Titel: Minderheitsrechte im Sozialismus und das Rätesystem
AutorIn: Nettlau, Max
Thema: Räte
Quelle: Entnommen am 9.10.2015 von www.anarchismus.at
Bemerkungen: Aus: Die „Räte“ in der anarchosyndikalistischen Diskussion. Texte von M. Nettlau, H. Drewes, A.M Lehning. Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus Band 9. Broschüre o. J. Digitalisiert von www.anarchismus.at (Aktualisiert: andern zu anderen, oekonomisch zu ökonomisch usw.)

Zurückblickend, soweit wir können, finden wir wohl nirgends eine zugleich vernunftgemäß und planvoll aufgebaute Gesellschaft, weil in den allerältesten Zeiten spärlicher Bevölkerungsgruppen und unbegrenzter Zugänglichkeit der lebensnotwendigen Naturprodukte an Planmäßigkeit gar nicht gedacht zu werden brauchte, und als sich dann Besitz- und Herrschaftsverhältnisse entwickelten, als die Menschen von damals bis heute in Stärkere und Schwächere, Genießer und Opfer, zerfielen, da geschah alle Planmäßigkeit im Interesse der ersteren, und war daher unbillig und nicht vernunftgemäß und dadurch auch mit inneren Fehlern behaftet, die jetzt endlich in der Weltkrise besonders stark zum Ausdruck kommen. Freilich wandern wir im Dunkel und wie in den langen Kriegsjahren und seitdem, wissen wir nie, ob wir am Anfang, auf dem Höhepunkt oder am Ende der Schreckensperiode stehen.

 

Ob da nun, direkt vom Krankenbett der Gesellschaft, vom Sterbebett des Kapitalismus vielleicht, ein Übergang zu einem planvollen richtigen Aufbau möglich sein wird, darüber fehlt uns, mit einer einzigen Ausnahme, die Erfahrung. Die Ausnahme ist Rußland, wo es an Planvollheit wahrlich nicht fehlt und wo auch unzählige Kräfte Zusammenwirken, denen ein im autoritär-sozialistischen Sinn guter Wille nicht fehlt, und die sich unbegrenzten Gehorsam zu erzwingen wissen, die es also leichter und bequemer haben, als je ein Despotismus, weil sie über alle Hindernisse hinwegschreiten – und doch ist ein wirklicher Aufbau nicht im entferntesten erreicht worden und kann noch vollständig scheitern. Darum hat ein allgemeiner freiheitlicher, menschenachtender Aufbau, für den uns noch jedes Vorbild fehlt, vorläufig noch viel größere Schwierigkeiten vor sich, wenn er vermeiden will, auf russische Bahnen zu geraten und aus einem Zwangsausbau bald zur einfachen Stützungs- und Rettungsaktion vor einem völligen Untergang zu werden.

Planwirtschaft ist das Hineintragen von Plänen in das Leben, und wenn das Leben seine Zustimmung gibt, ist ja jeder richtig berechnete Plan durchführbar. Man kann einem Haus die vielfachste Gestalt geben, wenn man die technischen Notwendigkeiten befolgt und die Baumittel da sind. So kann man die Gesellschaft in den Staatssozialismus einordnen und in die Föderation der Kommunen und in einen universellen Gewerkschaftsorganismus und in ein Rätesystem und in eine Gesellschaft im Sinn der russischen Plattform von 1926 und in eine Anarchie im Sinn von Bakunin und Malatesta und in die Kropotkinschen industriellen Dörfer und in ein Netzwerk autonomer Tauschgruppen (Mutualisten) oder in unzählige Kombinationen dieser wesentlichsten Nuancen oder in ein Nebeneinander der nicht-aggresiven dieser Richtungen. Ebenso sehen wir, wie heute neben dem Kapitalismus das russische System besteht und zwischen beiden ein modus vivendi sich ausbildet, und derartiges kann sich auf die vielartigste Weise wiederholen, da eine Weltplanwirtschaft, ein universelles System vorläufig nicht aktuell erscheint, obgleich gerade für eine Reihe von Fragen (Rohstoffe und Naturschätze, Schonung der Weltreserven, Freizügigkeit usw.) internationale Abmachungen wohl bald als eines der Mittel zur Bekämpfung der jetzigen Krise aktuell erscheinen werden.

