Titel: Errico Malatesta
Untertitel: Das Leben eines Anarchisten
AutorIn: Nettlau, Max
Datum: Mai 1922
Quelle: Max Nettlau: Errico Malatesta Das Leben eines Anarchisten, Verlag »DER SYNDIKALIST«, 1922, Berlin.
Bemerkungen: Originaltitel: "Errico Malatesta Vita e Pensieri con prefazione di Pietro Esteve", New York, Mai 1922.
Der Text wurde 1973 im Karim Kramer Verlag Berlin nochmals aufgelegt, unter dem Titel "Die revolutionäre Aktion des italienischen Proletariats und die Rolle von Errico Malatesta".

    I. Malatestas erste Jugend in Santa Maria Capua Vetere (1853—1870).

    II. Die Anfänge des italienischen Sozialismus und Bakunins Tätigkeit in Italien bis zum Jahre 1867.

    III. Der Sozialismus in Neapel von 1867—1870.

    IV. Malatesta und die Internationale in Neapel, Frühjahr 1871 bis Sommer 1872.

    V. Bakunin und Mazzini; die italienische Internationale von 1871 bis zum August 1872 (Konferenz von Rimini).

    VI. Malatestas erstes Zusammentreffen mit Bakunin im September 1872 (Zürich und St. Imier).

    VII. Die italienische Internationale im Jahre 1873; der Kongreß von Bologna; Bakunin und Cafiero.

    VIII. Die Insurrektion von 1874; Malatesta in Castel del Monte, Apulien (August 1874).

    IX. Der Prozeß von Trani und andere Vorgänge vom August 1874 bis zum Sommer 1876.

    X. Die Kongresse von Florenz und Bern (Oktober 1876); der kommunistische Anarchismus.

    XI. Die Insurrektion von Benevento im April 1877.

    XII. Die ersten zwei Jahre des Exils (Aegypten, Schweiz, Frankreich, Belgien, Herbst 1878 bis März 1881.)

    XIII. Erstes Londoner Exil, März 1881 bis Frühjahr 1883.

    XIV. Malatesta in Florenz, 1883—84 (La Questione sociale); südamerikanisches Exil, 1885—89.

    XV. Malatesta in Nizza und in London (L’ Associazione, 1889—1890); zweites Londoner Exil, Herbst 1889 bis Anfang 1897.

    XVI. Ancona (L’Agitazione, 1897—98); Gefängnis, Deportierung auf eine Insel, Flucht; amerikanische Reise; drittes Londoner Exil, Frühjahr 1900 bis zum Frühjahr 1913.

    XVII. Ancona (Volontà, 1913—14); die Revolte in der Romagna und in Ancona, Juni 1914. Viertes Londoner Exil, Sommer 1914 bis Ende 1919; der Krieg.

    XVIII. Rückkehr nach Italien (Ende 1919). Malatesta und die Umanità Nova (Mailand), 1920.

    XIX. Malatestas Tätigkeit in Italien vom Januar bis Oktober 1920.

    XX. Malatestas Verhaftung (Oktober 1920), Gefängnis und Prozeß in Mailand (Juli 1921). Die zweite Umanitä Nova (Rom, seit 1921). Seine gegenwärtige Tätigkeit. Schluß.

I. Malatestas erste Jugend in Santa Maria Capua Vetere (1853—1870).

Errico Malatesta ist in Santa Maria Capua Vetere am 4. Dezember 1853 geboren, in der kleinen Stadt Santa Maria, die auf der Stelle des antiken Capua steht, einige Kilometer entfernt vom modernen Capua, der Festung am Volturno und in etwas größerer Entfernung vom Schloßr Caserta.

Fast zur gleichen Zeit, im Juni 1853, schildert Gregorovius, der spätere Historiker des mittelalterlichen Rom, jene Gegend in seinen „Römischen Tagebüchern“: Von Rom, nach einer Nacht in Velletri, — „die Pontinischen Sümpfe sind jetzt ein Blumenmeer. Der Blick auf das Cap der Circe zauberhaft. . . . Nachts in dem schönen, südlichen Terracina. Am 20. weiter ins Neapolitanische hinein. Wüstes Wesen in Fondi, das von Bettlern wimmelt. Cyclopische Mauern. Blühende Granatbäume. . . . Itri höchst malerisch mit vielen Türmen und alten Mauern. Mittags in Mola di Gaëta — üppige Vegetation von Reben und Orangen. . . . Den Liris oder Garigliano auf einer Kettenbrücke passiert bei Minturnæ. Malerische Ruinen — antike Wasserleitung. Nachts zu S. Agatha. . . . Die neapolitanischen Städte sind heiterer als die römischen; überall weiße Häuser, von Blumenschmuck lachend.

Am folgenden Tage nach Capua. Freundliche Stadt am Volturnus in einer reichen Ebene. Ländlicher Stadtplatz; mit grünen Bäumen. Unansehnliche Kirchen. Viel Militär. Nachmittag über Aversa nach Neapel. Hier angelangt um ½ 6 Uhr abends. Es stand ein strahlender Regenbogen über dem Vesuv. Zaubervolle Mondnacht auf dem dunklen Golf.“. . . .

Capua hatte 1860 eine Bevölkerung von etwa 10 000 und eine starke Garnison. Als Verwaltungsmittelpunkt der Terra di Lavoro genannten Provinz mag es eine zahlreiche Bürokratie, Advokaten und Landbesitzer, deren große Güter in der reichen Ebene lagen, enthalten haben. Caserta andererseits mit dem Bourbonenschloß und großem Besitz mochte ein Schauplatz des aristokratischen und Hoflebens sein. Das zwischen beiden liegende Santa Maria (jetzt etwa 30 000 Einwohner) war damals wohl eine offene Landstadt mit kleinen Ackerbürgern und vielen Händlern, daneben vielem besitzlosen Landproletariat; die reiche Ebene, die Nachbarschaft der erwähnten Städte und das nicht zu fern liegende Neapel hoben wohl die kleine Stadt aus wirklicher Isolierung heraus; sie ist jetzt das Handelszentrum der Campania, ziemlich blühend und ganz vom Geschäftsleben absorbiert. Möge Malatesta selbst uns erzählen, wie sich seine erste Kindheit abspielte in dieser damals gewiß ruhigen, aber doch gerade in seiner Jugend von einigen sehr aufregenden Ereignissen, die sich um sie herum abspielten, zeitweilig lebhaft bewegten Stadt.

Es ist mir unbekannt, ob die bourbonische Mißwirtschaft ihm von Anfang an lebhaft vor Augen stand durch lokale und Familienerfahrungen und -Traditionen, oder ob auch damals Kinder in etwas begüterten Familien — sein Vater dürfte im Handel tätig gewesen sein — in denen materielle Interessen in erster Linie standen, aufwuchsen, ohne dies gewahr zu werden, wie solchen Kindern so oft die soziale Frage verschlossen bleibt. Aber als er sechs bis sieben Jahre alt war, brach das alte System dort vollständig zusammen (1860). Damals war für kurze Zeit Europas Aufmerksamkeit auf diese kleine Gegend konzentriert; denn die Garnison des offiziellen Capua marschierte gegen das alte Capua, sein Santa Maria, das kein anderer als Garibaldi selbst damals besetzt hatte, der dort eine harte Schlacht schlug und die Angreifer zurückschlug. Bald wurde die Festung Capua belagert und mußte sich ergeben. Ein Kind wird eine solche Zeit nie vergessen.

Er mochte den Zusammenbruch des alten Italien in seiner Rückwirkung gewiß auf jede noch unberührte Gegend seit dem Kriege von 1859 bemerken, als nach der Lombardei auch Modena, Parma, Toskana und die Romagna das alte System stürzten, mehr noch als im Mai 1860 Garibaldi dem bourbonischen Königreich innerhalb eines Monats Sizilien entriß und Neapel und der Süden sich ihm automatisch anschlossen und er am 7. September fast allein Neapel betrat, im Triumph empfangen. Die bourbonische Armee hielt noch die Festungen von Capua und Gaëta und das Land nördlich vom Volturno. So kam es, daß die von Türr geführten Garibaldiäner gerade bis Santa Maria vordrangen und seit dem 15. September mit der Garnison von Capua Gefechte hatten; etwa 21 000 Garibaldianer standen 30 000 Royalisten gegenüber, und am 21. erlitten erstere in Cajazzo, nördlich vom Volturno, sogar ihre erste kleine Niederläge in diesem Feldzug. Garibaldi übernahm selbst die Leitung und war am Morgen des 1. Oktober in Santa Maria, gegen welche Stadt in der Schlacht dieses Tages 7000 Soldaten von Capua angreifend vordrangen. Es kostete Mühe, diesen großen Ausfall überall zurückzuschlagen, aber es geschah. Doch drang Garibaldi nicht weiter nach Norden vor. Am 21. Oktober fand die Volksabstimmung statt, welche beinahe einstimmig den Anschluß an Viktor Emanuels Italien erklärte, und nun betrat die piemontesische Armee Neapel von Norden her, Capua wurde von Garibildianern und von Piemontesen belagert und kapitulierte am 3. November nach einem Bombardement. Am 7. November betrat Viktor Emanuel Neapel, das Mazzini unmittelbar vorher verlassen hatte und Garibaldi zwei Tage später verließ, um auf seine Insel Caprera zurückzukehren; für diese beiden und viele ihrer Freunde war der Reiz des Abenteuers schon verflogen, der Zauber gebrochen, während große Mengen anderer sich nun vordrängten, um die Beute zu genießen.

So sahen also Santa Maria und voraussichtlich auch der fast siebenjährige Malatesta über; sechs Wochen wirklichen Krieg von der in diesem Fall äußerlich siegreichen Volksseite aus. Obgleich bald große politische, ökonomische und andere Enttäuschungen folgten, konnte er doch nun in einer Atmosphäre geistiger Befreiung aufwachsen, die wenigstens die Pfaffenherrschaft und den stupiden, kleinlichen, bourbonischen Despotismus, der das verfallende Bourbonensystem bis zuletzt charakterisierte, gestürzt hatte. Daß die Einzelheiten dieses populärsten aller Kriege des neunzehnten Jahrhunderts, von der Seite Garibaldis aus gesehen, ein Kind hätten zum Kriegsgegner machen sollen, kann man nicht verlangen; vielmehr mögen diese Eindrücke in ihm von Anfang an bis heute den festen Glauben bestärkt haben, daß, wie das verrottete Bourbonensystem, auch das ganze heutige kapitalistische System durch eine kühne Initiative, wie jene Garibaldis es war, schneller zum Fall gebracht werden kann als man gewöhnlich glaubt, und er mochte weiter, in etwas reiferer Entwicklung, an dem Beispiel der Profiteure, die sich auf die Beute stürzten, während Garibaldi seiner Wege ging, die einer siegreichen Revolution von jener Seite stets drohenden Gefahren erkennen. Kurz es scheint mir ebenso eine Eigentümlichkeit Malatestas zu sein, daß er solche Eindrücke damals und in seiner ferneren Jugend empfing, als daß er ihnen nicht einfach verfiel, sondern sie zu klären, zu verarbeiten, weiterzubilden wußte bis zu seinen heutigen Auffassungen.

Wenn so Garibaldis revolutionäre Initiative vielleicht den jungen Malatesta erweckte, so erweckte sie auch wieder Michael Bakunin, der nach acht Jahren Festungskerkers damals weitere vier Jahre in Sibirien verlor, wo er von der Entwicklung Sibiriens und von slavischen Nationalkriegen und slavischer Föderation träumte. Garibaldis Ruhm, schrieb er, drang selbst zu den sibirischen Bauern, die ihn Garibaldoff nannten, und diese Vorgänge waren für Bakunin das Zeichen, daß Europa, das nach den Revolutionen von 1848 und 1849 zehn Jahre geschlummert, wieder vor großen Ereignissen stand, denen er eine revolutionäre Richtung zu geben wünschte. So beschloß er, die Flucht aus Sibirien zu versuchen, und es gelang. Nach vielen Bemühungen für slavische und die russische Bewegung und die polnische Insurrektion (1862, 1863) reiste er Ende 1863 nach Italien, besuchte Garibaldi und viele andere revolutionäre Patrioten und ließ sich in Florenz und in den Jahren 1865—67 in Neapel nieder. Hiervon konnte der in dem nahen Santa Maria aufwachsende Knabe Malatesta nichts wissen, aber nach ganz wenigen Jahren schon galt seine erste Reise dem Norden der Schweiz, wo er Bakunin treffen wollte (1872).

Im Jahre 1861 nahm Santa Maria gewiß bald seine gewöhnliche Erscheinung einer ruhigen, vielleicht auch im inneren Treiben lebhaften und beweglichen Landstadt an und wurde von den politischen Ereignissen der nächsten zehn Jahre nicht mehr direkt berührt. Die Piemontesen besiegten die päpstlichen Truppen in Castelfidardo und nahmen Umbrien und die Marken, so daß das päpstliche Gebiet auf Rom und die umgebenden Provinzen, den Kirchenstaat, beschränkt war. Aus diesem Asyl drangen neapolitanische royalistische Banden oft in das frühere Königreich Neapel ein und wurden natürlich von den jetzt herrsehenden Piemontesen oder Italienern „Banditen“ genannt. In zwanzig Monaten 1861—62 wurden 2293 solche „Banditen“ getötet, 2677 gefangen und 959 kriegsgerichtlich erschossen. Diese Operationen, bei denen auf beiden Seiten mit äußerster Grausamkeit vorgegangen wurde, fanden, meist in entlegenen Gebirgsgegenden statt und mögen die reiche Capuanische Ebene nie getroffen haben. Dann mußte Garibaldi, der im November 1860 mit einer bei politischen und militärischen Führern einzigartigen Selbslosigkeit seine Macht niedergelegt hatte, um seine Arbeit fortzusetzen und der römischen Pfaffenherrschaft ein Ende zu machen, wieder von vorn anfangen als Chef einer Bande mit einer damals aussichtslosen Aufgabe vor sich. Denn 1863 in den Bergen von Calabrien bei Aspromonte stieß er auf die italienischen Soldaten und wurde selbst verwundet, während 1867 bei Mentana seine Scharen von den päpstlichen Truppen und von Zuaven erdrückt wurden, deren Chassepots, wie damals gesagt wurde, „Wunder taten“. Wenn dies Garibaldi geschah, der so ungeheure Popularität und Prestige genoß, kann man sich vorstellen, daß die Pläne und Operationen der Mazzinisten zur Errichtung einer Republik im Geiste Mazzinis noch stärker auf staatlichen Widerstand stießen; denn der Staat ändert sich nie, ob er alt oder jung sei, ob neapolitanisch oder piemontesisch, Bourbon oder Savoia. Hinter all dem steckte die europäische, in diesem Fall speziell die französische Politik; Napoleon III. legte immer sein Veto ein gegen die Besetzung von Rom durch Italien, und wenn er sich Italien nicht hätte günstig stimmen wollen, um es gegen Zentraleuropa zu gebrauchen, so hätte er am liebsten die Muratistischen Ansprüche auf Neapel gefördert, wodurch dann Englands alte Liebe für Sizilien aus den Tagen von Lord Bentinck her wiederbelebt worden wäre. Diese noch immer prekäre Lage der gesamtitalienischen Aspirationen führte zu stillschweigenden und sehr unaufrichtigen Einverständnissen zwischen der Regierung und den nationalistischen Bewegungen zur Eroberung von Venedig und Rom; im Fall des Erfolges würde die Beute der Monarchie Viktor Emanuels gehört haben wie 1859—60; das Risiko des Mißerfolgs zeigt Garibaldis Schicksal 1863 und 1867, das ihm natürlich allgemeine Sympathien brachte und eine schnelle Amnestie; aber er hatte dadurch auch seine eigene Macht zerstört und wurde der Monarchie nie wieder gefährlich. Schließlich wurden diese Fragen von Venedig und Rom durch die großen Ereignisse der europäischen Politik gelöst; Oesterreichs Besiegung durch Preußen, 1866, gab Italien Venedig, das ihm Napoleon III. übergab, dem es von Oesterreich formell übergeben worden war, und der Fall Napoleons III. im September 1870 ermöglichte es der italienischen Regierung, sich in kürzester Frist Roms zu bemächtigen. Hierauf wurden durch viele Jahre die Garibaldianer und Mazzinisten nicht mehr gebraucht und vom offiziellen monarchischen Italien als ein glorreiches Stück aus der Vergangenheit und etwas im Innern des Landes vollkommen überflüssiges in der Gegenwart betrachtet.

Dieser noch unfertige und die progressiven Elemente zum Vorteil des Staates und der Dynastie schlau ausbeutende Zustand des italienischen öffentlichen Lebens von 1860—1870 mag dem jungen Malatesta wenigstens die Gelegenheit gegeben haben, in einer gewissen Freiheit und ohne geistigen Druck aufzuwachsen. Eine Regierung, die 1866 die Klöster auflöste und deren Besitz sequestrierte, und die auf der Lauer lag, der weltlichen Macht des Papstes ein Ende zu bereiten, mußte den Antiklerikalismus begünstigen. Ebenso ließ man die Verbreitung der Wahrheit über die Bourbonenherrschaft von 1735 bis 1860 zu, um die legitimistischen Bestrebungen zu schädigen. Die Märtyrer der nationalen Unabhängigkeit wurden gefeiert. Wenn dies durch intelligente Lehrer oder beliebte Schriftsteller und Redner geschah, konnte ein Grund gelegt werden, auf dem selbständig Denkende leicht vom Antiklerikalismus zur Verwerfung der Religion und zum Atheismus, vom Anti-Bourbonismus zum Antimonarchismus und republikanischen Ansichten und von der Anerkennung nationaler Revolutionen zur Anerkennung des Rechts der Revolution im allgemeinen gelangen konnten. Auf jeden Fall, wenn man das Resultat betrachtet, kann Malatestas Entwicklungsgang kein wesentlieh anderer gewesen sein.

Ich habe keinen Grund zur Annahme, daß er sich speziell für die revolutionäre Vergangenheit interessierte, obgleich er mir einmal erzählte, daß Mignets Geschichte der französischen Revolution, ein Buch, das sein Vater besaß, ihm sehr früh in die Hände fiel und ihn fesselte. Es ist leicht möglich, daß er zu lebhaft und praktisch war, um viel zu lesen. Aber er kennt natürlich die Revolutionsgeschichte und weiß von Vincenzo Russo, Pisacane und vielen anderen zu erzählen. Damals oder später, vielleicht auch in den zahllosen Gefängnisstunden, der Studierzeit vieler Anarchisten, denen man dann in der Regel die großen Bände von Herbert Spencer schickte, mag er auch die vergangene Geschichte Italiens und Neapels näher betrachtet haben, die so viele Argumente gegen den Staat und für revolutionäre Aktion liefert. Aus Sismondis Geschichte der italienischen Republiken, Giuseppe Ferraris nicht weniger berühmter Geschichte der Revolutionen Italiens (1858) und anderer an sie anknüpfender Literatur ließen sich das mittelalterliche Bürgerleben in freien und föderierten Stadtgemeinden, das Handwerkerleben in den Gilden, die ersten sozialen und politischen Kämpfe, die glänzende Entwicklung von Kunst und Gelehrsamkeit in all diesen unabhängigen Zentren näher kennenlernen, aber auch der beständige Kampf dieser freien Gemeinwesen gegen die Staatsmacht, der sie schließlich erliegen. Und die Geschichte seitdem würde für Neapel gezeigt haben fremde Dynastien, Anjou, Aragonien, Bourbon, alle dem Land erdrückenden und ausbeutenden Despotismus aufzwingend, unterbrochen von Masaniellos stürmischen Tagen, der kurzlebigen Parthenopeischen Republik, die Kardinal Ruffo unter der Patronanz des Admirals Nelson im Blut erstickte, und Joachim Murats Königtum im Schatten der Macht des ersten Napoleon. Tyrannei und Unterdrückung, wohin man blickt, gestützt von einem feudalen Landsystem und Pfaffenherrschaft und daraus erwachsender Unwissenheit und Aberglauben des unendlich armen Volkes, dabei der odioseste Fiskalismus. All das bestand, wie zugegeben wurde, bis 1860; wer mochte glauben, daß der politische Wechsel diese jahrhundertealten Uebel beseitigte? Ein junger Mann von Geist und Herz mußte also sehen, daß es ebenso notwendig war, dieses Elend nach 1860 zu bekämpfen als vorher, und er mußte auch ohne Schwierigkeit einsehen, daß dieser Kampf, der in der Vergangenheit viele Helden und Opfer hervorbrachte und kostete, noch immer unendlich viel Mühe und Opfer kosten würde.

Er mußte früher oder später von Tommaso Campanella (1568—1639) hören, Verfasser der „Civitas solis“ (des Sonnenstaates), dem calabresisehen Mönch, der die große Verschwörung gegen das spanische Joch organisierte und 27 Jahre im Kerker zubrachte, oft gefoltert. Masaniellos Episode war noch allgemein bekannt. Filippo Buonarrotis Name, im Süden weniger bekannt als in Toskana und weiter nördlich, wurde doch noch viel genannt als Verschwörer mit Gracchus Babeuf und als dem innersten Kern der geheimen Gesellschaften in den folgenden vierzig Jahren angehörend. Vor allem mußte der junge Vincenzo Russo aus Neapel (1770, gehängt 1799) einen freiheitsliebenden Neapolitaner interessieren, in dessen Pensieti politici (Politische Gedanken, 1798) sozialistische Gedankengänge zu finden sind, wie diese Worte: „Die große Ungleichheit des Eigentums ist der gordische Knoten. Die Revolution ist bestimmt, ihn zu zerhauen und die Erde vom Verbrechen zu befreien. Beim Wort Revolution kommt die Menschheit aus Todesagonie wieder zum Leben zurück und schöpft Atem in der Hoffnung, endlich ihre Rechte wieder hergestellt zu sehen, die durch so viele Jahrhunderte schändlich verletzt wurden. Wer die Revolution durch Narrheit oder Infamie verrät, ist von der Menschheit verwünscht, von Mördern selbst verabscheut.“

Neben dieser Zeit der neapolitanischen Revolution von 1799 wäre die Zeit der geheimen Gesellschaften, besonders der Carbonari, von Interesse gewesen, und in den sechziger Jahren mochte noch manche mündliche Tradition leben. Diese Verschwörungen und ihre furchtbare Unterdrückung brachten sehr charakteristische Persönlichkeiten hervor, wie etwa Giro Annichiarico, von den Decisi, 1818 erschossen, und sie führten zu einer wirklichen Revolution, 1820, worauf durch mehrere Monate der Carbonarismus in Neapel und dem ganzen Königtum offen siegreich war, von der Heiligen Allianz so gefürchtet und verwünscht, wie der Bolschewismus von den kapitalistischen Machthabern von heute; schließlich wurde die vom König verratene Bewegung von einer österreichischen Armee niedergeworfen. Von da ab trat die revolutionäre Tätigkeit im Süden Italiens mehr zurück, kam aber wieder im Jahre 1848 ans Tageslicht. Die damals am 15. Mai unterdrückte Bewegung führte dann zu langwierigen Riesenprozessen mit so großen Mengen auf das grausamste behandelter Gefangener, daß Gladstones Two Leiters to the Earl of Aberdeen on the State prosecutions of the Neapolitan Government (1851; Zwei Briefe über die neapolitanischen Staatsprozesse) die moralische Isolierung der bourbonischen Regierung so vollständig machten, daß es sich erklärt, daß sie ihrem Schicksal überlassen wurde, und daß Garibaldis Expedition, 1860, eine solide Grundlage und allgemeine moralische und sonstige Unterstützung fand. Vorher aber mußten noch einige Märtyrer sterben; ich nenne nur Agesilao Milano, den Soldaten, der 1856 bei einer Truppenschau den grausamen König verwundete, und Carlo Pisacane (1857), der uns Anarchisten bekannt ist als der sehr klare Darsteller einer persönlichen Auffassung des Sozialismus, die sich der anarchistischen sehr nähert. Man findet sie in seinen „Saggi storicipoliticimilitari sull’ Italia“ (Essays; Genua und Mailand, 1858, 1860), von denen der Essay über Revolution mehrfach neugedruckt wurde, während das ganze Werk als sehr selten galt und selbst Cafiero sich 1881 unendlich freute, als er es damals erst in der Bibliothek von Lugano entdeckte. Doch war Pisacanes „Politisches Testament“ allgemein bekannt; bevor er Genua verließ, um im Golf von Policarpo zu landen, wo er dann bald im Kampf den Tod fand, schrieb er (24. Juni 1857): (er glaube) daß die Propaganda der Idee chimärisch, daß Erziehung des Volks absurd sei. Ideen entspringen aus Taten, nicht Taten aus Ideen, und das Volk wird nicht frei sein, wenn es gebildet ist, sondern es wird gebildet werden, wenn es frei geworden sein wird; das einzige, was ein Bürger für ein Land tun kann, ist, mit der materiellen Revolution zusammenzuarbeiten. Daher sind Verbindungen, Verschwörungen, Aktionsversuche usw. die richtige Reihe von Taten, durch die Italien seinem Ziel entgegenschreitet. Das Glitzern von Agesilao Milanos Bajonett (er ging mit demselben gegen den König vor) war wirksamere Propaganda, als tausend Bände der Schriften der Doktrinäre, die eine wahre Pest unseres wie jedes anderen Landes sind.[1])

Solche Worte grimmiger Entschlossenheit gelten als Fanatismus, wenn die Sache fehlschlägt; der erfolgreiche Revolutionär der Tat, wie Garibaldi im Jahre 1860, wird der Held der ganzen Welt. Jeder, der wirklich je handelt, fühlt so, und diese Denkweise ging von Pisacane, dem Anarchisten, der für seine nationale Sache starb, auf die Internationalisten über, die für die ganze Menschheit zu handeln, wirklich zur Tat zu schreiten entschlossen waren. Ein Genosse Pisacanes, Giuseppe Fanelli, wurde einer der engsten Genossen Bakunins und bald auch des jungen Malatesta. Ein anderer war allerdings Nicotera, der 1876 Minister wurde und die Internationalisten bitter verfolgte; Crispi, Cairoli und alle andern von den früheren Verschwörungen und Garibaldischen Bewegungen taten das gleiche, als sie zur Macht gelangten. Die heutigen sogenannten sozialistischen Minister in verschiedenen Ländern hatten in jenen ihre ebenbürtigen Vorläufer im infamsten Renegatentum.

Dies möge genügen, um dem nicht italienischen Leser zu zeigen, was für Eindrücke ein in den sechziger Jahren in einer neapolitanischen Stadt heranwachsender intelligenter junger Mensch leicht gewinnen konnte. Dazu kam vielleicht noch die Geschichte des klassischen Altertums, und einzelne von der Geschichte und Legende herausgearbeitete Freiheitshelden Griechenlands und Roms standen einer solchen Jugend vielleicht klarer vor Augen als grammatische Regeln und Ausnahmen. Malatesta besuchte die in Santa Maria vorhandene Mittelschule zur Vorbereitung für den Besuch der Universität Neapel.[2])

Er war, als er die Universität bezog, zu den damals vorgeschrittensten Ideen gelangt, der besten Art des sogenannten „revolutionären Patriotismus“. Er wird als Mazzinist bezeichnet (von Angiolini, 1900) oder als zu Garibaldi neigend (von Fabbri, 1921), was mindestens beweist, daß er ein sehr wenig orthodoxer Anhänger des einen oder des anderen gewesen sein muß, sonst wäre darüber größere Klarheit vorhanden. Mazzini vertrat anscheinend unerschütterlichen Republikanismus und ein höheres soziales Ideal als Garibaldi und mag in diesem Sinn den jungen Mann gefesselt haben, aber es liegt keine Spur dafür vor, daß Mazzinis spezifisch religiöse Ideen und sein trügerischer Pseudosozialismus je Malatestas klaren Sinn verwirrt haben. Andererseits muß der in ihm schlummernde Trieb zu offener Aktion, zu kühnem Kampf, ihn Garibaldi menschlich nähergebracht haben. Kurz, er scheint so glücklich gewesen zu sein, seine geistige Freiheit stets bewahrt zu haben, was bei der ungeheuren Anziehung der engeren Richtungen jener beiden Männer auf die das Idealste und Radikalste suchende Jugend genug bedeutet und ihn aus der Menge heraushob.

Was sonst in jenen Jahren auf ihn wirkte, das soziale Elend, diese oder jene politische Bewegung, Freunde, Gesellschaften, eine lokale Propaganda oder was sonst, mag er selbst erzählen und diesen fragmentarischen, ihn sozusagen hypothetisch konstruierenden Bericht durch genaue Daten ersetzen. Wahrscheinlich tat er dies längst in einem Artikel der Questione sociale (Florenz, ungefähr im Januar 1884), der vielleicht von Elisée Reclus bemerkt und jedenfalls im Genfer Révolté (3. Februar 1884) übersetzt wurde und den Uebergang eines jungen Mannes vom abstrakten Republikanismus zum lebendigen Sozialismus schildert. Den jungen Republikanern der achtziger Jahre wird dadurch eine ähnliche Entwicklung nahegelegt, und in diesem Sinn nähert sich der Artikel Kropotkins „Appell an die jungen Leute“ und ist allgemein gehalten. Hier nur der ersichtlich autobiographische Teil:

„Vor mehr als fünfzehn Jahren (also um 1868) war ich ein junger Mensch, der Rhetorik, römische Geschichte, Lateinisch und Herrn Giobertis Philosophie studierte. Trotz aller diesbezüglichen Absichten meiner Lehrer erstickte die Schule nicht das natürliche Element in mir, und ich behielt in dem verdummenden und korrumpierenden Milieu einer modernen Mittelschule einen gesunden Geist und ein reines Herz.

Von liebender und glühender Natur träumte ich von einer idealen Welt, in der alle einander lieben und glücklich sind; wenn ich meiner Träume müde mich der Wirklichkeit hingab und um mich blickte, sah ich hier ein elendes Wesen, vor Kälte zitternd und Almosen erbettelnd, dort weinende Kinder, dort fluchende Männer, und mein Herz erstarrte.

Ich sah näher zu und bemerkte, daß eine ungeheure Ungerechtigkeit, ein absurdes System die Menschheit niederdrückte und zum Leiden verurteilte: die Arbeit war herabgedrückt und galt beinahe als entehrend, der Arbeiter starb aus Hunger, um die Ausschweifungen seines reichen Herrn zu ernähren. Und mein Herz schwoll an voll Empörung; ich dachte an die Gracchen und an Spartakus und fühlte in mir selbst die Seele eines Tribuns und eines Rebellen.

Und da ich um mich herum sagen hörte, daß die Republik die Negierung dieser mich quälenden Verhältnisse sei, daß in einer Republik alle gleich seien, da ich überall und zu allen Zeiten das Wort Republik in Verbindung mit allen Empörungen der Armen und Sklaven genannt sah, da wir in der Schule in Unkenntnis der modernen Welt gehalten wurden, um durch eine verstümmelte und verfälschte Geschichte des alten Rom dumm gemacht zu werden und außerstande, ein soziales Leben außerhalb der römischen Formeln uns vorstellen zu können, — aus diesen Gründen nannte ich mich einen Republikaner, und dieser Name schien mir alle Sehnsucht, allen Zorn meines Herzens zu umfassen. — Ich wußte vielleicht gar nicht näher, wie diese geträumte Republik sein sollte, aber ich glaubte, daß ich es wisse, und das genügte: für mich war die Republik das Reich der Gleichheit, Liebe, des Wohlstands, der liebende Traum meiner Phantasie zur Wirklichkeit geworden.

O, wie schlug meine junge Brust! Manchmal, ein moderner Brutus, stieß ich in der Einbildung den Dolch in das Herz eines modernen Caesar, ein anderes Mal sah ich mich an der Spitze einer Gruppe Rebellen oder auf einer Barrikade, die Knechte der Tyrannei vernichtend, oder ich donnerte von einer Tribüne gegen die Feinde des Volkes. Ich maß meine Größe und prüfte meine Oberlippe, ob mein Schnurrbart gewachsen. O, wie ungeduldig war ich, heranzuwachsen und das Gymnasium zu verlassen, um mich ganz der Sache der Republik zu ergeben!

Endlich kam der ersehnte Tag, und ich trat in die Welt ein, voll generöser Absichten, Hoffnungen und Illusionen. Ich hatte so viel von der Republik geträumt, daß ich nicht verfehlte, mich in alle Versuche hineinzustürzen, wo ich nur eine Aspiration, einen vagen Wunsch nach der Republik sah, und als Republikaner sah ich zum erstenmal das Innere eines königlichen Gefängnisses.

Später dachte ich mehr nach. Ich studierte Geschichte, die ich aus albernen Handbüchern voll Lügen gelernt hatte, und da sah ich, daß die Republik immer eine Regierung wie jede andere oder eine noch schlechtere gewesen, und daß Ungerechtigkeit und Elend in Republiken wie in Monarchien existierten, und daß das Volk mit Kanonen niedergeschossen wird, wenn es sein Joch abzuschütteln versucht!“ . . .

Er betrachtete nun Amerika, wo die Sklaverei mit der Republik vereinbar war, die Schweiz, wo katholische oder protestantische Pfaffenherrschaft bestanden hatten, Frankreich, wo die Republik durch die Niedermetzelung von 50000 Parisern der Kommune inauguriert wurde usw. Das war nicht die von ihm geträumte Republik, und wenn ältere Leute ihm sagten, in Italien werde die Republik Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Wohlstand hervorbringen, wußte er, daß man all dies auch in Frankreich vorhergesagt hatte, und daß man es immer sagt und verspricht.

Er kam zu dem Schluß, daß das Wesen einer Gesellschaft nicht von Namen und Beiwerk abhängen kann, sondern nur von den wirklichen Beziehungen ihrer Mitglieder unter sich und mit dem ganzen sozialen Organismus. Auf diesem ganzen Gebiet bestand kein wesentlicher Unterschied zwischen Republik und Monarchie. Dies zeigt die Identität ihrer ökonomischen Struktur, indem das Privateigentum die Grundlage des ökonomischen Systems beider ist. Die Geschichte zeigt, daß Volksrechte (in Republiken) daran nichts zu ändern imstande sind. Eine radikale Umwandlung des ökonomischen Systems, die Abschaffung der Tatsache des Privateigentums muß der Ausgangspunkt eines Wechsels sein. Daher stieß ihn die Republik ab, die nur eine der Formen der Regierungen ist, welche alle das bestehende Privileg erhalten und verteidigen, und er wurde Sozialist.

Hieran mögen sich einige Aeußerungen Malatesta’s nach Garibaldis Tod schließen (Garibaldi, E. M. unterzeichnet, im Révolté, Genf, 10. Juni 1882; englisch, mit dem vollen Namen, in der Democratic Review, London, 1882):

„. . . Ich habe lange Zeit Garibaldi und den Garibaldianismus bekämpft und blieb immer deren entschiedener Gegner. Seit ich in die sozialistische Bewegung trat, begegnete ich auf dem Wege der Internationale in Italien diesem Mann, ich sage lieber, diesem Namen, gestützt auf all seinen ungeheuren Ruhm, seine immense Popularität und unbestrittene Charaktergroße. Da er gefährlicher war als andere große Gegner durch seine unbewußt zweideutige Haltung, seine schnell zurückgenommenen oder verfälschten Zustimmungen (zur Internationale oder zum Sozialismus, ist hier gemeint), — so gelangte ich bald zur Ueberzeugung, daß, solange Garibaldi nicht eliminiert sei, der Sozialismus in Italien eine leere humanitäre Phraseologie, eine Verfälschung des wahren Sozialismus bleiben werde — und ich bekämpfte ihn mit dem Bewußtsein, eine Pflicht zu erfüllen, vielleicht selbst mit der Uebertreibung eines Neophyten und eines Mannes aus dem Süden noch dazu. Nun, als ich von seinem Tode hörte, krampfte sich mein Herz zusammen; ich fühlte wieder denselben Schmerz, der mich in meiner frühen Jugend ergriff, als der Tod jener anderen großen italienischen Gestalt, Giuseppe Mazzinis, bekannt wurde, obgleich ich mit Polemik gegen sein Programm beschäftigt war . . .“

Er sagt dort weiter: „. . . Zweiundzwanzig Jahre (heute 62) nach der Expedition von Marsala sind noch ein Papst und ein König in Rom!!! Ich glaube, daß Garibaldi 1860 das Papsttum zerstören und die italienische Republik begründen konnte, und wenn dies zum Bürgerkrieg und zur 1860 hätte eine wahre Revolution werden können, und Italien hätte die Wunder von Frankreich 1792 erneuert. Ich glaube, daß seit jener Zeit Garibaldi mehrere Male Italien von der Monarchie hätte befreien können,, und daß er dies nicht nur nicht tat, sondern lange Zeit als Sicherheitsventil der Monarchie gedient hat. . . (Die Ursache sei die, daß er, im Kriege kühn, in der Politik zaghaft gewesen usw.)

Es wäre leicht, aus anderen Schriften Malatestas vielfache Kritik der republikanischen Richtungen zusammenzustellen, aber er hat, wahrscheinlich in Erinnerung an seine eigene Entwicklung, nie aus dem Auge gelassen, daß die von diesen Richtungen zuerst angezogenen jungen Leute ein ideales Ziel anstreben, das sie dort nicht finden, und daß sie daher vielfach zu einer weiteren freiheitlichen Entwicklung geeignet und geneigt sind; er hat gewiß vielen auf diesem Wege geholfen.

Man kann also wohl sagen, daß der junge Malatesta nie unter den vollen Einfluß einer der erwähnten radikalen Parteien geriet, daß er sich einen eigenen Republikanismus bildete, der von Anfang an den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit einschloß, und daß er dann die dieses Ideal vertretende Partei und Theorie suchte. Die republikanischen Parteien boten dieses Ideal nicht, aber der heroische revolutionäre Sozialismus der Pariser Kommune appellierte sofort an seinen Kopf und sein Herz; in diesen Kämpfern sah er die Vorkämpfer seines Ideals. Kurz, er war, wie auch Bakunin, einer von denjenigen, in denen Freiheitsliebe und Altruismus stark und gleichmäßig entwickelt waren, und die daher schneller als die meisten anderen zu anarchistischen und sozialistischen Ideen gelangen, da diese Ideen in den Umrissen schon in ihrem Bewußtsein zu keimen begonnen haben, bevor sie mit ihren wirklichen Formen und Vertretern bekannt werden.

Charakteristisch scheint mir noch, soweit ich diese Verhältnisse überhaupt richtig beurteilen kann, die augenscheinlich sehr klare, grade, hemmungslose Entwicklung dieses jungen Menschenlebens. Die Irrwege der Religion, der Philosophie, quälerische Zweifel, blieben ihm erspart, auch wohl ungünstiger häuslicher Einfluß, — und der Druck der Schule, nun, der wirkt nur anfeuernd und erweckt die Widerstandskraft. So entstand diese einfache, klare, praktische Auffassung der Dinge, die wir bis heute an ihm bemerken. Sie schließt das Verständnis der Kompliziertheit und Subtilität anderer nicht aus, aber nie wirkte diese auf ihn zurück; es ist ein einfaches, klares, offenes Leben, das wir hier näher betrachten werden.

 

II. Die Anfänge des italienischen Sozialismus und Bakunins Tätigkeit in Italien bis zum Jahre 1867.

 

Vor der Erörterung von Malatestas Eintritt in die sozialistische Bewegung sollen die soziale und ökonomische Entwicklung des geeinigten Italiens von 1859 bis 1870 und das Entstehen und Fortschreiten des Sozialismus in dieser Zeit kurz untersucht werden.

