und unbeugsamem Willen gestützt war. Wenn ich seine Schriften wieder durchlese, besonders seine Reden und Briefe über die Internationale, Mazzini, den Föderalismus usw., erfüllt mich von neuem Verwunderung über die ganz ausnahmsweise Klarheit, mit der er die Gefahr des Staatstums sah, welche Form immer dieses annimmt, und wie prophetisch er sah, daß der einzige Weg der sozialen Revolution der föderalistischen Linien, nicht autoritären, folgende war.
Man kann mit Berechtigung sagen, daß Bakunins ganzes Leben und seine vielfache und intensive Tätigkeit ein großer Kampf des Geistes persönlicher Freiheit innerhalb des sozialen Wohlstandes aller war, ein Kampf gegen die Reaktion des Zentralismus und des Regierens. In diesem Geist, den er so vollständig personifizierte, liegt die Hoffnung der Zukunft. Dieser Geist erfüllt die idealistischen Märtyrer im bolscheßwistischen Rußland wie früher im Rußland der Romanotfs. Im Licht der neuesten Geschichte, besonders als Lehre der Revolution muß jeder aufrichtige Revolutionär deutlicher als je zuvor die ewige Wahrheit des Geistes von Bakunins Lehre einsehen.
Luigi Berloni (Genf):
Der lebendigste Teil von Bakunins freiheitlichen Lehren liegt in seiner Auffassung revolutionären Geists und revolutionären Handelns. Was er hierüber sagt, ist nicht nur tief gefühlt, da es einem gebieterischen Bedürfnis seines ganzen VVesens entspricht, sondern die Ereignisse haben es mehrmals als prophetisch erwiesen. Er hat, zum erstenmal vielleicht die „Einheitsfront“ behauptet, auf jener einzigen logischen und breiten Grundlage, die sie allein möglich machen kann. Er zeigt auch, wie von den Aspirationen der Masse selbst ausgehend, durch manchmal dem Anschein nach widersprechende Tätigkeit hindurch, wir arbeiten können.
Bakunin lebt also vor allem durch sein bewundernswertes Eindringen in die revolutionäre Wirklichkeit.
Genosse Harry Kelly (New York):
Bakunins Leben selbst ist eine Botschaft für das „denkende Amerika“ und für jeden, der irgendwo denkt. Die alten Götter mögen seit seiner Zeit gestorben sein, neue Götter entstanden, die von Millionen angebetet werden. Autorität unter neuer Form, mit anderem Namen nahm den Platz der alten Götter ein, und der Geist und die Kühnheit eines Bakunin werden nötig sein, dieses vielköpfige Ungeheuer zu zerstören. Die Zeit wird seine Gestalt immer größer erscheinen lassen, selbst hier in Amerika, so weit vom Schauplatz seiner Tätigkeit, und sie wird die Einsicht und das Verständnis der immer wachsenden Schar derer erweitern, die seinem Leben und seiner Arbeit Aufmerksamkeit widmen.
W. C. Owen (London):
Als Bakunin in „Gott und der Staat“ schrieb, dass nach einem unvermeidlichen Naturgesetz jede Art besonderer Vorrechte ihre Inhaber korrumpiert, sprach er eine unsterbliche Wahrheit aus und faßte den Kern seiner Lehre in einem Satz zusammen. Welches immer der Wert der solange diskutierten verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Systeme sein mag, keines derselben kann durch das einzige wirkliche Kriterium einer vollständigen Erprobung seinen Wert erweisen, solange die besonderen Privilegien nicht zerstört sind, und die einzige Aufgabe des wahren Revolutionärs ist die Zerstörung der Schranken, die zwischen der Menschheit und der Freiheit aufgerichtet sind. Das einmal befreite Leben wird sich selbst regeln, seine Einrichtungen seinen Bedürfnissen anpassend. Vor Eroberung dieser Freiheit dagegen wird nichts wirklich wichtiges vollbracht werden. Wenn die Zukunft der Zivilisation angehören soll, müssen Sondervorrechte, die unzeitgemäß aus einer barbarischen Vergangenheit in unsere Zeit hineinragen, zerstört werden.