Wenn man nun eines dieser Systeme herausgreift und als das einzig richtige, nächstliegendste, durchaus notwendige und allein praktische betrachtet, so befindet man sich in jedem Fall sehr großen Mengen, meist oder tatsächlich immer, – wenn man die ungeheuren außerhalb dieser Ideenkreise befindlichen Massen auch von Arbeitern und Bauern mitrechnet, – Majoritäten gegenüber. Will man diese Massen „bekehren“, brauchte man unabsehbare Zeitläufte dazu. Erwartet man, sie durch ein glänzendes Beispiel zu gewinnen und mitzureißen, so gibt man sich einer Illusion hin; mindestens haben die 150 Bewegungsjahre hinter uns – was ist in den Jahren seit 1780 nicht an humanitären, sozialen, generösen Ideen alles beständig der Menschheit vorgeführt worden und mit welchen Opfern – nicht einen wirklich stürmischen Zulauf zu den neuen Idealen gezeigt, sondern meist ein sehr langsames Wachstum. Jeder Zwang ist für freiheitliche Richtungen ausgeschlossen, die dadurch nur selbst zu Tyrannen würden und Sklaven um sich herum sehen würden. Die Verkündung einziger Systeme scheitert daher an der mangelnden Aufnahmefähigkeit sehr vieler für ein bestimmtes System: geradeso wie wir den Gründen der Sozialdemokraten und der Kommunisten unzugänglich sind, haben diese taube Ohren für uns usw. Wenn trotzdem – im Sinn des von den Religionen her uns geläufigen alleinselig-machenden Glaubens – solche Hoffnungen gehegt werden, folgt ihnen Enttäuschung, Entmutigung oder Verbitterung und Rückfall in den Autoritarismus: Zwang gegen die Widerstrebenden, die Ungläubigen, die Ketzer. Daher leidet unsere eigene Idee in ihrer Reinheit dadurch und wir verlieren unsere Ruhe und Freude.

Manchmal tritt auch ein drittes ein: wir finden uns bereit, Schritte zu tun, die in ihrer Auswirkung, ohne daß dies gleich jedem klar wurde, eine Preisgebung unserer Ideen bilden würden. Eine solche haben wir dem Staat gegenüber vermieden, indem wir nicht auf dem Wege des Parlamentarismus mit ihm Zusammenarbeiten. Eine solche haben die Syndikalisten den alten Gewerkschaften gegenüber vermieden, indem sie sich besonders organisierten und ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben gedenken. Sie wären auch nicht gewillt, mit dem heutigen Kommunismus zusammenzuarbeiten und ebensowenig mit der staatsfrommen Sozialdemokratie – es sei denn bei wirklich neutralen und allgemein nützlichen Angelegenheiten, wenn dabei ihre volle Autonomie bewahrt bleibt und sie und die anderen nichts gegen ihre Ideen gerichtetes tun. Sie fühlen also, wie jede andere Richtung auch, das Bedürfnis, nur im Sinn ihrer Ideen zu wirken und ihre Unabhängigkeit zu bewahren.

Wie verhält sich nun dieser Standpunkt zu dem bedingungslosen Eintreten für das Rätesystem, das von hervorragender Seite proklamiert wird? Der „Syndikalist“ vom 21. Februar (Nr. 8) enthält die zwingendste Bejahung dieses Standpunkts und zwar mit dem Anspruch, hierin vom unmittelbar praktischen und direkten Arbeiterstandpunkt aus zu sprechen. Dies muß bedeuten, daß von aktuellen Verhältnissen die Rede ist, also etwa von den Jahren 1931 bis 1940. Daß in diesen Jahren die organisierten Syndikalisten die 5-Millionenhöhe der großen Gewerkschaften der Zahl nach erreichen und letztere, durch Verminderung, eine Minorität werden würden, wäre eine zu kühne Vermutung, auch wenn in bewegten Zeiten die Zahl der sich zum Syndikalismus bekennenden bedeutend steigen würde.