Der politische Triumph der Einigungsbewegung seit 1859 führte zur plötzlichen Verschmelzung früher unabhängiger ökonomischer Einheiten von sehr verschiedener Struktur und Entwicklung, all dies unter der Führung der starken und harten piemontesischen Rasse des Nordens. Dies legte den mehr zurückgebliebenen Teilen große Schwierigkeiten auf, vor allem dem Süden, wo das auf dem Volk seit Jahrhunderten lastende feudale Landsystem und verrottete Zustände im allgemeinen wenigstens schließlich einigermaßen stabile, fossilisierte, patriarchalische Formen angenommen hatten, gemildert durch das Räuberwesen und allseitige Korruption, aber doch frei von dieser schrecklichen Drohung für veraltete Methoden, der Konkurrenz mit kräftigen, modernen, praktischen Produktionsarten und Handelsbetrieb. Die auf sich allein beschränkte Isolierung war jetzt vorüber, und der neue Rhythmus von Arbeit und Verkehr, nach den schnelleren Maßstäben des Nordens und den noch schnelleren internationalen Maßstäben reguliert, war eine schreckliche Enthüllung für den langsam einherschreitenden Süden und viele andere Gegenden. Profitmacherei und Beamtenwirtschaft wurden intensiver, und Korruption und Günstlingswirtschaft entwickelten sich notwendigerweise. Der Advokat und der Abgeordnete wurden die Vermittler zwischen der Zentralregierung und den Lokalinteressen, und viele frühere Revolutionäre verwandelten sich in professionelle Patrioten und Geschäftspolitiker. Die Regierung hatte einerseits ein gewisses Interesse daran, das soziale, intellektuelle und moralische Niveau des Volks zu heben, um die schlummernden legitimistischen Tendenzen zu zerstören, aber sie begrüßte andererseits die Infiltration von Korruption und Profitsucht unter den Mitgliedern der radikalen Parteien, da dies deren revolutionäre Tatkraft untergrub. So hatten also Mazzini, Garibaldi und eine kleine Gruppe anderer aufrichtiger Republikaner, trotz all ihrem Prestige und ihrer Popularität, eigentlich nur angefaulte Parteien von sehr geringer Qualität hinter sich, und all ihre weiteren Bemühungen schlugen infolgedessen fehl. Die Reihen ihrer Anhänger rekrutierten sich beständig von neuem aus der Jugend jeder neuen Generation, auch aus den Arbeitern und einer Anzahl junger und alter Enthusiasten; aber die erwachsenen Männer sahen sich von jetzt ab meist nur um Geschäfte und Profit um.

Das Elend des Volkes war groß und trat manchmal, wie während der sizilianischen Choleraepidemie von 1867, auf beunruhigende und ergreifende Weise vor die Augen aller.

Der Sozialismus war so gut wie unbekannt, aber das Genossenschaftsprinzip hatte weite Anerkennung und praktische Durchführung gefunden. Libertà (Freiheit) und associazione (genossenschaftliche Vereinigung) war Pisacanes Losung gewesen, von ihm in wahrhaft sozialistischem, tatsächlich in anarchistischem Sinne aufgefaßt. Aber die ungeheure Menge der unter den Auspizien von Mazzini und Garibaldi gebildeten Vereinigungen beschränkte sich auf Volksbildung, Unterstützung durch gegenseitigen Kredit und ähnliches, und diese Vereine waren vor allem Zentren der republikanischen Agitation, ein Rekrutierungsfeld für weitergehende revolutionäre Formationen usw., und „Venedig und Rom“ und nicht Freiheit und Brot, nicht einmal die Republik um jeden Preis, waren bis 1870 der vorherrschende Gedanke ihrer wirklichen Führer, Mazzini verbarg übrigens nie seine tiefe Feindseligkeit gegen den Sozialismus; diese Frage wurde verschiedene Male gründlich durchgekämpft, so in seiner Diskussion von 1852 mit Louis Blanc und anderen französisehen Sozialisten der Londoner Proskription. 1871 goß er die ganze Schale seines Zornes gegen die Kommune von Paris und die Internationale aus. 1864 war er zur Teilnahme an der in London neugegründeten Internationale eingeladen worden, aber als sein Pseudosozialismus, der so vielen italienischen Arbeitervereinen bis dahin genügt hatte, von den Londoner Anregern der wirklichen Bewegung als zu seicht befunden wurde, zog er sich mißmutig zurück und sah dann mit bösem Blick auf Bakunins Bemühungen, wirklich revolutionären Sozialismus zu verbreiten, besonders in Neapel und im Süden überhaupt.

Eine kleine Zeitschrift, Il Proletario, herausgegeben von Professor Nicolò Lo Savio (Florenz, 20. August 1865 bis 1. Januar 1866), trat für Kooperation ein, verwarf den Parlamentarismus und hielt sich von patriotischen, d. h. nationalistischen Bestrebungen fern, eine damals in Italien einzige Haltung. Angiolini, dem ich dies entnehme, sagt, daß der Herausgeber Bakunin in Florenz gekannt hatte, wo übrigens Bakunin damals nicht mehr lebte.

Hiervon abgesehen, geschah wirklich nichts für den Sozialismus, bis Bakunin eine kleine Zahl Männer gewann, sich zum Sozialismus zu bekennen. Die späteren Sozialisten der siebziger Jahre waren schon vielfach im öffentlichen Leben, von Fanelli, Pisacanes Genossen im Süden bis zu Bignami und Gnocchi Viani, den ersten legalitären Sozialisten im Norden, aber sie gehörten samt und sonders den nationalistischen Parteien an, d. h. sie waren von der Losung „Venedig und Rom!“ hypnotisiert. Bakunin hatte seine ältesten italienischen Freunde nicht so sehr mit dem Sozialismus bekannt zu machen, den sie im allgemeinen kannten oder leicht in der Theorie akzeptierten, den sie aber immer nationalen Fragen gegenüber in den Hintergrund schoben — er gab ihnen die klare Einsicht in die Unzulänglichkeit der nationalistischen Lösungen oder Heilmittel, und den Mut, diesen Standpunkt dem allmächtigen Nationalismus gegenüber zu vertreten, vor dem sich all ihre Freunde und Genossen beugten.

Dies wäre damals keinem anderen Sozialisten gelungen als Bakunin, der selbst ein Nationalist war und sich für die Slaven, die Polen, die deutsche Revolution von 1849 und die Russen erhoben hatte um den Preis vieljähriger Leiden, die ihn weltbekannt gemacht hatten. Selbst als er zuerst Italien besuchte mit Empfehlungen Mazzinis und Aurelio Saffis an all ihre Freunde und nach einem Besuch bei Garibaldi in Caprera sich in Florenz niederließ (Januar—August 1864), erwartete er noch nationalistische Bewegungen, eine Erhebung in Venetien im Frühjahr, aber er sah doch schon etwas Größeres, eine allgemeine Revolution voraus. So schrieb er am 4. März 1864 an A. Herzen und N. Ogareff, seine alten russischen Freunde in London: . . . „wie Ihr seht, herrscht hier und in ganz Europa schreckliche Verwirrung, keine Frage wird bestimmt und klar gestellt. Ueberall legitime Forderungen und Bewegungen mit einer Zumischung von napoleonischem Gift dabei. Aber die Elektrizität sammelt sich an und erfüllt die Luft — ein Gewitter muß ausbrechen. Mag dies auch erst etwas später geschehen — für mich scheint doch die Ebbe vorüber zu sein, und die Flut beginnt zu steigen.“ Ebenso am 24. April an einen alten Polen in London: „im Westen ist die Ebbe der Reaktion vorüber — die Flut der Revolution hat wieder begönnen.“

Bakunin war bald in den besten Beziehungen mit dem damals populärsten Radikalen von Florenz, Giuseppe Dolfi, einem Bäckermeister, und einige andere wie Berti Calura und Giuseppe Mazzoni (in Prato) schlossen sich seinen allgemeinen Ideen viel enger an und halfen dem Sozialismus in seinen Anfängen. Damals (1864) begann Bakunin eine intime Freundesgruppe zu bilden, die man gewöhnlich eine geheime Gesellschaft nennt. Vom August bis in den Winter hinein reiste er wieder (Stockholm und London) und traf damals Anfang November mit Karl Marx auf dessen Wunsch in London zusammen. Marx emp[f]ahl ihm, der gerade gegründeten Internationale (29. September 1864) in Italien zu helfen, die Inauguraladresse Garibaldi zu schicken, wahrscheinlich auch für eine italienische Uebersetzung derselben zu sorgen usw. In seinem Brief vom 7. Februar 1865 weiß Bakunin wenig Tröstliches über den schnellen Fortschritt dieser Anregungen zu berichten:

. . . „die Mehrzahl der Italiener, durch das vollständige Fiasko und die Fehler der politisch zentralistischen, unitarischen Richtung der Demokratie demoralisiert, ist äußerst skeptisch und blasiert geworden. Folglich kann allein energische und feurige sozialistische Propaganda diesem Land Leben und einen Willen wiedergeben. Dazu aber gehört einige Zeit; denn wir stehen erst am Anfang . . . Eine neue Demokratie muß in Italien gebildet werden, die auf dem absoluten Recht und einzigem Kultus der Arbeit beruht. Die Elemente dazu fehlen nicht; es wimmelt von ihnen, also ist kein Grund zur Verzweiflung, aber Geduld! . . . Mazzini hat ganz und gar unrecht, wenn er noch immer erwartet, daß die Initiative zu einer neuen Bewegung von Italien ausgehen würde. England, Frankreich, vielleicht Deutschland, gewiß aber die beiden ersteren, was Europa betrifft, und das großartige Nordamerika — diese sind das wahre, intellektuelle und effektive Zentrum der Menschheit. Die übrigen werden in ihrem Anhang nachfolgen.“

Während seines zweiten Winters in Florenz (1864—65) arbeitete Bakunin — vielleicht zum erstenmal, wenigstens soweit man auf Grund irgendwelcher dokumentarischer Zeugnisse sprechen kann — eine Darstellung seiner sozialistischen, revolutionären und antireligiösen Ideen aus, um sie einer Freimaurerloge vorzulegen. Er schrieb später in Neapel noch ein größeres Manuskript gleichen Inhalts; dieses ist verloren, man weiß, daß es verbrannt wurde, aber von der Florentiner Arbeit haben sich einige Fragmente als Manuskript erhalten, denen zu entnehmen ist, daß sein „Antitheologisme“ von 1868 und „Gott und der Staat“ von 1871 in diesen Manuskripten von Anfang 1865 einen Vorläufer hatten. Dies beweist, daß seine sozialistische Propaganda in Italien von ihren Anfängen an auf jener unauflöslichen Verbindung der Ideen des Anarchismus, Kollektivismus und Atheismus beruhte wieseine ganze spätere Tätigkeit bis zu seinem Ende.

Im Sommer 1865 reiste er nach dem Süden, über Neapel nach Sorrento, und er blieb dann in Neapel oder in Orten für den Sommeraufenthalt in der Umgebung, bis zum August 1867, seiner Abreise in die Schweiz zum Genfer Friedenskongreß (September). In der Redaktion von G. Aspronis „Popolo d’Italia“ in Neapel und dann durch private Besuche bei ihm lernte er viele junge Neapolitaner kennen, auch Männer etwas reiferen Alters wie Fanelli und Carlo Gambuzzi, die noch die bourbonischen Kerker gekannt hatten. Jetzt wurde endlich eine tätige sozialistische Gruppe gebildet, die, bald als geheimer Kern, bald als öffentliche Gesellschaft, als Herausgebergruppe einer Zeitschrift, dann wieder als der tätigste Teil der Sektion der Internationale wirkend, nie auseinanderging, nie die Waffen streckte — dies ist die Gruppe oder der innere Kern, dem Malatesta begegnete, als er 1871 in die sozialistische Bewegung eintrat.

Deshalb sind die Geschichte und die Publikationen dieser Gruppe und Bakunins diesbezügliche Tätigkeit von hervorragendstem Interesse für die Biographie Malatestas, da seine Ideen, als er als Neuling sich der Bewegung anschloß, von diesem Milieu beeinflußt sein müssen, zu dem er sich eingezogen fühlte, und das er nie wieder verließ, obgleich es durch den Lauf der Jahre um ihn herum aussterben mußte.

Am 19. Juli 1866 schickte Bakunin durch eine Ueberbringerin, die sein größtes Vertrauen genoß, die Fürstin Obolenska, an Herzen und Ogareff in Genf gewisse Dokumente über eine geheime Organisation, das Programm und die Statuten, — ausführliche Manuskripte, die erhalten und in meiner Biographie Bakunins wiedergegeben oder resumiert sind — und schrieb darüber: . . . „Ihr werdet viele unnötige Details finden, aber erinnert Euch, daß ich unter Italienern schreibe, denen leider die sozialen Ideen beinahe unbekannt waren. Ich mußte einen besonderen Kampf führen gegen die sogenannten nationalen Leidenschaften und Ideen, gegen widerwärtige Bourgeoisierhetorik, wie sie Mazzini und Garibaldi mit besonderer Energie betreiben. Nach dreijähriger schwerer Arbeit (1863/4—66) erzielte ich positive Resultate. Wir haben Freunde in Schweden, Norwegen, Dänemark, in England, Belgien, Frankreich, Spanien und Italien; es gibt da Polen, auch einige Russen. In Süditalien geriet der größere Teil der mazzinischen Organisationen, der (geheimen) Falange sacre, in unsere Hände. Ich lege auch ein kurzes Programm unserer italienischen nationalen Organisation bei. In einem Rundschreiben an seine Freunde in Neapel und Sizilien denunziert mich Mazzini formell, wobei er mich nebenbei gesagt nennt: „il mio illustre amico Michele Bakunin“ (mein illustrer Freund M. B.), eine sehr unangenehme Denunziation für mich, weil die mazzinistischen Falange, besonders in Sizilien, viele Regierungsagenten enthalten, und er hätte mich ernstlich kompromittieren können. Zum Glück versteht die Regierung hier noch nichts von der sozialen Bewegung und fürchtet sie nicht, was keine geringe Dummheit bedeutet, da nach dem vollständigen Schiffbruch aller übrigen Parteien, Ideen und Sachen nur eine einzige lebende und mögliche Kraft in Italien übrig bleibt: die soziale Revolution. Das ganze Volk, besonders im Süden, schließt sich uns in Massen an, und es fehlt uns nicht an Material, aber es fehlen gebildete Leute, die aufrichtig sind und fähig, diesem Material eine Form zu geben.“ . . .

Die für die italienische Organisation geltenden kurzen Programme und Statuten liegen als geheime Drucke vor und sind:

Programms della Rivoluzione democratica-sociale italiana (3 S., 8°) und: Società dei legionarj della Rivoluzione sociale italiana. Organico (Statuten) (10 S., 8°).

Dieses erste Programm der italienischen demokratischen und sozialen Revolution verlangt:

„1. Abschaffung des göttlichen Rechts.

  1. Abschaffung des diplomatischen Rechts.

  2. Abschaffung des historischen Rechts.

  3. Verzicht auf jede Idee nationaler Vorherrschaft.

  4. Freiheit des Individuums in der Gemeinde.

  5. Freiheit der Gemeinden und deren freie Föderation in der Provinz und in der Nation.

  6. Abschaffung des gegenwärtigen öffentlichen und privaten Rechts.

  7. Politische Gleichheit aller.

  8. Abschaffung aller an Personen und Sachen geknüpften Privilegien.

  9. Emanzipation der Arbeit vom Kapital.

  10. Einzige Eigentumsform: die Arbeitswerkzeuge für die Arbeitenden, der Grund und Boden für die ihn Bebauenden.

  11. Freie Föderation der Nationen unter sich.

Diese Vorschläge werden einzeln näher entwickelt werden in Rundschreiben des Zentralkomitees.“

Diese Rundschreiben, wenn sie überhaupt geschrieben wurden, sind mir nicht bekannt geworden; dagegen ging von dieser Gruppe ein sehr langes Schriftstück aus, La Situazione italiana (Die Lage in Italien), datiert Oktober 1866 (2 S. Fol. von je 3 Spalten kleinen Drucks). Bakunin muß der wirkliche Verfasser gewesen sein, aber sein grundlegender Text wurde von dem Uebersetzer frei behandelt, amplifiziert und lokalisiert, von Alberto Tucci nämlich, der Bakunin in jener Zeit nahestand. Diese Schrift widerlegt die Ideen von Mazzini und Garibaldi, welche persönlich sehr höflich behandelt werden, deren Lieblingsideen aber auf das schärfste angegriffen und zerfasert werden. Vom Garibaldianismus in seinem Verfall heißt es geradeheraus gesagt: . . . „von der Revolution wurde er zu revolutionärem Militarismus, dann ganz und gar zum Militarismus.“

Einige Auszüge mögen folgen: . . . „Diese Mehrheit (in Italien), die für uns einzig und allein das Volk ist, besitzt keines der Rechte, die der Mittelklasse durch eine Reihe von Erhebungen zuteil wurden; nicht politische Freiheit, weil ihre soziale Lage deren Gebrauch für sie illusorisch macht; nicht gleiche Rechte, weil die tatsächliche Ungleichheit dem widerspricht und es vernichtet; keinen Wohlstand, weil ihre Arbeit vom Kapital aufgesaugt wird, weil sie für die Größe und Einheit des zentralisierten Staates, die der Bourgeoisie nützt, zu zahlen hat; diese Mehrheit hat schließlich weder Ruhm noch Geschichte, weil sie jeden Tag mehr in die Finsternis der Unwissenheit gestürzt wird, durch welche die verlogene Schutzherrschaft der privilegierten Kasten sie von neuem zu betrügen sucht.

In und nach allen Revolutionen geschah für das Volk stets dasselbe: es litt und zahlte“ . . .

. . . „Drei uralte Tyranneien unterdrückten und verdummten das Volk; drei Feinde muß es besiegen, bevor es den Weg zu einer glücklichen Zukunft beschreiten kann: die Kircheden zentralisierten Staat und dessen notwendige Bestandteile (nämlich: Monarchie, Militarismus, Bürokratie) — und die sozialen Privilegien“ . . .

Zum Schluß heißt es: . . . „und jetzt, am Ende, besiegeln wir unser Programm durch die folgende Erklärung:

Wir haben nur den Glauben an die vom Volk für seine positive und vollständige Befreiung gemachte Revolution, an eine Revolution, welche Italien zur freien Republik machen wird, bestehend aus freien, frei unter sich vereinigten Gemeinden in der freien Nation“

Das innere Leben dieser geheimen Gesellschaft erhält einige Aufklärung durch zwei Schriftstücke aus dem Kriegsjahr 1866; eines davon ist eine Antwort aus Palermo (18. Juli 1866) auf ein Rundschreiben von Neapel, durch welches die dortigen der Organisation angehörenden Gesellschaften aufgelöst werden (FF.·.), In nome del C(omitato) C(entrale) della Soc(ietà) Int(ernazionale) R(ivoluzionaria) D(emocratico-) S(ociale) noi vi dichiaramo sciolti da qualunque impegno e da qualunque giuramento fatto) . . .; Ursache ist Verwerfung des Standpunkts von Neapel aus patriotischen Gründen. Damals hatte der Krieg gegen Oesterreich drei der besten Leute der Gesellschaft zur Teilnahme an demselben als Garibaldianische Freiwillige veranlaßt, nämlich Giuseppe Fanelli, Carlo Gambuzzi und Raffaele Mileti, da sie sich durch ihre politische Stellung und militärische Ehre dazu verpflichtet fühlten; — kurz, auch Bakunins Einfluß konnte in diesem Fall diese Männer von einem patriotischen Krieg nicht fernhalten. Nachdem aber einer derselben aus dem Feld, aus Südtirol, über den vollständigen Fehlschlag seiner Bemühungen das Garibaldanische Milieu für die weiteren Ziele der Gesellschaft zu interessieren, berichtet hatte, usw. und die beiden anderen nichts von sich hören, ließen, schrieb die „Junta“ in Neapel einen Brief an sie, in welchem die Lage besprochen und sie zur Rückkehr ermahnt wurden. In diesem Brief, der italienisch geschrieben ist, aber zweifellos von Bakunin inspiriert wurde, begrüßt man den Frieden nach der Räumung von Venetien durch Oesterreich; jetzt würden die Mazzinisten und Garibaldianer nicht länger die Besetzung Italiens durch Fremde als Vorwand für die Vertagung der sozialen Probleme benützen können, und nach den Niederlagen von Custozza und Lissa werde der Militarismus in Italien für immer zerstört sein.

Es wird ferner gesagt: „Ihr mögt den Einwand erheben, daß Tirol und Istrien weiterhin von Italien getrennt bleiben. Aber wie soll man diese beiden Provinzen an Italien annektieren und unter welchem Titel und mit welchem Recht dies verlangen? Etwa im Namen der Freiheit? Gewiß nicht. Im Namen des Willens des Volkes? Dies ist absurd, nachdem sich die Einwohner mit solchem Mut zu Land und zu Wasser geschlagen, nachdem die Tiroler mit ihrer Tapferkeit Garibaldis Prestige gebrochen und zerstört und ihn gezwungen haben, sich durch die Niederbrennung von Molina und S. Lucia zu entehren. Im Namen der Sprache und der natürlichen Grenzen? Dies ist heutzutage unmöglich; denn wie soll dieses Prinzip zur Ausführung gelangen gegenüber der Schweiz, Frankreich und England, welche italienisches Land im Kanton Tessin, in Nizza, in Korsika und in Malta besitzen? Uebrigens hieße dies das Eroberungsprizip sanktionieren und das Prinzip der Freiheit und der Föderation zerstören, was von Dir nicht darf zugegeben werden" . . .

Wie man sieht, hatte Bakunin in jenen Jahren die schwierige Arbeit vor sich, die damals in Italien übliche Gleichstellung von Patriot und Revolutionär zu bekämpfen, eine übrigens fast überall übliche Identifizierung, wie er in einem Briefentwurf vom 6. Januar 1867 (an einen unbekannt gebliebenen Franzosen) bemerkt. . . . „Nur in jenen seltenen historischen Augenblicken, wenn eine Nation wirklich das allgemeine Interesse, das Recht und die Freiheit der gesamten Menschheit vertritt, mag ein Bürger, der sich Patriot nennt, sich gleichzeitig Revolutionär nennen. Solcher Art war die Lage der Franzosen im Jahre 1793 — eine in der Geschichte einzigartige Situation, zu der man vergebens vor und nach dieser Periode eine Parallele sucht.“ . . . Uebrigens kritisiert er sofort die Ideen von 1793 wegen ihres religiösen, antisozialistischen und durch und durch staatlichen Charakters.

. . . „Ein Staat — er sei denn jenes Universalreich, das zuerst die Päpste und Karl V., dann Napoleon und heute einige Russen träumten, nämlich das despotischste und hassenswürdigste Ding auf der Erde, — jeder Staat, sage ich, ist notwendigerweise ein besonderer Staat, der Staat einer einzigen Nation, daher die Negierung der Menschheit, eine Negierung, die der revolutionäre Patriotismus als das höchste Ziel alles Strebens darstellt und die allen anderen Nationen den exklusiven Kult der Größe einer einzigen Nation auflegen würde, — oder es wird dadurch in jeder Nation derselbe exklusive Egoismus, dieselbe Eitelkeit erweckt, und alle werden in ebenso viele isolierte und gegeneinander feindliche Festungen verwandelt, deren jede sich im Innern mit der arroganten Prätention trägt, die ganze Menschheit in sich konzentrieren zu wollen. Dies ist in Wirklichkeit heute (1867) die Lage und Tendenz aller großen Staaten in Europa. Ich könnte sagen, aller Staaten ohne Ausnahme; denn die kleinen Staaten, wie die, welche Deutschland bilden, wie Belgien, Holland, Dänemark, Schweden usw., sind nicht aus Prinzip und Ueberzeugung bescheiden und menschlich, sie sind dies nur aus Ohnmacht. Im Geiste sind sie gierig wie Rußland, Preußen, Frankreich, wie“ . . . (der Briefentwurf bricht hier nach wenigen Worten ab, die erkennen lassen, daß ein mächtiges Italien, eine Mazzinische Republik gemeint ist).

In einem anderen Manuskript (vom Herbst 1869) liest man: . . . „Nirgends läßt sich so gut wie in Italien die Nichtigkeit des alten Prinzips einer ausschließlich politischen Revolution beobachten, und der Verfall der Bourgeoisie, dieser einzigen Vertreterin der Ideen von (17)89 und 93 und dessen, das man noch immer revolutionären Patriotismus nennt. . . . Weniger als fünf Jahre Unabhängigkeit genügten, die Finanzen zu ruinieren, das Land in eine ökonomische Lage zu versetzen, aus der es keinen Ausweg gibt, Industrie und Handel zu töten und, was noch mehr ist, in der Jugend der Mittelklassen jenen Geist heroischer Ergebenheit zu zerstören, der über dreißig Jahre hindurch Mazzinis Tätigkeit als ein mächtiger Hebel diente. Der Triumph der Nationalsache hat, statt alles zu beleben, alles erdrückt. Nicht nur die materielle Prosperität, der Geist selbst war tot. . . . Ich kenne tatsächlich kein Land, in welchem heranwachsende Bourgeois über gegenwärtige Probleme so unwissend und gegen moderne geistige Bewegungen so gleichgültig sind.“ ... Er bespricht den veralteten Zustand der damaligen Universitätsbildung und beschreibt daran die Gier der siegreichen Bourgeoisie, der sogenannten consorteria, die nicht eine Folge der Monarchie ist, sondern eine Folge des Bourgeoissystems, das Crispi, der Führer der Radikalen, der frühere Mazzinist und Garibaldianer, hegt und pflegt.

Von jener Situazione von 1866 erschien noch ein zweites Blatt: La Situazione, 2. (4 S., 4°), als Bakunin schon in der Schweiz lebte. A. Tucci übersetzte im November 1868 die dann in Genf gedruckte Flugschrift. Die soziale Revolution wird hierin besprochen und Bakunins Ideen: ateismo, socialismo, federalismo erklärt; „die Föderation der lokalen Autonomien, als Resultat der sozialen Revolution, auf der einzigen Grundlage frei assoziierter Arbeit“ faßt das Endziel zusammen.

Als Malatesta 1871 in die Bewegung trat, gab es keine anarchistischen Bücher und Broschüren in italienischer Sprache, und die damaligen Zeitschriften trugen einen ziemlich primitiven Charakter. Bakunin selbst war seit 3½ Jahren abgereist; aber ein Teil seiner Genossen aus den Jahren 1865—67 war noch tätig. Diesen war also der Sozialismus als Anarchismus durch die erwähnte geheime oder private Propaganda jener Jahre bekannt geworden; einige lasen auch Proudhon. Außer Mazzinis Pseudosozialismus, in dem nur die Anerkennung des Genossenschaftsprinzips einigen Wert hatte, kannte man keine anderen Varietäten des Sozialismus außer als historische Erinnerungen aus der Saint-Simonisten- und Fourieristenzeit (Montanelli u. a.); auch Pisacanes großes Werk war lange verschollen und aus Piemont kaum in den Süden gelangt. — So war ungefähr die Lage, als 1867 in Neapel die öffentliche Propaganda begann, eine Vorstufe der Gründung der Internationale dort (Anfang 1869), in die dann Malatesta im Frühjahr 1871 eintrat.

 

III. Der Sozialismus in Neapel von 1867—1870.

Anfang 1867 begann die vorgeschrittene Gruppe um Bakunin öffentlich aufzutreten. Es erschien, im Namen der Associazione Liberià e Giustizia (Verein Freiheit und Gerechtigkeit) ein langes Wahlprogramm (Manifesto elettorale, 1 S., fol.), unterzeichnet: Dr. Saverio Friscia, Präsident, Attanasio Dramis, Sekretär u. a. Dies war einfach ein Mittel zur Verbreitung eines Programms von 17 Punkten, die eine populäre Exemplifikation und Verdünnung der in der Situazione Italiana (Oktober 1866) vorgeführten Ideen sind; sie entsprechen auch den 14 Punkten des Programms desselben Vereins (Programma della Società Libertà e Giustizia, mit folgenden Statuten, Statuto, 3 S., 4°, die etwas später erschienen. Der damals (1866) vom Staat konfiszierte Grundbesitz der Kirche sollte den Gemeinden zurückgegeben und von diesen an Landarbeiter verpachtet werden, die nach Möglichkeit freie Genossenschaften bildeten. Abschaffung der staatlichen Bureaukratie, Gemeindeautonomie, Dezentralisation usw. Keine bestimmt sozialistischen Forderungen werden auf gestellt; die Taktik, die man gewählt hatte, um einen ersten Halt an der öffentlichen Meinung zu gewinnen, scheint die gewesen zu sein, theoretische Gegenstände in Unterabteilungen vorzuführen und vorgeschrittene Ideen in der Form einer Reihe von praktischen Maßnahmen zu propagieren. Es sind keine Kandidaten erwähnt. Die übrigen Unterzeichner waren: Carlo Mileti, Giuseppe Fanelli, Carlo Gambuzzi, Antonio Piscopo, Pasquale Cimmino, Francesco Calfapetra, Dr. Raffaele di Serio, Raffaele Mileti, Domenico de Martino, Pier Vincenzo de Luca, Stefano Caporusso, Ferdinando Manes Rossi, Gregorio Mayer.

Die Statuten scheinen Bakunins Hand zu verraten und würden eine große Ausdehnung des Vereins erlaubt haben durch die Affiliation von Organisationen in Italien und im Ausland, welche das Programm annehmen.

Eine Zeitschrift, Libertà e Giustizia, sollte erscheinen; nach einem langen Prospekt (2 S., 4°, Anfang April) erschien sie aber erst im August 1867 und hatte im Februar 1868 oder etwas früher ihr Erscheinen schon eingestellt. Pier Vincenzo de Luca redigierte sie. Leider sah ich nie diese Zeitschrift, in der ein Artikel von Bakunin über den Panslavismus erschien, wie ich auch den Popolo d’Italia (Neapel) nicht sah, in welchem 1865 ein Artikel desselben über Moral erschien, der als älteste gedruckte Aeußerung Bakunins, seit er 1863 aufgehört hatte, über slavische Fragen zu schreiben, von Interesse wäre; gewiß würde man auch andere Personen seines Kreises in dieser Zeitschrift, die übrigens keine sozialistische war, in ihren Anfängen näher beobachten können?

Ohne auf weitere lokale Details einzugehen, führe ich nur noch aus gleichzeitigen Schriftstücken eine Liste von Personen an, denen diese Zeitschrift zugeschickt wurde, da offenbar der ausländische Teil derselben von Bakunin geliefert wurde und neben ihm sonst interessant erscheinenden Personen auch seinen engeren Kreis enthält. Wir finden da (Herbst 1867): Garibaldi, Berti Calura (Florenz), Dr. Giuseppe Mazzoni (Prato), Ludmilla Assing (Florenz), Giorgio Asproni, deputato und Silvio Verratti (Neapel), Giuseppe Dassi (Sorrento), Luigi Bramante (Neapel), Alberto Mario (Florenz), Gaspare Stampa (Mailand), Karl Marx, A. Herzen, Elisée Reclus, Scheurer-Kestner, A. Talandier, Ch. L. Chassin, N. Joukowski, Karl Grün, Wyruboff, A. Naquet, G. Chaudey, César De Paepe, Gustav Vogt, N. Utin, C. F. Marchand (Bern), Accolas, Aristide Rey, Odger, Cremer (London), Haußmann (von der süddeutschen Demokratischen Volkspartei).

Damals trat wieder eine Garibaldische Episode dazwischen, Garibaldis letzter Zug nach Rom, der in Mentana scheiterte. Am 25. Oktober 1867 schrieb Bakunin an Gambuzzi und Fanelli, deren bisheriges Verhalten er billigte: „und jetzt, liebe Freunde, .ist mein Rat der: wenn nicht Garibaldi endlich erkennt, daß er seit 1858 einen falschen Weg ging und von der Empörung, die all die schmutzigen Intriguen um ihn herum in ihm erregen müssen, zum äußersten getrieben sich endlich entschließt, die Fahne der bedingungslosen Revolution zu entfalten, ohne Ausflüchte und Phraseologie — wozu ich ihn nicht für fähig halte — so haltet euch fern und entsagt entschlossen jeder Mitarbeit.“ .... Sein Rat wurde diesmal befolgt und stimmte mit dem schon gefaßten Beschluß seiner Freunde überein.

Einige Wochen vorher hatte E. Gambuzzi im Namen des Vereins Liberià e Giustizia dem Genfer Friedenskongreß, den Bakunin und Garibaldi besuchten, eine fast anarchistische Resolution vorgelegt, das erste öffentliche Auftreten eines Italieners in diesem Sinn. Es wird erklärt, es sei „notwendig, alle privilegierten, monopolistischen und Zwangseinrichtungen umzustürzen, als da sind die offiziellen (aus öffentlichen Mitteln) bezahlten Kirchen, der Staat mit der von ihm abhängigen Plutokratie, und jeder unstatthafte Profit“ . . . ., was wieder eine Umschreibung von Bakunins dreiteiliger Formel jener Jahre ist, die Antitheologismus, Föderalismus, Sozialismus lautet und später als Atheismus, Anarchismus und Kollektivismus präziser gefaßt wird.

Da ich bald Malatestas Anfänge erreichen will, ist es nicht nötig, hier zu untersuchen, warum die Bewegung in Neapel 1868 in der nach Mentana einsetzenden Reaktionszeit etwas zurückging. Uebrigens muß auch die Abwesenheit Bakunins, der, wie ich sagen möchte, durch seine vielfache Tätigkeit für sich allein eine Internationale darstellte, eine ziemliche Wirkung gehabt haben. Als er aber im Herbst 1868 seine ganze Energie der Internationale zu widmen begann, zunächst durch die in Bern auf den Wunsch seiner Freunde (gegen seinen Rat) erfolgte Gründung einer internationalen Organisation, der „Allianz der sozialistischen Demokratie“, welche kollektiv der Internationale beitreten sollte, rührten sich seine italienischen Genossen sofort wieder. Er hatte sogar die ausgezeichnete Idee, Fanelli, einen ernsten, zielbewußten Propagandisten, zu einer Reise nach Spanien zu veranlassen, wo während dieser Reise in Madrid und in Barcelona die Internationale und die Allianz gegründet wurden, die von Anfang an den kollektivistischen Anarchismus akzeptierten; die 1870 konstituierte spanische Föderation der Internationale vertrat stets diese Ideen und deren modernisierte Form und die Hauptmasse der spanischen Arbeiterbewegung geht auf diese glückliche Initiative von 1868 zurück und blieb dem Geist derselben treu. Bakunins persönliche Tätigkeit damals wendete sich Genf zu und dehnte sich bald auf den Schweizer Jura aus; daneben beschäftigte ihn die französische Bewegung, besonders in Paris, Lyon, Marseille, und russische Propaganda (1869, 70), so daß Neapel, wo der Grund ja schon gelegt war, in jenen Jahren für ihn zurücktrat.

Er schrieb im Jahre 1872: „Weder Marx noch der Generalrat der Internationale taten je etwas, um die Organisation und Ideen der Internationale in Italien einzuführen und zu propagieren. Alles, was dort in dieser Hinsicht geschah, ist ausschließlich der energischen und unermüdlichen Tätigkeit der Mitglieder dieser Allianz revolutionärer Sozialisten zuzuschreiben, gegen welche er (Marx) und seine Freunde einen so grausamen Krieg eröffnet haben, weil sie das große Unrecht begeht, alle Regierungssysteme zu verwerfen, selbst sein eigenes. Hiervon abgesehen ist es nur billig, anzuerkennen, daß weit mehr als diese Propaganda der Allianz die Revolution der Commune von Paris das italienische Proletariat aus seiner hundertjährigen Lethargie aufgeweckt hat.“ . . . . Einen dokumentarischen Beweis des ersten Teils dieser Behauptungen bietet ein Brief von Eugène Dupont, einem der Sekretäre des Generalrats, nach Neapel, in dem es heißt: „Seit dem Kongreß von Brüssel (Sept. 1868) erhielten wir keinen Brief von Italien“; datiert

20. Januar 1869. Gerade damals aber, Ende 1868, bildeten sich Allianz und Internationale in Neapel und am 31. Januar konstituierte sich die Sektion Neapel und erklärte sich zur provisorischen Zentralsektion von Italien, was erkennen läßt, das damals keine anderen Sektionen dort bestanden.

400 Mitglieder im März 1869, 1200 im Mai. Ich weiß nicht, ob die beabsichtigte Zeitschrift La Fratellanza erschien; vom 5. November ab erschien jedenfalls L'Eguaglianza (Gleichheit). Im Sommer bestanden schon Fachsektionen, von denen eine, die der Mechaniker, sich von Bakunin auf dem Basler Kongreß der Internationale vertreten ließ (September). Anfang 1870 wird von 3000 lokalen Mitgliedern berichtet. Im Februar aber nahm die Polizei eine Haussuchung vor und der Präsident, der Sekretär und Carlo Gambuzzi blieben sechs Wochen eingesperrt. Die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen ein und die Arbeit wurde nachher nicht mit dem gleichen Eifer wieder aufgenommen, die Bewegung ging zurück, aber es blieb ein kleiner engerer Kreis von Arbeitern zusammen, keine Sektion mehr, keine Korrespondenz. (Diese Einzelheiten notierte ich im August 1892 schon nach Malatestas mündlicher Darstellung; übrigens mag über all das ein von Carmelo Palladino im Juli 1871 an den Londoner Generalrat geschickter ausführlicher Bericht volle Auskunft geben, der sich gewiß unter den Papieren des Generalrats befindet, deren Herausgabe für die Wiener Anton-Menger-Stiftung 1914 nahe bevorzustehen schien, bis jetzt leider nicht erfolgte, aber nicht ganz aufgegeben zu sein scheint.

Hier schließt diese lange Vorgeschichte, welche denen nicht unwillkommen sein kann, die wirklich Malatestas Persönlichkeit, Taten und Ideen verstehen wollen. Die jetzige Generation von Lesern stellt sich leicht vor, daß sozialistische Bewegungen seit geraumer Zeit immer existierten und kann sich nicht gleich vor Augen halten, daß noch jemand unter uns vorhanden ist, voll Leben und Tätigkeitsdrang wie ein Junger, der beinahe die ersten Anfänge und jedenfalls die erste größere Entfaltung des Sozialismus in seiner Heimat sah und von seiner ersten Jugend an bis heute tatkräftig förderte. Diese Anfänge aber sind ziemlich eigentümlich und einzig, weil nirgends in diesem Grade die durch frühere politische Revolutionen erweckten und geübten Kräfte — ein Teil derselben natürlich nur — und die aufwachenden Volksmassen in so enge Berührung gebracht wurden, aus denen sich lange, eifrige Zusammenarbeit ergab, wie im damaligen Italien. Dies gab der Geschichte der italienischen Internationale einen abenteuerlichen, romantischen Charakter und hatte auch starken Einfluß auf den weiter zurückliegenden Teil von Malatestas öffentlichem Leben.

 

IV. Malatesta und die Internationale in Neapel, Frühjahr 1871 bis Sommer 1872.

In Angiolinis Geschichte des italienischen Sozialismus (1900), einer indifferenten Kompilation aus Quellen verschiedensten Wertes, heißt es, daß Malatesta 1870 als Student der Medizin „bei einem Auflauf in Neapel verhaftet, zum erstenmal verurteilt und von der Universität für ein Jahr relegiert wurde, und daß die Zwischenfälle seines Lebens ihn seitdem hinderten, seine Studien wieder aufzunehmen“.

Näheres ist mir nicht bekannt. Es wurde mir gesagt, daß sich in jenen Jahren häufig nach Studentenversammlungen, die über etwas Klage führten, Straßenumzüge bildeten, die vor Regierungs- und Universitätsgebäuden demonstrierten, was dann zu polizeilichen Verhaftungen und zu Relegationen für längere oder kürzere Zeit führte. Nichts ist wahrscheinlicher, als daß der junge Republikaner Malatesta bei solchen Anlässen nicht zurückblieb und sich exponierte, bis ihn eine solche Maßregelung traf. Ebenso zeigt sein Leben von 1871 bis 1877 und auch später, daß eine ruhige Zwischenzeit zur Wiederaufnahme der Studien sich nie für ihn ergab. Ich habe nicht nachgeforscht, ob seine Familie hierzu irgendwie Stellung zu nehmen hatte; ich kann nur sagen, daß sein Privatleben die Oeffentlichkeit nie beschäftigte. Ich glaube, daß ihm materielle Angelegenheiten ganz gleichgültig waren, nicht in dem Sinn, als sei er weltentrückt, vergeistigt und derartiges — er ist der vernünftigste, praktischste Mann — sondern weil wirklich Reichtum, eine Karriere, selbst einfaches Nichtstun keine Anziehungskraft für ihn hatten; er war immer hinreichend gewandt und geschickt, um gegebenenfalls durch Arbeit das bischen zu verdienen, das er für seine frugale Lebensweise brauchte. Die Anklageschrift von 1877 nennt ihn, ich weiß nicht mit welchem Recht, Chemiker; er ist jedenfalls Mechaniker, Elektriker, und legte früher die Hand an andere Arbeit. Dreierlei war er nie — bezahlter Politiker, bezahlter Journalist und bezahlter Angestellter von Arbeitsorganisationen, aber er hat Schiffe ausgeladen, sich um die gröbste Arbeit im Baugewerbe umgesehen usw. Es konnte sich nicht leicht jemand vom gewöhnlichen, sogenannten bürgerlichen Leben so absolut fernhalten, wie er, ohne daß man im geringsten eine Weltfremdheit, eine Unbekanntschaft mit etwas Wissenswertem an ihm wahrgenommen hätte. Daher war das Aufgeben der formalen Universitätsstudien ohne Bedeutung für ihn, seine geistige Weiterbildung schritt ruhig weiter. Er gab von nun ab einfach all seine Energie und Zeit für die Sache, durch nichts zurückgehalten, und sein unscheinbares privates Leben braucht uns nicht weiter zu beschäftigen.