Thomas H. Keell (London):
„Gott und der Staat“ ist das in England am besten bekannte Buch Bakunins, da es das einzige hier in englischer Übersetzung veröffentlichte ist. Kein anderes Werk über Religion machte je einen solchen Eindruck auf mich als dieses. Seine Erklärung des notwendigen Zusammenhangs von Kirche und Staat löste eines der Probleme meiner Jugend, nämlich dieses, weshalb die gebildeten Klassen das Christentum befürworten, nachdem die Wissenschaft dessen Grundlage erschüttert hat. Bakunin zeigte die Notwendigkeit der Religion als Grundlage der staatlichen Autorität und als Mittel, die Arbeiter mit einem Leben von Ausbeutung und Elend zu versöhnen. „Gott und der Staat“ ist also eine der besten Waffen des Anarchisten im Kampf gegen die Autorität.
Genosse Alexander Schapiro:
Bakunin, — der nie zu organisieren verstand, selbst nicht sich selbst, der das Gleichgewicht verabscheute, der nie auf eines seiner Werke das Wort „Ende“ schrieb und dessen Tod in seinem ungeordneten Leben nur einen Zwischenfall bildet — kann nicht anders definiert werden als als Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis, als Bindestrich zwischen dem Ideal und dem wirklichen Leben.
Bakunin ist der erste Organisator der föderalistischen und antistaatlichen Arbeiterbewegung, bevor diese Bewegung noch existierte. Er ist der unbestrittene Inspirator des revolutionären Syndikalismus, wie er sich heute über die Erde hin entwickelt.
Bakunin ist in der revolutionären Bewegung wiedererschienen. Nach der tiefen Enttäuschung der letzten zehn Jahre wenden die Arbeiter ihre Augen von neuem in die Richtung Bakunins, des Kolosses. Dies ist ein Pfand für Bakunins Sieg.
Die russische Genossin M. Isidin (Paris) hebt vor allem hervor, daß Bakunin, oft als reiner Zerstörer und Utopist, dem die Wirklichkeit fremd sei, betrachtet, viel mehr durch seine Erkenntnis der Erfordernisse jeder politischen Situation uns staunen macht. Seine Pläne und Aktion zeigen stets größte Voraussicht. So 1848, als er die Revolution internationalisieren und die Slaven der Reaktion entreißen wollte. So in den Sechzigern, als er die Kräfte der Internationale für eine neue Form des Sozialismus gruppieren wollte, während Marx dem alten Jakobinismus folgte. Dann 1870, als er in den preußischen Siegen, die Verstärkung des Militarismus und des zentralistischen Staates und das Heil nur in einer insurrektionellen Bewegung in Frankreich sah; die Commune war diese Bewegung. Endlich in der Internationale, deren föderalistischer Zweig, von Bakunins Ideen durchdrungen, sich theoretisch entschiedener und praktisch regsamer zeigte als der nach dem Haager Kongreß 1872 zur Fiktion gewordene marxistische Zweig.
Wäre in der jetzigen russischen Revolution Bakunins so wenig dogmatischer, so in der Wirklichkeit lebender und vorausschauender Geist zugegen gewesen, hätte sie wohl einen anderen Weg eingeschlagen.
Aus Raummangel entfällt Genosse C. J. Björklunds (Stockholm) Mitteilung. Derselbe schildert nach den älteren schwedischen Quellen, die neuerdings durch russisches Material sehr ergänzt sind, Bakunins ersten Aufenthalt in Schweden (März bis Oktober 1863). Er fügt die interessante Angabe hinzu, er habe mit Leuten gesprochen, die sich sehr wohl Bakunins erinnern können; die Erinnerung an ihn sei noch heute lebendig. Möchte doch Björklund diesen Spuren weiter nachgehen und besonders Briefe Bakunins an seine schwedischen Freunde zutage fördern, die bis jetzt ganz fehlen.
Einige Daten aus Bakunins Leben
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1814: 30. Mai. Geboren in Premuchino auf dem Gut seiner Eltern, wo er aufwuchs (in Zentralrußland, nordwestlich von Moskau).