Wenn nun also in jedem Betrieb „der fähigste, beste und vertrauenswürdigste“ wirklich gewählt würde – obgleich Wahlen durchaus nicht immer auf den würdigsten fallen, – so würde dieser denn doch nur in einer beschränkten Zahl von Betrieben ein Syndikalist sein und in zahllosen anderen ein Sozialdemokrat, ein Kommunist usw., und es wäre absolut sicher, daß die Syndikalisten und die etwa mit ihnen sympathisierenden eine Minderheit bilden würden, die gerade so ohnmächtig wäre, wie kleine Minderheiten in den Parlamenten. Was nun? Reden halten, zum Fenster hinaus, bis die Majorität mit einem Wink die Debatte schließt? Obstruktion, Lärmszenen, Austritt? Nichtgehorsam, Rebellion? Gegen all das wird, wie wir heute wissen, die Majorität Machtmittel anzuwenden sich nicht scheuen und der Kampf kann von der ersten Stunde, von der ersten Minute ab da sein. Oder der Majorität gehorchen, verhandeln und Kompromisse herausschlagen, falls die Majorität bereit ist, sich darauf einzulassen? Oder Sabotage in den Betrieben? Majoritäten sind heute gewohnt, nach dem russischen Beispiel dies als ökonomischen Hochverrat zu betrachten, und so wäre ein Kampf auf den Tod von Anfang ab da. Das ist alles, aber auch alles, was das allgemein durchgeführte Rätesystem einer derzeit schwachen Minorität bieten kann, und den Kopf in diese Schlinge zu stecken, wäre Selbstzerstörung.

Es wäre faktisch nichts anderes, als die Majoritätsrechte anzuerkennen, und gänzlich gleichbedeutend mit der Teilnahme an Wahlen und dem Eintritt in ein Parlament, womit sich Unterwerfung unter den Majoritätswillen stillschweigend verbindet, oder man tritt aus und geht seiner Wege oder man rebelliert und kämpft. Was ist da neues dabei? Daß in den Räten, wenn wir uns fügen, von unseren Zielen nichts wesentliches verwirklicht wird – von sozialdemokratischen, kommunistischen und anderen Majoritäten, – ist klar, und daß, wenn wir uns nicht fügen, wir nur den Kampf vor uns haben, das ist auch klar, und in welchem Geist Kommunisten und Sozialdemokraten regieren, daß sie keinen Mord, kein Gemetzel, keinen Kerker gegen uns anzuwenden scheuen, das ist jetzt tausendfach bekannt. Nichts wäre schöner, als wenn das alles anders wäre, aber es ist einmal so und keine menschliche Stimme aus den Reihen jener hat je ernstlich protestiert.

Das Rätesystem könnte also nur dann in einem menschenwürdigen Grade funktionieren, wenn das Majoritätsprinzip ausgeschaltet würde, wozu die beiden großen Diktaturparteien, Sozialdemokraten und Kommunisten nicht die geringste Lust zeigen. Mit diesem System oder ohne dasselbe liegt dieselbe Frage klaffend offen vor uns: werden wir im Fall sozialer Wandlungen uns den neuen Herren, eben jenen oder anderen Millionenparteien, fügen oder werden wir den Kampf aufnehmen, und welche Möglichkeiten, unsere Lage als Minorität zu verbessern, besitzen wir oder können wir anwenden?

Wir hätten nur eine Möglichkeit, für die alles einzusetzen ich für lebenswichtig halten würde, die aber beinahe allen anderen ungewohnt und gänzlich fernliegend erscheinen wird. Dies ist das intensivste Eintreten für Minderheitsrechte auf allen Gebieten: dies schließt auch die Minderheitsrechte aller sozialistischen Richtungen ein, die selbst dieser Idee die Treue bewahren.

Wir haben natürlich die Propaganda, aber daß diese in zehn Jahren fünf Millionen aus uns machen kann, noch lange keine Majorität, aber eine relativ schwer angreifbare Zahl, glaubt keiner.

Wir haben noch die Scheinmöglichkeit, uns dem Wunderglauben hinzugeben, zu hoffen, daß aus Rätewahlen unbedingt die allerbesten hervorgehen werden, so daß dann ein Unglück gänzlich ausgeschlossen ist usw., ein Glaube, der mir wenigstens fehlt.

Hierdurch würden wir in die Reihen einer großen, internationalen, auf anderen Gebieten für die gleichen Minderheitsrechte kämpfenden Kulturbewegung gelangen und unsere Isoliertheit verlassen. Wir haben von Sozialdemokraten und Kommunisten, wenn sie die Macht hätten, nur die Peitsche, Kerker oder Tod zu erwarten, aber in ähnlicher Lage sind heute und waren früher Minderheiten überall; sie kämpfen überall um ihr Lebensrecht, und an ihrer Seite wäre unser Platz, um uns Lebensbedingungen zu verschaffen, die uns – für theoretische Propaganda und Organisation – sogar der bürgerliche Staat noch läßt, die uns aber der sozialdemokratische Staat voraussichtlich und der kommunistische Staat sicher verweigern würde.