Während der Kommune von Paris (März—Mai 1871) machte der junge republikanische Student in einem Cafe in Neapel die Bekanntschaft von Carmelo Palladino, Mitglied der internationalen Sektion, einem ganz jungen Advokaten, der, als er das Interesse des jungen Mannes für den Sozialismus sah, ihn bei Seite nahm und näher in die Ideen einführte. Malatesta schloß sich dann mit einigen seiner Freunde der Arbeitergruppe an, welche die frühere Sektion seit 1870 fortsetzte; die Sektion wurde bald wieder ins Leben gerufen und die öffentliche Agitation begann wieder.

Die Genauigkeit dieser Mitteilung Malatestas an mich wird mitbestätigt durch einen Brief Carmelo Palladinos an die Genfer Solidarité vom 11. Mai 1871, den ich 1893 unter den von N. Joukowski aufgehobenen Briefen fand; Palladino bestellt vier Exemplare der Zeitschrift, die an die Studenten Errico Malatesta, Pietro Gatti, Berardino D’Eramo und an ihn selbst geschickt werden sollten. La Solidarité (Genf) sollte James Guillaumes Solidarité (Neuchâtel, 1870) ersetzen, die im September unterdrückt worden war; nur vier Nummern erschienen (28. März bis 12. Mai 1871). Die Spaltung zwischen Anarchisten und politischen Sozialisten hatte in der Schweizer Internationale bereits stattgefunden (April 1870) und die zweite Solidarité, obgleich nicht ganz befriedigend redigiert, vertrat natürlich die antiautoritäre Richtung. Ihr folgte eine von der Genfer La Révolution sociale, die mehr den Kommune-Standpunkt vertrat, nicht völlig ausgefüllte Lücke, bis im Februar 1872 das Bulletin der Juraföderation in kleinstem Umfang autographiert, zu erscheinen begann. Inzwischen war der Standpunkt dieser Richtung durch das Zirkular von Sonvillier (November 1871) weithin bekannt geworden. Es hat sein Interesse, all dies zu erwähnen, weil es die sehr geringen Möglichkeiten, sich damals über diese Fragen und die Bewegung zu unterrichten kennzeichnet. Schrieb doch Bakunin selbst am 4. Juli 1870 an C. Gambuzzi: „Gibt es noch eine Sektion in Neapel? In welchem Zustand befindet sie sich? Ist sie nicht etwa ganz in die Hände von Intriganten gefallen?“ .... Bakunin, der im April 1870 kurze Zeit in Mailand gewesen, erneuerte seine Bekanntschaft mit Italien gelegentlich seiner Anwesenheit in Florenz (20. März bis 2. April 1871), wo er seine toskanischen Freunde Berti Calura und Mazzoni und seine Freunde aus dem Süden, Fanelli, Gambuzzi und Friscia (Sizilien) sah; er schrieb damals ein „Programm“, über das nichts näheres bekannt ist, also auch nicht, ob es sich überhaupt auf Italien bezieht. Die Sektion Neapel spielte damals keine Rolle, obgleich es dann bald Palladino, der seit 1869 sehr tätig gewesen und Bakunin damals persönlich nicht kannte, mit Malatesta gelang, sie zu reorganisieren.

Ich weiß wenig von Palladino, der sich einige Zeit später in seiner Heimat, in Cagnano Varano in der entlegenen Monte Gargano-Gegend niederließ, wo er viele Jahre später einen tragischen Tod fand. Er besuchte Ende 1872 Bakunin in Locarno, zugleich mit Cafiero, und kam dorthin auch 1874 nach dem Fehlschlag der italienischen Insurrektion jenes Sommers. Malatesta sprach stets mit Achtung und Sympathie von ihm[3]), beide zusammen gewannen augenscheinlich die Sektion Neapel dauernd für die freiheitliche Richtung und wußten auch Carlo Cafiero für dieselbe zu gewinnen, was für die Bewegung von größter Bedeutung war.

Denn — wie Malatesta erzählte — kam nicht lange darauf Cafiero aus London nach Neapel als Londoner Mitglied der Internationale, dem vom Generalrat gewisse Vollmachten für Neapel gegeben worden waren; er sollte nämlich dort eine Sektion gründen und war erstaunt, die verschollene Sektion in neuer Blüte zu finden. Unter diesen Umständen empfing man ihn etwas kühl, aber in ein oder zwei Monaten überzeugte er sich selbst, daß die Sektion im Recht war und schrieb in diesem Sinn nach London, was in die Beziehungen zum Generalrat schon damals eine Spannung brachte.

Carlo Cafiero war 1846 in Barletta (Apulien) geboren, Sohn einer reichen und reaktionären lokalen Familie; nach einer klerikalen Erziehung und den ersten Stufen einer Ausbildung für den diplomatischen Dienst verzichtete er auf diese Karriere; es blieb ihm eine gewisse mystische Stimmung, der eine tiefe Sehnsucht nach altruistischer, selbst asketischer Betätigung zugrunde lag. Unter diesen Verhältnissen erweckte seine zufällige Anwesenheit bei einer großen Londoner Arbeiterversammlung sein Interesse für die Internationale und Marx und besonders Engels, der damals Italien und Spanien zum Marxismus bekehren lassen wollte durch Bignami, Cafiero, Lafargue, dann Mesa, Iglesias und einige andere, — beide taten was sie konnten, um in Cafiero einen Mann zu gewinnen, der Bakunins Einfluß in Italien ausrotten würde. Cafiero war jeder Sache, der er sich annahm, grenzenlos ergeben, hatte eine etwas kapriziöse Mentalität und war schwer zu behandeln. Fanelli, Gambuzzi, Tucci diskutierten mit ihm, aber das meiste soll Malatesta erreicht haben, wie jung er auch war, vielleicht weil Cafiero in ihm mehr als in den anderen einen wirklich zur Tat entschlossenen Mann sehen mußte, wie die Ereignisse von 1874 und 1877 zeigten. Den letzten Schritt zur Gewinnung von Cafieros vollster Solidarität tat Bakunin selbst 1872.

Einstweilen wurde die Sektion durch Regierungsdekret am 20. August 1871 aufgelöst; Haussuchungen bei Giustiniani (Präsident), Schettino (Sekretär), Gambuzzi, Palladino und Cafiero. Briefe aus London wurden Cafieros Mutter durch körperliche Untersuchung abgenommen; Cafiero wurde verhaftet.

Damals hatte die Internationale kein Organ, aber junge Leute (Rizzi, Bramanti, Palladino, Leoncavallo, Eugenio Paganelli werden genannt) schrieben in lebhaften kleinen Blättern wie L’Internazionale und Il Motto d’Ordine, die keine eigentlichen Propagandazeitschriften waren. Der innere Kern der Sektion blieb natürlich erhalten und nach einiger Zeit wurde die Sektion neugebildet; ihr Organ, La Campana (Die Glocke), 7. Januar 1872, kündigt die Gründung der Federazione Operaia Napoletana an.

Albetto Tucci (für die Sektion Neapel) und Cafiero (für die von Girgenti, Sizilien) besuchten den am 14. August 1871 von der mazzinistischen Partei für den 1. November nach Rom einberufenen Kongreß der Arbeitervereine, bei welchem Anlaß Bakunin eine lange Adresse an die italienischen Arbeiter schrieb, von der eine teilweise U[e]bersetzung, Agli operai delegati al Congresso di Roma, unterzeichnet Un gruppo d’Internazionali in Neapel geheim gedruckt wurde (15 S., 8°). Nach Darlegung ihres Standpunktes verließen Tucci und Cafiero den ganz im üblichen mazzinistischen Fahrwasser segelnden Kongreß, auf dem sich nur ein Delegierter aus Livorno ihnen angeschlossen hatte.

Die Campana war, nach Libertà e Giustizia, das erste wirklich tüchtige Arbeiterblatt in Neapel. Es wurde hauptsächlich von A. Tucci redigiert unter Mithilfe älterer, wie Gambuzzi und Palladino, von Cafiero und Malatesta, und den 1871 in die Bewegung getretenen jungen Leuten. Auch Dr. S. Friscia (in Sciacca, Sizilien) schrieb bemerkenswerte Artikel. Alberto Tucci war 1865—1868 Bakunin sehr nahe gestanden, war ihm aber durch die Zerwürfnisse in dem Kreis von Vevey Anfang 1869 persönlich entfremdet. Dieser Umstand vielleicht und Cafieros noch reservierte Haltung mögen bewirkt haben, daß die Campana zuerst eine etwas unentschiedene Stellung dem Londoner Generalrat gegenüber einnahm, gegen welchen der Kongreß von Sonvillier (im Jura, November 1871) durch ein Zirkular so lebhafte Klagen erhoben hatte, die auch die Sektion Neapel durch einen Brief von Palladino zu den ihren machte, zur Bestürzung von Engels, der nun an Cafiero zu verzweifeln beginnt.

Manchmal scheint die Campana sehr lebhaft oder drastisch geschrieben zu haben, was Garibaldi mißfiel. Bakunin verteidigt das Blatt in dieser Hinsicht in einem Brief an Celso Cerretti (Ende März 1872), in dem er sagt: . . . „Ich fand dort in der Tat sehr bemerkenswerte Artikel, die mit Talent und Geist geschrieben sind. Es ist evident, daß die jungen Leute, die das Blatt herausgeben, warm und aufrichtig überzeugt sind. Sie legen zweifellos viel Leidenschaft hinein . . . . aber Santo Diavolo! (Heiliger Teufel!), wie man in Neapel sagte, seit wann ist leidenschaftlicher und warmer Eifer ein Fehler bei jungen Leuten? Sie bekennen sich zu einigen Ideen, die Ihnen nicht gefallen; gut, bekämpft sie, stellt ihnen andere Ideen entgegen, aber um Himmelswillen, laßt ihnen diese heilige Gedankenfreiheit, die nicht, ein Monopol unseres Freundes, des Herrn Stefanoni (der damals bekannteste italienische Freidenker) sein darf, der, nebenbei bemerkt, sie reichlich benutzt, um die Internationale von einem Bourgeoisstandpunkt aus zu verleumden.“

Schließlich besuchte Cafiero mit Fanelli Bakunin in Locarno und blieb dort vom 20. Mai bis 18. Juni 1872. In den kurzen Eintragungen in Bakunins Tagebuch lesen wir z. B.: 21. Mai. Den ganzen Tag mit Fanelli und Cafiero, eine gut abgeschlossene Allianz. Am 24. Mai wird Cafiero schon Armando genannt (solche Namen wurden in der Korrespondenz gebracht); Organisationsplan festgelegt; 28. Mai Briefe an Friscia, an Carmelo (Palladino); 31. Mai Gregorio (noch ein Name für Cafiero) liest den Anfang seines Briefes an Engels.

1. Juni: Bakunin schickt durch Cafiero einen Brief an Malatesta (dieser wird hier in den für 1871 und 1872 erhaltenen Tagebüchern und sonstigem Briefmaterial Bakunins von ihm zum erstenmal genannt, soviel mir bekannt ist); 3. Juni: Cafiero liest seinen ganzen Brief an Engels vor; 11. Juni: Ein Brief von Engels an Cafiero wird an James Guillaume geschickt, am 12. Juni auch Cafieros Brief an Engels. Fanelli, der längst wieder abgereist war, kommt am 15. Juni und reist am 18. Juni mit Cafiero nach Mailand ab.

Nach mehrfachem Briefwechsel trifft Cafiero Bakunin wieder im Jura und in Zürich (18.—30. August) und reist dann zum Haager Kongreße der Internationale ab, aber nicht um an demselben teilzunehmen, ein Vorgang, den er nunmehr ganz verwarf. Er hatte sich jetzt Bakunins; Ideen vollständig angeschlossen und sein Brief an Engels bedeutete seinen Bruch mit diesem und der im Generalrat dominierenden autoritären Partei.

Man wird sich vorstellen, daß Malatesta, der direkt zur Anarchie gelangte und nicht einen Augenblick Cafieros anfängliche Bedenken geteilt hatte, all diesen Vorgängen mit steigendem Interesse folgte; seine weitere Tätigkeit in jenen fünfzehn Monaten von der Kommune zur Gründung der italienischen Föderation im August 1872 ist uns unbekannt und all seine tägliche Propagandaarbeit, Vorträge, Artikel, vielleicht Reisen zur Gründung neuer Sektionen, lassen sich vorläufig nicht näher beschreiben. Nur kann aus dem Bakuninmaterial und anderen Quellen die negative Behauptung ziemlich sicher aufgestellt werden, daß andere wichtige Ereignisse in seinem Leben damals wohl nicht stattfanden. In jener Zeit hatte die Internationale ihre letzte fast ungestörte Gelegenheit, sich lokal und distriktweise zu begründen, worauf natürlich die Zusammenfassung, die Föderation, begann. Der Vorsprung Neapels, durch Bakunins frühe Tätigkeit dort, wurde nicht ganz bewahrt, und andere Gegenden mit zahlreicheren Städten und einer vorgeschritteneren Bevölkerung, die Romagna besonders, traten an die erste Stelle. Dies war natürlich nicht Malatestas Schuld, der vielmehr, wie wir sahen, beinahe sofort der Sektion Neapel neues jugendliches Leben eingeflößt und der ebenso bei der Gewinnung Cafieros Takt und Fähigkeit gezeigt hatte.

Ueberall in Italien erblühte damals die Internationale, wie wir im folgenden sehen werden.

 

V. Bakunin und Mazzini; die italienische Internationale von 1871 bis zum August 1872 (Konferenz von Rimini).

Malatesta trat also auf seine eigene Weise in die Bewegung ein, unter dem Eindruck der Pariser Revolution und durch das Zusammentreffen mit einem intelligenten Propagandisten, Palladino, der dem zuerst von Bakunin geschaffenen Neapler sozialistischen Milieu angehörte. Die meisten übrigen italienischen Internationalisten traten der Bewegung auch 1871 bei, aber etwas später, erschüttert durch die furchtbare Repression nach dem Fall der Kommune und voll von Entrüstung gegen Mazzinis Haltung, der nicht nur die Kommune verurteilte, sondern dies für den richtigen Moment hielt, über die Internationale und den Sozialismus im allgemeinen den Bann zu verhängen und sie zu insultieren. Viele, die ihn bis dahin geradezu vergöttert hatten, verließen ihn darauf mit Abscheu. Garibaldi benahm sich korrekt und schrieb edelmütige Worte, so, als er die Internationale die Sonne der Zukunft nannte usw. Aber seine Unzulänglichkeit in politischen und sozialen Angelegenheiten machte sich immer mehr fühlbar, und viele seiner Anhänger verließen ihn auf freundliche Weise und wendeten sich fortan der aufblühenden Internationale zu; einige, wie Celso Cerretti, gehörten beiden Lagern an, besaßen das intime Vertrauen von Garibaldi und Silvio, wie das italienische Pseudonym Bakunins in jenen Jahren lautete. Es führten immer einige unsichtbare Fäden von Bakunin zu Garibaldi, da ersterer, obgleich selbst skeptisch, es doch nie für recht hielt, die moralische Unterstützung wegzustoßen, die Garibaldi, ohne Unterschiede zu machen, allen vorgeschrittenen Sachen gab; zwischen Bakunin und Mazzini bestand dagegen tödliche Feindschaft. In dieser Sache erhob Bakunin 1871 seine Stimme, und die revolutionäre Jugend Italiens wendete ihm ihre Blicke zu, und die Internationale war bald fest begründet.

Wer sich über Mazzinis Haltung 1871 wunderte, kannte seine Vergangenheit schlecht. Er hatte vierzig Jahre vorher seine unabhängige politische Aktion dadurch begonnen, daß er sich vom Carbonarismus trennte und die Junges-Italien- und Junges-Europa-Bewegungen ins Leben rief. Ich meine hier weder den neapolitanischen Carbonarismus noch die Charbonnerie Frankreichs mit Bazard, Lafayette, Manuel usw., sondern die einer etwas späteren Zeit, die Charbonnerie democratique universelle vom Anfang der dreißiger Jahre, deren Häupter Buonarroti, Voyer d'Argenson, Charles Teste und andere waren. Diese Männer hatten in den Augen Mazzinis und vieler anderer darin unrecht, daß sie einen blinden Glauben an die Hegemonie Frankreichs hegten, was damals, kaum zwanzig Jahre nach der Beherrschung Europas durch Napoleon, nicht überall den gleichen Sympathien begegnete. Ihr intimster Wunsch war übrigens die allgemeine Durchführung der Ideen von Babeuf oder wenigstens der Ideen der besten Tage von 1793, und sie waren die Internationale ihrer Zeit, eine ultraautoritäre, aber doch eine sozialistische und antikapitalistische Organisation. Mazzini fühlte sich instinktiv zurückgestoßen und erhob gegen sie die Fahne des Nationalismus. Dadurch wurde er sofort mit dem Kapitalismus solidarisch, und wir sehen, wie er in einem 1861 geschriebenen Rückblick beinahe naiv klagt, daß Buonarroti mit bitterem Hohn von seiner Verbindung mit den banchieri sprach, den reichen lombardischen Bankiers und Patriziern. Denn jeder junge nationale Staat will reich und mächtig werden, um sich zu behaupten und auszudehnen; daher werden die Patrioten und Revolutionäre, die ihn gründeten, seine herrschende politische Klasse und seine Bureaukratie, der Kapitalismus wird gefördert, und das Volk schmachtet in einem Zustand härterer Ausbeutung als je und, wenn irgend möglich, im weiteren Bann nationalistischer Ideen, um eine Politik weiterer Expansion vorzubereiten und zu unterstützen. Wenn der Sozialismus mehr als ein leeres Wort sein soll, so muß er sich dieser Opferung des Volkes zugunsten des Ruhmes und der Expansion eines Nationalstaates entgegenstellen, die für den Kapitalismus so profitabel und willkommen ist. Daher mußte Mazzini, vom stärksten Pflichtgefühl für seinen nationalistischen Fetisch getrieben, den Sozialismus überall bekämpfen, und er erhielt seine Anhänger im Volk im Zustand gesegneter Unwissenheit über denselben.

Dies trieb er zu arg in der Roma del Popolo (von G. Petroni redigiert, 9. Februar 1871 bis 21. März 1872), die — wie Saffi 1875 sagte — besonders zum Zwecke solcher Polemik gegründet worden war, so in den Artikeln Il Comune di Francia (26. April), Sul Manifesto del Comune Parigino (3. Mai), All’ „Internazionale“ di Napoli (24. Mai, gegen die Zeitschrift dieses Namens, welche gegen den ersten dieser Artikel am 1. Mai protestiert hatte, so daß auch der Widerstand gegen Mazzini von Neapel ausging; vielleicht regte gerade derartiges Malatesta an, sich Palladino zu nähern?); ferner Il Comune e l’ Assemblea (7.—28. Juni; als Broschüre verbreitet) und am 13. Juli Agli Operai Italiani (an die italienischen Arbeiter) mit heftigen Angriffen gegen die Internationale. Am 10. August denunzierte er Bakunins „systematische Apologie des Bürgerkrieges als Kräftigungsmittel für Nationen; derselbe sei immer, sage derselbe, der Erweckung der Initiative des Volkes günstig“, — als ob er, Mazzini, der sein Leben lang nationalistische Kriege schürte, je die leiseste Sympathie für Frieden gehabt hätte! Weitere Artikel folgen (L’ Internazioriale, Cenno storico und Documenti sull Internazionale, September und November—Dezember 1871), und nur sein Tod (10. März 1872) brach diese wütende Campagne gegen den aufstrebenden Sozialismus ab.

Bakunin in Locarno sah den Artikel vom 13. Juli 1871 erst elf Tage später. Er ließ seine damaligen Arbeiten sofort liegen, eine Verteidigung der Kommune und eine Geschichte der Genfer Alliance-section den Angriffen der lokalen Genfer Gegner und des feindlichen Generalrats gegenüber, und schrieb vom 25.—28. Juli die wunderbare Risposta d’ un Internazionale a Giuseppe Mazzini (Antwort eines Internationalisten an G. M.) per M. Bakounine, membro dell’ Associazione internazionale dei Lavoratori, zuerst als Supplement zum Mailänder Gazzettino Rosa erschienen (14. August; 32 S., 8°); die Uebersetzung besorgte sein Tessiner Freund Emilio Bellerio, Sohn des alten lombardischen Verbannten Carlo Bellerio. Die Brüssler Liberté brachte den französischen Originaltext (18., 19. August) und die Federacion von Barcelona eine spanische Uebersetzung (27. August). Man findet diese Schrift jetzt im sechsten Band der französischen Ausgabe seiner Werke (Oeuvres, t. VI, Paris, 1913), nebst einer weiteren Polemik vom September—Oktober 1871 und der für den mazzinistischen Kongreß in Rom (1. November) bestimmten Schrift. Letztere (Agli Operai delegati al Congresso di Roma) war in Neapel von Palladino übersetzt und nur unter den Delegierten, nicht sonst, verbreitet worden. Mazzini erwähnt sie in seiner Zeitschrift am 16. November als „geheimgedruckt“ von „mehreren Internationalisten“, die aber „sich auf einen einzigen belaufen, den ich kenne“ (Bakunin). Die übrigen Schriften Bakunins in dieser Angelegenheit sollten in dem von James Guillaume abgeschlossen hinterlassenen VII. Band der „Werke“ erscheinen, dessen Herausgabe in Paris vorbereitet wird. Dazu gehört in erster Linie La Theologie politique de Mazzini et l’Association internationale des Travailleurs (M.’s politische Theologie und die Internationale) (Neuchâtel, 1871, 111 S., 8°); viele andere handschriftliche Entwürfe sind vorhanden, aber dringendere Arbeiten kamen wieder dazwischen, und das Erschienene hatte vollauf den Zweck erfüllt, Mazzini ein für allemal der italienischen sozialistischen öffentlichen Meinung im wahren Licht zu zeigen, und es folgte nun die nächste Aufgabe, die Früchte dieser Campagne reifen zu lassen, das heißt, die sozialistische Erziehung der vielen zu fördern, die sich jetzt Bakunin zuwendeten mit dem dringenden Wunsch, für den Sozialismus zu wirken und die Internationale fest zu begründen.

Leider kann ich keine Auszüge aus den erwähnten Schriften und Handschriften geben, die lesenswert wären, da sich durch ein Zusammenwirken von Verhältnissen Bakunin gerade damals auf der Höhe der Durchdenkung und des Durcharbeitens seiner Ideen befand. Er hatte seit Jahren gewünscht, seine Ideen und deren Begründung in einem größeren Werk niederzulegen, aber er hatte stets diesen kleinen literarischen Ehrgeiz unterdrückt und große Manuskripte beiseite gelegt, sobald nur die unmittelbare Propaganda und Aktion seine Zeit in Anspruch nahmen; wenige Verfasser waren so selbstentsagend wie er. Als nach dem Fehlschlag der revolutionären Unternehmungen in Lyon und in Marseille (September—Oktober 1870) ihm nichts übrig blieb, als über Genua in die Schweiz zu flüchten, gab er den aktuellen politischen Schriften, die er im August begonnen, allmählich eine mehr theoretische, forschende und verallgemeinernde Richtung, und es entstand jener Teil, aus dem 1882 von Elisée Reclus und Cafiero ein mit wunderbar glücklichem Griff ausgewähltes Bruchstück als „Gott und der Staat“ (Dieu et l’Etat) herausgegeben wurde. Aber er ließ all dies liegen und reiste nach Florenz, dann, um der Pariser Kommune näher zu sein und mit dem Plan, ihr zu helfen, in den Schweizer Jura. Zurückgekehrt begann er die bereits erwähnten Schriften (Kommune und Alliance), und jetz kreuzt Mazzini seinen Weg, ein Mann, in welchem all das, was Bakunin bekämpft, der religiöse, staatliche, nationalistische, antisozialistische Gedanke, vereint war mit einem hohen moralischen Niveau, glänzendem Talent und aufrichtiger Uneigennützigkeit. Mit Mazzini und mit Marx, dem Materialist und Revolutionär, aber auch dem Hauptvertreter des autoritären Sozialismus, hatte Bakunin lange gewünscht, literarisch zu kämpfen; aber Marx zog vor, ihn auf bösartige und hinterhältige persönliche Art zu bekämpfen, die nie ein literarisches Niveau erreichte. Mazzini aber, — der 1869 einen ähnlichen Wunsch gehegt hatte, eine theoretische Abrechnung mit all seinen Gegnern zu schreiben[4]) — war 1871—72 seinem Tode so nahe, das dies erklären mag, warum es zu einer direkten Auseinandersetzung mit Bakunin nicht mehr kam, die ihm der Fortschritt der Internationale in Italien sonst vielleicht als notwendig hätte erscheinen lassen.

Kurze Reisen zu anderen Zwecken nach Mailand (April 1870) und Florenz (April 1871) erneuerten die alten toskanischen Beziehungen und knüpften neue an mit Leuten, die nur zeitweilige oder laue Anhänger oder künftige Gegner waren (G. Stampa, A. Bizzoni, E. Bignami). Doch waren diese Mailänder Beziehungen für die schnelle Veröffentlichung der Antwort an Mazzini im Gazzettino Rosa nützlich, und bald reiste der junge Vincenzo Pezza nach Locarno (15. Oktober), und Bakunin notiert: „vollständige Entente“, was die Zuziehung Pezzas in den engsten italienischen Kreis bedeutet. Einen Monat früher hatten die Turiner Beziehungen begonnen (6. Sept.), aber hier erscheint neben dem Garibaldischen Offizier Perrucca sehr bald der Spitzel Terzaghi und belästigt Bakunin, der seine Provokationen für krankhafte Symptome hielt und ihn sehr schnell gänzlich abschüttelte, während die italienische Bewegung sehr lange von ihm zu leiden hatte, vor und nach seiner Entlarvung. Durch Perrucca aber wurde Bakunin mit Celso Cerretti bekannt, einem anderen erfahrenen Garibaldianer (zuerst am 8. November erwähnt). Durch ihn verständigt sich Bakunin, wenn notwendig, mit Garibaldi. Ebenso beginnen nun die sehr wichtigen Verbindungen mit der Romagna (Erminio Pescatori, von Bologna, 30. November; Ludovico Nabruzzi, von Ravenna, 16. Dezember). Der erste Brief von Carmelo Polladino, Neapel, wird am 26. September notiert; Friscia schreibt aus Sizilien. Einige andere Namen finden sich noch, die auch Malatestas ausgezeichnetes Gedächtnis nicht weiter erklären konnte, doch genügt das Angeführte, um zu zeigen, daß Bakunin nun in häufigem Briefwechsel und mehrfachem persönlichen Kontakt mit den tätigsten Internationalisten der Lombardei, Piemonts, der Romagna, Toskanas und von Neapel und Sizilien stand.

Die Lage in der Internationale und in all diesen lokalen Bewegungen war eigentümlich kompliziert und kann hier nur kurz zusammengefaßt werden. Der von Marx und Engels geführte Generalrat hatte schon ein willkürliches Regime begonnen, indem er den öffentlichen Kongreß 1871 durch eine private Konferenz in London ersetzte und auf diese Weise gewisse dem Marxschen Sozialismus eigene Ideen, besonders die Notwendigkeit der politischen Tätigkeit, obligatorisch zu machen versuchte, wobei politische Tätigkeit in der Praxis Wählen und parlamentarische Taktik, die Reduzierung des Sozialismus auf die Sozialdemokratie bedeutete. Hiergegen hatten die Internationalen des Jura in Sonvillier protestiert und ihren Aufruf, das sogenannte Zirkular von Sonvillier (November 1871) erscheinen lassen. Bakunin schrieb nach allen Richtungen hin, um diesen Protest zu erklären, den z. B. die Sektion Neapel durch einen Brief Palladinos an den Generalrat unterstützte. Es war nicht leicht, diese inneren Zwistigkeiten den neuen Sektionen verständlich zu machen, die öfter aus älteren Gesellschaften bestanden, die einige Enthusiasten zum Anschluß an die Internationale bestimmt hatten, und deren praktische Tätigkeit jetzt eigentlich durch einen Protest gegen das innere Treiben in einer Organisation beginnen sollte, deren äußeres Prestige sie nicht anzugreifen wünschten, und der sie noch gar nicht als förmliche Mitglieder angehörten. Und alle fühlten natürlich, daß Propaganda, Organisation, Föderation und Aktion ihre Aufgabe waren und nicht Herumstreiten mit Leuten in London, die von der Lage in Italien nicht die geringste praktische Erfahrung hatten. Daher hatten alle diese jungen Revolutionäre, von denen viele wirkliche Kämpfe und Verschwörungen gesehen hatten, die stärkste Neigung, alle Formen über Bord zu werfen, sich ohne den Londoner Generalrat zu behelfen, sich als Internationalisten aus eigenem Recht heraus zu erklären und an die wirkliche Arbeit zu gehen. Bakunin, den die Marxianer noch immer als den Mann anklagen, der die Internationale zu unterwühlen gesucht habe, schrieb sich tatsächlich in jenen Monaten die Finger ab, schrieb jenes Monument von Geduld, den vierzig Quartseiten langen Brief an die Sektionen in der Romagna, al Rubicone e tutti gli altri amici (an Rubicone [L. Nabruzzi in Ravenna] und alle anderen Freunde), 23. Januar 1872, und viele andere Briefe und Manuskripte, um nur die Sektionen dazu zu bringen, die erforderlichen Formalitäten zu erfüllen und auf regelmäßige Weise der Internationale beizutreten. Er tat dies natürlich, weil er noch an regelrechte Kongresse und eine loyale, offene Diskussion über Ideen mit Marx glaubte, und weil er es angesichts der allseitigen Reaktion und der Verfolgungen für wichtig hielt, daß alle sozialistischen Schattierungen in der Internationale mit gegenseitiger Duldung nebeneinanderleben sollten, „eine einzige Front“ bildend, wie man jetzt zu sagen pflegt.

Sektionen wurden in Italien teils direkt gegründet, teils erklärten sich bestehende republikanische Gesellschaften für die Internationale; ein dritter Weg war die Bildung gemischter Arbeitervereine in der Romagna, der Emilia und in Toskana, die sich alle als lokaler Fascio operaio (Arbeiterbund) bezeichneten; sie bestanden im Anfang aus Garibaldianern und aus Sozialisten und entwickelten sich schnell zur Internationale hin; ihre führenden Persönlichkeiten begannen durch eine Reihe von Konferenzen eine sich ausdehnende Bewegung zur Förderung dieser Fasci.

So akzeptierte man in Imola im September 1871 das Programm der Internationale, sieben republikanische Gesellschaften in Ravenna erklärten sich im gleichen Monat für dasselbe. Am 4. Dezember wurde der Fascio operaio von Bologna gegründet, Vorsitzender Erminio Pescatori. Dieser und der junge Student Andrea Costa (geb. in Imola, 1852) waren damals sehr tätig und arbeiteten an einer Föderation der Fasci und einer allgemeinen italienischen Organisation als weiteres Ziel. Delegierte von Bologna, Imola, Ravenna, Forli, Faenza, Rimini usw. traten am 19. November 1871 zusammen. Am 18. Februar 1872 vertraten in Ravenna zusammenkommende Delegierte diese Stadt, Forli, Lugo, Madonna dell' Albero, S. Stefano, S. Bartolo, Bastia, Campiano, Campinello, Coccoli, S. Pancrazio (alle in der Romagna).

Einen entscheidenden Abschluß bildete der Kongreß der Fasci operai in Bologna, 17.—19. März 1872; vertretene Orte: Bologna, Ravenna, Rimini, Fano (Marche), Massignano, Lugo, Montelparo, S. Potito, Fusignano, Forli, Faenza, Sinigaglia (Marche), S. Arcangelo, Imola. Auch Delegierte aus Mirandola, Mantua, Neapel (vielleicht Tucci?) usw. Hier wurde konstituiert: II Fascio operaio. Associazione internazionale dei Lavoratori. Federazione Italiana. (Regione di Bologna usw. für die einzelnen Orte), und es wurde ein allgemeiner italienischer Kongreß für den Mai beschlossen. Aber erst am 14. Juni berief der regionale Rat des Fascio operaio (Bologna) den Kongreß ein, der in Form einer Konferenz in Rimini am 4. August und den folgenden Tagen zusammentrat.

C. Cafiero war Präsident, L. Nabruzzi Vizepräsident, Sekretär war A. Costa, Vizesekretär Tito Zanardelli, was eine peinlich genaue Verteilung dieser Stellen zwischen der Romagna und Neapel bedeutet. Die sich gegen den Londoner Generalrat erklärende bekannte Resolution wurde angenommen von den Delegierten der Sektionen Neapel, Sciacca (Sizilien), Mantua, Siena, Ravenna, Bologna, Florenz, Rimini, Imola, Rom, Lugo, S. Potito, Fusignano, Mirandola, S. Giovanni in Persiceto, Fano, Fermo, Sinigaglia, S. Arcangelo, Forli und den umbrischen Sektionen (6. August).

Hier wurde nun endlich die italienische Föderation der Internationale formell gegründet. Ihre Statuten setzen eine Korrespondenzkommission ein, deren Sekretär Andrea Costa dadurch die hauptsächliche administrative Persönlichkeit wurde, und eine commissione di statistica, die aus Celso Cerretti, Malatesta und, wie aus einem damaligen Brief von Costa ersichtlich, dem noch nicht entlarvten Spitzel Terzaghi (Turin) bestand. Diese Statuten waren von der Sektion Neapel vorbereitet worden, also gewiß mit Teilnahme Malatestas. Der genauere Wirkungskreis der statistischen Kommission, von Titel abgesehen, ist mir nicht bekannt; Cerretti in Mirandola sollte ihre Briefe erhalten (Commissione di Corrispondenza, Nr. 1, Imola, 17. August). In Nr. 19 dieser Briefe (von denen ich nur wenige in aus Cerrettis Papieren nicht von mir gemachten Exzerpten kenne) schreibt Costa an Cerretti (Imola, 21. August): . . . „Terzaghi beklagt sich, daß seine Kollegen von der statistischen Kommission kein Lebenszeichen geben“, — was wohl gute Gründe haben mochte; denn schon im März war Cerretti von Garibaldi selbst vor Terzaghi gewarnt worden; in Rimini (wie der bald darauf eine endlose Reihe von Schandschriften gegen die Internationale von sich gebende Terzaghi 1883 behauptet oder erdichtet; wer kann das entscheiden?) hätte er selbst die statistische Kommission, die die Zahl der Mitglieder, die Liste ihrer Arbeitsplätze usw. feststellen sollte, beantragt, ebenso, daß sich der Kongreß photographieren lasse. Wenn das so ist, so war das ein handgreiflicher Spitzelversuch, der vielleicht durch die Wahl von Cerretti und Malatesta in diese Kommission pariert wurde. Denn die Turiner Angelegenheiten waren wohl nicht definitiv aufgeklärt; dies besorgte Cafiero sofort nach seiner Rückkehr aus der Schweiz, hielt sich wochenlang in Turin auf und legte dann einen für Terzaghi vernichtenden Bericht vor (30. November). Diese Affaire scheint heute bedeutungslos, war aber damals noch auf Jahre hinaus ein die Internationale an manchen Orten störendes Element, indem sich immer wieder ganz ehrliche Leute finden ließen, die dieser Schuft vorschob, um durch sie die Internationale auszuspionieren und zu schädigen.[5])

Die Konferenz von Rimini, deren Teilnehmerliste, soviel ich weiß, nicht veröffentlicht wurde, vereinigte zum erstenmal die Internationalisten des nördlichen, mittleren und südlichen Italiens, besonders die der Romagna und von Neapel, die sich hierdurch, viele für das Leben, kennen lernten. Fortan war durch fast zehn Jahre ganz Italien ihr gemeinsamer Arbeitsgrund, bis die revolutionäre Richtung im Norden zurückging, um sich auch längst wieder zu erholen. Einstweilen folgte eine schnelle und lebhafte Ausdehnung der Bewegung, die damals für kurze Zeit noch nicht von der Polizei intensiv verfolgt wurde, die aber mit mazzinistischen Fanatikern vielfach hart zu kämpfen hatte, speziell in der Romagna, wo am 2. Mai 1872 Francesco Piccinini vom Fascio operaio von Lugo ermordet wurde. Durch viele Jahre sprach man von dieser Verfolgungszeit wie von einer längst vergangenen Zeit, die sich nie wiederholen würde, bis die erbärmlichen Taten der jetzigen fascisti seit 1920 den Fanatismus von vor fünfzig Jahren fast geringfügig erscheinen lassen.

 

VI. Malatestas erstes Zusammentreffen mit Bakunin im September 1872 (Zürich und St. Imier).

Es scheint kein Protokoll der Konferenz von Rimini gedruckt zu sein, nur ein rechteckiges Blatt, Associazione Internazionale dei Lavoratori. La Conferenza delle sezioni Italiane (Rimini, 1 S.), die Resolutionen enthaltend, die auch in dem mir unbekannten Bollettino dei Lavoratori (31. August) erschienen, das damals in Neapel geheim herausgegeben wurde. Nachträglich schlossen sich andere Sektionen an, so Ferrara am 21. August, Mailand am 4. September. Den Beweis der so gut wie ein mütigen antiautoritären Haltung der Italiener liefert F. Engels selbst, der am 2. November an F. A. Sorge schreibt (Briefe, 1906, S. 76): „Bignami (in Lodi) ist der einzige Kerl, der in Italien, wenn auch vorläufig nicht sehr energisch, unsere Partei ergriffen hat. . . . . Er sitzt mitten unter den Autonomen und muß sich daher noch etwas in acht nehmen.“ ....

Die Konferenz hatte in einer wohlbekannten Resolution gegen die Versuche des Generalrats protestiert, der Internationale eine spezifisch autoritäre Doktrin, die der deutschen Kommunistischen Partei, aufzuzwingen; sie erklärte den Bruch jeder Solidarität mit dem Londoner Generalrat, dagegen ihre ökonomische Solidarität mit allen Arbeitern und sie forderte auf, in der Schweiz einen allgemeinen antiautoritären Kongreß an demselben Tage zu eröffnen, wie den endlich vom Generalrat einberufenen Haager Kongreß. Marx betrachtete dies als den endgültigen Schachzug Bakunins, die Internationale durch eine andere Organisation zu ersetzen; tatsächlich war es ein unabhängiger vorschneller Beschluß der jungen Italiener, den Bakunin und seine Genossen in den anderen Ländern nicht billigten und der auch nicht befolgt wurde. Die Italiener nahmen am Haager Kongreß, den Cafiero als Zuhörer besuchte, nicht teil und trafen mit den vom Haager Kongreß zurückkehrenden und anderen Delegierten erst nachher in der Schweiz zusammen. Damals lernte dann Malatesta Bakunin zuerst kennen.

Hier können weder die Geschichte der inneren Zwistigkeiten in der Internationale noch auch nur ihr Widerhall in Italien mit annähernder Vollständigkeit erzählt werden. Dies sind nicht alte vergessene Parteistreitigkeiten, sondern prinzipielle Debatten, Aktionen und Gegenzüge, die denen unserer eigenen Tage nicht unähnlich sind, und es ist zu bedauern, daß nur wenige, wie Malatesta, dieses alte Kapitel sozialistischer Geschichte und Erfahrung ganz vor sich haben, während es andern fast unbekannt ist oder, was noch schlimmer, nur durch parteiische Berichte entstellt (um einen milden Ausdruck zu gebrauchen) bekannt ist, während diese Entstellungen doch seit langem widerlegt sind, aber sie werden immer wieder gewissenlos aufgefrischt. Beinahe von Anfang an war der beiderseitige Standpunkt in parallelen Publikationen der Oeffentlichkeit bekannt; der Genfer Egalité von 1870 stand die Neuchâteler Solidarité gegenüber, der Generalratsschrift über die Prétendues Scissions die „angeblichen Spaltungen in der Internationale“, die anarchistische Erwiderung im Bulletin, als Broschüre (Réponse . . . ., Neuchâtel, Juni 1872, 45 S.), von der auch eine italienische Uebersetzung erschien: Risposta di alcuni Internazionali membri della Federazione del Jura alla circolare privata .... 1873 erschien die Marx-Engels-Utin-Lafargue’sche sogenannte Allianzbroschüre (London. September) und das Jura-Mémoire (Sonvillier), von James Guillaume, teilweise nach Material von Bakunin und von Paul Robin.