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1828: Dezember. Nach Peterburg. Artillerieschule. — 1833 — Januar. Offizier in Petersburg. — Anfang 1834 in die Provinz versetzt, Weißrußland, Litauen. — Anfang 1835 in Twer, dann in Premuchino, wo er im Laufe von 1835 den Militärdienst quittiert.
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1835–1840: Philosophisches Interesse — Fichte, Hegel — Stankevitsdi, Bélinski, später Herzen, Ogareff — sein Ziel: philosophische Studien und eine Professur; — Moskau, Premuchino, Petersburg.
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1840: Juli. Aus Petersburg nach Berlin. — Drei Semester philosophische Studien in Berlin, bis zum Wintersemester 1841/42.
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1842: Frühjahr. Nach Dresden. Radikaler Hegelianismus. Arnold Ruge. Oktober: der Artikel der Deutschen Jahrbücher. Philosophischer, politischer und sozialer Revolutionär.
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1843: Januar. Mit Herwegh nach Zürich. Weitling. Bern, Genf und Nyon.
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1844: Februar. Nach Nichtbefolgung des Befehls der Rückkehr nach Rußland Abreise nach Brüssel; Joachim Lelewel. Mitte des Jahres nach Paris. Marx und
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der Kreis des Vorwärts, Ruge, Herwegh u.a.
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1845: Nach Verurteilung zur lebenslänglichen Verbannung und Vermögenskonfiskation in Rußland sein erster öffentlicher Protest gegen Rußland in der Réforme. 25. Januar. — 1845–47 in Paris; Proudhon, Karl Vogt, Polen, Herzen und Bélinski usw.
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1847: 29. November. Seine Rede zu den Polen, die zur Ausweisung aus Frankreich führt. Nach Brüssel. Marx. Viele Polen. Eine zweite Polenrede, Februar 1848.
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1848: Nach der Februarrevolution nach Paris. Anfang April über Frankfurt, Köln (Bruch mit Marx), Berlin nach Breslau, dort im polnischen konspirativen Milieu. Mai bis Juni, nach Prag. Slavenkongreß. Revolutionäre Pfingstwoche. Nach Breslau, dann nach: Berlin, im Herbst Ausweisung aus Preußen. Zuflucht in Köthen, Anhalt.- Später in Leipzig ,— in engem Kontakt mit dem demokratischen Zentralausschuß. Vorbereitung einer Revolution in Böhmen.
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1849: erste Monate. Übersiedlung nach Dresden. Geheime Reise nach Prag. Der Ausbruch der Dresdener Mairevolution fesselt ihn an Dresden; intensive Teilnahme im innersten Kern der Bewegung. Gefangen in Chemnitz in der Nacht zum 10. Mai.
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1849: Mai, bis Juni 1850. Kerker in Dresden und der Festung Königstein. Prozeß, Verurteilung zum Tode und Auslieferung an Österreich.
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1850: Juni, bis Mitte 1851. Kerker in Prag und Olmütz. Prozeß, Verurteilung zum Tode und Auslieferung an Rußland.
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1851–1854: in der Petersburger Peter-Paul-Festung, dann bis März 1857 in der Festung Schlüsselburg. Deportation nach Westsibirien, Tomsk.
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1858: Heirat mit Antonia Kviatkovska in Tomsk.
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1859: März, nach Ostsibirien; Irkutsk und sibirische Reisen.
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1861: 17. Juni, Beginn der Flucht, von Irkutsk zum Meer, nach Japan und über Nordamerika nach London, 27. Dezember.
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1862: In London: Herzen und Ogareff: russische Bewegungen und der sich vorbereitende polnische Aufstand; Reise nach Paris.
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1865: Ende Februar. Über Hamburg, Kopenhagen nach Sehweden. Meist in Stockholm. Im Herbst über London, Brüssel, Paris, die Schweiz und Norditalien in den ersten Monaten 1864 nach Florent.