Jeder Fortschritt beginnt im kleinen und gewinnt, trotz aller Bekämpfung, nach gewissem Wachstum sozusagen ein Bürgerrecht, auch wenn er durchaus nicht verallgemeinert ist und noch heftige Gegner hat. Wie viele Ideen, auf dem Gebiet der Moral oder der Gebräuche, die früher tödlich verfolgt wurden, haben sich nicht durchgerungen, und dadurch ist eine allgemeine größere Duldung gegenüber neuen Ideen entstanden. So ist die religiöse Allmacht von einst für denkende Menschen ganz ausgeschlossen, ist die Wissenschaft und die Kunst in ganz anderem Grade frei als einstmals, ist das Privatleben ungestörter usw.

Der Sozialismus und der Nationalismus standen tatsächlich dieser menschlich-freiheitlichen Entwicklung, der wir so viel verdanken, sehr im Wege, sind noch heute am rückständigsten und aus ihnen heraus muß ernsteste Arbeit zur Besserung kommen: sonst werden sie zu gänzlich reaktionären Faktoren.

Der Nationalismus schuf die nationalen Staaten, in denen die anders-nationalen Minderheiten Parias sind, und die selbst die Feinde jedes anderen Staates, Verewiger des Militarismus und der Kriege, sind. Dies trägt so stark zur Verschärfung der Weltkrise bei, und die Frage dieser im neuen Europa so zahlreichen Minderheiten ist aufgeworfen und wird nicht mehr zur Ruhe kommen. Selbst England muß mit den indischen Minoritäten verhandeln, weder die Juden noch die Araber in Palästina lassen sich majorisieren, das kastilische Spanien muß jetzt mit Katalonien rechnen, kurz jede Minorität wehrt sich heutzutage und die öffentliche Anerkehnung von sprachlich-kulturellen Minderheiten, welche die Nationalisten vernichten wollen, ist ein immer aktuelleres Problem, das eine gewisse, Fortschritt bringende, provisorische Lösung finden wird.

So geschah es auch in den politischen Wahlsystemen verschiedener Länder, indem versucht wurde, dem Wegfall der Minoritätsstimmen bei den alten direkten Wahlen auf irgend eine Weise vorzubeugen.

Der Sozialismus war ein Jahrhundert hindurch – die ersten Jahre der Internationale in gewissem Sinn ausgenommen – theoretisch und organisatorisch unverträglich, absolut intolerant mit wenigen Ausnahmen, wie die Religionen und die Nationalitäten. Daher kann es nicht wundernehmen, daß, sobald er in Rußland Soldaten und Polizei zu seiner Verfügung hatte, er den Kampf gegen andersdenkende Sozialisten mit Kugel und Kerker fortsetzte und dies noch tut.

Ist da nicht die Anbahnung einer sozialistischen Denkweise, die sozialistische Minderheitsideen anerkennt und wenn die Möglichkeit da ist, ihnen Verwirklichungsmittel nicht versagt, das nächstliegende, das geschehen müßte?

In diesem Sinn ist dies wirklich die dringendste und bisher gänzlich versäumte Forderung. Wenn der bisher kleine Syndikalismus nach sozialen Wandlungen nicht einer Vernichtung entgegensehen soll, wie er sie im heutigen Rußland erfuhr, müssen vorher hinreichende sozialistische und allgemein menschliche Kräfte für die Minderheitsrechte gewonnen sein, die ihm und jeder anderen nicht aggressiven, das heißt, nicht mit Diktatur andere niederhaltenden, sozialistischen Richtung gebühren. Erst dann könnte ein Rätesystem ein neutraler Rahmen werden, in welchem jede nichtaggressive Nuance ihrer wirklichen Größe entsprechend an der Reorganisation teilnehmen könnte mit sozialen Mitteln, die ihr ein eigenes Leben nach ihren Ideen ermöglichen, wobei freundliche Beziehungen zu den anderen Nuancen selbstverständlich sein würden.