Es war natürlich erforderlich und wünschenswert, diese Fragen auf Grund noch intimeren Materials zu untersuchen; dies wurde erst möglich, als 1895 ein beträchtlicher Teil von Bakunins Korrespondenz (meist russische Briefe) veröffentlicht wurde. Damals benutzte ich schon seine Manuskripte (seit Dezember 1892), sammelte weitere Briefe und die Erinnerungen seiner noch lebenden Genossen usw. und stellte all dieses Material in einer Biographie Bakunins zusammen (London, 1896—1900), die in drei sehr großen Bänden in 50 in der Handschrift vervielfältigten Exemplaren privat erschien, während das seitdem sich anhäufende Material teils in Nachtragbänden, teils noch gar nicht bearbeitet ist. Doch war es mir möglich, aus dieser Gesamtmasse einzelnes in kürzeren Darstellungen zusammenzufassen, nämlich seine Beziehungen mit den Bewegungen in Italien (1864—72, 54 S.), Spanien (1868—73, 60 S.) und Rußland (1864—1873, 65 S.), was in Professor Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ in den Jahren 1912, 1913 und 1915 erschien, einer unabhängigen wissenschaftlichen Zeitschrift, in der ich meine Auffassung frei darlegen konnte; kürzere biographische Skizzen erschienen auch als Beitrag zu einer Berliner anarchistischen Zeitschrift und als Broschüre (Berlin, 1901, 64 S.) und in der Stockholmer Revue Röda Fanov (1921). — Diese Biographie war zu eingehend und umfangreich, um allgemeinere Teilnahme zu ermöglichen, aber sie trug wenigstens dazu bei, das historische Interesse von James Guillaume für dieses Stück Geschichte wiederzuerwecken. Guillaume, bis Anfang 1878 eine Säule der antiautoritären Internationale, vertiefte sich dann für 25 Jahre neben anderem in das Studium der Geschichte der französischen Revolution, bis ihn der sich in jenen Jahren so frisch belebende französische Syndikalismus wieder zu aktueller Tätigkeit hinriß. Er allein hat mein ganzes Material benutzt, auch das der Nachtragbände und indem er dasselbe mit seinen Erinnerungen und den von ihm redigierten Zeitschriften — Progrès, Solidarité, Bulletin — einer fast zehnjährigen Folge verband und noch viele Einzelheiten durch sehr gründliche Forschungen und Erkundigungen weiter aufklärte, kamen die vier Bände seiner L’Internationale (Die Internationale, Dokumente und Erinnerungen, 1864—78, Paris, 1905—1910) zustande, die wieder einem kürzeren Buch über Marx und Bakunin von Dr. Fritz Brupbacher in Zürich (Neuausgabe 1922) im wesentlichen zugrunde liegen. Weiteres, auch eine biographische Skizze Bakunins, enthalten die von Guillaume 1907—1913 herausgegebenen 5 Bände von Bakunins Werken (Oeuvres, tom. II—VI; Band I war 1895 von mir selbst ediert); einen weiteren Band (VII) hinterließ Guillaume druckfertig und seine Herausgabe steht bevor.

Im Verlauf dieser vieljährigen Arbeiten fand ich das über Malatesta hier Mitgeteilte und hörte es teilweise von seinen eigenen Lippen; aber die innere Geschichte der Bewegung und Bakunins, nicht aber Malatestas eigene Erlebnisse waren mein Hauptgegenstand. Dadurch bestehen Lücken, die ich jetzt noch nicht ergänzen kann und ich freue mich sogar, daß noch nicht alles aufgeklärt ist, da ich hoffe, daß er selbst uns noch vieles erzählen wird. Ich bemerke all dies hier, um festzustellen, daß, wenn ich nicht näher auf das innere Leben der Internationale eingehe, nicht gerade Mangel an Material, sondern vielmehr Ueberfluß daran die Ursache ist; man könnte fast ein Buch mit der Geschichte der italienischen Internationale von der Kommune von 1871 zur Konferenz von Rimini 1872 füllen; aber wenn auch von Bakunins Seite aus sehr viel gutes Material vorliegt, fehlt doch das italienische lokale Material in ähnlicher Fülle; vieles liegt in verschollenen Zeitschriften und Prozeßakten, während die direkte mündliche Ueberlieferung meist schon abgebrochen sein dürfte.

Von marxistischer Seite aus geschah seit 1873 durch viele Jahre nichts; die alten Verleumdungen wurden immer wieder vorgebracht und als längst die Bakunindokumente Vorlagen, erschien noch ein ganz auf den Lügen von 1873 beruhendes Buch, das einen Tiefstand markiert, den man nicht für möglich halten sollte. Man kann bestenfalls sagen, daß der Sorgesche Briefwechsel mit Marx, Engels, J. Ph. Becker u. a. (1906) und die Marx-Engelssche Privatkorrespondenz (1913) uns diese Kreise ungeschminkt vorführten, und daß der erwartete Herausgeber der Protokolle usw. des Generalrats (für die Anton-Menger-Stiftung in Wien, 1914 dem Erscheinen nahe, aber seitdem vertagt, doch nicht ganz aufgegeben), N. Rjasanoff, einiges interessante Material in der Neuen Zeit und dem erwähnten Archiv vorlegte. Was immer diese Dokumente noch enthalten mögen — und die kurze Verbindung einiger unter Mazzinis Einfluß stehender Italiener mit der Internationale in ihren ersten Anfängen und ähnliches mögen sie beleuchten —, so werden sie für die hier besprochene Zeit doch nur zeigen, in welch unglaublichem Grade die italienischen und spanischen Angelegenheiten von Engels und seinen Freunden falsch angepackt wurden und wir werden von unserer Seite vielleicht manchmal zugeben müssen, daß hier noch mehr Unkenntnis als Bosheit und Vorurteil zugrunde lag. Einige der wenigen Marxisten übrigens, die sich mit dieser ganzen Frage etwas näher beschäftigten, E. Bernstein und F. Mehring besonders, sahen das illoyale Vorgehen und die Winkelzüge von Marx ganz gut ein und drückten ihr Erstaunen und ihre Mißbilligung aus, aber diese Erkenntnis ging lange nicht weit genug. Ein komischer Zwischenfall ist, daß E. Bernsstein in seinen 1918 veröffentlichten Erinnerungen von Malatesta ungefähr sagt, daß er noch immer zu seiner alten Fahne halten möge, so daß er also nur durch eine Mutmaßung, nicht durch wirkliche Kenntnis zu dem Schluß gelangte, daß Malatesta noch leben und noch Anarchist sein möge, wie in der Zeit von ungefähr 1879, die er bespricht.

Ein Hauptfaktor der inneren Kämpfe der Internationale jener Zeit war die zunehmende Ueberflüssigkeit ihrer zentralen Administration angesichts des überall beginnenden frischen und unabhängigen lokalen Lebens; statt sich zu verflüchtigen, sobald man sie nicht länger brauchte, waren die permanenten Würdenträger, der Generalrat, im Gegenteil wütend, wenn man sie nicht länger beachtete.

Garibaldi schrieb am 19. Dezember 1871 an Celso Cerretti: Wir sind ein Zweig der Internationale. Dies darf uns aber nicht das Recht nehmen, unsere inneren Angelegenheiten zu ordnen wie wir wollen.“ In diesem Sinn kümmerten sich die Fasci operai nicht um die allgemeinen Statuten; das Statuto des Kongresses von Bologna (17.—19. März 1872; 25 S.) spricht die vollste Solidarität mit der Internationale aus, erwähnt aber den Generalrat derselben mit keinem Wort. Bakunin, wie erwähnt, ermutigte solches Vorgehen keineswegs; so schrieb er in die Romagna (3. Januar): „Ich sehe sehr gut, daß ihr alle im Herzen Internationalisten seid, aber ihr habt noch nicht den Mut, euch offen als Sektionen der Internationale zu erklären.“

Garibaldi vertrat stets Ansichten wie etwa folgende (in einem Brief an Celso Cerretti, 30. Dezember 1871): . . . „Daher glaube ich, daß, um den die gesamte Demokratie affizierenden Byzantinismus zu überwältigen, es nur ein Mittel gibt: ehrliche und zeitweilige Diktatur“ (la Dittatura onesta e temporaria); Bakunin bekämpfte diese Idee in den damaligen Briefen, so am 3. Januar 1872: „seine (Garibaldis) fixe Idee ist Diktatur, und nichts ist der sozialen Revolution so entgegengesetzt wie Diktatur“. . . . .

Die vollendetste uns erhaltene Propagandaarbeit aus jener Zeit ist wohl Bakunins langer Brief an Celso Cerretti vom 13. bis 27. März 1872, nach der Nachricht vom Tode Mazzinis geschrieben (gedruckt in der Brüsseler Revue La Société nouvelle, Februar 1896, S. 174—199). Hier werden die italienischen radikalen Parteien und ihre Führer besprochen und die Bedingungen einer italienischen sozialen Revolution, die Rolle der Landbevölkerung usw. Er sieht die kommenden Verfolgungen der Internationale voraus und rät ihnen die Spitze abzubrechen durch Errichtung einer geheimen Organisation innerhalb der Sektionen. Selbst wenn die öffentlichen Vereine bestehen blieben . . . „denke ich, daß ihr früher oder später die Notwendigkeit einsehen werdet, innerhalb derselben Kerne (nuclei) zu bilden, bestehend aus den sichersten, erebensten, intelligentesten und energischsten Mitgliedern; in einem Wort, aus den intimsten“. Diese nuclei, überall gebildet, sollten in enger Verbindung untereinander sein, in Italien und im Ausland, und sie würden die anfeuernde und belebende Seele der Internationale sein, dieses ungeheuren Körpers, und sich mit Fragen beschäftigen, die nicht öffentlich behandelt werden können. . . . . . . „Sie würden die notwendige Brücke zwischen der Propaganda sozialistischer Theorien und revolutionärer Praxis bilden. . . .“

Im Juli 1872 wurde gerade keine unmittelbare revolutionäre Bewegung vorbereitet, aber die Lage und die Stimmung waren doch ganz verschieden von jener trüben Hoffnungslosigkeit, welche die sozialistischen Parteien durch so viele Jahre bis 1914 beseelte und sie so hilflos machte gegenüber den Vorgängen von 1914 bis zu denen der heutigen Zeit. Die italienische Internationale war in all ihren tätigsten Vertretern damals eine Macht, welche wirkliche Aktion in absehbarer Zeit erwartete und beabsichtigte. Die Beispiele Garibaldis, der Kommune von Paris, der spanischen Revolution von 1868 lagen vor ihr und die spanische Revolution war noch nicht beendet. Das neue Bourgeoisregime seit 1860 hatte soziale Unzufriedenheit angehäuft, hatte dem feudalen Druck den noch intensiveren kapitalistischen Druck folgen lassen. Eine Revolution war also nichts Utopisches oder Unerhörtes für diese Männer, welche auf diesem Gebiet das Risorgimento fortsetzten, der nationalen die soziale Wiedergeburt folgen lassen wollten mit den Mitteln, die man seit Generationen benutzt hatte. Dies mag uns einen Einblick geben in die Intensität, das Feuer, die Hoffnungsfreudigkeit der beginnenden italienischen Internationale.

Wenn hier aus Mangel an unmittelbaren Quellen von Malatesta nicht gesprochen wurde, so war dies doch keine Abschweifung; denn gerade diese Verhältnisse machten all seine Genossen und machten ihn selbst zu dem, was er damals wurde und was er, mit wunderbarer Beharrlichkeit, heute noch ist, ohne daß er je versäumt hätte, diese Ideen mit denen späterer Zeiten und der jetzigen Zeit in Einklang zu bringen.

Damals also, nach der Zusammenfassung der italienischen Sektionen in Rimini (August 1872) führte gerade der Haager Kongreß der Internationale, der Bakunin und seine Richtung vernichten sollte, dazu, daß die vorgeschrittensten revolutionären Elemente in persönlichen Kontakt gelangten. Diese geschah durch ihre Reise in die Schweiz im September 1872, wo alle mit Bakunin zusammentrafen.

Bakunin, bei dem sich der sehr tüchtige junge Vincenzo Pezza (Mailand) damals aufhielt, leider totkrank († Januar 1873), war seit dem 25. August wieder in Zürich, viel mit internationaler Korrespondenz und russischen Angelegenheiten beschäftigt, aber er bereitete das Kommende vor und schrieb am 30. August eine „Konstitution der P. P.“ (etwa der internationalen Brüder), dann „Statuten von Y“ (der Alliance, 3., 4., 5. September — all dies nach seinem Tagebuch), d. h. er schrieb damals eine neue Version der Statuten seiner intimen Gruppe für die erwarteten Besucher. Am 4. September: „Brief von Benjamin“ (Malatesta); am 5. „Beppe kommt, später Giacomo“ (Fanelli und Nabruzzi); 6. „Diskussion und Vorlesen der vorgeschlagenen Statuten“; 7. „Malatesta kommt an“; an diesem Tag lernte er also Bakunin persönlich kennen; 8. Sept: die Italiener am Vormittag und Abend mit Bakunin; am 9. von 1½ bis 6 Uhr Vorlesen und Diskussion der Statuten; am 11. kommen aus dem Haag an: Cafiero, Adhémar Schwitzguébel (Jura), Morago, R. Farga Pellicer, Marselau und der Franzose Alerini, die vier Delegierten der spanischen Internationale; am 12. kommt Costa an; morgens und abends Diskussion der Statuten; am 13. werden dieselben angenommen; „brüderlicher Kuß und Handschlag“; am Abend bespricht man den bevorstehenden Kongreß von St. Imier.

Am 14. reisen Bakunin und die Italiener, auch der junge Franzose C. Camet (Lyon) und eine Anzahl russischer Studenten und Studentinnen nach La Chaux de Fonds im Jura und treffen dort andere Russen und Louis Pindy, der Mitglied der Pariser Kommune gewesen war. Am 15. fanden der jurassische und der internationale Kongreß von St. Imier statt; James Guillaume, Lefrançais, Mitglied der Kommune, waren dort; am 16.: Ende des Kongresses, Abreise nach Neuchâtel, wo am 17. eine Sitzung der „P. P.“ (Alliancemitglieder) stattfand, an der Guillaume teilnahm.

In Zürich am 18. wieder eine Sitzung; am 19. Diskussion der Mittel; hier notiert Bakunin: „doktrinärer Platonismus von Marselau“ (Spanier); 20.: „Auseinandersetzungen mit Marselau; alles versöhnt“. Am 21. wird das Korrespondenzsystem vereinbart; am 22. reisen die Spanier ab; am 23. September verlassen auch Pezza, Fanelli, Cafiero, Nabruzzi und Malatesta Zürich.

Auch diese kurzen Notizen lassen erkennen, wie intensiv in Bakunins engstem Kreise gearbeitet wurde und wie so der junge Malatesta durch 16 Tage die vollste Gelegenheit hatte, alle Formen des Lebens der Internationale, von den intimsten Diskussionen mit Bakunin bis zu den öffentlichen Kongressen und dem sympathischen Leben und Treiben der Jurasektionen kennenzulernen.[5])

Die Statuten unterschieden internationale, nationale, provinzielle Brüder usw.; in Italien waren Cafiero, Costa, Nabruzzi, Fanelli und Malatesta die einzigen „internationalen Brüder“. Der Name der Gesellschaft war wohl Alleanza socialista rivoluzionaria (vgl. Malatesta in La Questione sociale, Paterson, N. J., 25. November 1899). Die in Zürich Anwesenden schrieben die Statuten ab und nahmen sie nach Italien mit. Vielleicht war dies schon eine italienische Uebersetzung, die in sechs oder sieben Exemplaren existierte, von denen eines, in Costas Handschrift, Programma ed ogetto dell'associazione überschrieben, unter den in Florenz von F. Natta versteckten Papieren 1874 säsiert wurde. Im Prozeß von Florenz legte der Staatsanwalt dieses Dokument vor. Einige Auszüge in Dibattimenti (1875, S. 333—35) und andere Bakunindokumente ermöglichen, sich darüber näher klar zu werden. Dies geschah, soviel die mir bekannt gewordenen Prozeßberichte von 1875 und 1876 zeigen, in all jenen großen Prozessen nicht und von der Züricher Zusammenkunft war nie die Rede. Ich erfuhr von derselben erst in den neunziger Jahren durch Malatesta selbst, und Bakunins Tagebuch, das ich seit 1903 kenne, gab dann all diese Einzelheiten, die keine andere Quelle sonst aufbewahrt hätte. Malatesta sagte 1904: wir waren alle vor allem Mitglieder der geheimen Alliance und als solche erst gründeten wir Sektionen der Internationale, um ein Milieu zu haben, in dem wir für die Ideen und Ziele der Alliance wirken könnten. Die Internationale in Italien war nicht eine Föderation von Arbeitervereinen, sondern eine rein politische Gesellschaft für die Ziele der Alliance.

Costas Abreise wird von Bakunin nicht erwähnt; derselbe war vielleicht gleich im Jura geblieben? Jedenfalls aber kehrte er dorthin zurück und besorgte den Druck einer geheimen Zeitschrift La Rivoluzione sociale (Neuchâtel, September 1872), die ich nie finden konnte; Programma e Regolamento della Federazione ltaliana und der Artikel Situazione e Programma sind in derselben enthalten.

Malatesta sah also vom Ausland zuerst Zürich, wo in diesem Jahre die russische Studentenbewegung blühte, und den Schweizer Jura; jurassische Internationale, Kommuneflüchtlinge und spanische Internationale bildeten das Milieu jener Wochen. Ich weiß nicht, wann er begann, spanisch zu lesen; aber ich fand noch in Italien Reste der spanischen internationalen Blätter jener Zeit, der Federacion von Barcelona, sogar des Blattes von Mallorca und gewiß wurden diese Blätter, die größer waren als die italienischen und regelmäßiger erschienen, sobald er irgend konnte, von ihm gelesen. Von den Spaniern in Zürich mag T. G. Morago einen dauernden Eindruck auf ihn gemacht haben.

Diese Wochen verwischten wohl für alle Teilnehmer den peinlichen Eindruck des Haager Kongresses. Aus dem Jura erinnerte sich Malatesta an das Detail, daß Kinder in St. Imier den so auffallenden Bakunin für Garibaldi hielten. Von dem jungen Malatesta hatten die nüchternen Jurassier den besten Eindruck; er war für den entschiedensten, direkten Angriff, die Bajonettattacke, wie man zu sagen pflegte. An Costa bemerkten sie eine kindliche Leichtherzigkeit, die großen Reiz hatte, die ihm aber eben nicht erlaubte, sich dauernd auf dem Niveau zu erhalten, das er durch seine rasch auffassende Intelligenz und seinen Eifer so früh erreicht hatte.

Auf diese Weise also, unter freundlichen und glücklichen Auspizien, trat Malatesta in den innersten Kreis der vorgeschrittensten Bewegung von damals und von jetzt, der jüngste von allen und gewiß allen lieb, wenn der Name „Benjamin“, mit dem er in Bakunins Tagebuch bezeichnet ist, dies zu erschließen erlaubt.

 

VII. Die italienische Internationale im Jahre 1873; der Kongreß von Bologna; Bakunin und Cafiero.

Von der Geschichte der italienischen Internationale vom Herbst 1872 bis Ende 1873, und von Malatestas Erlebnissen in dieser Zeit sind die Hauptumrisse bekannt, aber eine Reihe von Zufällen zerstörte oder zerstreute die intimeren Dokumente und Quellen, wie wir sie für 1871—72 besitzen. Damals hob Bakunin seine Manuskripte auf, auch die Entwürfe oder Originale längerer Briefe, ebenso machte er die täglichen Tagebucheintragungen, die bis Ende 1872 reichen. Aber es fand einmal in Locarno eine große Sichtung und Verbrennung seiner Korrespondenz statt, in Gegenwart von A. Roß, der auch die 1872 von ihm aus Paris geretteten Papiere Netschaeffs in Zürich verbrannt hatte, und was nach Bakunins Verlassen der Baronata im Sommer 1874 von Cafiero an Papieren gefunden werden konnte, wurde von diesem verbrannt. Später (1876) sammelte Costa Material über Bakunins Leben, von dem der in der Schweiz aufbewahrte Teil schließlich aus dem Gesichtskreis verschwindet, ebenso wie das fünf Jahre später von Cafiero gesammelte Material, zu dem ein Teil von Schwitzguébels den Jura betreffenden Papieren gehörte, bis jetzt ganz verschollen, wenn nicht längst verloren ist. Auch James Guillaume selbst verbrannte 1898, in einer Periode von Trübsinn, viel des intimsten Materials, das er aufbewahrt, und er erstaunte nicht wenig, als er einige Jahre später das seltenste dieser Dokumente, dessen Original seine Obhut seit 1874 nie verlassen hatte und nach seiner damaligen Ansicht nicht hätte verlassen sollen, in meiner Biographie Bakunins aus einer unbekannt gebliebenen Abschrift benutzt fand. — Von all diesem abgesehen, war die intime Korrespondenz 1873 wohl geringer, teils weil Bakunin, seit wirklich ernste Angelegenheiten besprochen wurden, vorsichtig wurde (am 4. April 1874 schrieb er an seinen alten Freund Professor A. Vogt in Bern, daß keine Spur von etwas Schriftlichem von ihm gefunden werden könnte), teils weil jetzt oft Italiener nach Locarno kamen, sich in der Baronata zwanglos und lange aufhielten und alles mündlich abmachten.

Dies wird in gewissem Grade durch die Tatsache bewiesen, daß „die Briefe der Korrespondenzkommission der italienischen Föderation für 1872 und 1873 bei dem Angeklagten Natta säsiert“, der „sie in seiner Werkstatt in ein Mauerloch eingemauert hatte“ (Worte des Staatsanwalts im Prozeß von Florenz 1875 (Dibattimenti, p.319) — Natta war der auf Costa folgende Parteisekretär, — daß also diese große Masse Korrespondenz von den wirklichen inneren Vorgängen dieser Jahre nichts Wesentliches enthüllte, sonst wäre dies bei den großen Prozessen dieser Jahre vorgebracht worden. Damals wurden alle bekannten Propagandisten verhaftet, gehaussucht oder ins Exil getrieben, ohne daß sich belastendes Material vorfand; daher existierte solches entweder nicht in geschriebener Form oder es wurde damals und bei den vielen späteren Verfolgungen zerstört. Keiner aus dem inneren Kreis machte Geständnisse oder gab sich Blößen; so gelang es der Regierung, trotz all ihrer Terzaghis, nicht, die Internationale wirklich zu treffen. Dies hinderte natürlich nicht Verhaftungen aufs Geratewohl, mit unbegrenzter Untersuchungshaft, ohne daß wirkliche Anklagen erhoben wurden, was die tätigsten Propagandisten traf. Dies passierte Malatesta zweimal im Jahre 1873 und kostete ihm acht Monate Gefängnis, beinahe so viel, wie seine letzte Untersuchungshaft 1920—21.

Nach den Kongressen im Haag und in St. Imier und der Verlegung des Londoner Generalrats nach New York, die mit seiner Ausschaltung als wirksamem Faktor für die europäischen sozialistischen Bewegungen identisch erschien, bemühte sich Bakunin, auf jeden Fall die Bestandteile der Internationale, welches immer ihr theoretischer Standpunkt war, in dieser Organisation vereint zu erhalten auf Grundlage (1) der ursprünglichen Genfer Statuten, 1866, (2) gegenseitiger ökonomischer Solidarität, und (3) der Beseitigung aller autoritären und zentralisierenden Einrichtungen in der Organisation. Das war also in der Hauptsache eine konservierende Taktik, der sich die Jurassier gern anschlossen, während sie den jungen italienischen Revolutionären gleichgültig sein mochte, für die sofortige internationalistische Aktion alles war und platonische Solidarität mit entfernten Leuten ganz verschiedener Ansichten wenig oder nichts bedeutete. In anderen Ländern, Spanien, Belgien und England, mußte man wieder mit anderer lokaler Taktik rechnen. Landeskongresse zu Weihnachten 1872 (in Cordova und in Brüssel) und im März 1873 (in Bologna) usw. sind Stufen des langsamen Fortschritts von Bakunin und James Guillaumes Taktik, die zuletzt auf dem Internationalen Kongreß von Genf (September 1873) durchgeführt wurde. Näheres in dem ausführlichen Protokoll (Locle, 1874, 119 S.). Costa war dort der hervorragendste italienische Delegierte, Malatesta war damals im Gefängnis.

Bakunins lebhafte italienische Korrespondenz, wie sie das Tagebuch vom Oktober bis Ende 1872 verzeichnet (das Tagebuch für 1873 muß als verloren betrachtet werden) wird sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, da parallele Briefe in den Jura und nach Spanien geschickt wurden, oder es mögen innere Fragen der Alliance eingehend besprochen worden sein. Da findet man: 25. bis 31. Oktober großer kollektiver Brief an die Jurassier; 31. Oktober bis 1. November sehr großer kollektiver Brief an die Jurassier; 2. bis 3. November kollektiver Brief an alle H(ermanos, Brüder) in Spanien. Dann: 6. bis 8. November Zirkular Nr. 2 mit Chiffren, von Hugo (Bakunin) an die Ermani (Brüder). Wieder kollektive Briefe an die drei Gruppen, 17. bis 20. November, und nach Spanien (16. Dezember) für den Kongreß in Cordova.

Am 29. Oktober sieht Bakunin seine Korrespondenz durch und verbrennt viele Briefe. Am 31. Oktober wurden auch Briefe an Cafiero, Malatesta, Pezza, Fanelli, Friscia, Palladino, Testini geschickt, alle an Malatestas Adresse, also nach Neapel. Am 1. November: Briete an Pezza-Malatesta und Fanelli; der todkranke Vincenzo Pezza befand sich also gewiß im Süden; nach seinem Tode, im Januar 1873, beschloß die Sektion Neapel, seine Schriften herauszugeben, wozu es wohl nicht kam. Cafiero ist wieder in Locarno (4. bis 11. November). Einiger Briefwechsel mit Palladino. Am 17. November: Briefe von Benjamin (Malatesta) und Armando (Cafiero). Am 21. November kommt Fanelli. 8. Dezember: Briefe von Alerini, Farga Pellicer (beide in Barcelona), Cafiero und Beniamino (Malatesta); 9.: Brief von Malatesta; 12.: Brief an Cafiero mit Briefen von Friscia, Nabruzzi und Beniamino. Am 23. Dezember Besuch von Cafiero und Palladino, und von Fanelli (25. bis 28. Dezember); am 29. „über unsere Angelegenheiten gesprochen; ein sehr intimer Beschluß von den Brüdern angenommen“ (hierüber wissen wir nichts Näheres). Dann erscheinen zwei sonst nicht mehr bekannte Italiener und werden in den inneren Kreis, jedenfalls den der nationalen Brüder, aufgenommen. Nabruzzi wird eingeladen, nach Locarno zu kommen. Hiermit endet das Jahr 1872, und weitere Nachrichten sind wie mit einem Schlag für immer abgeschnitten.

Am Schluß des Taschenkalenders stehen einige wenige Adressen; hier stehen nebeneinander: „Nicolo Bellerio, poste restante, Neapel und durch Carlo“ (Gambuzzi) als Adresse von Malatesta, und eine Adresse in Lausanne von „Mr. Kropotkin“. So führte ein Zufall diese beiden Namen von Bakunins Hand zusammen. Es handelt sich übrigens zweifellos um Kropotkins Bruder Alexander, der Bakunins Richtung fernstand; Peter Kropotkin trat nie mit Bakunin in Verbindung.

Am 10. Januar 1873 war der italienische Kongreß für den 15. März nach Mirandola einberufen worden, wo Celso und Arturo Cerretti lebten. Aber die lokale Sektion wurde aufgelöst, C. Cerretti verhaftet und die Korrespondenzkommission lud die Delegierten nach Bologna ein, wo am 15. März in einer Fabrik die erste Sitzung stattfand. Am 16. März wurden Andrea Costa, Malatesta, Alceste Faggioli, A. Negri und andere Delegierte verhaftet, aber der Kongreß kam an einem anderen Ort wieder zusammen. 53 Delegierte für 150 Sektionen. Lokale Föderationen von Neapel, Florenz, Ravenna, Rimini, Turin, Mirandola, Modena, Ancona, Siena, Pisa, Rom; Sektionen von Forli, Faenza, Lugo, S. Potito, Fusignano, Fermo e circondario, Menfi, Sciacca (Sizilien), Asimo und anderen kleineren Orten.

Da dies keine Geschichte der italienischen Internationale ist, führe ich weder die Resolutionen an, durch welche die Organisation umgestaltet wurde, noch die sehr interessanten theoretischen und allgemeinen Resolutionen, von denen einige Bakunins eigene Hand oder den denkbar größten Einfluß seiner Ideen zeigen. Man beschloß, an einem internationalen Kongreß nur dann teilzunehmen, wenn er zur Vorlage folgender Reformen einberufen würde: (1) vollständige Wiederherstellung der alten Einleitung der Statuten der Internationale; (2) die Solidarität im ökonomischen Kampf wird als das einzige Bindeglied zwischen den Mitgliedern erklärt, während jede Föderation, Sektion, Gruppe oder einzelnes Mitglied volle Freiheit hat, das ihnen erwünschte politische Programm anzunehmen und sich auf Grund derselben offen oder geheim zu organisieren, stets unter der Voraussetzung, daß dieses Programm dem Ziele der Gesellschaft nicht zuwiderlaufe, nämlich der vollständigen und direkten Befreiung der Proletarier durch die Proletarier selbst; (3) Abschaffung aller Autorität und Zentralgewalt in der Gesellschaft, daher volle Freiheit, sich zu organisieren und vollständige Autonomie der Sektionen und Föderationen.

Der Kongreß erklärte sich ateo e materialiste (atheistisch und materialistisch) und erkannte keine andere politische Aktion an als eine, im Einklang mit den Arbeitern der ganzen Welt zur direkten Verwirklichung dieser Ideen unternommene, er verwarf alle Teilnahme und Komplizität an den politischen Intrigen der Bourgeois, mochten sie sich Demokraten und Revolutionäre nennen. Es wurde ferner erklärt, daß, wenn die Arbeiter anderer Länder mit den hier einstimmig angenommenen Ideen nicht übereinstimmen, dies ihr gutes Recht ist, das unsere Solidarität mit ihnen nicht hindere, vorausgesetzt, daß sie ihre Ideen anderen nicht aufzulegen wünschen.

Die Verhaftungen verzögerten die Veröffentlichung und Verbreitung dieser Beschlüsse. Schließlich schlug der belgische Föderalrat vor, die Juraföderation zur Einberufung des allgemeinen Kongresses einzuladen; dies war der Ursprung des Genfer Kongresses vom September 1873.

Andrea Costa schrieb 1900 (Bagliori di socialisme, Cenni storici, Florenz), daß, obgleich in Neapel schon Verfolgungen stattgefunden hatten, die Verhaftungen vom März 1873 der eigentliche Beginn der albernen und erbärmlichen Verfolgungen waren, die sieben Jahre dauerten (und die, wenn sie damals für Costa, der sich den Politikern anschloß, aufhörten, für Anarchisten bis heute fortdauern). Damals sei um erstenmal die Internationale beschuldigt worden, eine associazione di malfattori (Verbrechergesellschaft) zu sein; aber die Gerichte akzeptierten noch nicht diesen Regierungsstandpunkt, und die Verhafteten wurden nach zwei Monaten alle freigelassen; übrigens folgten andere Verhaftungen, in Lodi, Parma, Rom usw.

Damals brachten Cafiero und Malatesta 54 Tage im Gefängnis, also bis Anfang Mai, zu. Dann reiste Cafiero nach Apulien in seine Heimatstadt Barletta, um seinen Grundbesitz in Geld umzusetzen, wobei er durch den eiligen Verkauf viel verlor und der bitteren Feindschaft seiner ganz reaktionären Familie preisgegeben war. Er sah voraus, daß ihm die Verfügung über seinen Besitz ganz entzogen werden könnte, wenn der revolutionäre Zweck, dem er denselben bestimmt hatte, bekannt würde. Ueber Malatesta wissen wir für fünf bis sechs Wochen nichts; dann aber reist er nach Locarno und brachte einige Zeit, vielleicht einige Wochen, mit Bakunin zu.

Im Sommer 1873 schien eine Revolution in Spanien bevorzustehen, und Bakunin, von seinen spanischen Freunden gedrängt, beschloß, selbst hinzureisen. Eine solche Reise, ohne erkannt zu werden, mußte umständlich vorbereitet werden und wäre vielleicht von einem italienischen in einen spanischen Hafen gerichtet gewesen. Nur Cafiero konnte die Mittel dazu geben, und er befand sich noch in Barletta. Daher sollte ihm die Sache dringend vorgestellt werden, und da dies nicht brieflich geschehen konnte, reiste Malatesta nach Barletta und wurde dort drei Tage nach der Ankunft verhaftet und nicht weniger als sechs Monate im Gefängnis gehalten und dann, natürlich ohne daß es zu einer Anklage kam, entlassen. Dies fällt in die Monate Juli 1873 bis Januar 1874, da er sich erinnert, daß die Nachrichten aus Alcoy, wo die Bewegung am 9. Juli ausbrach, seine Abreise von Locarno beschleunigt hatten.

Wie sich Z. Ralli (Zamfir C. Arbure, ein in dem engsten russischen Kreis Bakunins seit 1872 tätiger Rumäne) erinnert, schrieben in jenen Wochen er und Malatesta einen sehr langen Brief Bakunins nach Spanien ab, der auf antistaatliche, föderalistische Strömungen und Ereignisse in der früheren spanischen Geschichte zurückgriff. Aber Bakunin und Malatesta, der ihn begleitet haben würde, folgten ebenso aufmerksam den gegenwärtigen spanischen Ereignissen, die für sie sehr enttäuschend waren. Im Juli 1874 schreibt Bakunin in einem privaten Dokument sehr bitter über den Mangel an Energie und revolutionäre Leidenschaft sowohl bei den Führern wie bei den Massen. Malatesta, der Ende 1875 in dem von ihm diesmal nur als Besucher betretenen Gefängnis von Cadix und sonst in Spanien Leute aus diesen Bewegungen kennenlernte, schrieb einiges zur Kritik der Vorgänge in San Lucar de Barrameda und Cordova in einem mir jetzt nicht vorliegenden Artikel, der im New Yorker Grido degli Oppressi, spanisch im Despertar (Brooklyn), 1. April 1894, erschien. Auch P. Kropotkin wußte von intimen Berichten über den Mißerfolg zu erzählen, die er von Paul Brousse (1873 in Barcelona) und Viñas erhalten hatte. Ich kann auf den Gegenstand nicht eingehen, in den man durch den ausführlichen Bericht der spanischen Föderation an den Genfer Kongreß (1873) und durch die bekannte kurze Uebersicht der Geschichte der spanischen Bewegung von Arnold Roller (1907) eingeführt wird. Auch J. Guillaume kannte 1873 Bakunins Absicht, nach Spanien zu reisen, hatte aber von Malatestas Reise zu Cafiero damals nichts erfahren.

Es läßt sich wohl annehmen, daß Bakunin zu spät gekommen und, wie 1870 in Lyon, nicht imstande gewesen wäre, in kurzer Zeit ver schiedenartige Elemente zu einer gemeinsamen Aktion zu gruppieren, während das Volk — wie die Vorgänge in Barcelona zeigten — unabhängiges anarchistisches Vorgehen nicht unterstützt hätte, so daß er vielleicht in die Niederlage hineingerissen worden wäre und seine Tage in einem spanischen Kerker beendet hätte; denn diese hielten jahrelang die Opfer dieser Kämpfe fest.

So versäumte auch Malatesta diese Erfahrung und zugleich ein halbes Jahr der italienischen Bewegung. In dieser Zeit fanden eine Anzahl Provinzia-Kongresses statt zur Gründung regionaler Föderationen, welche die Romagna, Umbrien und die Marken, Neapel, Piemont, Ligurien, Venezien, die Lombardei, Toskana, Sizilien und Sardinien umfassen sollten. Nicht all diese Föderationen wurden formell gegründet, und einige derselben und ihre Zeitschriften hatten eine kurze Lebensdauer. Denn was immer die Internationale aufbaute, zerstörte die Regierung schleunigst, nicht durch gesetzliche Anklage gegen die Organisationen und Mitglieder, sondern einfach durch administrative Maßregeln, Auflösungen und willkürliche Verhaftungen der bekannten. Propagandisten, wie die von Malatesta in Barletta, wo doch sicher kein Mensch von dem intimen spanischen Plan etwas wußte oder hörte. Aber all diese Auflösungen usw. hatten keine dauernde Wirkung, da die tätigsten Mitglieder in Kontakt blieben und bald sich auf irgendeine andere Weise lokal wieder gruppierten. Diese Stellung außerhalb des Gesetzes durch die Regierung führte aber notwendigerweise zu einer Stimmung, welche weitere geduldige Propaganda als ganz unmöglich oder zwecklos betrachtete und zu revolutionärer Aktion drängte. Dies führte zu den Vorgängen von 1874.

Ist es möglich, frage ich mich, daß Bakunins Notiz vom 29. Dezember 1872, es sei, als Cafiero und Palladino allein bei ihm waren, bei Besprechung ihrer Angelegenheiten zu einem sehr intimen Beschluß gekommen, sich auf Cafieros ersten Vorschlag bezieht (den andere Aeußerungen auf jeden Fall in den Herbst 1872 oder den Winter 1872/73 verlegen), aus einem Grundstück (Haus und Garten) in Locarno ein revolutionäres Zentrum zu machen? Dasselbe würde nominell Bakunin gehören, der auf Grund dessen Schweizer Bürger, also nicht ausweisbar oder von der Grenze entfernbar, würde, wodurch er den für Italien sich vorbereitenden revolutionären Bewegungen von größtem Nutzen sein konnte. Wie das immer sei, jedenfalls wurde dieser Plan seit damals erwogen, und dies war der Grund, aus welchem Cafiero, ganz für dieses Projekt tätig, dem er sein Vermögen bestimmte, Bakunin das Geld zur spanischen Reise abschlug, um das dieser nach Malatestas Verhaftung brieflich gebeten hatte. Er kam im August selbst nach Locarno und gab von da ab große Summen aus zum Kauf und der Herrichtung eines stark vernachlässigten Besitzes, die Baronata genannt, nördlich von Locarno am Lago maggiore gelegen. In jenem Herbst war Bakunin eine Anzahl Wochen in Bern anwesend, was auch der Vorbereitung jenes Planes, seinem anscheinenden Rücktritt aus der Bewegung, dienen sollte; ebenso war Cafiero vielfach abwesend. Während all dieser Zeit brachten ortsansässige Bauunternehmer, Arbeiter, die sich nicht weiter anstrengten und manche Genossen, die sich dort etwas überlang aufhieltenr eine Summe von Durcheinander, Verzögerung und unerwartet große Kosten zusammen, so daß Bäkunin allmählich Grauen empfand, wie das alles enden würde, und daß Cafiero, als ihm endlich einige Personen in Bakunin nicht ganz wohlgesinnter Weise die Augen öffneten, auf wirklich peinliche Weise seinen Aerger kundgab und seine unbedingte Freundschaft für Bakunin den stärksten Schlag erlitt. Dies geschah im Juli 1874 und hatte dauernden Einfluß auf Bakunins ferneres Leben. Ich muß oft denken, daß, wenn Malatesta damals nicht diese sechs Monate im Gefängnis von Barletta zurückgehalten worden wäre, er mit seinem praktischen Sinn viel von diesem Unheil abgewendet hätte, von dem sich weder Bakunin noch Cafiero je wirklich erholten. In diesem Sinne hatte die Verkettung von Verhältnissen, die von Alcoy über Locarno nach Barletta reicht, ein[e] wirklich tragische Folge, und wenn, 1871 und 1872 so glückliche Jahre für Malatesta waren, hatte ihn dieses Glück 1873 verlassen.