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1864: In Florenz. Anfänge der internationalen geheimen Gesellschaft. Im Sommer Reise nach Schweden. Im Herbst über London (letzte Begegnung mit Marx), Brüssel, Paris (letzte Begegnung mit Proudhon) nach Florenz zurück.
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1865: In Florenz, seit dem Sommer in Sorrento, im Herbst nach Neapel.
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1866 bis August 1867: In Neapel und Umgebung: Ausbreitung der
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geheimen Gesellschaft und lokale sozialistische Anfänge.
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1867: September — auf dem Genfer Friedenskongreß. — In Genf und in der Umgebung von Clarens und Vevey bis Herbst 1868. Reisen nach Bern zum Zentralkomitee der Friedens- und Freiheitsliga.
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1868: Juli — Eintritt in die Zentralsektion der Genfer Internationale. — Ende September — Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern. Austritt
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aus der Liga. Gründung der öffentlichen und der geheimen Alliance.
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1868: Herbst, bis Herbst 1869. — In Genf; Tätigkeit in der Genfer Internationale, der dortigen Alliancesektion, im Jura, in Genf mit Netschaeff, nach Italien, Spanien und Südfrankreich hin.
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1869: September. Auf dem Baseler Kongreß der Internationale.
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1869: Spätherbst bis Ende Juli 1874 in Locarno. — 1870, erste Monate bis Juli, mehrere Reisen nach Genf in russischen Angelegenheiten.
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1870: Mitte September bis Ende Oktober — Reise mit revolutionärem Ziel nach Lyon — die Lyoner Bewegung vom 29. September — und Marseille.
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1870, 1871: Im Frühjahr: kleinere Reisen nach Mailand und Florenz.
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1871: April bis Ende Mai — Reise in den Jura während der Commune.
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1871: August. Beginn des Protestes gegen Mazzini und intensiver italienischer Beziehungen, die bis August 1874 bestehen.
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1872: Frühjahr. Beginn enger Beziehungen mit einer russischen Gruppe in Zürich, später mit Carlo Cafiero (Mai – Juni).
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1872: 4. Juli bis 11. Oktober, in Zürich. — Reisen in den Jura und nach Genf. — Intensiver Verkehr mit jungen russischen und serbischen Studierenden.
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1872: September. Die Zusammenkunft in Zürich zur Rekonstruktion der Allianz der sozialistischen Revolutionäre. Der Jura-Kongreß und der internationale Kongreß in Saint-Imier (Berner Jura).
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1872: Oktober bis August 1873 — in Locarno seit dem 22. Oktober: — Die russische Druckerei und ihre Publikationen in Zürich. Beabsichtigte, aber nicht möglich gewordene revolutionäre Reise nach Barcelona, Juli 1873. Die Erwerbung der Baronata auf Grund der Vereinbarungen mit Cafiero, Sommer 1873. Reise nach Bern. Besuche von Delegierten des Genfer Kongresses der Internationale. – Rücktritt aus der öffentlichen Bewegung.
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1873: Ende Oktober bis 27. Juli 1874 — in der Baronata bei Locarno; die Krise dieser Unternehmung und der Bruch mit Cafiero, Juli 1874. — Seit Dezember 1873 italienische konspiratorische Vorbereitungen für den Sommer 1874.
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1874: 30. Juli bis 12. August — revolutionärer Aufenthalt in Bologna; die fehlgeschlagene Bewegung der Nacht zum 8. August (Prati di Caprara).
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1874: 14. bis 26. August — in Splügen, Schweiz. Letzte revolutionäre Hoffnungen bis 21. August. — Dann Beschluß des Rücktritts auch aus der geheimen Bewegung und völliger Zurückgezogenheit.
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1874: 21. August, Splügen, dann meist in Sierre (Wallis), bis 25. September in Neuchatel — peinliche Auseinandersetzungen und, am 25. September, Trennung einiger seiner engsten Genossen von Bakunin. — 26. September bis 5. Oktober — in Bern, mit seinen alten privaten Freunden. 7. Oktober — Rückkehr zu seiner Familie nach Lugano.
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1874: Oktober bis nach dem ersten Drittel Juni 1876 — in Lugano; schwere Krankheit treibt ihn nach Bern.