Zunächst, das heißt gegenwärtig, fehlen aber für ein die Minoritäten voll berücksichtigendes Rätesystem noch alle Vorbedingungen, und ihm unter diesen Verhältnissen die Wege zu ebnen, bedeutet zur Schaffung eines Machtapparats beizutragen, dessen erste Opfer wir in einer oder der anderen Form sein würden. Diesem Machtapparat sollen auch alle Vertreter der Konsumenten beitreten, deren Wahl nach Häusern, Gassen, Bezirken noch viel mehr dem Zufall ausgesetzt wäre, als die Wahl von Betriebsvertretern, die ihre Arbeitskollegen doch meist etwas genauer kennen würden. Dadurch käme das ganze soziale Leben unter die Kontrolle von zwei Kategorien bunt zusammengewürfelter Männer und Frauen, neben denen allenfalls wenigstens nach dem Wunsch von R. B., der dessen Ausführung aber gewiß nicht garantieren kann, da dies von der Majorität abhängen würde, einige abseitsstehende ihren „eigenen Kohl bauen“ dürften usw. Wenn ein solches alles-ergreifendes System nicht ein Machtapparat wird, der unfehlbar neuen Machthabern in die Hände geraten muß, wird es ein unfruchtbarer, hin- und herwogender Parlamentarismus werden, dem keine Leistungsfähigkeit innewohnt.

Auch keine Entwicklungsfähigkeit und keine neuschöpferische Kraft, da das ganze auf der zufälligen Zusammenwürfelung der Arbeiter in den Betrieben und der Einwohner in den Gassen beruht – wie irgend eine heutige Wahl, und jedes Talent, jede Initiative stünden dieser neuen geheiligten Einrichtung ausgesperrt und wie Bettler gegenüber, deren Mitglieder irgendwo aus dem Himmel her gekommen sein müßten, wenn sie nicht der Routine, den Intrigen, der kollektiven Unfähigkeit aller „redenden Versammlungen“ verfallen sollten. Wie leicht schreibt man die Worte „stets abberufbar und auswechselbar“ programmatisch nieder! Der „Rat“ muß aber noch geboren werden, der nicht mit allen Mitteln sich dagegen wehren würde, abberufen und ausgewechselt zu werden, und so würden Parteiungen, Intrigen, Kabalen mit vollen Händen ausgestreut.

Haben denn alle Personen gleiche Fähigkeiten oder überhaupt Fähigkeiten? Der sehr beliebte Arbeiter, der Vertreter dieser Fabrik, kann ein sehr schwacher Sachkenner sein, vielleicht ohne dies zu wissen, oder sein Rednerlalent entscheidet eine Frage, sachlich unberechtigt, zu Gunsten seiner Mandanten; jeder wird, wie heute die Abgeordneten, für „seinen Wahlkreis“ möglichst viel herausschlagen usw. Bis dann fähigere Männer sehen, daß es so nicht geht, sich in den Sattel schwingen – und dann ist die Diktatur auf dem besten Wege.

Welche freiheitlich-sozialistischen Kräfte zur gegebenen Zeit vorhanden sein werden, wo sie sich befinden, welche ihre Sache fördernden Leistungen in der vorhergehenden bewegten Zeit sie aufweisen können und welches die Mentalität der übrigen Sozialisten und ihre eigene über Minderheitsrechte sein werden, kann nicht vorausgesehen werden. Für eine Rekonstruktion wäre dann wohl – falls überhaupt von freiem Sozialismus die Rede sein wird und nicht schon ein sich sozialistisch nennender Regierungsapparat (das alte Beamtentum und Militär mit neuen Ministern) die Hand auf alles gelegt hat – das nächste Ziel die direkte Fortsetzung aller notwendigen Produktion mit Mitwirkung möglichst vieler technischer Kräfte, die weder durch Terrorisierung zu Feinden gemacht, noch durch Einräumung von Autorität zu künftigen Herren gemacht werden sollen. Daneben wäre der ökonomische Parlamentarismus, den das Rätesystem darstellt, ganz überflüssig, da alle wirkliche Arbeit doch sachlich, technisch richtig, geleistet werden muß. Dann würden wohl dort, wo die freiheitlichen Triebkräfte am kräftigsten sind, Beziehungen mit ähnlich disponierten Produktionsstellen angeknüpft werden und der berechnende Austausch durch reichliche, unbemessene gegenseitige Leistungen ersetzt werden, Kristallisationspunkte des neuen wirklich sozialen Lebens, das sich von da aus weiter verbreiten könnte.

Anders als durch solche autonome, sachlich und an Solidrität das beste leistende direkte Tätigkeit kann ich mir die Erlernung und Ausbreitung freiheitlicher Praxis gar nicht vorstellen. Die Befreiung der Arbeiter soll das Werk der Arbeiter selbst sein – dieses Wort, das Marx und Bakunin gleicherweise anerkannten, es besagt nichts von Parlamenten und besagt auch nichts von Räten.