VIII. Die Insurrektion von 1874; Malatesta in Castel del Monte, Apulien (August 1874).

Die insurrektioneilen Vorgänge vom August 1874, groß im Plan, klein in der tatsächlichen Ausführung, waren die notwendige Folge der stets wachsenden Spannung und Erwartung der meisten derjenigen, die seit 1871 so offen die soziale Revolution als ihr letztes Ziel akzeptiert hatten. Verfolgungen machten die Propaganda fast unmöglich und, was nicht vergessen werden darf, all die verwickelten Arbeiterfragen der späteren Zeit, Reformen und Gesetzgebung betreffend, existierten damals für Italien noch nicht; die große Industrie fing erst an und bestand kaum in den revolutionären Teilen des Landes, in Mittel- und Süditalien. Es gab im wesentlichen eine Anzahl intelligenter, geschickter, mehr oder weniger isolierter Handwerker und große Massen sehr armer und unwissender Landarbeiter, Kleinpächter und Bauern. Da entschloß man sich schneller zu einer Bewegung und bereitete sie vor, als in späteren Jahren, und der Fall der Pariser Kommune von 1871 und der Mißerfolg der spanischen Bewegungen von 1873 war eher eine Aneiferung für die Italiener, einen neuen Versuch zu machen. Nachdem die Internationale Mazzini und Garibaldi als ungenügend und untüchtig zur Entscheidung sozialer Probleme beiseite geschoben hatte, war sie oder fühlte sie sich moralisch verpflichtet, selbst eine revolutionäre Anstrengung zu machen und bereitete dies seit Ende 1873 vor.

Natürlich gibt es eine innere Geschichte dieser Vorgänge, die verwickelt genug sein mag, die aber nie erzählt werden wird, da die drei Hauptpersonen ihrer Anfänge, Costa, Cafiero und Bakunin, sie nicht erzählt haben und nur allgemeine Zusammenfassungen und gelegentliches Einzelmaterial für die Zeit vom Dezember 1873 bis zum August 1874 hinterlassen haben. Man darf ja nicht denken, daß es im allgemeinen an Material für diese Zeit fehlt; denn während die gedruckten Berichte über die sieben oder mehr Prozesse von 1875 und 1876 mit Ausnahme des Florentiner Berichts sehr mager sind, und einige gedruckte Anklageakte und Verteidigungsreden, die ich sah, auch wenig innere Aufklärung geben, hat ein künftiger Historiker noch die Aufgabe vor sich, die 70 Aktenbände des Prozesses von Bologna (Costa), die 42 Bände von Florenz (Natta), die 24 oder 29 Bände des Prozesses über Apulien, Calabrien und Sizilien (Malatesta) usw. durchzusehen, zu denen auch die in Nattas Werkstatt eingemauerten Dokumente, das carteggio (Korrespondenz) der italienischen Föderation gehört, das zu zerstören Natta dringend, aber zu spät angeordnet hatte, als er, mit Bakunin in die Schweiz geflüchtet, sich dort aufhielt (Cafieros Brief an Bakunin, 27. August 1875). Selbst diese Dokumente, die dem Staatsanwalt einige Hinweise auf Bakunin ermöglichten, konnten der Anklage zu nichts rechtem dienen, und die ganzen Riesenprozesse führten zu nichts und endeten mit erwarteten und allgemein begrüßten Freisprechungen.

Daher können nur spätere unbefangene Berichte wirklicher Teilnehmer dieses Kapitel Geschichte rekonstruieren helfen, und hier finden wir bald, daß die einzelnen Personen in verschiedenem Grade eingeweiht waren, so daß ihre Auffassungen große Unterschiede zeigen. Selbst Malatesta war nicht einer der Haupturheber und war meist im Süden unmittelbar tätig. Seinen persönlichen Erlebnissen muß eine allgemeine Skizze der Bewegung vorausgehen, für die ich aus dem reichen Material Erklärungen von Costa, F. Pezzi und C. Cerretti auswählen will.

In einer öffentlichen Versammlung in Genf am 4. September 1873 schilderte Costa (nach Notizen N. Joukowskis) den Zustand der Internationale in Italien etwa so: viele Sektionen in der Romagna, 19 oder 20 in den Marken und in Umbrien; wenige Sektionen im ruhigen Toskana; in Neapel wünschen die Bauern eine sofortige Revolution; viele, aber wenig vorgeschrittene Sektionen in Piemont.

In den Bagliori di Socialismo (1900) schrieb Costa: Seit auf dem Kongreß von Pisa am 7. Dezember 1873 die toskanische Föderation gebildet wurde, trat die italienische Föderation allgemein gesprochen nicht mehr öffentlich auf; die Mitglieder der Korrespondenzkommission verließen Bologna, und die Kommission wurde nach Florenz verlegt; aber weder in Zeitschriften und Manuskripten noch in Briefen trifft man seit jener Zeit den Namen „italienische Föderation“. An ihrer Stelle erscheint das Comitato ltaliano per la Rivoluzione sociale, welches durch ein feierliches Manifest, im Januar 1874 erschienen, allen, die sehen konnten, kundgab, daß die öffentliche Organisation der Internationale allmählich in eine Geheimorganisation umgewandelt und daß öffentliche Tätigkeit, Propaganda und Arbeiterorganisierung ersetzt waren durch Verschwörung, die zur Aktion leiten sollte. Neben all dem gab es noch immer neue Sektionen, eine halböffentliche Propaganda und einige Zeitschriften, aber es wurden jetzt vor allem energische Leute von reisenden Mitgliedern besucht, geheime Gruppen gebildet und unter sich in Kontakt gebracht, ohne daß schon eine Aktion verabredet wurde (senza concertare ancora l’azione). Ständige Verfolgungen und große Unruhe des Volks durch Lebensmittelteuerung, Streiks, Bauernunruhen, in mehreren Provinzen Banditentum — aus all dem entstand der Wunsch, dem Volk praktisch zu zeigen, was die Sozialisten wollten. Die tätigen Propagandisten übrigens standen fast alle außerhalb des Gesetzes und sahen einem solchen Kampf entgegen, obgleich sie nur Tod oder Kerker von ihm erwarteten. Zu dieser äußersten Krise kam es nicht; denn die Regierung, die bemerkte, daß etwas vorging, verhaftete die tätigsten Organisatoren in der Romagna, den Marken und in Toskana und zwang so die anderen, die noch nicht definitiv festgelegte Aktion zu überstürzen (precipitare l’azione non ancora definitivamente fissata). Dann ging alles, wie es eben konnte (und er erzählt von der Bande von Imola und von der Ansammlung auf den Prati di Caprara außerhalb von Bologna, 7.—8. August 1874).

Francesco Pezzi (Un Errore giudiziario . . ., Florenz 1882) erzählt, daß die Internationalisten, der beständigen Quälereien müde geworden, endlich durch eine bewaffnete Insurrektion protestieren wollten. Die Korrespondenzkommission schlug dies beständig vor. Zu diesem Zweck wurden einige der tätigsten Mitglieder im geheimen in die Schweiz geschickt, um sich mit Bakunin über eine solche Bewegung für den Sommer 1874 zu verständigen. Man beschloß tatsächlich, die erste Periode der Internationale durch eine revolutionäre Aktion abzuschließen und stellte einen Plan auf; Bologna sollte das Zentrum der Bewegung sein. Die Delegierten kehrten zurück, ihr Beschluß wurde gebilligt und man handelte danach. Ende Juli, während der letzten Vorbereitungen, wurde die Polizei aufmerksam. Verhaftungen in Ravenna am 26. Juli (dies bezieht sich auf die Verhaftung von Pirro Rivalta; andere, darunter F. Pezzi und Giuseppe Sant’ Andrea entkamen); andere verbargen sich. Weitere Verhaftungen, Haussuchungen, entdeckte Schriften in Bologna. Diese Nachrichten verbreiteten sich mit Blitzesschnelle und brachten neue Delegierte nach Bologna, welche beschlossen, den Plan nicht aufzugeben, sondern zu handeln.

Celso Ceretti, in einem Brief vom 26. Dezember 1897, der in dem nur kurze Zeit erschienenen anarchistischen Blatt Libertà (Bologna, 6. Februar 1898) gedruckt ist, gibt eine, soviel ich weiß, erstmalige Darstellung seiner Tätigkeit als Vermittler, die damals wie einige Jahre früher benutzt wurde, um Garibaldi und auch vorgeschrittene Mazzinisten an der beabsichtigten Bewegung zu interessieren. Er nennt dieselbe Costas ausschließliches Werk. Ich will seine Angaben nur ganz kurz zusammenfassen; es handelt sich um Luigi Castellazzo, Garibaldi, Valzania und die Monate Januar und März 1874. Nach anderen Berichten war es sehr schwer, Garibaldi zu überzeugen, den die Mazzinisten furchtbar gegen Bakunin voreingenommen hatten, aber er schloß sich schließlich an und würde eine Bewegung unterstützt haben, wenn dieselbe eine gewisse Ausdehnung gewonnen hätte. Daß Valzania, bis kurz vorher ein Feind der Internationale, gewonnen wurde, wird durch die bekannte Zusammenkunft in der Villa Ruffi (Rimini) am 2. August bewiesen, welche die ganzen mazzinistischen Führer zusammenführte, um über diesen Gegenstand zu beraten; sie wurden damals alle verhaftet. Cerretti behauptet bestimmt, daß Costa diese Versuche, eine zeitweilige Koalition zu gemeinsamer Aktion herbeizuführen, nicht unterstützte, ja daß er ihr bitterer Gegner war, und seine Erklärung hierfür, die vielleicht durch die spätere politische Karriere Costas zum Teil beeinflußt ist, ist die, daß Ehrgeiz und Eitelkeit ihn selbst dahin brachten, die Bewegung zu überstürzen, nur um eine solche Koalition zu vereiteln.

Aus diesen und anderen Quellen können wir zum Resultat gelangen, daß im Dezember 1873 Costa, der damals einige Zeit in Locarno zubrachte, und andere mit Bakunin und Cafiero beratend die Bildung des „Italienischen Komitee für die soziale Revolution“ Vornahmen, um die Insurrektion vorzubereiten, Manifeste erscheinen zu lassen usw., und auch zu versuchen beschlossen, die Mitwirkung anderer vorgeschrittener Gruppen zu erlangen. Das erste Manifest (Nr. 1, Januar 1874) ist nachweisbar von Costa verfaßt, der es nach Florenz schickte; in Toskana geheim gedruckt, wurde es u. a. durch Plakatierung in Rom am 25. Januar usw. bekannt. Das zweite Manifest, Al Popolo Italiano, März 1874, ist sehr viel umfangreicher, und ich kenne nur einige Auszüge; Costa, der wahrscheinlich ein Manuskript Bakunins als Vorlage hatte, muß wohl auch als der unmittelbare Verfasser angesehen werden. Im Frühjahr fand dann eine ungewöhnlich große Zahl kleiner spontaner Volksunruhen statt — Brotkrawalle in Rom (Mitte März), in Cremona (April), in Brescia; andere Unruhen in Parma, Padua, Faënza, Imola, Lugo usw.; eine neue Serie von Unruhen seit Ende Juni bis Mitte Juli (Forli, 29. Juni, 4. Juli; Prato, Rimini, Lucca, Pisa, Arezzo, Livorno, Pistoia; Massa, Bologna, Florenz (10. Juli) usw.)

Während die Staatsanwälte in diesen lokalen Bewegungen „die Hand der Internationale“ sahen, war dies leider eben nicht der Fall. All diese Gelegenheiten (die ich natürlich nicht im einzelnen beurteilen kann) blieben unbenutzt. Die wirkliche Erklärung ist vielleicht die, daß man noch nicht zum Losschlagen bereit war, und daß es sich um materielle Fragen, Waffenbeschaffung und dergl. handelte, die noch nicht geregelt waren?

Es ist etwas eigentümlich, wenn man bemerkt, daß in diesem Monat Juni, der in Italien so unruhig war, Cafiero nach Rußland reiste, um sich in Petersburg am 27. Juni zu verheiraten, eine Formalität, die nötig war, um seine Frau aus russischer staatlicher Abhängigkeit zu befreien. Dann muß er sehr schnell nach Barletta im äußersten Süden gereist sein, um seine letzten Grundstücke zu verkaufen, und am 13. Juli traf er dann in Locarno ein. Hier wird ihm die Mißwirtschaft beim Bau und beim gemeinsamen häuslichen Leben in der Baronata mitgeteilt, zu der sein und Bakunins Mangel an Erfahrung und andere Ursachen beigetragen hatten, für die er aber Bakunin allein verantwortlich macht. Er bricht mit ihm und von diesen traurigen Vorwürfen aufs äußerste gekränkt, entschließt sich Bakunin, nach Bologna zu gehen und dort den Tod zu suchen. Er reist am 27. Juli ab und wohnt in Bologna vom 30. Juli ab in äußerster Verborgenheit bei den Brüdern Berardi und Francesco Pasi. Costa erscheint dort (30. Juli), eilt dann nach Rom, kommt wieder mit S. Mazzotti und Alceste Faggioli (3. August), reist mit Faggioli nach Rovigo (4.) und wird bei der Rückkehr (5.) verhaftet. Faggioli warnt Bakunin, der um zwei Uhr nachts in ein neues Asyl, zu Silvio Fruggieri, gebracht wird.

Diese Verhaftung Costas, die ganz zufällig stattgefunden haben soll, überstürzte die Bewegung. In nach der Rückkehr in die Schweiz am 4. September geschriebenen Notizen bemerkt Bakunin: (6. August): Beratung; Plan angenommen für morgen (Paolo Berardi, Fruggieri, Leonesi, Faggioli, Bakunin). (7.): am Abend die letzte große Beratung — Leonesi, Paolo und Pio Berardi, Fruggieri, Campagnolo, Guardigli, Bakunin und zwei andere; alle einverstanden.

Nun folgte die Nacht der Prati di Caprara. Bakunin wartet allein zu Hause und schildert dies so: Enttäuschung; eine schreckliche Nacht; Revolver, zwei Zoll vom Tod entfernt. Der Reihe nach kommen Leonesi, Fruggieri, Berardi, Guardigli; zwischen 3 und 4 allein; um 4 Uhr Tod (d. h., er hatte diese Stunde für den Selbstmord bestimmt, weil die Bewegung nicht eintrat); um 3 Uhr 40 (am 8. August) kommt Silvio (Fruggieri) und hält mich vom Tode ab; wir legen uns nieder.

Diese Szene, die mir 1899 von Fruggieri unabhängig von diesem Bericht auf gleiche Weise geschildert wurde, bezieht sich auf die Nacht vom 7. zum 8. August, in der auf einer Wiese außerhalb von Bologna die Internationalisten umliegender Orte und die von Bologna sich treffen sollten, um Waffen zu verteilen, die wegen des Oktroi nicht in die Stadt gebracht werden konnten; man wollte dann in die Stadt eindringen und sich derselben bemächtigen. Aber es kamen nur eine geringe Zahl von Bologna, darunter Leonesi, Cesari, Mazzotti u. a. und eine Gruppe aus San Giovanni in Persiceto; ebenso zog von Imola eine Bande nach Bologna zu, bis sie gewarnt wurde und sich zerstreute; kurz, statt 2000 kamen nur 150, von denen dann die meisten nach Hause gingen, während sich einige 20 der Kompromittiertesten in die Berge schlugen, dort aber sich bald zerstreuen oder gefangengeben mußten.

Bakunin, aufs bitterste enttäuscht und in Locarno jetzt ohne Heim, blieb bis zum 12. August in Bologna und reiste in Verkleidung ab. Er hielt sich zunächst in Splügen (Graubünden) auf, zusammen mit Francesco Natta, dem Haupt der Florentiner Bewegung. Wieder besprechen sie sich, setzen einen Aktionsplan fest und verabreden neue Chiffren (14.—21. August). Dies ist Bakunins letzte Teilnahme an der Bewegung gewesen. Von da ab beschäftigen ihn verzweifelte Versuche, seine privaten Verhältnisse zu ordnen, um seiner Familie ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Der Bruch mit Cafiero wird unheilbar, und bald sagen sich James Guillaume und andere seiner intimsten Genossen von ihm los. Natta, der wie alle anderen außerhalb dieser intimen Vorgänge stand, reiste am 21. nach Locarno ab. In Florenz kam es zu noch weniger als in der Umgebung von Bologna, wie der Prozeßbericht im einzelnen zeigt.

Ich übergehe die den Prozessen von Rom, Livorno, Massa, Perugia zugrunde gelegten Vorgänge. In der Villa Ruffi (2. August) wären die älteren mazzinistischen Führer Eugenia Valzania und einigen anderen einer Bewegung freundlichen entgegengetreten. Die Anklage gegen sie alle (Bologna, 15. November 1874) wurde verworfen (23. Dezember), aber Valzania wurde interniert (ammonizione), was auch das häufige Schicksal von Internationalisten war, die aus der Untersuchungshaft entlassen oder von Schwurgerichten freigesprochen worden waren.

Die Bewegung von 1874 hatte wahrscheinlich sehr vitale Fehler; sie hing ab von einer Menge Vorbereitungen, Zusammenkünften, einer bestimmten Reihenfolge des Vorgehens usw. und einige Verhaftungen oder Zufälle störten diesen verwickelten Mechanismus.

Sie war zur Zeit der Volksunruhen nicht aktionsfähig, denn, wie die Prozesse zeigen, scheinen die Gewehre erst Ende Juli gekauft worden zu sein; ob die Reisen Cafieros, der das meiste Geld beitrug, eine Verzögerung verursachten, vermag ich nicht zu entscheiden. Sehr wahrscheinlich würde man an vielen Orten, wo man sich vorbereitet hatte, dem Beispiel Bolognas gefolgt sein. So aber wurden vielleicht eher diese Vorbereitungen rückgängig gemacht und ihre Spuren zerstört. Man schildert auch Costa als zu optimistisch und oberflächlich bei der Erwartung versprochener Unterstützung. Eine akute Frage, ein unmittelbarer Gährungsstoff, der das Volk angezogen und aufgerüttelt hätte, fehlte, und das Ganze schwebte in der Luft. Aber die Haltung der Gefangenen in den vielen Monaten und Jahren der Untersuchungshaft und bei den Prozessen trug viel dazu bei, das Prestige der Internationale wieder aufzubauen.

Unter denen, die sich trotz allem ganz in diese Bewegung stürzten und ihr möglichstes taten, befand sich Malatesta in Süditalien.

Gegen Ende Januar 1874 in Barletta freigelassen, konnte er mit den im Dezember 1873 in Locarno gefaßten, anfänglichen Beschlüssen nichts zu tun haben. (Cafiero war im Oktober 1873 in Barletta gewesen; ich weiß nicht, ob er ihn im Gefängnis besuchen konnte). Nach seiner Erzählung lebte er nach der Freilassung in Neapel, und Costa besuchte ihn dort und erzählte ihm von der beabsichtigten Bewegung. Damals fand ein ergebnisloser Besuch in Gaëta statt. Er war auch in Calabrien und erhielt Versprechungen. Ein Brief eines republikanischen Redakteurs in Catanzaro (23. Juli), der sich der Internationale zuwenden wollte, wurde als belastend angesehen, und die Prozedur von Catanzaro wurde mit der von Apulien vereinigt (Februar 1875), ebenso die von Palermo (4. März). In die sizilianische Anklage (16. März) gegen A. Riggio (Girgenti) und drei andere ist Malatesta auch mit einbegriffen. All diese Anklagen brachen übrigens zusammen und werden nur erwähnt, um zu zeigen, wie versucht wurde, die Bewegung überallhin auszudehnen; so schlägt Calogero Portolano (Girgenti) in einem Brief vor, daß zehn, darunter Cafiero, in Palermo sich beraten sollten; aber selbst das Gericht verwarf den darauf gestützten Versuch, Cafiero in den Prozeß hineinzuziehen.

In der ersten Hälfte Juli oder gegen Mitte Juli kam Malatesta nach Locarno. Nach seiner Erinnerung war Cafiero noch in Rußland. A. Roß, ein russischer Genosse Bakunins, damals aus London gekommen, erinnert sich, daß Malatesta „während des Höhepunktes der Krise“ in Locarno war; dies müßte dann nach dem Bruch (5. Juli) und bevor Bakunin sich zur Reise nach Bologna entschloß, gewesen sein (vergl. J. Guillaume L’Internationale, III, S. 201; 1904). Ich kann nicht umhin, in Guillaumes Darstellung all dieser Vergänge die Mitwirkung einer Selbstsuggestion zu sehen, durch die er die damals gegen Bakunin gebrauchte Härte in teils milderem Licht, teils relativ gerechtfertigt sehen wol[l]te. Diese Sache ist nicht ohne nähere Bedeutung; es deutet für mich aber alles darauf hin, daß Malatesta sich in dieser Sache fernhielt und beiden, Bakunin und Cafiero, aufrichtige Freundschaft bewahrte.

In der zweiten Julihälfte reiste er nach Süditalien zurück. Am 30. Juli wurden fünf Kisten Gewehre von Neapel nach Tarent geschickt, wo diese 150 Gewehre im Eisenbahnmagazin lagerten, dessen man sich bemächtigen wollte, um die Gewehre zu erlangen. Es war auch versprochen worden, einige Lokomotiven unter Dampf zu erhalten, um die Bande den Bergen und dem Basilikat zuführen zu können, falls eine Bewegung in Tarent mißlinge. Aber statt 300 bis 500 kamen nur drei Leute und man ließ schnell diese Kisten nach Molfetta und von dort nach Terlizzi umadressieren. Nach der Anklage wurden sie in der Nacht des 8. August in die Umgebung von San Martino gebracht, wo in der Nacht des 11./12. 69 Gewehre versteckt gefunden wurden, weitere 13 am Morgen des 13. (?) in den Ruinen von Castel del Monte.

Am 16. hatten sich sechs Revolutionäre, mit schwarz und roten Abzeichen, den Farben der Internationale, in diesen Ruinen festgesetzt, einem Schloß aus den Tagen des mittelalterlichen Kaisers Friedrich III., wo 50 oder 60 Jahre früher auch die geheimen Gesellschaften jener Gegend Zusammenkünfte abhielten. Es liegt in den Bergen zwischen den kleinen Städten Minervino und Corato. Sie sprachen zu den Bauern, die sich zu nichts entschlossen, weil ihre Zahl so gering war. Gendarmen erschienen in der Entfernung und einige Schüsse wurden gewechselt. Dies dauerte mehrere Tage (11. bis 14. August); einige verloren den Mut. Schließlich warnte sie ein als Bauer verkleideter Freund zu Pferde, daß große Mengen Soldaten sie zu umzingeln begannen. Daraufhin beschlossen sie, sich zu entfernen. Ein kleiner Grundbesitzer, der sie Narren nannte, aber sie zu retten wünschte, führte sie auf einem Handwagen, unter dem Heu verborgen, durch den Soldatenkordon durch und sie zerstreuten sich.

Sie waren nicht immer in Castel del Monte geblieben; das Gerücht ließ kleine Banden in Andria, Molfetta, Corato und Minervino auftauchen, und überall wurde nach ihnen gesucht, aber tatsächlich waren es immer dieselben allgegenwärtigen sechs gewesen.

Malatesta brachte nun einige Tage in Neapel versteckt zu, wo am 18. August seine Wohnung durchsucht wurde. Am 20. August schrieb Emilio Bellerio, Bakunins den Ideen sich nicht anschließender, aber stets hilfreicher junger Tessiner Freund, aus Locarno an Bakunin in Splügen: „ein Freund aus Neapel kam hier an (es war Carmelo Palladino). Er sagt, daß sich nichts machen läßt. Die, deren Adresse Sie verlangen, sind versteckt oder eingesperrt. Malatesta wird hier erwartet; wenn er heute nicht eintrifft, wäre dies ein böse Zeichen. Im Postamt von Neapel wartet seit 12 Tagen ein Polizist auf Leute, welche an D. Pasqualio, per Adresse Nicolo Bellerio (Malatestas Adresse seit 1872, s. Kap. VII) geschickte Briefe abholen würden.“

Malatesta wurde vergebens erwartet; denn auf der Reise nach Norden wurde er in Pesaro, zwischen Ancona und Rimini, verhaftet; er glaubt, er sei schon in Neapel verraten oder erkannt worden. Er brachte dann lange Monate in der Untersuchungshaft in Trani (Apulien) zu.[7])

 

IX. Der Prozeß von Trani und andere Vorgänge vom August 1874 bis zum Sommer 1876.

Die geringe Ausdehnung und der manchmal fast idyllische Charakter der wenigen wirklichen Vorgänge vom August 1874 schadete der Popularität der Internationale nicht. Erfolganbetung war nicht allein maßgebend damals und in magnis voluisse sat est (bei großen Dingen genügt der gute Wille) galt noch; eine gute Absicht steht höher als Erfolg. Mazzinis praktische Versuche waren doch alle fehlgeschlagen, und war Garibaldi etwa weniger beliebt wegen der Niederlagen von Aspromonte und Mentana? Und die Regierung behandelte die Sache der Internationale, wie die früheren Bourbons selbst eine alte politische Verschwörung behandelt hätten; auf endlose Monate Untersuchungshaft folgten Riesenprozesse; der Prozeß von Bologna ging erst am 17. Juni 1876 nach dreimonatlicher Dauer zu Ende. Dies und die wohlgemute und kühne Haltung der Angeklagten brachte ihnen Interesse und Sympathien, so daß diese Prozesse die eindrucksvollsten und daher wichtigsten Erscheinungen der ganzen Bewegung dieser Jahre sind. Da im Prozeß von Florenz, 1875, unter den nichtigsten Vorwänden Republikkaner und Demokraten mit angeklagt wurden, war die Gelegenheit da, Garibaldi und alte .mazzinistische Führer, wie Aurelio Saffi, als Verteidigungszeugen erscheinen zu lassen. All das und die lumpigen Polizeiaussagen und vor allem die Jugend, der reine Charakter, Mut, Trotz und dabei doch die altruistische Milde der Angeklagten und geschickte kritische und rhetorische Bemühungen der Verteidiger, — all dies schuf eine Atmosphäre allgemeiner Sympathie, und alle offiziellen Beweise und die Anschuldigungen der Staatsanwälte gegen den Sozialismus begegneten nur Verachtung.

Diese Serie von Prozessen begann übrigens ungünstig, indem im Prozeß von Rom (4.—8. Mai 1875) Verurteilungen bis zu 10 Jahren Kerker und Gefängnis ausgesprochen wurden. Aber es mußte ein anderer Prozeß stattfinden, nur ein Jahr später (11.—18. Mai 1876), der mit Freisprechungen endete. Der Prozeß von Florenz (30. Juni bis 30. August 1875), dessen Dibattimenti die republikanische Partei veröffentlichte (Rom, 1875, 529 S.) fiel mit Malatestas Prozeß in Trani (Apulien), Anfang August, zusammen;in Trani waren sieben Angeklagte; Freisprechung am 5. August. Diese gute Nachricht erregte dann in Florenz während des Prozesses Hoffnungen, und während ein Angeklagter wegen eines angeblichen Gewaltaktes zu neun Jahren und zwei andere zu einer nominellen Strafe wegen Waffenbesitz verurteilt wurden, sprachen die Geschworenen alle andern frei. Der Prozeß von 33 umbrischen Internationalisten in Perugia endete ebenso (24. September), auch spätere Prozesse in Livorno und in Massa Carrara. Die Gefangenen aus den Marken und Abruzzen (Aquila) wurden mit den Romagnolen und Bolognesern im Prozeß von Bologna (15. März bis 17. Juni 1876) vor die Jury gestellt; hier war Costa der geistige Mittelpunkt der Angeklagten; Freisprechung.

Die Berichte über diese Prozesse sind ganz ungenügend, Florenz ausgenommen. Aber manche gute Verteidigungsreden sind gedruckt, besonders die bedeutenden Reden von Giuseppe Ceneri, Giuseppe Barbanti und Aristide Venturini in Bologna (Broschüre von 1876 und Opere di Giuseppe Ceneri, 1891, I, S. 39—118).

Die sizilianische Anklage gegen Riggio und Carmelo Spada ist besprochen in La Cospirazione in Sicilia, von G. A. Pugliese (Verteidiger), Trani, Mai 1875, 52 S., gedruckt in Barletta; dies bezieht sich auf das Requisitorio pel Processo di Sicilia (Trani, 16. März 1875, eine Handschrift von 12 S. folio).

Auf Malatestas unmittelbare apulische Angelegenheit bezieht sich: Sezione di Accusa delle Puglie. Raggioni in Difesa di Errico Malatesta e Vincenzo Pappagallo imputati di Cospirazione. Maggio 1875. Relatore Consigliere Sig. Cav. de Vincentino; auf dem Umschlag: La Cospirazione del 1874 in Molfetta innanzi la Sezione di accusa. Avvocati (Ferdinando) Lambert (Valbois) e Covelli (Nicola), Barletta, Tip. Municipale V. Vecchi e Soci, 25 S., 8°.

Ich sah diese Schriften durch, kenne aber keinen Prozeßbericht und natürlich auch nicht die 24 Aktenbände, die sich nach Puglieses Broschüre, S. 5, bis dahin angesammelt hatten.

Am 29. August 1875 schrieb Cafiero an Bakunin: „die Wirkung des Prozesses von Malatesta und Genossen in den drei Apulien ist unglaublich. Die Geschworenen — die selbst die reichsten Leute der Provinz waren — schüttelten sofort nach dem Prozeß die Hände der Angeklagten, und diese wurden im Triumph empfangen.“ Diese Nachricht, von Malatesta oder von lokalen Freunden erhalten — denn Trani liegt nahe seiner Heimatstadt Barletta — schickte Cafiero auch an die Plebe (Lodi), und das Bulletin (jurassien) brachte sie am 5. September. Der Prozeß dauerte fünf Tage (1.—5. August), bei allgemeinem Interesse, nicht nur Interesse der Gebildeten. Die Jury bestand aus den reichsten Grundbesitzern, und viel Militär wurde ostentativ aufgeboten. Der Staatsanwalt sagte der Jury wörtlich: „Wenn Ihr diese Leute nicht schuldig sprecht, werden sie eines Tages kommen, Eure Frauen wegzuführen, Eure Töchter zu vergewaltigen, Euer Eigentum zu stehlen und die Früchte des Schweißes Eures Angesichts zu zerstören, und Ihr werdet dastehen ruiniert, elend und als ehrlos gebrandmarkt.“ Nach dem Verdikt traten die Geschworenen unter das applaudierende Volk und öffentlich und privat begegneten die Freigespröchenen in Trani dem herzlichsten Ausdruck allgemeiner Sympathie. Wenn nur, schrieb Cafiero, die Regierung die Prozesse vervielfältigen würde! Sie mögen einigen von uns Jahre von Gefängnis kosten, aber sie werden unserer Sache ungeheuren Nutzen bringen.

Damals reiste Malatesta für einige Tage nach Locarno und besprach mit Cafiero die Reorganisation der Alliance. Cafiero und seine russische Frau (Olympia Kutusova), auch S. Mazzotti, wohnten damals in der Baronata in beschränktesten Verhältnissen, die Folge von Cafieros finaniellem Ruin. Aber er sprach damals ohne Animosität über Bakunin, der seinerseits dasselbe tat, als Malatesta ihn in Lugano besuchte, wo er seit Oktober 1874 lebte. Er fand ihn ganz und gar mit den Vorarbeiten zum Gemüse- und Obstbau beschäftigt, die seinen Garten in Lugano ertragfähig machen sollten, und er gewann den Eindruck, daß sein Leben als tätiger Revolutionär zu Ende sei unter dem überwältigenden Druck gebrochener Gesundheit und des Alters; tatsächlich lag nach weniger als neun Monaten, nach neuen Enttäuschungen und viel körperlichen Schmerzen Bakunin auf der Bahre (1. Juli 1876).

Ich habe bisher viel von Bakunin gesprochen, weil sich eben Malatesta in seinen Anfängen ganz auf ihn aufbaute und von seiner ersten Berührung mit dem Sozialismus (1871) an ganz im Kreise der von Bakunin am glänzendsten vertretenen antiautoritären Richtung der Internationale lebte. In diese Richtung brachten die Italiener ihr dringendes Verlangen, wirklich zu handeln, wie sie ihre Verschwörer und ihre Leute der Aktion, ihre Mazzini und ihre Garibaldi hatten handeln sehen. So waren diese jungen Internationalisten vom ersten Beginn an auch Gebende, die etwas Neues brachten. Daß nun im August 1874 hier ein plötzliches Aufhören des bis dahin so engen Kontakts erfolgte, ergab sich einerseits durch die Verhaftungen der meisten italienischen engsten Genossen, andrerseits durch den Bruch mit Cafiero wegen der Barornta, über welche Vorgänge die einen als Gefangene, die andern als wahrscheinlich nicht oder möglichst wenig in diese Vorgänge Eingeweihte nichts Genaues wissen mochten und nicht vermittelnd eintreten konnten. All dies ist in meiner Biographie Bakunins im einzelnen, meist nach Briefen, dargestellt, um eben diese dunkle Periode nicht mit leerer Phraseologie und ungenauen Gerüchten umkleidet zu lassen. Ich hatte, wie ich glaube, in dem Tessiner Freund Bakunins, Emilio Bellerio, der nach Kräften beiden, Bakunin und Cafiero, zu helfen suchte, einen guten Führer. Aus diesem gedruckten und, so weit es mir 1901—1904 bekannt wurde, handschriftlichen Material hat James Guillaume, wohl der einzige, der es drcharbeitete, in L’Internationale, Band III (1909) eine durch eigene Erinnerungen und solche von A. Roß ergänzte Auswahl gegeben, die nach meinem Eindruck zu sehr durch seinen späteren Wunsch beeinflußt ist, das, wie ich glaube, harte Benehmen der nicht italienischen engsten Genossen Bakunins gegen denselben zu rechtfertigen. Ich möchte dazu nur sagen, daß, als 1905 Guillaume seinen Standpunkt Kropotkin mitteilte, dieser den Gegenstand mit Malatesta besprach und, wie er mir mitteilte, zu dem Resultat kam —, was auch sein erster Eindruck gewesen war —, daß Guillaumes Standpunkt nicht der richtige war. Kropotkin hielt das damalige Vorgehen von A. Roß für eine Hauptursache der „Verschärfung des Streites und schloß sich der so menschlichen und vernünftigen Ansicht Malatestas an, daß diese im ersten Augenblick so (heftige Kollision sich bald abgeschwächt hätte, wenn Dritte den Konflikt nicht verschärft hätten.

Seit ich dies 1921 schrieb, hatte ich vor wenigen Monaten Gelegenheit, A. Roß seit 1904 wiederzusehen und seine tiefe Sympathie für Bakunin genau kennenzulernen als früher. Er war 1874 lange in London abwesend gewesen, wo er russische anarchistische Bücher Bakunins und Guillaumes druckte, und er hatte, als er nach Locarno kam, auch nur das traurige Resultat der Baronata und nicht alle einzelnen Ursachen desselben vor Augen (Juli 1874). Wäre er in der Schweiz geblieben, wäre vermutlich die ganze Sache praktischer betrieben oder rechtzeitig verbessert worden. So sahen also Cafiero und Roß den Streitfall schon 1875 milder an; nur Guillaume, dem übrigens die unmittelbare Anschauung am meisten fehlte, hielt, wie es seine Art war, noch vierzig Jahre später an seinem Standpunkt von 1874 unverbrüchlich fest, und dies färbte die Darstellung seines Buchs. Malatesta stand der Sache ganz fern und war derjenige, der am meisten in Italien wirklich tätig war, statt sich in Locarno aufzuhalten. Ich mußte all dies erwähnen, weil es das Zurücktreten Bakunins aus der Bewegung zur unmittelbaren Folge hatte und vielfach erklärt.

Damals, etwa im September 1875, muß Malatestas Reise nach Spanien zur Befreiung von Alerini aus dem Gefängnis von Cadix angeregt worden sein. Charles Alerini, ein Corse, trat im Oktober 1870 in Bakunins engsten Kreis, als derselbe die in Lyon Ende September fehlgeschlagene kriegsrevolutionäre Aktion in Marseille noch einmal zu organisieren versuchte. Aber schließlich wurde seine Flucht aus Frankreich notwendig und Alerini rettete ihn auf ein Schiff, das ihn nach Genua brachte. Dies sollte jetzt Alerini vergolten werden, der im April 1871 selbst nach Barcelona hatte flüchten müssen. Er war einer der spanischen Delegierten im Haag und in Zürich, 1872, wo Malatesta ihn als lebhaften, beweglichen Südländer kennenlernte. Mit Paul Brousse (Montpellier) und Camille Camet (Lyon; 1872 auch in Zürich) bildete er die kleine französische Gruppe, welche die Solidarité révolutionnaire 1873 in Barcelona erscheinen ließ. Nach der Niederlage der Bewegung entkam Brousse in die Schweiz, während Alerini und zahllose spanische Internationalisten und kantonalistische Rebellen für Jahre in spanische Kerker gelangten.

Diese Reise, im Herbst 1875 oder etwas später, erzählte mir Malatesta mit viel Humor. Die Genossen von Cadix hielten die Flucht für leicht zu bewerkstelligen. Er wurde in das Gefängnis so leicht hineingelassen wie in ein Hotel und brachte den Tag mit Alerini und 30 oder 40 Genossen, Gefangenen von Cartagena, Alcoy und Cadix (1873) interessant zu. Zuletzt bat er den Hauptwärter, Alerini mit ihm in die Stadt gehen zu lassen und ließ einige Goldstücke sehen, die in der Hand des Wärters verschwanden. Den nächsten Tag durfte Alerini, von zwei Wärtern begleitet, mit ihm ausgehen. Die lokalen Genossen hatten schon ein Schiff gefunden, die Wärter wurden betrunken gemacht, aber — Alerini zögerte und wollte gar nicht fort. So hatten er und Malatesta nur die beträchtliche Mühe, die betrunkenen Wärter richtig im Gefängnis wieder abzuliefern. Den nächsten Tag schien Alerini mehr entschlossen; diesmal hatten ein Goldstück und ein Wärter genügt, aber ein nüchterner, gegen den am Abend mit einem Schlaftrunk vorgegangen wurde. Wieder stand es Alerini frei, zu gehen, und er schien bereit, versteckte sich aber dann und war nicht fortzubringen. So mußte Malatesta die Sache aufgeben. Vielleicht hatte Alerini eine Geliebte in Cadix, oder wollte er sich nicht wieder in die Bewegung stürzen — genug, seine Zeit war vorüber.

Ich glaube mich zu erinnern, gehört zu haben, daß auf dieser Reise Malatesta auch T. G. Morago in Madrid wiedersah, im Gefängnis oder versteckt; dies war ein ernsterer Mann als Alerini. In jenen Jahren bestand die spanische Internationale als geheime Organisation weiter, hielt ihre Provinzkonferenzen, ließ geheimgedruckte Zeitschriften erscheinen. Schließlich wurde ein offen erscheinendes Blatt, die von Viñas redigierte Revista social von Barcelona das Hauptorgan. P. Kropotkin wollte 1877 nach Spanien reisen, als dort eine revolutionäre Bewegung bevorzustehen schien. Er reiste tatsächlich im Juli 1878 dorthin, lernte die recht verschiedenen Richtungen von Barcelona (Viñas) und Madrid (Morago) intim kennen und erhielt dauernde gute Eindrücke. Viel derartiges hat gewiß auch Malatesta auf seiner Reise beobachtet.

Die innere Geschichte der italienischen Internationale vom August 1874 bis nach den großen Prozessen (1875—76) wird bis jetzt gewöhnlich nach F. Pezzis Buch (1882) wiederholt, der in der Lage war, die verschiedenen, 1875 besonders unter den Flüchtlingen im Tessin auftauchenden Pläne und Vorschläge zu kennen. Malatesta hielt all das für recht geringfügig, und es führte zu nichts. Daß ein Comitaio Italiano per la Rivoluzione sociale weiterbestand oder in Cafieros Kreise in Locarno rekonstruiert wurde, geht aus einem Brief Cafieros an Bakunin vom 27. August 1875 hervor. Sobald aber Malatesta, die Gefangenen von Florenz und andere seit dem Herbst 1875 allmählich frei wurden, war natürlich die Rekonstruktion der Internationale, wenn möglich durch einen öffentlichen Kongreß, das nächste Ziel, dem man vorarbeitete, obgleich der große Prozeß von Bologna noch bevorstand und, wie ich annehme, Rücksicht auf die Gefangenen, bis der Prozeß vorüber war, ein ruhiges Vorgehen notwendig machte.