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1876: 14. Juni — in Bern, in einer Krankenpension, in der ihn am 1. Juli der Tod ereilt.
M. N.
Fußnoten:
[1] Das undatierte Manuskript fällt hierdurch in die Zeit zwischen 1866 und 1871 und liegt seinem äußeren Ansehen nach dem letzteren Jahr weit näher als dem ersteren.
[2] Der Gegenstand von Bakunins Liebe war eine verheiratete Frau, eine Deutschrussin (Rigaerin), die er zuerst 1842 in Dresden, dann häufiger 1843 in der Schweiz sah, die Frau des italienischen Emigranten F. Pescantim, Johanna. Es gelang Bakunin nicht, Fortschritte zu machen, da diese Frau, die ihm ideal äußerst zugeneigt war, sich immer mehr religiöser Schwärmerei zuneigte und so allen und auch Bakunin verlorenging. Sie hat ihn noch in der sächsischen Festung, 1849/50, als sein Tod bevorzustehen schien, religiös zu trösten versucht, was er liebevoll, aber absolut zurückwies. Sie starb einige Jahre später, seinem Andenken treu.
[3] A. A. Korniloff, Michael Bakunins Wanderjahre (russisch; Petersburg, 1925), S. 284–285); von den Worten j’aime, Paul ab ist dieser Teil des Briefs französisch geschrieben.
[4] Hierdurch wird angedeutet, daß ein Holzverschlag die eigentliche Aussicht versperrte.
[5] Diese „13 Punkte“ Bakunins sind in seinen Schriften vielfach erklärt und fassen alle Möglichkeiten der staatlichen und nationalen Entwicklungen ins Auge. Es ist reizvoll, an ihrer Hand die europäische Geschichte seit 1867 durchzudenken – und da so unendlich viel auf diesem Gebiet versäumt und noch mehr verfehlt angegriffen wurde, so sind diese so wenig befolgten Ideen noch so gut wie neu und verdienen, sehr genau geprüft und endlich wirklicher Tätigkeit zugrunde gelegt zu werden. M. N.
[6] Zuerst gedruckt in Kolokol (La Clodie), Nr. 14–15, 1. Dezember 1868 (Genf).
[7] Écrasez l‚infâme (nämlich die Kirche...), Worte, mit denen Voltaire und andere freie Denker ihre Briefe zu schließen pflegten.
[8] Nämlich Blasenlähmung usw. – Tatsächlich bestand, wie ich von Professor Vogt hörte, neben diesem sehr peinlichen Blasenleiden eine von Bakunin nicht geahnte und total vernachlässigte Nierenentzündung, und dieser ist Bakunin erlegen. Vogt erkannte gleich die Hoffnungslosigkeit seines Zustandes und sagte dies auch Bakunin auf dessen Wunsch; aber beide hatten offenbar vereinbart, dem armen Reichel nichts davon mitzuteilen, so daß dieser damals, 5 Tage nach Bakunins Tod, noch unter dem Eindruck der ihm und wohl auch seiner Frau gegenüber gebrauchten liebevollen Täuschung stand. M. N.
[9] Mit der an die Schopenhauerlektüre anknüpfenden Bemerkung zusammengehalten, zeigt diese Bemerkung wohl, wie sich im Widerspruch zu dem, das er in Schopenhauer in diesen Tagen vor sich sah, in Bakunins Gedanken die Idee eines ganz anders gearteten Werkes solcher Art ausbildete, leider zu spät.
[10] In einem undatierten (1876), unvollendeten und nicht abgeschickten Brief an Professor Vogt beschrieb Bakunin seine Krankheitserscheinungen und erwähnt da schon die manchmal eintretende, sehr unangenehme schlafsüchtige Benommenheit (torpeur somnolenie).
[11] Bakunin erlag der Urämie, Blutzersetzung durch Aufhören der Funktionen der Niere, und fand so einen unvermeidlichen, unaufhaltsamen, friedlichen Tod, den sein Wille weder hätte aufhalten noch beschleunigen können. M. N.