Der so gerechtfertigte und dringende Wunsch praktisch zu werden kann nicht bedeuten, daß wir deshalb einen Schritt außerhalb unserer Ideen tun, sondern nur, daß wir innerhalb des so weiten Rahmens der Ideen die Fülle von Tätigkeitsmöglichkeiten zeigen, durch die wir selbst und die uns noch Fernerstehenden die theoretischen Gedanken in Leben und Tat umsetzen können. Dadurch werben wir für Freiheit und Solidarität uns nahestehende noch unerweckte Kräfte. Da liegt mehr darin als in der Verkündung eines leeren Rahmens, dessen Ausfüllung sich zum weitaus größten Teil unserem Einfluß, unserer Voraussicht gänzlich entzieht und dem wir leichten Herzens „alle Macht“ überlassen wollen.

Die alte belgisch-spanische Utopie von 1869–1870 entstand in jenem Moment, als weder in Belgien, noch in Spanien irgendeine Arbeiterbewegung außerhalb der Internationale existierte, als wenigstens für diese beiden Länder Meinungsverschiedenheiten unter Sozialisten nicht nennenswert bestanden und als der Fortschritt der Internationale in mehreren Ländern seit besonders dem Jahr 1868 in einigen Enthusiasten die Hoffnung entstehen ließ, daß wirklich die Arbeiter in ihren Millionen einig und ungeteilt und recht bald in der Organisation der Internationale ihre wirkliche Heimat sehen würden. Dann würde diese Welt der Arbeit allein leben und der Staat (der Beamtenkörper) und der Kapitalismus (nicht arbeitende Parasiten) würden neben ihr verdorren und absterben.

Es zeigten sich aber fast unmittelbar darauf die zur vollständigen Trennung führenden autoritären und antiautoritären Richtungen im Sozialismus, es kam sehr bald die furchtbare Niederlage der Commune von Paris, 1871, und die Internationale verlor für alle Länder, Spanien und Italien ausgenommen, ihre Anziehungskraft und erreichte auch für Italien nie sehr hohe Ziffern und für Spanien zweimal um 50.000, worauf beide Male durch Verfolgungen der weitere Fortschritt aufgehoben wurde und die Zahl sehr rasch sank. Die Internationale als Rahmen der neuen Gesellschaft, wie später der französische und noch später der deutsche Syndikalismus als Rahmen, waren immer nur Hoffnungen einer kurzen Höhepunktszeit und gingen dann in Programme und in Utopien über, entschwanden aber aus dem Gesichtskreis der Wirklichkeit.

Immer standen diese Vorstellungen höher als die Formel des Rätesystems, da sie mit einer ungeheuren Zahl wirklicher Anhänger der Ideen rechneten und nur mit diesen, während das Rätesystem die heilige Aufgabe der Neugründung der Gesellschaft den durch Zufall an den verschiedensten Orten durch Wahl zu „aller Macht“ kommenden Räten überläßt. An so etwas dachte man in Belgien und Spanien, soweit ich die alten Quellen kenne, nicht im entferntesten.

Es tut mir leid, dem so plausibel aussehenden Rätegedanken in den Weg zu treten, aber ich erwartete wirklich nicht, ihm noch einmal zu begegnen: er schien mir durch Rußland und München und seine ganze übrige seinerzeitige Handhabung in Deutschland ein Ding der Vergangenheit, das uns eine Warnung sein mußte. Wie viel konnten wir nicht seit damals lernen, welche Katastrophen sind an uns vorübergezogen oder umgeben uns noch! Unsere Lage wäre vielleicht hoffnungsvoller als je, wenn wir alle jetzt gebotenen Möglichkeiten – angesichts der Weltkrise – erfassen würden. Aber dazu muß man neues schaffen, nicht eine weit zurückliegende Hypnose noch einmal durchzumachen versuchen. Ich glaube also nicht einen „Verrat an der proletarischen und sozialen Revolution“ zu begehen, wenn ich die Räteidee ablehne, im Gegenteil wäre es, nach meiner Überzeugung, eine Tragödie, wenn die Revolution, so bitter gewarnt, nochmals an dem äußerlich plausiblen, aber trügerischen Rätegedanken haften bliebe: sie hat mehr und besseres zu leisten.