Malatesta brachte den Winter 1875—76 in Neapel zu; in dem gelegentlichen Artikel A proposito di massoneria (Umanità nova, 7. Oktober 1920) erzählt er von dieser Zeit: „. . . . .Ich war Freimaurer,

als ich etwas jünger als heute war — vom 19. Oktober 1875 bis zum März oder April 1876.

Ich kehrte nach Neapel zurück . . . . . wir waren freigesprochen

worden (in Trani) trotz unserer ausdrücklichen Erklärungen zugunsten des Anarchismus, Kollektivismus (wie der damalige Ausdruck war) und Revolutionarismus, weil damals die Bourgeoisie, besonders im Süden, die soziale Gefahr noch nicht fühlte und es oft genügte, ein Feind der Regierung zu sein, um die Sympathie der Geschworenen zu besitzen.

Ich kam zurück im Schimmer einer gewissen Popularität, und die Freimaurer wollten mich als Mitglied haben. Ein diesbezüglicher Vorschlag wurde mir gemacht. Ich erhob den Einwurf meiner sozialistischen und anarchistischen Ideen, und man sagte mir, die Maurerei als für den unbegrenzten Fortschritt und der Anarchismus könne sehr gut sich in ihr Programm einfügen; ich sagte, daß ich die traditionelle Eidesform nicht akzeptieren könne und man erwiderte, es würde für mich genügen zu versprechen, für das Beste der Menschheit zu kämpfen; ich sagte auch, daß ich nicht gewillt sei, mich den lächerlichen „Prüfungen“ der Initiation zu unterwerfen und erfuhr, daß sie in meinem Fall wegfallen würden. Kurz gesagt, sie wollten mich um jeden Preis haben, und ich nahm schließlich an . . . auch aus dem Grunde, daß mir die Idee kam, Bakunins fehlgeschlagenen Versuch zu wiederholen, die Freimaurerei zu ihren idealen Anfängen zurückzuführen und eine wirklich revolutionäre Gesellschaft aus ihr zu machen (1864—65).

So trat ich der Freimauerei bei . . . und bemerkte schnell, daß sie nur den Interessen derjenigen Brüder diente, welche die größten Betrüger waren. Aber da ich dort enthusiastische junge Leute traf, die den sozialistischen Ideen zugänglich waren, so blieb ich, um unter denselben Propaganda zu machen und tat dies zum großen Skandal und Aerger der Hauptpersonen“.

Als aber Nikotera zur Regierung gelangte und die Loge beschloß, ihn mit fliegenden Fahnen zu begrüßen, konnte Malatesta nur, wie er sagte, „protestieren und seiner Wege gehen“. Von da an waren seine Beziehungen zur Maurerei nur noch feindliche. Eine der Ursachen seines Bruchs mit Costa „mit dem wir mehr als Bruder gewesen waren“, war Costas Eintritt in die Freimauerei. In der Questione sociale (1884) und der Agitazione (1898) hatte er eine heftige Polemik mit den Freimaurern (die mir jetzt nicht vorliegt).

Im März 1876 traten eine Anzahl von Internationalisten in Rom zu einer privaten Konferenz zusammen, um die Reorganisation der Bewegung zu besprechen. Serafino Mazzotti, der aus Lugano dorthin reiste, erzählte mir, daß Bakunin, nun ganz zurückgezogen, ihm eine Art mündlicher Botschaft an diese Versammlung mitgab, welche den traurigen gegenwärtigen Stand der Bewegung feststellte — selbst die Juraföderation mit ihrem Doktrinarismus sei jetzt eine stärkere Bewegung; jeder Charlatan könne kommen, um die Bewegung seinen Zwecken dienstbar zu machen (wie wenn er Costas Abfall zum Parlamentarismus wenige Jahre später vorausgeahnt hätte!), kurz, schloß er, wenn Ihr etwas werden wollt, müßt Ihr von neuem beginnen. Mazzotti hatte sich diese Worte gut eingeprägt, aber ob er sie der Versammlung wirkungsvoll vorlegen konnte, weiß ich nicht näher.

Damals gelangte die radikale Partei zur Macht (18. März 1876). Nicotera, der neue Ministerpräsident, in den Fünfzigern der Genosse von Pisacane. und Fanelli, schickte, als eine öffentliche Demonstration in Rom vorbereitet wurde, Doktor Friscia, den sizilianischen Freund Bakunins und seinen eigenen alten Freund, zu Malatesta, ihm zu raten, sich ruhig zu verhalten und abzureisen. Malatesta erwi[e]d[e]rte, er hätte von Nicotera keine Befehle und keinen Rat entgegenzunehmen. Dann wurden er und andere verhaftet und er wurde nach Neapel gebracht. Die radikale Regierung Nicoteras behandelte die Internationalisten als malfattori (gemeine Verbrecher) und die ammonizione (die schwerste Form der Internierung) war ihr gewöhnliches Los.

Um diese Zeit verließ Malatesta das einzige Mal in seinem Leben seinen gewöhnlichen Weg, um für eine andere Sache tätig zu sein, die der herzegowinischen Insurrektion gegen die Türken. Er hatte über diese Bewegung 1875 mit Bakunin gesprochen und erinnerte sich, daß Bakunin von dem energischen Auftreten englischer Staatsmänner in früherer Zeit bei solchen Gelegenheiten erzählte; er mochte an Lord Palmerston denken. 1876 ließ ihm Bakunin durch S. Mazzotti sagen, an einer solchen Aktion teilzunehmen sei für ihn etwas ähnliches, wie wenn gute Leute in England für die heidnischen Neger Strümpfe stricken und keinen Blick für die barfüßigen Armen bei sich zu Hause haben. Mazzotti erinnerte sich, daß Malatesta als Erwiderung sagen ließ, wo immer Karthago angegriffen werde, werde Rom verteidigt. Sein Entschluß stand also schon im März fest.

Für diese Bewegung hatte sich Garibaldi eingesetzt; Celso Cerretti war dort, auch Alceste Faggioli nach dem Prozeß von Bologna. Im Juli 1875 gingen A. Roß, auch Stepniak und Dmitri Klemens auf diesen Kriegsschauplatz; Roß kehrte bald ganz enttäuscht zurück (er hat mir noch 1922 seine dortigen Erlebnisse sehr eingehend erzählt); da er bald darauf Cafiero in Rom traf, ist es möglich, daß Malatesta auch diese nüchterne Schilderung hörte, und auch das Jura-Bulletin äußerte sich in diesem Sinn. Aber er war nicht zu halten; einige Rivalität mit den Garibaldianern und der Wunsch, mehr zu kämpfen als 1874 (oder den Partisanenkrieg an der Quelle zu studieren, was Stepniak interessierte) mögen mitgewirkt haben. In jenen Jahren wendeten sich die Mazzinisten und Garibaldianer schon von jeder inneren Aktion mit republikanischem Ziel ab und wurden schlau verwendet, ihren Enthusiast mus und manchmal ihr Leben im Dienst der nichtoffiziellen äußeren Politik Italiens auszugeben. Schon 1870 hatte Garibaldi den dem Prestige Frankreichs durch die Besetzung des päpstlichen Rom erteilten Schlag durch seine unmittelbar darauf Frankreich geleistete Kriegshilfe aufgewogen, und seitdem kämpften die waffengewohnten Garibaldianer für Italien im Balkan und in Griechenland, während die kultivierteren Mazzinisten die mehr literarische und erzieherische Propaganda in den italienisch sprechenden Teilen von Oesterreich übernahmen.

All dies war, wie üblich, mit Wolken schöner Worte umhüllt, und Gefühle fragen nicht nach Gründen, und so bekämpfte damals, neben Garibaldi und Gladstone, auch Malatesta auf seine Weise die Türkei. Im Frühjahr 1876 begab er sich nach Triest, wurde aber nach Italien zurückgeschickt. Er versuchte es von neuem und gelangte bis Neusatz (Kroatien), auf dem Weg nach Belgrad. Von dort wurde er wieder zurückgeschickt, diesmal durch Gendarmerie in 30 Tagen, bis Udine erreicht war, wo ihn die Italiener einsperrten, da sie ihn für einen ihm ähnlich sehenden flüchtig gewordenen Zollbeamten hielten. Dann mußte er mit Marschroute nach Neapel zurück, hielt sich aber unterwegs kurze Zeit in Florenz auf.

In Florenz war die alte Korrespondenzkommission (von Ende 1873) wieder erwacht, und gleich nach der Freisprechung in Bologna (17. Juni) begann Costa für den neuen Kongreß zu arbeiten. Ein Zirkular der Sektion Imola forderte zur Neubildung von Sektionen und Föderationen auf (25. Juni) usw. In einem am Tag der Neubegründung der Sektion Imola geschriebenen Brief schrieb Costa, daß die Föderationen von Rom und Neapel schon bestehen und daß die Föderation von Bologna, der Kongreß der Romagna und der allgemeine italienische Kongreß bald zusammentreten werden. All dies gab den Plänen der römischen Konferenz (März) eine viel konkretere Form. In einem Brief von Malatesta (Neapel, 26. Juli) wird gesagt, der Kongreß werde wahrscheinlich im September in Florenz stattfinden. Tatsächlich fand er dort statt, nur einen Monat später, im Oktober 1876.

 

X. Die Kongresse von Florenz und Bern (Oktober 1876); der kommunistische Anarchismus.

 

Während der nächsten drei Monate (Juli—Oktober 1876) kamen Malatesta, Cafiero und Emilio Covelli in Neapel beständig zusammen; Covelli, ein Jugendfreund Cafieros, glühender Internationalist, war auch ein begabter Schriftsteller, der besonders ökonomische Fragen im Auge behielt; später gab er in Neapel L’Anarchia (25. August bis Oktober 1877) heraus, eines der besten Blätter der Internationale, welche übrigens 1876—77 in dem Martello von Fabriano und Jesi (seit Ende Juli 1876) ein gutes Organ hatte, das Costa in Bologna (4. Januar bis 18. März 1877) fortsetzte. Ob Covelli die Aufmerksamkeit auf die ökonomische Seite der Ideen lenkte oder nicht, jedenfalls erzählte mir Malatesta, daß diese drei damals bei ihren Spaziergängen am Meeresufer zur Idee des kommunistischen Anarchismus gelangten.[8])

Dies war ein Schritt vorwärts; denn bis dahin war das die ökonomische Richtung des Anarchismus qualifizierende Beiwort das Wort kollektivistisch.

Dies bedeutete Kollektiveigentum und der volle Arbeitsertrag für den Arbeiter. Aber — fragte man sich jetzt — wie kann der volle Arbeitsertrag bestimmt werden? Dazu wäre die Festsetzung eines Maßstabes notwendig, dem sich alle unterwerfen müssen — dies bedeutet Autorität, — und ferner, da die physischen Kräfte, Geschicklichkeit usw. verschieden sind, wären die Schwächeren und weniger Geschickten die Opfer eines solchen Systems — dies bedeutet Ungleichheit und eine neue Form von Ausbeutung, das Entstehen neuer ökonomischer Vorrechte. Daher soll auch das Arbeitsprodukt Kollektiveigentum sein und allen nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse zur Verfügung stehen. Dies war das alte kommunistische Prinzip, nur war dieses Wort damals in freiheitlichen Kreisen durch den religiösen Kommunismus und Cabets autoritäres System ganz diskreditiert.

Es ist bemerkenswert, daß Anfang 1876 dieselbe Idee, die dann der Kongreß von Florenz im Oktober akzeptierte, eigentlich nur beiläufig erwähnt wurde in einer kleinen Broschüre von François Dumartheray, einem Flüchtling aus Lyon, Aux Travailleurs manuels Partisans de l’action politique (Genève, 1876, S. 13), wo die Worte „le communisme anarchiste“ vielleicht zum erstenmal gedruckt sind. Dumartheray, Perrare und andere gehörten seit Jahren der kleinen, sehr vorgeschrittenen Genfer Sektion „L’Avenir“ an, in deren Milieu sich diese und andere Ideen allmählich scharf herauszuarbeiten Gelegenheit hatten, da die Sektion wieder anderen Fragen gegenüber etwas abseits stand. Bekanntlich war François Dumartheray seit Anfang 1879 einer der Kropotkin am nächsten stehenden Genossen, der den Révolté herausgebenden Gruppe, in welcher sich nach zehnjährigem Vorwiegen der dem Genfer und Schweizer Juramilieu entspringenden Geistesrichtung nun die zunächst an Lyon anknüpfende, bald andere französische Geistesrichtungen erkennen lassen, bis endlich Frankreich in der Anarchie voll und ganz das Wort ergriff.

Kropotkin selbst formulierte die kommunistisch anarchistischen Ideen in seiner Idée anarchiste au point de vue de sa réalisation pratique, den Jurasektionen am 12. Oktober 1879 vorgelegt, und ebenso Cafiero in Anarchie et Communisme vor dem Jurakongreß vom 9. bis 10. Oktober 1880. Seitdem wurden sie allgemein angenommen, mit Ausnahme von Spanien, wo der kollektivistische Anarchismus noch lange blühte.

Selbst unter den Ikariern entstand in jenen Jahren eine freikommunistische Richtung, welche La Jeune learie usw. vertraten; dort bestritten die jüngere Generation und die später Gekommenen den älteren Ansiedlern das Recht auf den ausschließlichen Genuß der Produkte ihrer älteren Obstgärten, welche jene als ihr Privateigentum betrachteten, weil sie selbst diese Bäume lange vor den andern gepflanzt hatten.

Von dieser ikarischen Episode abgesehen, können diese parallelen Entwicklungen als ein erster wichtiger neuer Schritt des Anarchismus seit Bakunins Rücktritt betrachtet werden; die Annahme des taktischen Prinzips der „Propaganda durch die Tat“ war ein zweiter Schritt, und der Ersatz formeller Organisationen durch freie Gruppen bildete bald einen dritten. Der Wunsch, alle autoritären Möglichkeiten auszuschließen und die größte Freiheit zu verwirklichen, beseelte diese Entwicklungen ebenso wie, so glaube ich, das Gefühl, daß Aktion im großen Umfang (das Beispiel der Pariser Kommune war noch so frisch) leider weniger nahe lag, als man in den Jahren bis 1873, 74 geglaubt hatte und daß Ausdehnung und Intensifizierung der Propaganda vor allem nötig seien. Diese neuen Wege wurden von den älteren Genossen nicht immer gewürdigt und gebilligt, aber die ganze innere und äußere Umbildung der Ideen und Formen, soweit ich sie überblicken kann, ist ein vielleicht unerreichtes Vorbild für das friedliche Zurücktreten des Alten, das ruhige Aufblühen des Neuen, ohne den sonst üblichen Zank und Streit. Es blieb auch manches von dem Alten übrig, so in Malatestas eigenem Fall der feste Glaube an die Organisation und an die nicht ferne, sondern mehr oder weniger nahe Möglichkeit gemeinsamer wirklicher Aktion. Anderen schienen diese Möglichkeiten so fern zu liegen, daß sie nur die Propaganda im Auge behielten, oder sie wollten für sich selbst möglichst viel Freiheit verwirklichen und sich nicht mit Organisieren und Organisiertsein belasten. So entstanden eine Reihe von Nuancen, und die Freiheit, die Anarchie, hat Raum für alle, und sie ergänzen sich gegenseitig.

Die Berner Arbeiterzeitung (26. Oktober 1876) erwähnt zuerst den neuen Standpunkt der Italiener, und in einer von Malatesta und Cafiero Unterzeichneten Erklärung (Bulletin, 3. Dezember) heißt es: „Die italienische Föderation betrachtet den Kollektivbesitz der Arbeitsprodukte als notwendige Ergänzung des kollektivistischen Programms, weil das Zusammenarbeiten aller zur Befriedigung der Bedürfnisse eines jeden die einzige Produktions- und Verbrauchsmethode ist, die dem Prinzip der Solidarität Genüge leistet.“ . . .

Man kann wohl sagen, daß die eigentliche anarchistische Propaganda im vollen Sinn erst begann, als diese Ideen durchgedrungen waren. Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag ist gewiß evident, aber es bleibt ein schroffer Anspruch auf Eigentum, und man mag sich vereinigen und diesen Anspruch erkämpfen und würde doch einander fremd bleiben wie heute. Nur der Anspruch aller auf alles, den wirklich freier Kommunismus bedeutet, würde die Menschen näher zusammenführen, das Eigentumsgefühl zerstören und die Solidarität begründen. Einige faßten den Anarchismus immer so auf, lange vor der ersten Fassung dieser Idee im Jahre 1876 (James Guillaume in seinen späteren Jahren behauptete dies stets von sich und seinen Freunden), und nach Beseitigung von Autorität und Monopoleigentum wäre man wohl von selbst zu vollerer Solidarität gelangt; aber bis zu jenen Erklärungen von 1876 wurde das Recht des einzelnen auf den vollen Ertrag seiner individuellen Arbeit so in den Vordergrund gestellt, daß man es als ausschließlich anerkanntes Prinzip betrachten mußte. Die Italiener hatten damals nicht Zeit und Ruhe, diese Idee näher auszuarbeiten, bis Cafiero 1880 seinen Bericht schrieb und Malatesta mehrere Jahre später seine erste Zeitschrift herausgab. So wurden Kropotkins unermüdliche Beiträge zum Révolté, zunächst von 1879 bis 1882 der erste durchgearbeitete Ausdruck dieser neuen Entwicklung; neben ihn trat wie von selbst Elisée Reclus, dessen lange in ihm schlummernder innerer durchaus altruistischer, ich möchte sagen: absoluter oder unbedingter Anarchismus unvermeidlich stets weit entfaltet, das heißt frei kommunistisch war und der die Verengerung der Idee durch die Fixierung eines individuellen Arbeitsertrags gewiß nie beachtet hatte. Isolierte und verschollene Anarchisten in den Fünfzigern, Joseph Déjacque und Ernest Coeurderoy, waren zu denselben Ideen gelangt, aber die aktiven Internationalisten der Siebziger hatten nicht Zeit, nach Vorläufern zu suchen und wußten von ihnen nichts.

Uebrigens stelle ich mir nicht vor, daß Malatesta und Cafiero sich in diese Sache theoretisch vertieften; sie muß ihnen vom Augenblick der ersten Anregung an selbstverständlich erschienen sein. Sie hatten etwas anderes im Kopf, das in der erwähnten Erklärung auf folgende Weise ausgedrückt wird: „Die italienische Föderation glaubt, daß die insurretionelle Tat, bestimmt sozialistische Prinzipien durch Taten zu bekräftigen, das wirksamste Propagandamittel ist und das einzige, das, ohne die Massen zu täuschen und zu korrumpieren, zu den tiefsten sozialen Schichten durchdringen und die lebendigen Kräfte der Menschheit in den Kampf hineinziehen kann, den die Internationale führt.“ (Die Worte „ohne die Massen zu täuschen und zu korrumpieren“ dürften eine Erwiderung auf den Vorschlag einer Teilnahme an Wahlen zu Propagandazwecken sein, den Mitglieder aus Bari dem Kongreß von Florenz gemacht hatten.)

Dies ist in der Internationale wohl die früheste Präzisierung der sogenannten „Propaganda durch die Tat“. Das Jura-Bulletin vom 5. August 1877 enthält den Artikel La Propagande par le fait, welcher beginnt: „Seit einiger Zeit wird ein Gegenstand in der Juraföderation oft besprochen, der wenigstens einen früher nicht gebrauchten Namen trägt: Propaganda durch die Tat.“ . . .[9]) Dieser Artikel ist, wie mir Kropotkin, der damals einige Wochen lang das Bulletin redigierte, erzählte, von Paul Brousse, der kaum zwei Jahre später die Bewegung verließ, gerade weil er (nach Kropotkins Eindruck, der ihm bis dahin so nahestand) die größere Häufigkeit revolutionärer Akte bemerkte und sich nicht entschließen konnte, bei der immer mehr exponierten Bewegung zu verharren. Aber die beiden Italiener, welche die erwähnte Erklärung schrieben und Unterzeichneten, ergriffen in weniger als sechs Monaten die Waffen und handelten ihrem Wort getreu.

Diese Idee wie die des anarchistischen Kommunismus entstand in jenen Diskussionen am Golf von Neapel, und damals wurde auch der Kongreß von Florenz vorbereitet, dessen Verschiebung um einige Wochen auch den Berner internationalen Kongreß hinausschob.

Wie der Kongreß von Florenz stattfand, zeigt Cafieros Schilderung im Jura-Bulletin, am 24. Oktober in Biel geschrieben, die ich auch als Brief von ihm (Bern, 26. Oktober) gesehen habe.

Am Abend des 20. in Florenz angekommen, hören die aus Neapel Kommenden schon von der Verhaftung von Costa und der Korrespondenz-Kommission, Natta und Grassi, und der polizeilichen Besetzung des Kongreßlokals, aber die Dokumente sind gerettet. Sofort, um Mitternacht, bei strömendem Regen, geht es in die Berge, und nach acht Stunden gelangt man in das kleine Dorf Tosi am Kamm der Appenninen. Eine Stunde später waren vier Kommissionen eingesetzt, am Abend des

begann der Kongreß; aber die Nachrichten weiterer Verhaftungen und daß sich die Polizei nähere, veranlaßten den Kongreß, sich weiterzubegeben in den innersten Teil eines großen Waldes. Da war nicht viel Zeit zu Reden, aber die Geschäfte wurden erledigt, und der Kongreß schloß am 22. in einem anderen Wald, von wo sich alle nach verschiedenen Richtungen hin entfernten. Unter solchen Verhältnissen waren, möchte man sagen, der kommunistische Anarchismus und die Propaganda durch die insurrektionelle Tat ein sehr natürliches Produkt, die Antwort von Solidarität und Freiheit auf Verfolgung und Aechtung.

Der Martello sollte die Resolutionen veröffentlichen; ich weiß nicht, ob dies geschehen konnte und kenne auch keine anderen Berichte.

Malatesta und Cafiero reisten sofort in die Schweiz ab, trafen James Guillaume in Biel und erreichten Bern am 25. Oktober.

Der Berner Kongreß ist ausführlich beschrieben im Compte-rendu officiel du VIIle Congrès general de l’Association Internationale des Travailleurs tenu à Berne du 26 au 30 octobre 1876 (Bern, 1876, 112 S.), auch in J. Guillaumes L’Internationale, IV, S. 91—112. Von noch jetzt bekannten Delegierten erwähne ich César De Paepe (Brüssel), Viñas und Soriano (Spanien), Louis Pindy (von der Pariser Kommune, aus dem Jura), Paul Brousse (damals in Bern), James Guillaume, Auguste Spichiger, Rodolphe Kahn, August Reinsdorf (der deutsche Anarchist), Alcide Dubois (Jura), Charles Perron (Genf), Eugène Weiß (Elsaß), ein anderer alter Schweizer Genosse für die Sektionen von Porrentruy und Boncourt, François Dumartheray und N. Joukowsky. Ich übergehe zehn andere; ferner wurden ein Genfer Sozialist und der deutsche sozialdemokratische Abgeordnete Vahlteich als Teilnehmer an der Diskussion zugelassen, was auch H. Greulich und J. Franz (Eisenhauer) aus Zürich auf ihren Wunsch gestattet wurde. Malatesta lernte hier ein sehr repräsentatives sozialistisches Milieu kennen, dessen Angehörige sehr verschiedene Nuancen von enttäuschter, auf dem Rückzug von der Revolution, auf der Annäherung an die Autoritären befindlicher Stimmung zu ungebrochener Frische und jugendlichem Mut vertraten; er selbst scheint in ruhiger Form den schärfsten Standpunkt vertreten zu haben.

Er berichtete über Italien, da der geschriebene Bericht in Florenz vernichtet wurde. Von den Volksbewegungen (Brotunruhen usw.) von 1874 sprechend, glaubte er, daß die Internationale ihre Solidarität mit denselben proklamieren mußte .... „auch weil er denke, daß die Revolution viel mehr in Taten als in Worten bestehe, und daß, wann immer eine spontane Volksbewegung entstehe, wann immer die Arbeiter sich im Namen ihres Rechts und ihrer Würde erheben, es die Pflicht jedes revolutionären Sozialisten ist, sich mit der Bewegung solidarisch zu erklären“ ....

Er sagte in der Diskussion über die Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen in einer neuen Gesellschaft (resümiert): wir auch machten Pläne sozialer Reorganisation, aber wir legen denselben relativ geringes Gewicht bei.[10]) Sie müßten notwendigerweise irrig, vielleicht ganz phantastisch sein. Wir müssen vor allen Dingen zerstören, alles zertören, was die freie Entwicklung der sozialen Gesetze hindert, und wir müssen verhindern, daß unter irgendeiner Form diese Hindernisse oder andere wiedererscheinen. Das freie und fruchtbare Spiel der natürlichen Gesetze der Gesellschaft wird das Schicksal der Menschheit zur Durchführung bringen. Wenn einige es für nötig halten, die soziale Bewegung zu bremsen, scheint für uns der Marsch der Menschheit nach vorwärts ebensowenig mit Gefahr verbunden, wie der Marsch der Gestirne am Himmel.

Mit Cafiero und sechs anderen nahm er an der Vorlage einer Resolution Teil, welche es als Pflicht aller erklärte, betreffs der in jedem Lande zur Befreiung des Proletariats angewendeten Mittel gegenseitige Achtung zu hegen, und ferner, daß die Arbeiter jedes Landes am besten in der Lage seien, diese Mittel zu beurteilen. Die Internationale habe in jedem Fall mit allen Sympathien, vorausgesetzt, daß sie nicht in Verbindung mit Bourgeoisparteien stehen. (Eine den von Bakunin seit 1872 angeregten, in Bologna 1873 von der italienischen Internationale angenommenen Standpunkt vertretende Resolution, vgl. Kapitel VII, der das Verhalten der sozialdemokratischen Parteien den Anarchisten gegenüber in denkbar schroffster Weise gegenübersteht.)

Bei Besprechung eines allgemeinen sozialistischen Kongresses (wie des in Gent 1877 abgehaltenen) sagte er: unserer Meinung nach darf die Internationale in Italien keine ausschließliche Arbeiterorganisation sein; die soziale Revolution hat tatsächlich als Ziel nicht nur die Befreiung der Arbeiterklasse, sondern die der ganzen Menschheit, und die Internationale, die Armee der Revolution, muß alle Revolutionäre ohne Klassenunterschied unter ihrem Banner vereinigen. Er erwartet für Italien vom Trade-Unionismus nichts und sieht Trade-Unions, wie sie in England bestehen, und wie sie De Paepe empfiehlt, als reaktionäre Einrichtung an. J. Guillaume erhob gegen letzteres Einwände.

Ich übergehe die mit wegwerfender Verachtung geführte Polemik gegen eine auch von Benoit Malon unterstützte Clique, die damals versuchte, die italienische Internationale zu untergraben und die Bewegung in das legalitäre Fahrwasser zu leiten. Wenn in der Lombardei einige Sozialisten diesen Standpunkt aufrichtig vertraten, so dienten diese Manöver in anderen Teilen des Landes vor allem zur Maskierung von Intriguen und verdienten Mißachtung. Hierüber erschien auch eine Erklärung von Malatesta im Martello (Bologna), 18. März 1877.

Der Plan einer insurrektioneilen Tat steckte tief in den beiden jungen Italienern, obgleich ihnen zunächst alle materiellen Mittel fehlten und sie selbst in Not waren. Sie sahen sich nach Arbeit um und wollten bei Bauten helfen. Cafiero hatte mehr Aplomb als Malatesta, der scheu war und im Hintergrund blieb. Wenn aber Cafiero mit seinem langen Bart und der goldgeränderten Brille in einem Baubureau erschien, erwarteten die Leute dort eher, daß er ihnen einen Auftrag gebe, und wiesen ihn als Arbeitssuchenden ab. Sie fanden es sehr schwer, etwas Arbeit zu finden.

Damals gab eine russische Sozialistin 4 oder 5000 francs für die vorbereitete Bewegung und würde mehr gegeben haben, wenn sie ihr Vermögen zur freien Verfügung gehabt hätte, wozu eine formelle Heirat, vielleicht auch mit einem auf ihre Familie Eindruck machenden Titel, notwendig gewesen wäre. Auf jeden Fall führte diese Situation zu folgender Episode, die ohne Nachteil erzählt werden kann. Sie wünschte vor allem, in den Besitz ihres Vermögens zu gelangen, um einen in Rußland verhafteten Sozialisten vielleicht befreien zu können, dem tatsächlich jahrelanger Kerker und langes sibirisches Exil bevorstanden. Daher wünschte man eine strikt fiktive Ehe, und man dachte an keinen andern als P. Kropotkin — damals in London, gerade aus Rußland geflüchtet; dieser wurde eingeladen, in die Schweiz zu kommen, wo er zuerst von dieser Heiratsmöglichkeit hörte. Nach dem ersten Erstaunen gab er eine wenig entschlossene Zustimmung, dachte wieder nach und beriet sich dann mit Guillaume, der abriet. Dann kamen die beiden Italiener nach Neuchâtel und redeten ihm stark zu; sie waren von seiner endgültigen Weigerung sehr enttäuscht. Er kehrte nach London zurück und kam erst nach ein oder zwei Monaten wieder nach Genf und dann mit Klemens in den Jura, nach La Chaux de Fonds. Dies war Kropotkins erstes Zusammentreffen mit Malatesta und Cafiero, und wenn er davon erzählte, lächelte er immer bei der Vorstellung, wie wenig sie sich damals alle kannten und wie gut sie sich bald kennenlernen sollten.

Es kam dann plötzlich und unerwartet Geld von Cafiero selbst, 5 oder 6000 francs, der letzte Rest seines Vermögens. Man nimmt an, daß er 250 000 bis 300000 lire auf die Bewegung und die Baronata verwendete, die dem wahren Wert seines Vermögens nicht entsprachen, da das Geld durch übereilten Landverkauf erzielt wurde.

Sobald nur so die kommende Unternehmung eine gewisse materielle Grundlage hatte, kehrten Cafiero und Malatesta, wahrscheinlich gegen Ende 1876, nach Neapel zurück.

 

XI. Die Insurrektion von Benevento im April 1877.

 

Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen den Insurrektionsversuchen von 1874 und 1877. 1874 wurde eine allgemeine Erhebung erwartet, von einigen wenigstens, und die Beispiele von Garibaldi in Sizilien und Neapel, der spanischen Revolution von 1868 und der Pariser Kommune waren in aller Gedächtnis. 1877 war das Ziel, vor allem wirkungsvolle sozialistische Propaganda durch ein der Landbevölkerung gegebenes Beispiel, da man diese durch andere Mittel nicht erreichen konnte. Man dachte ferner, daß die lokale Bewegung, wenn sie imstande wäre, sich auszudehnen und eine Zeitlang auszuhalten, schließlich durch ähnliche Ausbrüche auf dem Lande und in den Städten unterstützt werden und zu einer allgemeinen Bewegung führen würde. Dies erinnert an Bakunins 1869 jungen bulgarischen Revolutionären gegebenen Rat, Waffen und Lebensmittel in einem abgelegenen festen Platz im Balkan anzusammeln, dort die nationale Revolution zu proklamieren und sechs Monate auszuhalten — dann würde ihre nationale Frage Europa vorgelegt sein und sie könnten auf Hilfe und Erfolg rechnen.

Würde die neapolitanische Bewegung von 1877 eine solche Stütze in anderen Teilen Italiens gefunden haben? In der Lombardei, immer unter dem Einfluß von Bignamis und Gnocch-Vianis legalitären Ideen erklärte sich die Majorität zweier Kongresse der Federazione dell’ Alta Italia (15. Oktober 1876, 17. März 1877) für politische Tätigkeit. In der Romagna hielt sich Costa schon yon dieser neuen Bewegung fern; „es ist wahr, daß ich sie nicht billigte, es ist falsch, daß ich nichts für ihren Erfolg tat“, schrieb er recht zweideutig in seiner Verteidigungsschrift von 1881 (Ai miei amici ed ai miei avversari, Imola, 15. Sept. 1881, folio); es ist gewiß wahr, daß er die besten Revolutionäre der Romagna, einige Rebellen von 1874 darunter, nicht verhindern konnte, sich der Bewegung im Süden anzuschließen, was eben beweist, daß diese in der Romagna selbst schon keinen Boden für ihre Tätigkeit finden konnten.

Auf den Wunsch von J. Guillaume (vergl. dessen L’lnternationale, IV, S. 116—117, 182) fragte ich Malatesta 1907 nach Einzelheiten dieser Vorgänge. Er bestätigte die Genauigkeit eines kurz nach seiner Verhaftung an die Korrespondenzkommission in Neapel geschriebenen Briefes, den F. Pezzi dem Bulletin schickte (Bull., 10. Juni 1877, auch in Guillaumes Buch, IV, S. 211—213). Auf diesem Material beruht die folgende kurze Darstellung.

Die Bewegung sollte eine ziemliche Ausdehnung erhalten; beinahe 300 Personen, fast alle ansässige Landleute, hatten sich zur Teilnahme verpflichtet. Dies geschah hauptsächlich durch Vermittlung einer lokal sehr bekannten Persönlichkeit, eines gewissen Salvatore Farina, in Maddeloni bei Caserta, der in den sechziger Jahren Führer lokaler Banden zur Bekämpfung des damals furchtbar degenerierten brigantaggio (legitimistisches Banditentum) gewesen war. Die ersten Banditen waren etwas besser, aber die späteren folterten Männer und Frauen auf bestialische Art.

Die Bewegung von 1877 sollte natürlich erst im Mai beginnen nach der Schneeschmelze, wenn die auf die Berge getriebenen Schafe Nahrung bieten würden. Aber dieser Farina, der in früheren Zeiten mit Nicotera konspiriert hatte, der jetzt Ministerpräsident war, verriet ihm alles und alle, die er kannte, wurden verhaftet, Cafiero und Malatesta ausgenommen, die ihre stets gewechselten Wohnungen ganz geheim hielten. Dies zwang zum vorzeitigen Losschlagen zu einer Zeit, da man nicht lange auf den Bergen bleiben und im Schnee schlafen konnte. Der Verräter wurde nicht verhaftet und es fiel kein Verdacht auf ihn, und es gelang ihm sogar, durch einen gefälschten Brief den Verdacht auf einen anderen (A.) zu lenken; er verschwand dann und kam erst nach sehr vielen Jahren zurück. Es waren Genossen aus Zentral-italien eingetroffen, die den lokalen Dialekt nicht sprachen und auf die Bauern keinen Einfluß hatten, denen alles aus dem Norden kommende, wo die Regierung war, unsympathisch war. Malatesta, aus der Gegend selbst, Santa Maria, und Cafiero aus Apulien waren fast die einzigen, die sich mit der Landbevölkerung wirklich verständigen konnten.

Zufällig lebte Stepniak (Sergei Kravtschinski), aus der Herzegowina zurückgekehrt, damals in Neapel und war den Internationalisten längst bekannt. Die Insurrektion interessierte ihn (er hatte auch in der Herzegowina vor allem den Bandenkrieg kennen lernen wollen, um für Rußland Erfahrungen zu gewinnen); er war Artillerieoffizier gewesen und schrieb damals ein kleines Handbuch militärischer Instruktionen für die italienische Bande.[11])

Stepniak, eine russische Dame und Malatesta nahmen ein Haus in San Lupo bei Cerreto (Provinz Benevento),[12]) angeblich für eine kranke Dame, aber es sollte als Waffendepot dienen (2. April). Am 3. kamen Waffen in großen Kisten. Aber das Haus wurde von Gendarmen bewacht (5. April) und als einige Internationalisten sich näherten, begann das Schießen. Von zwei verwundeten Gendarmen starb der eine später. Einige Verhaftungen fanden statt, die übrigen, kaum der vierte Teil der Erwarteten, gingen in der Nacht auf die Berge; einige andere, die keine Waffen hatten, schlossen sich ihnen noch später an.

Die Bewegung war vorbereitet worden durch viele Besuche Malatestas in den Dörfern, von Farina geführt, der als der Typus eines revolutionären Garibaldianers galt, der zu jeder Bewegung seine Hand bot; er hätte ihr militärischer Führer werden können. Aber er war, wie erwähnt, Verräter geworden; viele wurden verhaftet und nach einigen Monaten freigelassen; er selbst verschwand. Einige Neapolitaner, Ceccarelli, Gastaldi entgingen auch der Verhaftung. Man wechselte jede Nacht die Wohnung; Cafiero brachte einige Nächte in einer Kaserne zu, andere in einem Gefängnis, wo er früher eingesperrt war und den Direktor kannte. Man bestimmte noch immer den Anfang Mai für den Ausbruch der Bewegung.

Aber, wie erwähnt, wurde der Ausbruch durch die Schießerei von San Lupo überstürzt herbeigeführt; da waren nur 17 oder 18 und 10 andere folgten ihnen, unbewaffnet, dem Lärm der Schüsse nachgehend; dabei ging auch ein Esel verloren, in dessen Traglast Karten und notwendige Werkzeuge waren.

Nach dem Bericht in Angiolinis Buch wurden die 27 von lokalen Führern geleitet; die markantesten Persönlichkeiten waren Cafiero, Malatesta und Ceccarelli (35 jährig, geboren in Savignano, gestorben 1886 in Cairo, Kaufmann in Neapel). Sie aßen und schliefen in Berggehöften und zogen so vom 6. bis 8. April im Gebirge der Monte-Matese- Kette über Pietrarvia, den Monte Mutri, Filelti und Buco nach Letino, ruhig, die rote Fahne entfaltet, in den Ort und das Gemeindehaus eindringend, wo gerade der Gemeinderat Sitzung hielt. Sie erklärten die Absetzung des Königs im Namen der sozialen Revolution und verlangten die Herausgabe der offiziellen Dokumente, konfiszierten Waffen und die Kasse. Der Gemeindesekretär, der eine Autorisation wünschte, erhielt ein von Cafiero, Malatesta und Ceccarelli unterzeichnetes Schriftstück: „Wir, die Unterzeichneten, erklären, im Namen der sozialen Revolution, die Waffen in der Hand, das Gemeindehaus von Letino besetzt zu haben.“ Sie verteilten dann unter die Dorfeinwohner die diesen gehörenden konfiszierten Waffen und Werkzeuge und das wenige vorgefundene Geld; ein zur Berechnung der Mahlsteuer benutzter Apparat wurde zertrümmert und alle Akten, die Wohltätigkeitsangelegenheiten betreffenden ausgenommen, wurden verbrannt. Dann wurden Reden gehalten, welche die Ortsbewohner, nach Malatestas Brief von 1877, mit Sympathie aufnahmen.

Dann zogen sie in das in der Nähe gelegene Dorf Gallo und trafen unterwegs dessen Pfarrer Vincenzo Tamburi, 40 jährig, der umkehrt, ihnen vorauseilt und den Einwohnern sagt, sie mögen nichts fürchten. Hier wird das Gemeindehaus erbrochen und dieselbe Verteilung und Verbrennung vorgenommen. Malatesta erinnert sich, daß ein Bauer ihm nach seiner Rede sagte: wie können wir wissen, ob ihr nicht verkleidete Gendarmen seid, um unsere Gesinnung auszuforschen und uns dann zu verhaften? Dies zeigt, wie nachteilig die Abwesenheit aller lokalen Leute war, die Farinas Verrat verursacht hatte. Die drei oder vier Neapolitaner mit 24 Ortsfremden aus dem unpopulären Norden konnten die Bauern nicht mitreißen, die einfach das Risiko fürchteten. Die beiden Geistlichen (die verhaftet, aber schließlich in den Prozeß selbst nicht einbezogen wurden) waren, nach Malatesta, tatsächlich arme Teufel von solch gottbegnadeter Unwissenheit, daß sie wirklich nicht wußten, ob der Tag des Weltgerichts nicht gekommen sei und der Himmel auf Erden bevorstehe. Einer von ihnen, um seine Armut zu zeigen, öffnete sein geistliches Gewand und zeigte unbeschreiblichen Schmutz. Die Internationalisten konnten diese beiden guten Leute gar nicht loswerden.

Aber nun begannen Truppen die Gegend zu umzingeln und sie erhielten keinen Zuwachs in den erwähnten beiden Orten. Am 9. und 10. in anderen Dörfern stießen sie stets schon auf Soldaten. In einer dieser Nächte betrat Malatesta die kleine Stadt Venafro, um Lebensmittel zu kaufen. Ueberall Soldaten, die Alarm machten, aber die Dunkelheit rettete sie, und sie fanden in einem Wald Zuflucht. Die ganze Zeit machten Regen und höher hinauf Schnee ihren Zustand zu einem sehr elenden. Es war ihnen unmöglich, einen hohen Berg zu überschreiten, um in eine östlichere Gegend (Campobasso) zu dringen. Die Waffen wurden nutzlos, das Pulver naß und sie berieten, ob sie sich zerstreuen oder beisammenbleiben sollten. Zerstreut wären fast alle hilflos gewesen, da sie den lokalen Dialekt und die Gegend überhaupt nicht kannten. Zwei gehen fort, werden aber verhaftet. Die 26 kehren zur masseria Gaccetta, einem Gehöft, einige Kilometer von Letino, zurück und ein Bauer verriet sie den Soldaten, die sie in der Nacht des 11. und 12. überraschen und 23 in wehrlosem Zustand verhaften, 2 andere in der Nähe und einen in Neapel.

Zur Zeit des Briefes, 1877, hoffte Malatesta auf einen baldigen Prozeß, die Gelegenheit für gute Propaganda. Aber es lagen sechzehn lange Monate Kerker vor ihnen. 26 befanden sich in den Carceri giudiziarie von Santa Maria Capua Vetere, Malatestas letzter längerer Aufenthalt in seinem Geburtsort. 8 waren in Benevento, später in Caserta. Unter letzteren war Stepniak, der dann nach Santa Maria gebracht und Ende 1877 aus Italien ausgewiesen wurde; er hatte Werke von Marx, Comte und Ferrari im Gefängnis. Die Gefangenen waren guten Muts und Schickten am 25. August 1877 an Costa ein Mandat zum Kongreß der Internationale in Verviers, von allen unterzeichnet als „Sektion von Monte Matese“ (gedruckt in La Anarchia, Neapel, 22. September 1877).

Die Anklageschrift ist vom 21. September; der Gerichtshof sprach sich über dieselbe am 30. Dezember aus. Dann starb Viktor Emanuel I. und die Regierung Crispi gab im Februar 1878 eine allgemeine politische Amnestie. Da aber ein Gendarm an den durch die Schüsse bei Stepniaks Haus am 5. April erhaltenen Wunden gestorben war, war die Ansicht des Gerichtshofs über die Frage, ob die Amnestie diesen Totschlag decke, geteilt. Gerade die Reaktionäre unter den Richtern, die noch bourbonisch gesinnt waren, erklärten den Totschlag für ein politisches, kein gemeines Verbrechen, sonst wäre auch Garibaldi ein Mörder, da derartiges bei jeder politischen Bewegung vorkomme. Die Richter beschlossen, der Jury die Entscheidung zu überlassen; die erste Frage an dieselbe würde sein, ob die Angeklagten schuldig oder nichtschuldig betreffs des Todes des Gendarms seien; wenn schuldig, wäre die zweite Frage: ob diese Tat mit der Insurrektion in Zusammenhang stehe oder nicht; wenn sie in Zusammenhang stehe, so sei sie durch die Amnestie gedeckt.

Im April 1878 wurden die Gefangenen nach Benevento gebracht, wo im August der Prozeß stattfand. Es herrschte allgemeine Entrüstung über die Mißachtung der Amnestie durch das Gericht und obgleich das Schießen auf den Gendarm zugegeben wurde, erklärte die Jury die Angeklagten schon hierfür für nichtschuldig, wodurch der ganze Prozeß ein Ende hatte.

Unter den Verteidigern finden wir Dr. Francesco Saverio Merlino, der von ungefähr jenen Jahren an lange einer der tätigsten Genossen und als Verte[i]diger noch in Malatestos letztem Prozeß, 1921, für ihn tätig war. Er schrieb damals A proposito del Processo di Benevento. Bozzetto della quistione sociale (Neapel, 1878, 32 S.); dies ist aber keine historische Schrift und eine solche oder ein genauer Prozeßbericht sind mir nie bekanntgeworden und wahrscheinlich nicht erschienen.

Im Kerker von Santa Maria schrieb Cafiero ein sehr gutes populäres Resume von Marx’ Das Kapital nach der damals neuen, von Marx revidierten und etwas vereinfachten französischen Uebersetzung. Das durch den Insurrektionsversuch wachgerufene Interesse bewirkte, nach Malatesta, daß ein Buchhändler in Neapel damals beinahe fünfzig Exemplare der französischen Kapital-Uebersetzung verkaufte. Dies erklärt wohl auch, wie Marx am 27. September 1877 an F. A. Sorge schreiben konnte, ein Buchhändler in Neapel bereite eine italienische Uebersetzung des Kapital vor. Malatesta bemerkt, daß sie alle in bezug auf ökonomische Theorien keine Veranlassung sahen, sich mehr den Kopf zu zerbrechen, als Marx dies in den den Kapitalismus analysierenden Teilen seines Werkes getan; ähnliche Aeußerungen von Bakunin liegen vor. Il Capitale di Carlo Marx brevemente compendiato da Carlo Cafiero (Milano, 1879, 127 S.) war Cafieros Buch, von dem James Guillaume 1910 eine französische Uebersetzung herausgab. Am Schluß dieser Schrift befinden sich einige eigene Gedanken Cafieros über Revolution; ich kann jetzt nicht feststellen, ob dieselben mit dem einzigen langen, aber unvollendeten Werk, das wir von Cafiero besitzen, Zusammenhängen, ich meine die in einer Pariser Zeitschrift 1881 veröffentlichte Artikelserie Révolution.

Nach seiner Freisprechung, teilt mir ein alter Genosse mit, kam Malatesta nach Santa Maria, wo seine Eltern einigen Hausbesitz hinterlassen hatten, Häuser, in denen arme Leute wohnten. Diese waren ungemein verwundert und glücklich, als er Zessionen Unterzeichnete, durch die er seinen Besitz an sie ohne Entschädigung abtrat. Dies dürfte die genaueste Fassung der auch sonst, aber weniger bestimmt erzählten Tatsache sein.

Er blieb damals etwa einen Monat in Neapel und reiste dann nach Aegypten (also etwa im September 1878?). Ich kenne den Grund der Wahl Aegyptens nicht, aber es wäre begreiflich, daß er Italien verließ, um etwas Ruhe zu finden, während ihm im Lande selbst willkürliche Verhaftungen und die schärfste Internierung, das berüchtigte domicilio coatto jederzeit treffen konnten. Ruhe fand er übrigens im Ausland ebensowenig, wie wir sehen werden. 

XII. Die ersten zwei Jahre des Exils (Aegypten, Schweiz, Frankreich, Belgien, Herbst 1878 bis März 1881.)

Malatesta hielt sich erst kurze Zeit in Alexandrien auf, wo eine sehr große italienische Kolonie besteht, als in Italien Passanante sein Attentat gegen den König Umberto beging, dem in ganz Italien Repressivmaßregeln folgten, die auch ihn getroffen haben würden. Uebrigens auch so vertrieb ihn diese Angelegenheit aus Aegypten. Dort hatte eine patriotische Versammlung mit den Rufen geendet: Tod den Internationalisten! Eine anarchistische Protestversammlung wurde einberufen und eine Manifestation vor dem italienischen Konsulat, um Passanante leben zu lassen. Bevor dies noch geschah, wurden Malatesta, Alvino und Parini verhaftet. Parini, aus Livorno, lebte schon lange in Aegypten und es gelang ihm dortzubleiben; die beiden andern wurden auf ein Schiff gesetzt und nach Beyruth in Syrien gebracht.

Er wünschte dort nicht auszusteigen, aber der Kapitän hatte den Befehl, ihn auszuschiffen. Was er jetzt tun solle? Er mußte zum italienischen Konsul gehen, der von nichts wußte und später wütend war, daß man ihm solche Leute von Alexandrien schickte, denn er hatte den Befehl erhalten, Malatesta in Beyruth zu behalten. Dieser weigerte sich, freiwillig zu bleiben und verlangte, verhaftet oder nach Italien geschickt zu werden, obgleich er wußte, daß er dort eingesperrt werde. Der Konsul hatte auch den Auftrag, seine Rückkehr nach Italien zu verhindern. Malatesta schlug vor, daß man ihn nach Cypern schicke. Nein, dort seien die Engländer, die ihn gleich freilassen würden; das sei unmöglich.

Schließlich einigten sie sich auf Smyrna. Jetzt wird sich der Konsul dort ärgern, meinte Malatesta. Das macht gar nichts, erwiderte der Konsul von Beyruth.

Unterdessen hatten Malatesta und Alvino (der aus Jaffa nach Beyruth gekommen war) den Kapitän eines französischen Schiffes, La Provence, kennengelernt, einen anständigen Mann, der bereit war, sie nach Frankreich zu bringen; das Schiff legte in einer Anzahl Häfen an und sie würden beim Ausladen der Ladung helfen.

Auf diesem Schiff kamen sie nach Smyrna, wo der Konsularagent die Auslieferung der beiden Italiener verlangte, die der Kapitän verweigerte. Das Schiff berührte schließlich Italien in Castellamare bei Neapel, wo es eine kurze Zeit blieb und die lokale Polizei weggeschickt wurde. Beim Ausladen in Livorno versuchte ein Spitzel Malatesta zu veranlassen, in die Stadt zu gehen zu einem Besuch der lokalen Genossen, aber er wurde entlarvt und gestand, im Aufträge gehandelt zu haben. Dann verlangte die Polizei von dem Kapitän die Auslieferung und behauptete, es bestände ein Zusammenhang mit Passanantes Attentatsprozeß. Der Kapitän sagte, dies scheine eine politische Sache zu sein, und er werde nur einen Auftrag seines Gesandten befolgen. Inzwischen wurde Malatesta von Genossen besucht. Der Kapitän erhielt von französischer Seite die Erklärung, er könne die Italiener ausliefern, wenn er wolle und auf seine eigene Verantwortlichkeit, aber er könne dazu nicht g[e]zwungen werden. Diese Zuschrift zeigte er Malatesta, zerriß sie dann in Stücke und befahl den Polizisten, das Schiff sofort zu verlassen, unter dem Beifall der anwesenden Genossen. Das Schiff landete in Marseille, wo Alvino blieb, während Malatesta nach Genf reiste.

Hiermit beginnt Ende 1878 oder Anfang 1879 die erste Periode seines langen Exils. Bis dahin hatte ihn ein internationalistisches Wanderleben weniger angezogen als andere; von allen Reisen kehrt er stets bald nach Neapel zurück und ist dort tätig, und er wäre in Italien geblieben, wenn es irgend möglich gewesen wäre. Er kehrt dorthin zurück, sobald es irgend geht, 1883, 1897, 1913 und 1919. Die ägyptisch-syrische Episode zeigt, daß er von Anfang an — nach 16 Monaten Kerker und der Freisprechung — für die italienischen Auslandsbehörden Freiwild war. Bis dahin hatte er ungefähr drei Jahre im Gefängnis zugebracht, ohne je gerichtlich verurteilt zu werden. Jetzt wird er durch Europa getrieben, bis ihn England aufnimmt.

Von hier ab kann ich der Geschichte der Internationale in Italien nicht mehr näher folgen und die Verbindung Malatestas mit derselben ist im einzelnen nicht näher bekannt. Costa verschwand auch aus der unmittelbaren italienischen Bewegung, da er wenige Wochen nach den Verhaftungen der Insurgenten von Benevento in der Schweiz Zuflucht suchte (Mai 1877). Nach einem Sommer in Bern und Genf und nach den Kongressen von Verviers und Gent (September) lebte er in Paris und versuchte französische Gruppen der Internationale zu bilden, eine von der Gruppe der Avant-Garde im Jura, Paul Brousse, Louis Pindy und andern geförderte Bewegung. Auch Kropotkin lebte damals in Paris. Im März 1878 wurde Costa verhaftet und im Mai zu langem Gefängnis verurteilt, aus dem ihn eine Amnestie befreit. Seine Erwartungen des schnellen Erfolgs einer wirklich revolutionären Bewegung waren aber geschwunden, und es scheint, daß nur ein solcher Glaube seine frische und lebhafte Tätigkeit von 1871 bis 1878 veranlaßt hatte, die übrigens schon 1876—77 eine Abschwächung zeigte. Statt seine Unzulänglichkeit einzusehen, machte er aus derselben eine Theorie und arbeitete von jetzt ab für die Bildung einer sozialistischen Partei, die ihm wenigstens parlamentarische Ehren und politisches Prestige bringen würde. Er mußte einsehen, daß die sofortige Proklamierung dieses Ziels ihm Isolierung und Mißkredit bringen mußte. Er entwickelte sich daher schrittweise, pflegte seine Popularität in der Romagna und fesselte allmählich die besten Leute der lokalen internationalistischen Gruppen, die in ihm noch den Costa von 1874 sahen, an sich und untergrub ihren Glauben an die Revolution. Die Regierung verfolgte ihn noch immer auf die plumpste Weise, was sein Prestige auf der Höhe erhielt. Er hütete sich, die Internationale direkt anzugreifen, aber er half ihr auch nicht mehr, wie er sich schon im Frühjahr 1877 von der Beneventobewegung ferngehalten hatte. Für die ehrlichen Internationalisten dieser Jahre von 1879 an war all dies sehr peinlich und manchmal unerklärlich. Sie waren durch die Verfolgungen so sehr der Möglichkeit öffentlicher Propaganda beraubt, daß sie selbst Costas Propaganda in der Romagna in Ermangelung einer besseren begrüßen mußten; dabei sahen sie aber doch, wohin alles führen müsse, hatten aber wieder, viele von ihnen, eine stille dauernde Sympathie für Costa wegen seiner früheren Leistungen und seines guten Humors, der ihn leicht populär machte. Unter diesen Umständen wurde Costas Treiben weniger gestört, als er hätte erwarten können. Die Frage, ob nicht von Anfang an mehr hätte geschehen können, um dieser zur gewöhnlichen Politik zurückführenden Strömung von Anfang an entgegenzutreten, ist ein Problem für eine eingehendere historische Untersuchung als diese kurze Skizze jener Jahre.

Man müßte zu diesem Zweck über die innere Geschichte der italienischen Internationale seit 1877 besser unterrichtet sein. Die Korrespondenzkommission wurde aus Neapel nach Florenz, dann nach Genua verlegt; ein geheimer allgemeiner Kongreßfand 1878 in Toskana statt. Prozesse fanden statt u. a. in Florenz, ein lokalerer in Forli, dessen Bericht (Processo degli Irtternazionali . . . ., Forli, 1879, 15 Teile) ich seinerzeit las, jetzt aber nicht gegenwärtig habe; Alceste Faggioli, der bis zu seinem Tode, März 1881, seinen Ideen treu blieb, war ein Hauptangeklagter. F. Natta, F. Pezzi, G. Grassi, E. Covelli, Florido Matteucci, Arturo Cerretti, Carmelo Palladino, Dr. F. S. Merlino sind Leute aus jenen Jahren, und sie sind meist tot, weit weg ausgewandert oder ziemlich zurückgezogen. Kürzlich übrigens erinnerte Merlino an jene Zeit in einem Brief an den Herausgeber des juristischen Fachblattes Scintilla (Rom), den ich der Um. Nova vom 6. Januar 1921 entnehme:

„Erinnern Sie sich an 1880? Nach Passanantes Attentat wurden die Internationalisten in jeder Stadt Italiens aufgestöbert und ins Gefängnis geworfen. Zanardelli, der Ministerpräsident und Minister des Innern, konnte vor der Kammer damit prahlen, daß alle Internationalisten im Gefängnis oder im Exil seien.“

„Es gab keine Verhaftbefehle; die Polizei sperrte ein, die Gerichtshöfe arrangierten die Prozesse.“

„Die Beschuldigungen hatten eine doppelte Grundlage: Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates und verbrecherische Vereinigung. Der erste Punkt diente zur Rechtfertigung der langen Untersuchungshaft und der in die Länge gezogenen Erhebungen, aber da diese Beschuldigung vor das Schwurgericht führte und man den Geschworenen mißtraute, wurde die Beschuldigung zweckmäßig umgewandelt in die verbrecherische Vereinigung (associazione di malfatiori), wodurch es, bei Zubilligung mildernder Umstände, möglich war .... die Angeklagten vor gewöhnliche Einzelrichter zu stellen, die auf höheren Befehl größere oder kleinere aber sichere Verurteilungen aussprachen.“

Merlino fügte hinzu: „So ging die italienische Justiz 1879 vor, und so operiert sie noch heute“, mit Bezug auf den letzten Prozeß gegen den am 18. Oktober 1920 verhafteten Malatesta und seine Genossen.

Ich kenne leider keinen ausführlichen Bericht über den großen Prozeß von Florenz (Ende 1879); ich sah nur einige Zeitschriften jener Jahre, Covellis Anarchia (Neapel 1877), Arturo Cerrettis Avvenire (Modena 1879, mit Pistolesis historischen Artikeln über die italienische Bewegung), einiges vom Grido del Popolo (Neapel, 1881), auch Costas sozialistische Revue, den Prozeßbericht von Forli (1879), Francesco Pezzis Buch (1882), eine Broschüre von G. Domanico (Prato, 1910), der in der letzten Periode der Organisation tätig war, auch das im Révolté und anderen Blättern Berichtete und allerlei anderes. Während mir leider all dieses Material gegenwärtig nicht vorliegt, kann ich doch sagen, daß es einen klaren Bericht über den wirklichen Verlauf und das relative Ende der Organisation wohl nicht gibt, wohl auch, weil ein wirkliches Ende nicht stattfand oder nur willkürlich festgesetzt werden könnte. Ich möchte die Vorgänge der spontanen Selbsterneuerung und Fortdauer eines Urwalds vergleichen, in welchem fallende Baumruinen neues Leben um sich verbreiten und der Wald nur dichter wird, nicht dünner. So wurden die internationalen Sektionen überall mit der lokalen Bewegung identisch, nahmen immer neue Formen an, und ihr älter Kern verschwand nie mehr ganz. Wann gerade jede dieser Lokalitäten mit irgend einem Komitee zu korrespondieren aufhörte, ist von geringer Bedeutung und manchmal vom Zufall abhängig. Die Internationale hatte all diese lokalen Bewegungen geschaffen und geholfen, überall diesen unzerstörbaren Kern echter Genossen zusammenzubringen. Diese Erbschaft der Internationale ging nie verloren und unter denjenigen, die durch ihre lange Erfahrung und beständige Tätigkeit immer in genauer Berührung mit ihr bleiben, ragt Malatesta hervor und ist zweifellos längst der erfahrenste. Dies bedeutet tägliches Bemühen durch vierzig Jahre, wovon natürlich nur die äußersten Umrisse sich je werden wiedererzählen lassen. Für ihn bestand und besteht die erste Internationale auf diese Weise stets weiter.

Als Malatesta etwa Anfang 1879 nach Genf kam, hatte auch die Bewegung in anderen Ländern, die er zuletzt auf dem Berner Kongreß, 1876, beobachten konnte, manche Veränderung durchgemacht. Hiervon will ich nur das Ende des Jura als eines internationalen Zentrums erwähnen. James Guillaume war im Frühjahr 1878 nach Paris übergesiedelt, neben dem Bulletin war auch die Avant-Garde erlegen und Brousse im Herbst 1878 aus der Schweiz ausgewiesen. Die tätigsten lokalen Mitglieder wurden von den Arbeitgebern ausgesondert und bekamen keine Arbeit mehr, und auch die Kooperativgesellschaft konnte der Krise nicht standhalten. So kam es, daß wieder Genf an die erste Stelle trat. Dort hatte durch einige Jahre eine Gruppe von Franzosen und Russen, denen sich auch Elisée Reclus anschloß, Zeitschriften einer etwas gemäßigten Richtung herausgegeben, den Rabotnik und den Travailleur. Dann gab es die schon erwähnte kleine radikale französische Gruppe mit Dumartheray, Perrare u. a. und einige junge Schweizer wie Georges Herzig. All diese Kräfte, einige frisch, einige erschöpft, wurden durch Peter Kropotkins intensive Energie zu einer neuen Anstrengung zusammengebracht, der der Révolté und die Publikationsgruppe der Imprimerie jurassienne entsprangen. Der Révolté erschien zuerst am 22. Februar 1879, und Malatesta war bei vorbereitenden Zusammenkünften anwesend, auch beim ersten Erscheinen des Blattes; Kropotkin hat beschrieben, wie er und die Genfer Genossen der Sektion in einem kleinen Cafe die erste Nummer der Révolté (2000 Exemplare) zur Expedition vor sich hatten. „Tcherkesov und Malatesta halfen uns und Tcherkesov lehrte uns die Kunst, eine Zeitung zu falten“ (Temps nouveaux, Februar 1904).

Kropotkin, Tcherkesov und Malatesta lernten sich also damals genau kennen. Cafiero war noch in Paris (seit seiner Freilassung nach dem Prozeß von 1878); erst in der zweiten Hälfte 1879, wenn nicht 1880 erst, kam er nach Genf und fand dort Kropotkin.

Wenn die Beziehungen zwischen Cafiero und Kropotkin immer freundliche waren, wäre es doch absurd, zu erwarten, daß sie in jeder Beziehung derselben Meinung gewesen wären, und es hätte keinen Sinn, solche Nuancen durch glatte Worte zu übertünchen. Kropotkin erzählte gern, daß der Révolté weder Cafiero noch Covelli (der auch in Genf lebte) hinreichend vorgeschritten erschien, und er bemerkte, daß mit einer Ausnahme weder diese beiden noch Malatesta für das Blatt schrieben. Diese eine Ausnahme war ein sehr scharfer Artikel, den ihm Cafiero, wie es Kropotkin schien, als eine Art Herausforderung übergab, ob er wohl wagen würde, ihn erscheinen zu lassen. Der Artikel wurde gedruckt und wurde später, da er Kropotkin zugeschrieben wurde, gerade als eine der Ursachen seiner Ausweisung aus der Schweiz betrachtet. Cafiero wußte nichts hiervon, und Kropotkin sagte ihm nie davon.

Es fällt mir nicht ein, Malatestas und Cafieros Ideen zu irgendeiner Zeit zu identifizieren, und ich würde nichts lieber tun als Malatestas eigene Ideen aus jener Zeit genau darzustellen. Aber Cafieros Standpunkt hat jedenfalls an und für sich Interesse und so beschäftige ich mich mit dem erwähnten Artikel, der zwar nicht in dem Ausweisungsdekret, aber in der damaligen Schweizer Presse erwähnt wurde (vgl. Révolté, 3. und 17. Sept. 1881); er ist betitelt L’Action (Révolté, 25. Dezember 1880) und man sieht sofort, daß Kropotkin nicht der Verfasser ist, und es wäre nicht so schwer gewesen, Cafiero als Verfasser zu vermuten. Ideen entspringen aus Taten und nicht umgekehrt, sagte Carlo Pisacane in seinem Politischen Testament (s. o. Kap. I), und er sprach die Wahrheit .... Taten erzeugen die revolutionäre Idee, und Taten müssen wieder stattfinden, um ihre allgemeine Durchführung zu sichern .... Etwa parlamentarische, kommunale Aktion? Nein, tausendmal nein! Wir wollen uns in das Spiel unserer Unterdrücker nicht einmischen, wir wünschen nicht, an ihrer Unterdrückung teilzunehmen .... Unsere Aktion muß beständige Empörung sein, durch Wort, durch Schrift, durch den Dolch, das Gewehr, Dynamit, selbst, in einigen Fällen, durch den Stimmzettel, wenn dies bedeutet, für einen Blanqui oder einen Trinquet (einen deportierten Communard) zu stimmen, die unwählbar sind .... Aber wann sollen wir anfangen, müssen wir warten, bis wir stark genug sind? In diesem Fall werden wir nie anfangen. Die revolutionäre Aktion wird gerade unsere Kraft entwickeln, wie Turnen unsere Muskelkraft stärkt. Wenn unsere ersten Taten wirkungslos sind, ist es nicht albern, über ein Kind zu lachen, welches niederfällt, wenn es anfängt gehen zu lernen? Ihr nennt uns Kinder, wir sind Kinder, weil die Entwicklung unserer Kräfte erst im Anfang steht. Indem wir versuchen, gehen zu lernen, wollen wir Männer werden, ein vollständiger, gesunder und robuster Organismus, der die

Revolution durchzuführen fähig ist. . . . . Womit beginnen? An

Gelegenheiten fehlt es nie. Es ist nicht nötig, auf eine Bewegung zu warten, die eine offiziell sozialistische Etiquette trägt. Jede Volksbewegung enthält die Keime des revolutionären Sozialismus; wir müssen an ihr teilnehmen und diese Keime entwickeln. Unser vollständiges und ganz bestimmtes Ideal wird nur von einer unendlich kleinen Minderheit geteilt, und wenn wir warten, ihm vollständig zu begegnen, bevor wir an einem Kampf teilnehmen, werden wir ewig warten. Machen wir es nicht wie die Doktrinäre, die vor all und jedem eine Formel verlangen; das Volk ist der Träger der lebendigen Revolution, und wir müssen mit dem Volk kämpfen und sterben. Wir schließen uns ihm nicht an, wenn es abstimmt, wenn es auf den Knien liegt vor seinem Gott, König oder Herrn, aber wir werden immer mit ihm sein, wenn es sich gegen seine mächtigen Feinde erhebt. Enthaltung von der Politik bedeutet für uns nicht Enthaltung von der Revolution, und unsere Weigerung, an aller parlamentarischen, legalen und reaktionären Tätigkeit teilzunehmen, bedeutet — unsere Ergebenheit an die gewaltsame und anarchistische Revolution, an die wahre Revolution der canaille und der va-nu-pieds (der Bloßfüßigen).

Jedes Wort dieses Artikels atmet Cafieros Geist; seine Ideen hatten unter dem Einfluß der frisch auflebenden Bewegung, die er in Paris gesehen, eine letzte Blüte entfaltet. Als der Artikel zur angeblichen Rechtfertigung des Vorgehens gegen Kropotkin von der Presse aufgegriffen wurde, war Cafiero in Lugano im Gefängnis (vgl. Révolté, 17. September, 1. Oktober 1881).

Am 8. April 1879 berichtet der Révolté die Ausweisung von Malatesta, Ginnasi, Mercatelli, Solieri und Cajadio aus dem Kanton Genf, ohne daß die kantonalen Behörden eine Ursache angegeben hätten, aber die italienische Regierung bezeichnete sie als malfattori („Verbrecher“). Francesco Conte Ginnasi wird im Anklageakt von Benerento (September 1877) als 18jährig, aus Imola, bezeichnet. Vito Solieri aus Frasinetto, Imola, geb. 1858, war einer der Verhafteten von Imola im August 1874; er ist 1881 in London und später einer der Herausgeber des New Yorker Grido degli Oppressi von 1892. Uebrigens bestritten die Genfer Behörden damals die Tatsache dieser kantonalen Ausweisungen (vgl. Révolté, 5. März 1881), aber der Bundesrat wies Danesi aus als Drucker eines Italia, 14. Marzo 1879, datierten Plakates, das gegen die Hinrichtung von Passanante protestierte (er wurde dann durch lebenslänglichen Kerker zum Wahnsinn gebracht), und in Verbindung mit dieser Angelegenheit wurde die Polizei beauftragt, Mercatelli, Malatesta, Ginnasi, Solieri und Cavino (dieser Name ist wohl unrichtig wiedergegeben?) ihre Ausweisung aus der Schweiz mitzuteilen. Dies fand nicht statt, weil sich die Genannten zerstreut zu haben scheinen; mindestens wußte Malatesta nicht, daß er tatsächlich ausgewiesen sei und erhielt 1881 von einem Genfer Genossen die Versicherung, dies sei nicht der Fall.

Er reiste damals nach Rumänien, in eine Handelsstadt an der unteren Donau, nach Braila oder Galatz, entweder mit Freunden, oder er traf dort solche. Die Ursachen mögen ganz private gewesen sein und sind mir nicht bekannt. Wenn er länger dort geblieben wäre, hätte er die Anfänge der sozialistischen Bewegung beobachten können, die von anarchistischer und russisch-revolutionärer Seite ausgingen. Aber es ist ebenso gut möglich, daß ihm diese Vorgänge ganz entgingen. Er sagte, er sei fieberkrank geworden, vertrug also das Klima nicht und reiste nach Paris, wo er Cafiero wiedersah, also vielleicht im Sommer 1879 oder etwas später.

Er arbeitete in Paris als Mechaniker. Nach einiger Zeit wurden er und Cafiero ausgewiesen. In einem Brief an den Avanti, den ich nur in den in der Pariser Vie ouvrière, 12. Dezember 1919 angeführten Stellen kenne, schrieb er damals, er sei ausgewiesen worden, weil er in einer öffentlichen Versammlung einen Spitzel des italienischen Konsulats als Provokateur entlarvt hatte, der junge Leute aufgehetzt hatte, Bomben zu werfen. Näheres mögen die damaligen Pariser sozialistischen Blätter enthalten. Cafiero reiste in die Schweiz ab; Malatesta benutzte die fünftägige Frist, um seine Wohnung in eine andere Stadtgegend zu verlegen, Er wurde wieder verhaftet bei der Demonstration vom 18. März 1880 und damals unter dem Namen Fritz Robert ausgewiesen; dies war der Name eines sehr guten Genossen im Jura, dessen Paß er benutzte.

Die Pariser Bewegung lebte damals frisch auf nach all den Jahren erzwungenen Schweigens nach der blutigen Unterdrückung der Kommune von 1871. Die deportierten Kommunalisten kehrten aus Neu- Kaledonien zurück, Blanquis letzte Zeit begann, von den Protestwahlen, um ihn zu befreien — dem Vorbild der Ciprianiwahlen in der Romagna — bis zu seinem letzten Blatt Ni Dieu ni Maitre („Kein Gott und kein Herr“) und seinem Tod Ende 1880. Selbst die damaligen Marxisten, die Guesdisten der Égalité, waren noch nicht ganz von den vorgeschritteneren Gruppen getrennt, und der Anarchismus wurde damals zum erstenmal öffentlich in Paris vertreten und von einigen Gruppen, in denen Arbeiter und Studenten zusammensaßen, enthusiastisch aufgenommen. Bald wurde die Stimme der aus der Deportation zurückgekehrten Louise Michel gehört und in der Rhônegegend, besonders in Lyon, machte der von Genf her dort verbreitete Anarchismus große Fortschritte, und die Pariser Ideen und die von Clarens und Genf aus von Elisée Reclus und Kropotkin verbreiteten trafen dort zusammen.

Natürlich rührte sich auch die Polizei, machte provokatorische Angriffe auf Versammlungen und Straßendemonstrationen und eliminierte die ausländischen Revolutionäre durch Ausweisungen, wodurch viele nach London getrieben wurden, darunter der deutsche Kreis mit S. Trunk und anderen, auch V. Dave, die dann in London die Weiterentwicklung Mosts und der Freiheit so sehr förderten. Bekannt ist eine fernere Polizeimachination, die Gründung und Erhaltung eines großen anarchistischen Blattes, der Révolution sociale, durch einen Agenten des Polizeipräfekten L. Andrieux, der dies und provozierte oder fiktive Explosionen (Thiersstatue) in seinen Memoiren mit vollem Zynismus erzählt hat.

Malatesta sah nur die erste Zeit dieser Bewegung. Er kann sehr leicht Jean Grave und Lucien Guérineau schon damals kennengelernt haben, in der vielgenannten Gruppe der rue Pascal. Auf jeden Fall wurde er mit V. Tcherkesov (den er in Genf gesehen) sehr nahe bekannt, dem jetzt alten georgischen Anarchisten, der schon als junger Schüler mit den älteren Studenten der Moskauer Ischutingruppe heranwuchs, aus der Karakasov hervorging, der das erste Attentat auf Alexander II. 1866 verübte; später machte er die ganze Netchaevbewegung durch, auch den Prozeß und sibirisches Exil, von wo er 1876 flüchtete. Damals, in London, der Schweiz, Paris und wieder in Genf, lebte er jahrelang inmitten der Bewegung, um dann wieder für beinahe zehn Jahre in den Osten zu gehen, bis er sich seit 1892 meist in London aufhielt und dort Malatesta und Kropotkin so nahe stand.

Cafiero und Malatesta besuchten 1879 manchmal James Guillaume in Paris, der sich damals eine so strikte Zurückhaltung von der Bewegung aufgelegt hatte, der er sich erst 1903 wieder ganz widmete, daß er auf Besuch lieber verzichtet hätte. Er wollte gründlich vorgehen, ungestört für seine Arbeit (die er in der Schweiz nicht mehr gefunden hatte) und seine Studien (pädagogische und französische Revolutionsgeschichte) leben und legte sich das Opfer der Isolierung mit der ihm eigenen Beharrlichkeit bei seinen Entschlüssen auf. Es war unterhaltend, ihn von den Besuchen der etwas romantisch aussehenden Italiener in späten Abendstunden erzählen zu hören, die in seinem ruhigen Hause Aufsehen machten.

Im März 1880 scheint Malatesta nach London gereist zu sein; er mag aber dann bald einige Monate in Brüssel gelebt haben; wenigstens sind zwei im Révolté, 1. Mai 1880 gedruckte Briefe aus Brüssel datiert (10. und 25. April). Jose Mesa, ein spanischer Journalist, der zu den wenigen Spaniern gehörte, die wie F. Mora, Pablo Iglesias u. a. mit Lafargue, Engels und Marx zusammengingen (1872), um den politischen Sozialismus in Spanien einzuführen und die anarchistische spanische Internationale sich zu unterwerfen, — Mesa also, hatte wieder einmal die spanischen Revolutionäre in Jules Gunesdes Egalité insultiert. Eine Erwiderung der spanischen Föderalkommission (im Révolté vom 3. April gedruckt) wurde nicht veröffentlicht, dagegen durfte Mesa neue Insulten erscheinen lassen (14. April). Malatesta verlangte von Jules Guesde den Abdruck der spanischen Antwort, einer Antwort von ihm selbst oder eine Genugtuung durch die Waffen. Pedro Eriz und José Vallverda trafen mit Guesdes Zeugen John Labusquière und Victor Marouck (bekannte Pariser Sozialisten, während die Namen der Spanier mir unbekannt sind) zusammen (Protokoll im Révolté, 1. Mai); Guesde erklärte sich bereit, Malatestas Antwort zu drucken. Er tat dies nicht und Malatesta schickte diese Antwort (18. April) und einen Brief (25. April) dem Révolté (1. Mai), mit dem Bedauern, daß er all diese Mühe verursache. Der Brief tritt für die entfernten spanischen Genossen ein, die in jenen Tagen, wo Moncasi und Otero durch die Garrotte erdrosselt und alle Revolutionäre niedergehetzt wurden — damals wie jetzt — nicht ihre Namen und weitere Einzelheiten veröffentlichen konnten, wozu Mesa sie hatte provozieren wollen. Malatesta, ihr Freund, wie er sagt, trat für die Abwesenden ein und verlangte auch „seinen Anteil an Ehre und von Verantwortlichkeit“ an der Alliance révolutionnaire Socialiste (der Genossen Bakunins), dem wirklichen Gegenstand des unverbrüchlichen Hasses der Marxisten.

Nicht lange nach der Amnestie der Communards (Juni 1880) kehrte Malatesta nach Paris zurück, wurde wegen Reversion zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und reduzierte diese auf vier Monate, indem er Einzelhaft wählte. Er brachte diese Zeit auf sehr elende Weise in der Santé und Roquette zu, worüber in den sozialistischen Tageszeitungen, Pyats Commune und Guesdes Citoyen Protest erhoben wurde (nach Révolté, 2. Oktober 1880). Er erinnert sich an das kleine Detail, das man auf die Tür seiner Zelle schrieb: „Errico Malatesta dit Fritz Robert de Santa Maria Capua Vetere“, was für die Wärter zu viel war, die ihn dann abwechselnd Santa Maria oder mit irgendeinem anderen dieser Namen nannten. Fritz Robert, der den Paß geliehen, starb damals bald, ein ausgezeichneter Kamerad (nach Révolté, 20. August 1881).

Hierauf wünschte Malatesta wieder, in der Schweiz zu leben und reiste, ohne seinen Namen zu verbergen, nach Lugano. Er wurde dort am 21. Februar 1881 verhaftet als bannbrüchiger Ausgewiesener, obgleich ihm 1879 keine Ausweisung mitgeteilt wurde und ihm keine die Ruhe in der Schweiz und deren auswärtige Beziehungen störende Handlung zur Last gelegt werden konnte. Nach vierzehntägigem Gefängnis wurde er von Gendarmen an die Grenze gebracht.

Damals war Cafiero Vorsitzender des anarchistischen Kongresses der Oberitalienischen Föderation der Internationale gewesen (Chiasso, Tessin, 5. und 6. Dezember 1880, Révolté 11. Dezember; 8. Januar 1881) und war Ende Januar 1881 in Rom (Révolté, 5. Februar). Ob er dann, etwa Malatesta in Lugano noch sah, ist mir unbekannt. Italienische Flüchtlinge waren damals im Tessin zahlreich, und eine Pressekampagne mit den üblichen Verschwörungslügen setzte gerade damals ein, um sie zu vertreiben (Révolté, 5. März). Ob damals Malatesta hoffte, sich in Lugano und von dort aus betätigen zu können, bis er nach Italien zurückkehren könnte, ist mir ganz unbekannt, wäre aber näher zu untersuchen. Er mochte wünschen, die 1883 aufgenommene Propaganda im großen Stil schon damals zu beginnen.

Er reiste nach dem erzwungenen Verlassen der Schweiz nach Brüssel, wo er wieder verhaftet wurde und konnte dann nach London reisen, wo er also im März 1881 ankam und nun endlich, zweieinhalb Jahre nach dem Verlassen Italiens, in Ruhe gelassen wurde; sein erstes, zweijähriges Londoner Exil begann.

 

XIII. Erstes Londoner Exil, März 1881 bis Frühjahr 1883.

Nach diesen zweieinhalb Jahren gehetzten Lebens in sechs Ländern mag London eine Zeit der Ruhe bedeutet haben; aber Malatesta, immer bei seiner Arbeit und überall italienische Genossen findend, hatte wahrscheinlich nie eine ruhige Zeit und suchte auch keine. Wenn er jetzt nach dem Pariser bewegten Leben und längerem Gefängnis in London volle Ruhe hatte, die italienische Bewegung zu überblicken und seine Beziehungen zu erneuern, mögen seine Eindrücke nicht ganz erfreuliche gewesen sein — so viel Terrain schien verloren zu sein — und in London selbst trat ihm das sehr traurige Schauspiel von Cafieros geistigem Verfall und rettungslosem geistigen Ruin in nächster Nähe vor Augen.

Im Sommer 1881 erschien der Prospekt einer Zeitschrift La Insurrezione (London), unterzeichnet Cafiero, Malatesta und Vito Solieri, aber das Blatt ist nie erschienen. Auszüge aus dem Programm stehen im Révolté vom 6. August, Ich weiß nicht, ob Cafiero damals überhaupt in London gewesen war; er hatte dem internationalen Kongreß telegraphiert, daß er nicht kommen könne, und der Révolté vom 17. September und 1. Oktober berichtet von wenigstens einmonatlicher Haft in Lugano. Er wäre dann erst im Herbst nach London gekommen und seine sich umbildenden Ideen und seine beginnende geistige Krankheit würden das Nichterscheinen der Insurrezione hinlänglich erklären.

Hätte diese Zeitschrift endlich den Kampf gegen Costa mit voller Wucht aufgenommen! Was man über Costa dachte, zeigte ein Brief im Grido del Popolo (Neapel), 21. Juli 1881, in dem es heißt: . . . „Ja, Costa ist ein Apostat, ein Renegat vom revolutionären Glauben des Volkes. . . . Aber dies ist nicht alles; Costa ist nicht guten Glaubens, Costa betrügt das Volk, des Betruges vollbewußt, da sein Ehrgeiz und seine Eitelkeit ihm nicht erlauben, offen zu erklären, daß er nicht mehr derjenige ist, der er war. Costa ist ein Heuchler, der sich der von ihm als Revolutionär erworbenen Reputation bedienen will, um in Italien eine Partei des legalen Sozialismus zu gründen.“ . . . Dieser Brief ist unterzeichnet von V. Valbonesi in Forlimpopoli (vgl. Proximus tuus, Turin, 6. Oktober 1883, aus Il Popolo, Florenz). Man vergleiche auch, was Merlino im Grido vom 10. August 1881 schrieb. Der Fall Costa lag also klar vor den italienischen Genossen; Costas eigener Standpunkt liegt vor in dem offenen Brief ai miei amici ed ai miei avversari (An meine Freunde und an meine Gegner), Imola, 15. September 1881, in folio.

Wenn Malatesta damals oder vor der Veröffentlichung von Artikeln im Ilota (Ravenna), die ich nicht kenne, vor dem Popolo und der Questione sociale von 1883 über diese Frage schrieb, kann ich nur sagen, daß ich diese Schriften nicht kenne und nichts von ihnen hörte, es sei denn, daß ich in der Questione sociale davon gelesen, die ich vor vielen Jahren aufmerksam durchsah, jetzt aber leider nicht vor mir habe. Auf jeden Fall kann es kein heftiger Schlag gewesen sein, oder ich würde mich daran erinnern. Es besteht nicht der geringste Zweifel über seinen persönlichen Standpunkt, nur die praktische Frage, wodurch sein öffentliches Auftreten, wenigstens das in eklatanter Form, so lange verzögert wurde. Vielleicht wollte er die Diskussion nicht in Artikeln und Briefen aus dem Ausland zersplittern und wartete, bis er sie in Italien selbst aufnehmen konnte, was 1883 geschah. Vielleicht spielte auch Cafieros sich neu bildender Standpunkt mit, der ganz unberechenbar wurde, und auf jeden Fall muß Cafieros Fall damals viel trauriger auf Malatesta gelastet haben, als der des fernen Costa, mit dem er kurz fertig zu werden hoffen mochte, sobald er wieder selbst in Italien wirken konnte.

Sowohl er wie Kropotkin, damals auch in London, beobachteten den geistigen Verfall Cafieros. Schon in Genf bemerkte Kropotkin die große Erregbarkeit bei strittigen Diskussionen, und in London sahen beide einen wirklichen Verfolgungswahn. Cafiero unterbrach ein Gespräch mit der Aufforderung, zu lauschen, wie Spitzel die Mauern von den Nachbarhäusern her anbohrten. Das Telephon war damals neu, und er sah tatsächlich das Mikrophon sehr richtig voraus, das ja in den Vereinigten Staaten tatsächlich zu Spitzelzwecken in den Lokalen von Arbeiterorganisationen heimlich angebracht worden ist; denn er bildete sich ein, daß Drähte aus Italien ihre Zimmer umgeben würden, um jedes ihrer Gespräche aufzufangen. So führte er Malatesta in die Mitte der größten Grasfläche im Hyde Park, um dort unbelauscht zu sein, und murmelte dort einige vertrauliche Worte in sein Ohr. Als Reclus einmal einen Vortrag hielt, war Cafiero anwesend und wurde von vielen, die ihn lange nicht gesehn, herzlich begrüßt; er blieb verdrießlich und sagte nachher zu Malatesta, der, wie Emilio Bellerio in Locarno, der einzige war, in den er unerschütterliches Vertrauen behielt: „Hast du nicht gesehn, daß das alles Spitzel waren?“

Er zeigte damals eine sehr große Verehrung für Marx, was gerade Kropotkin, auf den Marx nie irgendeinen Eindruck gemacht hatte, nicht anhören mochte. Schließlich schlug er seinen nächsten Freunden, Malatesta, Ceccarelli und anderen, einen Plan parlamentarischer Taktik für die Bewegung vor und war davon nicht abzubringen. Im März 1882 eilte er nach Italien und wurde bald (im April?) in Mailand verhaftet. Im Gefängnis begannen seine geistigen Martern, da er sich einbildete, im Schlaf gesprochen und dadurch seine Genossen verraten zu haben. Wir lesen im Révolté vom 29. April: „Cafiero war nach Italien zurückgekehrt infolge einer Evolution, die wir uns erklären, ohne ihr zu folgen und sie zu rechtfertigen, um am Wahlkampf teilzunehmen. Unser armer Freund bildete sich eines schönen Tages ein, daß die italienische Regierung von jetzt ab entschlossen sei, zu diskutieren, und daß wir die Diskussion annehmen müßten. Die alten Renegaten, die Italien regieren, beeilten sich zu beweisen (durch seine Verhaftung), daß die ganze sprüchwörtliche Naivität von Cafiero dazu gehörte, zu glauben, daß sie zu etwas anderem fähig seien als zu einer Infamie. Unterdessen ist Cafiero krank und das régime italienischer Gefängnisse ist nicht geeignet, ihn zu heilen“ . . ., eine gewiß von Kropotkin geschriebene Notiz. Ein Spezialist untersuchte ihn und er wurde schließlich an die Schweizer Grenze gebracht. In Chiasso, in einem Hotel, versuchte er sich den Hals und die Pulsadern mit dem gebrochenen Glas einer Brille zu zerschneiden und schrieb, als er gerettet wurde, einen kurzen erbarmungswürdigen Brief, den ich gesehen habe, an Emilio Bellerio, der ihn in voller Verzweiflung und Niedergeschlagenheit fand. Er nahm ihn mit nach Hause, nach Locarno, wo er einige Monate blieb. Am 29. Juni schrieb Bellerio hoffnungsvoll an C. Gambuzzi, seit Sonntag sei seine Geisteskraft völlig hergestellt. Es trat wirklich eine Zeit der Erholung ein. So sah ich einen am 14. November 1882 von ihm nach Neapel gerichteten Brief, in welchem er um Material zu Fanellis Biographie ersucht, für R. Farga Pellicer in Barcelona, also augenscheinlich für dessen große Geschichte des Fortschritts im neunzehnten Jahrhundert. „Man fragte mich auch betreffs Michael Bakunin und ich schickte ihnen viele Sachen.“ So kamen damals aus Locarno Bakunin betreffende Schriften nach Spanien. Cafiero selbst hatte — ich weiß aber nicht, ob damals, 1882, oder 1881 in Lugano (wo ihn, als er im Gefängnis war, Pisacanes Saggi eine freudig begrüßte Entdeckung waren) — Material für eine Bakunin-Biographie gesammelt, wozu ihm Schwitzguébel Manuskripte und Briefe Bakunins geschickt hatte. Einen Teil dieses Materials schickte er wahrscheinlich an R. Farga Pellicer, dessen Nachlaß aber ebenso verschollen ist, wie der von Cafiero selbst.

Seine erwähnten Ideen verließen ihn aber nicht, und in dem legalitären Hauptorgan, der Plebe (Mailand) erschien am 27. Oktober 1882 ein Brief Cafieros, der sich für Teilnahme an den Wahlen aussprach; auch ein oder zwei andere Aeußerungen im gleichen Sinne erschienen. Sein vollständiger geistiger Zusammenbruch erfolgte aber so bald darauf, daß keine Partei aus dieser Anerkennung des Parlamentarismus je Kapital schlug. Es ließ ihm keine Ruhe mehr in Locarno, und er reiste nach Florenz und wurde dort am 13. Februar 1883 nackt auf den Hügeln herumstreichend gefunden. Er wurde wegen „unheilbaren Wahnsinns“ im Irrenhaus von Florenz interniert, das der Soziologe Angelo Umiltà, Professor in Neuchâtel, in einem Brief an C. Gambuzzi (10. Februar 1884) eine der am schlechtesten gehaltenen Irrenanstalten Italiens, tatsächlich ein mittelalterliches Gefängnis, nennt. Nun bekamen endlich seine beiden reaktionären Brüder Macht über ihn und schoben seine Frau und seine Freunde zur Seite. Im Juli 1887 begann eine Agitation für seine Befreiung, die man in der Humanitas (Neapel) und der sozialistischen Rivendicazione (Forli) näher verfolgen kann. Er wurde im Frühjahr 1888 entlassen, aber sein Geist war wirklich gebrochen, und er mußte in das Irrenhaus von Nocera Inferiore geschickt werden, wo er am 17. Juli 1892 starb.

Malatesta besuchte ihn 1883 im Irrenhaus von Florenz. Er wies alle Besucher zurück, aber als er Malatestas Namen hörte, nannte er sofort den seines Vaters (Federico), seinen Geburtstag; denn sein Gedächtnis war intakt geblieben. Aber er war, sagt Malatesta, wirklich und unverkennbar geistesgestört. Die rührende Legende, daß er die Fensterverschläge schloß, um nicht anderen einen zu großen Teil Sonnenlicht zu nehmen, muß darauf reduziert werden, daß er durch schnelles Schließen der Verschläge sich einbildete, Sonnenstrahlen fangen zu können.

Malatesta mag selbst erzählen, welche Lücke Cafieros Verschwinden in sein Leben riß. Er wurde nicht entmutigt und nahm nun den Kampf allein auf (von den Freunden und Genossen, die er überall fand, brauche ich hier nicht zu reden), nachdem er Bakunin und Cafiero an seiner Seite hatte fallen sehen. Leider sind mir Malatestas wohl nicht häufige theoretische Aeußerungen aus den Jahren vor 1883 nicht zugänglich, während z. B. der hier erwähnte Révolté-Artikel von 1880 (s. Kap. XII) uns lebhaft in Cafieros Ideen einführt. Cafieros unruhiges Suchen nach Aktionsmöglichkeiten, das ihn von der Insurrektion zum Parlamentarismus führte, fand in Malatesta gewiß keinen kritiklosen Widerhall; derselbe hielt an den großen Ideen allgemeiner Aktion der ersten Jahre der italienischen Internationale fest, damals wie heute.

Das sozialistische Leben in London wurde im Sommer 1881 durch den internationalen revolutionären Kongreß aufgerüttelt. Man hielt es für nützlich, daß die vielen schon außerhalb der Internationale entstandenen revolutionären Organisationen und Gruppen und die alten Internationalisten Zusammentreffen und sich über Ideen, Organisation und Aktion verständigen. Der Kongreß war nicht öffentlich, und die Namen der Delegierten wurden nie veröffentlicht. Lange Berichte befinden sich im Révolté (23. Juli bis 9. September 1881) und in zwei anderen Zeitschriften. Man kennt als Teilnehmer Kropotkin, G. Herzig (Genf), Malatesta und Merlino, Johann Neve (den besten deutschen Genossen Mosts, der selbst damals im englischen Kerker saß), die englischen Genossen, die damals, vor William Morris und vor H. M. Hyndman, die Bewegung durch unermüdliche Straßenreden- und Flugschriften- Propaganda wieder ins Leben riefen, Joseph Lane, Frank Kitz und andere. Gustave Brocher, der den Kongreß in London wesentlich vorbereitete (ein Teil der Diskussion hierüber spielt in Belgien, da sich auch der Blanquist E. Chauvière in dieser Sache bemühte) erzählt einige Erinnerungen in Jean Graves erster Kropotkin-Broschüre (1921); er nennt da Louise Michel, Emile Gautier, Victorine Rouchy (von der Kommune, seine spätere Frau, gestorben 1922), Chauvière, Miß Lecomte aus Boston, N. Tchaikovski u. a. Malatesta hatte eine Unmenge Mandate, von der toskanischen Föderation der Internationale, den Sozialisten der Marken, Gruppen in Turin, Neapel, Pavia, Alessandria, Marseille und Genf und den Internationalisten (d. h. Gruppen geflüchteter oder ausgewanderter Italiener) von Konstantinopel und Aegypten. Merlino hatte Mandate von Rom, Neapel, aus Städten in Calabrien, aus Pisa, Fabriano und Palermo.

Ein vor dem Kongreß, gelegentlich der Diskussion über dessen Ziele, im Cri du Peuple von Verviers erschienenen Brief Malatestas ist mir nicht gegenwärtig. Kropotkins sorgfältiger Bericht im Révolté läßt erkennen, daß er einer der wenigen war, die das Ziel, zu einer praktischen Lösung der Organisationsfrage zu gelangen, klar vor Augen hatten. Aber er hatte da eine schwere Arbeit vor sich, und er rief einmal aus: Wir sind von trostlosem Doktrinarismus! Die meisten Delegierten wollten eine Organisation und wollten keine, das heißt, sie betrachteten jeden praktischen Schritt dazu als einen Eingriff in ihre Autonomie. Schließlich wird ein Londoner Bureau von drei (und drei Ersatzmännern) ernannt mit der öffentlichen Adresse „John Poor“, 6, Rose Street, Soho Square, W., dem Haus des Rose Street sozialistischen Clubs. Kropotkin nannte gelegentlich Malatesta und Trunk als Mitglieder; Trunk war ein deutscher Tischler von der Freiheitgruppe und die Adresse für Briefe. Daß Malatesta, der in London blieb, eines der drei Mitglieder wurde, ist klar; ebenso lag es nahe, daß das zweite Mitglied ein Deutscher wurde — damals blühte die bald neuen Verfolgungen ausgesetzte Freiheit — und das dritte war wahrscheinlich ein Russe. Es zeigte sich übrigens bald, daß die revolutionären Bewegungen der einzelnen Länder so viel bei sich zuhause zu tun hatten, solchen lokalen Verfolgungen ausgesetzt waren, daß all dies durch unnötige internationale Beziehungen sich noch mehr kompliziert hätte, und das Bureau hatte wahrscheinlich wenig oder nichts zu tun.

Derartige Versammlungen ziehen zweifelhafte Charaktere an, deren einer, N. Ganz, durch indiskrete Vorschläge, die dann in der Oeffentlichkeit zur Hetze gegen den ganz sachlichen Kongreß ausgebeutet wurden, keinen weiteren Nutzen brachte, und es war unvermeidlich, daß sich Spitzel einzudrängen versuchten. Der unverschämteste war Serreaux, das Individuum, das im Aufträge des Polizeipräfekten Andrieux das schon erwähnte Pariser Blatt unterstützte und vertrat, ein Blatt, dem gerade der so mißtrauische arme Cafiero seine schönste Artikelserie Révolution zur Veröffentlichung überließ und andere taten dasselbe im besten Glauben. Kropotkin hatte immer Verdacht gehabt, und um diesen zu entkräften, verfiel dieser Serreaux auf die Idee, ihm sein glückliches Familienleben zu zeigen, indem er ihn bei einer alten, ehrwürdigen Tante, die er seit jeher in London habe, einführte. Man ging hin und fand tatsächlich eine solche Dame, aber Malatesta kannte zufällig die Möbel wieder, die er oft vor einem Laden in der Nähe zum Verkauf ausgestellt gesehen hatte, woraus sich ergab, daß die Möbel nur für diese Gelegenheit gemietet worden waren, die Tante wahrscheinlich auch, und daß der Mann ein Lügner war. Das Blatt wurde auch sehr bald abgebrochen und vier Jahre später erzählte Andrieux zynisch die ganze Sache.

Ein nächster Kongreß, der in Barcelona 1884, dann 1885 zusammentreten sollte, fand nie statt. Damals fanden die härtesten Verfolgungen von Anarchisten statt, in Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Oesterreich usw. und es wurden auch seit den achtziger Jahren größere und länger erscheinende Zeitschriften herausgegeben, in denen die Ideen durch beständige Diskussion herausgearbeitet wurden. In Spanien gab es auch die beiden Certamen socialista von Reus (1885) und Barcelona (1889), eine Art Wettkämpfe, auch an die englischen symposium anknüpfend, eine Art „geschriebener Kongresse“. Hierauf begannen formlose internationale Versammlungen, in Paris (September 1889), in Chicago und Zürich (1893) und in London (1896), in denen viele Ideen besprochen wurden und viele Genossen einander kennen lernten. All dies entsprach mehr dem sich entwickelnden modernen anarchistischen Geist, der die Arbeit der alten Internationale respektiert, aber meint, daß herangewachsene Bewegungen ihren Weg allein finden, können ohne künstliche Bande, seien sie auch noch so locker.

Von Malatestas Schriften aus jener Zeit, die in italienischen Blättern zerstreut sein mögen (Artikel oder Briefe im Ilota von Rimini werden genannt), kenne ich nichts oder kann jetzt nicht nachsuchen. Nur der Révolté vom 10. März 1882 enthält eine Würdigung Garibaldis (unter: zeichnet E. M.); in Lothrop Withingtons Democratic Review (London, 1882) erschien ein solcher Artikel englisch, vermutlich derselbe.

Am 13. März 1882 fand im Rose Street Club eine Versammlung zur Erinnerung an den Tod Alexander II. (1881) statt; nach dem Révolté (18. März) waren die Redner Karl Schneidt und ein Berliner Sozialist, Frank Kitz (der noch lebende Veteran der englischen Bewegung), Herbert Burrows (von der Democratic, bald der Social Democratic Federation, von da ab durch sehr viele Jahre Sozialdemokrat und Theosoph), Malatesta und Kropotkin.

Aber das alles war nur eine Scheintätigkeit, sein wahrer Sinn mußte auf die Wiederaufnahme des Kampfes in Italien gerichtet sein. Dort war die vieljährige ideale Einheit zielbewußten revolutionären Vorwärtsstrebens frivol von Costa gebrochen worden, zuerst durch seine Adresse an seine Freunde in der Romagna vom 27. Juli 1879. Die alten Ideen wurden u. a. vertreten vom Grido del Popolo (Neapel), von Emilio Covellis Genfer Blatt I Malfattori (21. Mai bis 23. Juni 1881) und durch viele andere lokale Einzelbemühungen. Aber es fehlte etwas, um Costas durch die Oeffentlichkeit seines jetzigen Treibens geförderter Wirkung entgegenzutreten, ebenfalls öffentliches Auftreten an Ort und Stelle, und dies muß Malatestas Ziel gewesen sein, das vielleicht Cafieros Tragödie und andere, mir unbekannte Verhältnisse etwas verzögerten, dem er aber 1883 endlich entgegenschritt.

 

XIV. Malatesta in Florenz, 1883—84 (La Questione sociale); südamerikanisches Exil, 1885—89.

 

Nun ist die Zeit erreicht, da Malatesta, dreißigjährig, schon einer der letzten Gründer der italienischen Bewegung und jetzt wieder der Grundleger ihrer moderneren Periode, seine erste große öffentliche Kampagne in Italien beginnt, die in der Herausgabe der Florentiner Questione sociale (22. Dezember 1883 bis 3. August 1884) gipfelt. Hier muß ich den Charakter dieser Biographie ändern. Alles vorhergehende ist nach meiner Meinung legitimes Objekt der historischen Forschung, da es mit der Gegenwart in irgend einer praktischen Hinsicht nicht mehr verbunden ist. Bis hierher konnte der konventionelle farblose Stil vieler Darstellungen durch möglichste Herstellung der wirklichen Tatsachen, soweit mir dies möglich war, zu ersetzen versucht werden, da die wirklich[e]n Tatsachen allein Personen unserem Verständnis und unseren Sympathien näher bringen, da wir sie als wirkliche Menschen und nicht als Helden oder Engel sehen.

Dieser Realismus wird im vorliegenden Fall wenigstens für einen entlegenen Beobachter wie ich es bin, unmöglich, sobald Malatestas erste unabhängige Kampagne, 1883—1884, erreicht ist. Vor allen Dingen kenne ich das meiste nicht, da ich ihn von da ab als meinen lebenden Zeitgenossen und Kameraden betrachte, den ich seit Ende 1889 kenne und nie zum Gegenstand speziellen Studiums und näherer Beobachtung machte. Die bis hierher erzählten Tatsachen ergaben sich von selbst, als das Studium von Bakunins Leben sich notwendigerweise auf das seiner nächsten Freunde zur jeweiligen Zeit ihrer Beziehungen ausdehnte. Was ich für die Zeit seit 1883 hörte oder bemerkte, müßte erst wie jenes frühere Material nach vielen anderen Quellen verifiziert und ergänzt werden, was mir jetzt materiell unmöglich ist, und selbst, wenn dies geschehen wäre, würde ich mich nicht für berechtigt halten, alle Resultate zu veröffentlichen. Malatesta ist und wird bis zu seinem letzten Tage so mit der lebenden Bewegung verknüpft bleiben, daß, außer wenn ein ganz vollständiger Umsturz eintreten sollte, der ganz mit der Gegenwart bricht, seine Tätigkeit um nichts durch historische Neugierde über die Vorgänge seit 1883 auch nur dem Schein nach gestört werden sollte. Daher werden seine wirkliche Tätigkeit, Pläne, Bemühungen, Enttäuschungen usw. hier nicht besprochen, ob Angaben oder Behauptungen darüber erschienen sein mögen oder nicht, und ob ich etwas näheres darüber zu sagen wüßte oder nicht. Die alten drei Worte: educate, agitate, organise (klärt auf, agitiert, organisiert) müssen all seine Tätigkeit von 1883 bis 1922 decken; Hoffnungen und Taten, Verwirklichungen hingen in ihrem Endresultat nicht von ihm allein ab und sollen unberührt bleiben.

Dies bedeutet nicht, daß sich die Biographie von jetzt ab auf einige äußerliche Tatsachen beschränken wird. Ich werde noch immer versuchen, die Verhältnisse in ihrem Zusammenhang darzustellen und zu erklären, und es ist harmlos, sein ruhiges Londoner Leben zu schildern und die meisten seiner Reisen zu erwähnen. Es ist schade, daß so die Geschichte eines Lebens, die ein tieferes Eindringen nicht zu scheuen hätte, verkürzt werden muß, aber bis sein Lebensziel nicht endlich erreicht ist oder seine Tätigkeit mit seinem Leben endet, sehe ich keinen anderen Weg.

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Die näheren Umstände, unter welchen Malatesta 1883 nach Italien zurückkehrte, sind mir nicht bekannt, außer daß die Notwendigkeit, sich gegen die Schädigung der Bewegung durch Costas Renegatentum zu wehren, immer dringender wurde. Cafiero war rettungslos verloren; „unglücklicherweise können wir nicht länger an einer Tatsache zweifeln, welche verschiedene Symptome uns lange Zeit fürchten ließen, an der geistigen Zerrüttung Carlo Cafieros“, schreibt der Révolté vom 17. Februar 1883 und bringt dann eine schöne Schilderung seiner Personlichkeit, wahrscheinlich aus Elisée Reclus’ Feder. Costa war durch die Wahlen vom November 1882 als Abgeordneter von Ravenna in die Kammer gelangt und diese neue Taktik infizierte einen Teil der sozialistischen Presse. Der Ilota von Rimini brachte Artikel für dieselbe und andere, von Malatesta, gegen dieselbe (Révolté, 12. Mai 1883). Man brauchte eine große Zeitschrift für diesen Kampf und Malatesta als Hauptredakteur und Florenz als Ort derselben, waren klug gewählt. Die Romagna war Costas persönliche Domäne, wo sein früheres Prestige und seine jetzige grandeur einen geistigen Kampf erschwerten, Florenz aber lag nicht zu weit entfernt und war doch ganz unabhängig, war ein altes internationalistisches Zentrum, das vielen Verfolgungen die Stirn geboten hatte. Es erschien ein Zirkular, das für den 20. Mai 1883 die Herausgabe von Il Popolo (das Volk), einem kommunistisch-anarchistischem Wochenblatt, ankündigte (s. Révolté, 12. Mai).

Man wollte besonders bekämpfen „die reformistischen und parlamentarischen Illusionen, welche die größte Gefahr darstellen, die heute den Sozialismus bedroht. Und da es eine dringende Notwendigkeit für unsere Partei ist, sich um ein klar definiertes Programm zu organisieren, werden wir versuchen, alle Zweideutigkeit zu zerstören und mit all unserer Energie an diesem Organisationswerke arbeiten“ . . .

Erschien Il Popolo überhaupt? Ich glaube, ich sah es in der Questione sociale angeführt und eine einzige Nummer mag erschienen sein; ob auch ausreichend verbreitet oder durch die Verfolgungen gestört, weiß ich nicht. Im Révolté vom 26. Mai liest man schon von den Verhaftungen von Malatesta in Florenz und von Merlino in Neapel, und es wird bemerkt: „die bevorstehende Herausgabe der anarchistischen Zeitschrift Il Popolo störte im voraus die Ruhe der Regierung. Statt sich mit der Unterdrückung einer Zeitschrift zu beschäftigen, begnügen sie sich mit der Unterdrückung der Herausgeber“. Sie blieben im Gefängnis ohne Angabe der Gründe der Haft (Révolté, 7. Juli) und wurden mit andern schließlich nach Rom gebracht und im November provisorisch freigelassen. Eine Erklärung, unterzeichnet Enrico Malatesta, Francesco Saverio Merlino, Dominico Pavani, Camillo Pornier, Edoardo Rombaldoni und Luigi Trabalza (Rom, 11. November 1883; Révolté, 24. Nov.) sagt: „nach achtmonatlicher Haft unter der Beschuldigung der Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates wurden wir provisorisch freigelassen, um vor einen Richter gestellt zu werden unter der Beschuldigung verbrecherischer Vereinigung (malfattori) und einige von uns wegen Aufreizungen zur Begehung dieses Verbrechens. Dies bedeutet . . ., daß man uns keiner gesetzlich strafbaren Tatsache beschuldigen kann, da unser einziger Fehler ist . . ., daß wir zu dem schrecklichen Verbrechen von Sozialismus vereinigt sind; dies bedeutet, daß unsere Machthaber, da sie bei dieser Sachlage daran verzweifeln, Geschworene zu finden, die uns verurteilen würden, Vertrauen haben in die Strenge der professionellen Richter“ . . . Dies bedeute, daß die Legalität in Italien, wenn sie je existierte, von den Hütern der Gesetze selbst aufgegeben ist usw.

In der Zeit nun nach dieser provisorischen Freilassung und vor dem Prozeß erschien die Questione sociale, seit dem 22. Dezember 1883. Nach Nr. 7 war eine Unterbrechung, da der Drucker, ein Republikaner, sich weigerte, das Blatt weiterzudrucken (Rév., 16. März 1884); später wurde der verantwortliche Redakteur P. Cecchi zu 21 Monaten und 2000 Lire verurteilt, was zu einer neuen Unterbrechung führte (Rév., 8., 22. Juni). Im Sommer hatte Malatesta eine scharfe Diskussion mit den italienischen Freimaurern (Rév., 31. August).

Inzwischen fand die Polizeigerichtsverhandlung in Rom im Februar statt; Zeugen für die Verteidigung wurden nicht zugelassen, nur Polizeiaussagen, und das Urteil lautete: Merlino 4 Jahre Gefängnis, Malatesta und Pavani je 3 Jahre, Biancani (abwesend) 2 ½ Jahre, Pornier (abwesend) und Rombaldoni je 15 Monate, Trabalza und Venanzi je 6 Monate, Malatesta erklärte den Richtern, die russische Polizei deportiere nach Sibirien ohne Prozeß, die italienische Polizei sei heuchlerischer, da sie sich hinter der Komplizität von Richtern verstecke (Révolté, 16. März.).

Im Herbst 1884 gingen Malatesta und andere Genossen nach Neapel, wo die Cholera in erschreckendem Maße wütete, und leisteten Krankenpflege in Spitälern. Costa und andere Sozialisten taten dasselbe. Zwei Anarchisten, Rocco Lombardo, der frühere Redakteur des Turiner Proximus tuus und Antonio Valdre erlagen dabei der Epidemie. Die Zurückkehrenden erklärten in einem Manifest, die wahre Ursache der Cholera sei das Elend und das wahre Heilmittel sei die soziale Revolution (s. Rév., 28. Sept., 7. Dez. 1884, 8. Nov. 1885).

Jene andere Epidemie, der römische Appellgerichtshof, vor dem die Prozeßsache weiter schwebte, vertagte seine Entscheidung am 14. November und entschied sich im Januar 1885; Merlino erhielt ein Jahr weniger Gefängnis, Trabalza wurde freigesprochen und alle bekamen noch 6 Monate spezielle Polizeiaufsicht dazu. Aber die Angeklagten waren um diese Zeit alle verschwunden und so begann Malatestas und Merlinos Exil an dem mir unbekannten Tage ihrer Abreise Ende 1884 oder Anfang 1885? Es wurde noch einmal appelliert und dieser Appell definitiv am 15. April 1885 verworfen, worauf die Urteile gleich vollstreckt werden sollten, aber es war niemand auffindbar; eventuell könnte also die Abreise aus Italien erst vor dem 15. April oder bald darauf stattgefunden haben? (Vgl. Révolté, 7. Dez. 1884, 1. Febr., 10. Mai 1885).

Für einen profanen Leser scheint diese legale Prozedur etwas durcheinandergemischt zu sein, sozusagen auf dem Kopf zu stehen. Malatesta wird von allem Anfang an verhaftet, ehe er sich in Italien wesentlich betätigt haben kann, wird dann nach Monaten für ein Jahr ungefähr provisorisch freigelassen und ist in dieser Zeit so frei wie nie zuvor und macht die glänzende Kampagne der Questione sociale, welche die Gerichte zu stören sich hüteten, um ihn nicht den servilen Richtern zu entziehen und ihn vor eine Jury stellen zu müssen. So mußten sie warten, ob es ihm passen werde, nach Erledigung des endlosen Appells sich für drei Jahre einkerkern zu lassen. Er beschloß, dieser Leute wegen nicht neue Jahre seines Lebens wegzuwerfen und kehrte dem Land den Rücken.

Die Questione sociale erschien vom 22. Dezember 1883 bis zum 3. August 1884 (wöchentlich). Im British Museum befindet sich ein vollständiges Exemplar, das ich vor vielen Jahren sehr genau durchsah; jetzt aber steht mir keine Nummer des Blattes zur Verfügung. Ich weiß aber aus dem Vergleich mit anderen italienischen Zeitschriften der Bewegung, daß dieses Blatt bemerkenswert groß und reichhaltig ist, voll Material aus vielen Teilen Italiens. Man sieht, daß es bald oder sofort das Hauptorgan der überall neubelebten Bewegung wurde. Sein Hauptziel ist die Bekämpfung der parlamentarischen Taktik, die Costa seit 1879 im stillen verbreitete; 1883 war die Maske längst vollständig gefallen. Jetzt vereinigen sich die Anarchisten wieder überall und freuen sich, das Blatt unterstützen zu können, das natürlich als innerstes Ziel den Wiederaufbau der ganzen Organisation nicht aus dem Auge verliert, ebensowenig die populäre Propaganda der Ideen, eine Ausdehnung derselben auf viel weitere Kreise als bisher.

Diesen Bestrebungen dienen zwei Publikationen: Programma ed organizzazione della Associazione internazionale dei Lavoratori. Pubblicato a cura della redazione del giornale „La Questione sociale“ (Florenz, 1884, 64 S., 16 °), eine mir jetzt nicht vorliegende Organisationschrift Malatestas, obwohl kein Verfasser genannt ist, und die berühmte Broschüre: Propaganda socialista. Fra contadini. Pubblicazione del giornale „La Questione sociale“ (Florenz, 1884, 62 S., 16 °). Letzteres ist der erste Druck der den Genossen fast aller Länder wohlbekannten Broschüre, ob sie nun Fra contadini oder Entre campesinos oder Intre terani, Entre paysans oder A Talk between two workers, Unter Landarbeitern oder Gesprek tusschen twee Boerenarbeiders genannt wird, ob sie in norwegischer oder portugiesischer, bulgarischer oder armenischer oder chinesischer Uebersetzung vor uns liegt.[13]) Die in Paris 1907 oder 1908 gedruckte chinesische Uebersetzung ist, nebenbei bemerkt, von allen anarchistischen Schriften, die ich kenne, die im allerkleinsten Format gedruckte, eine wahre Diamantausgabe.

Kropotkins An die jungen Leute (Aux jeunes gens, Genf, Februar 1881) ist sicher die am öftesten übersetzte und am vielfachsten aufgelegte Schrift eines Anarchisten, und ich möchte nicht entscheiden, ob ihre Verbreitung oder die des Manifests der Kommunistischen Partei größer ist; sehr groß ist der Unterschied gewiß nicht. Von anarchistischer Literatur stehen an zweiter Stelle Malatestas Fra contadini und Bakunins Gott und der Staat; ersteres mag größere Auflagen gehabt haben, Bakunins Schrift ist wohl noch öfters übersetzt. Diese große Verbreitung der Landarbeiterbroschüre begann mit der französischen Uebersetzung im Révolté (1885—86) und als Entre paysans (Paris, 1887); die englische Uebersetzung in den Freedom Pamphlets erschien im Februar 1891. So hat Malatesta gleich mit seiner ersten Broschüre etwas dauerndes geschaffen.

Die Questione sociale war vielleicht zum erstenmal ein wirkliches italienisches Propagandaorgan, während die früheren Blätter doch meist nur äußerliche Organe einer Organisation waren, die eine unmittelbare revolutionäre Aktion auszuführen hoffte und für die Zeitschriften doch nur eine Nebensache waren. Jetzt war so viel Terrain verloren gegangen und hatte sich durch Costas Renegatentum, auch durch die wohlgemeinten, aber doch dem Parlamentarismus einen Weg bahnenden Ciprianiprotestwahlen eine solche Rückständigkeit entwickelt, daß diese zu beseitigen der unmittelbare Zweck der damaligen Propaganda sein mußte. Wie in anderen Ländern hatten sich eben am Ende der siebziger — als das von der Pariser Kommune von 1871 und den politisch-revolutionären Ereignissen in Italien und Spanien ausstrahlende Bewußtsein revolutionärer Möglichkeiten sich verflüchtigt hatte und der Kapitalismus durch den beginnenden Imperialismus seinen letzten Aufschwung nahm, — der reformistische und parlamentarische „Sozialismus“ gebildet und mit ihm auf das schnellste eine neue parasitäre Zwischenklasse, die der Arbeiterpolitiker, der neuen Zwischenhändler zwischen Kapital und Arbeit, — eine Unteroffiziersklasse, bereit, die soziale Revolution so lange als möglich zu verhindern und sie zu kontrollieren, auszubeuten und zu ruinieren, wenn sie nicht länger zurückzuhalten ist.

Von nun ab muß ein ungeheurer Prozentteil der Bemühungen der Revolutionäre die Kapitalisten außer acht lassen und sich zum Wegräumen dieser absichtlichen Hindernisse jeder Volksbewegung verbrauchen lassen. Wenn die Sozialdemokratie nicht existiert hätte, hätten die Kapitalisten selbst etwas ähnliches erfinden müssen — sie hatten keine nützlichere Helferin. Vierzig Jahre, beinahe ein halbes Jahrhundert nach diesen Anfängen ist die Situation dieselbe und das Uebel hat gigantische Formen angenommen und Männer wie Malatesta stehen jetzt wie damals denselben falschen Führern und ihren Opfern gegenüber. Was in Generationen von Arbeitern der Militarismus, Nationalismus und der Geist des Kommerzialismus noch intakt ließen, wurde die sichere Beute sozialdemokratischer Entmannung und das Resultat ist Unterwerfung unter den kapitalistischen oder den sozialistischen, kommunistischen und gewerkschaftlichen Führer und seine Leute.

Wo könnten wir heute nicht sein, welche utopischen Träume könnten nicht vor unseren Augen zur Wirklichkeit geworden sein, wenn dieser lähmende, geistige Druck nicht auf der Energie des Volkes lasten würde? Das Leben von Malatesta und aller Anarchisten dieser Generationen wird eine Tragödie, denn all ihre Bemühungen, den direkten Feind, den Staat und das Kapital, zu bekämpfen, stoßen auf diese Zwischenwand von Tatlosigkeit und Unterwürfigkeit, die von der Sozialdemokratie seit vierzig Jahren geschaffen wurde. Kein Wunder, daß sich die Staaten und der Kapitalismus noch wohl fühlen, denn nicht einmal ihre äußerste Verteidigungslinie, die sozialdemokratischen Schutzgräben des Bestehenden, sind noch vom Volk und den Freunden der Freiheit genommen. Dies mag erklären, warum nun Propaganda, oft der elementarsten Art, und Polemik neben die klare Vorbereitung und versuchte Durchführung der revolutionären Aktion auch für Malatesta treten mußten.

Es wird leicht sein, nach der „Questione sociale“ Malatestas damalige Versammlungen, Propagandareisen, einzelne polemische Zusammenstöße, die Details des Prozesses usw. zusammenzustellen. Ich weiß nur, daß er solange es irgend möglich war, in Florenz blieb, aber natürlich nicht Lust hatte, sich drei oder vier Jahre einsperren zu lassen. Zuletzt war, erzählte er, das Haus, in dem er wohnte, von der Polizei beständig bewacht, um seine Flucht zu verhindern; aber es war da auch in einem andern Stockwerk ein Nähmaschinendepot oder eine große Schneiderwerkstatt; genüg, es wurde eine Kiste herausgetragen, die eine Nähmaschine zu enthalten schien und Malatesta war dann aus dem Haus verschwunden und verließ Italien.

Aus mir nicht bekannten Gründen, die ganz private oder persönliche sein dürften, entschlossen sich er und einige andere italienische Genossen nach Argentinien zu reisen, nach Buenos Aires. Er blieb dort etwas über vier Jahre, von Anfang 1885 bis Mitte 1889 ungefähr. Ob je an eine dauernde Auswanderung gedacht wurde, weiß ich nicht, glaube es aber kaum; Aegypten und jedes kontinentale Land war verschlossen, Amerika war London vorzuziehen und für die Wahl von Südamerika gab es eben irgend eine ganz unmittelbare Ursache, die sich nicht erraten läßt.

Ein Blatt La Questione sociale (Buenos Aires, im Révolté vom 31. Januar 1886 als neu erwähnt), das erste italienische anarchistische Blatt, soll sein Organ gewesen sein; doch ist nichts näheres bekannt, und es dürfte sich nicht lange gehalten haben. Er hatte nun Gelegenheit gründlich spanisch zu lernen und fand, von den Italienern abgesehen, in den dorthin ausgewanderten spanischen Internationalisten neue Freunde, vielleicht auch in einer belgischen Gruppe aus Verviers, Emilie Piette und anderen, falls diese nicht etwas später kamen.

Er lebte nicht die ganze Zeit in Buenos Aires; ich hörte ihn bei einem der kleinen Picknicks der Freedom Group, wie wir es nannten, an trüben Winterabenden in Tcherkesovs großem Zimmer erzählen, wie er und einige Freunde einmal fern im Süden auf einem Schiff waren und der Kapitän den Auftrag erhalten hatte, sie in einer beinahe ganz verlassenen Gegend an der patagonischen Küste auszuschiffen. Sie weigerten sich das Schiff zu verlassen, Malatesta protestierte und um seinem Protest Nachdruck zu geben, sprang er ins Meer und forderte den Kapitän, heraus, ihn dort zu lassen und weiterzufahren. So mußte ihn der Kapitän retten und ließ ihn dann ruhig an Bord bleiben. Als man ihn fragte, wie er sich in dem eisigen Ozean fühlte, bewegte er die Schultern auf eine ihm eigene Art und meinte, er sei in einer solchen Hitze der Wut gewesen, daß er die Kälte gar nicht merkte. Wie nahe lag es damals, weiter über Argentinien zu sprechen, aber wer dachte damals an biographische Studien!

In den Jahren 1887 und 1889 nahm die Einwanderung in Argentinien schnell zu und Arbeitslosigkeit und Streiks begannen. Damals scheint Malatesta in Buenos Aires propagandistisch tätig gewesen zu sein; nach der Révolté vom 24. März 1889 hatte ihm der Polizeidirektor vor einiger Zeit sagen lassen, daß die Polizei bei allen öffentlichen Versammlungen vertreten sein werde. Die Polizei versuchte auch, sich in private oder Gruppen Versammlungen einzudrängen, stand aber davon ab. Es wurden Meetings am 18. März 1888, anläßlich der ersten lokalen Streiks usw. gehalten, und die Bewegung nahm jedenfalls von da ab einen ununterbrochenen Fortgang. Am 18. Mai 1890 erschien dann El Perseguido, fortgesetzt bis zum 31. Januar 1897, das erste dauernde der sich dann zahlreich entwickelnden spanischen, auch italienischen und französischen Blätter, von denen die Protesta humana (13. Juni 1897), fortgesetzt in der täglichen Protesta (seit 5. April 1904) das ausdauerndste ist und noch heute allen Stürmen trotzt. Am ersten Aufbau dieser mächtigen Bewegung nahm also auch Malatesta teil.

Doch mochte er nicht sich dauernd zu exilieren wünschen. Vielleicht brachten ihn ganz private Ursachen nach Europa zurück, sonst war das Jahr 1889 gut gewählt. Der europäische Sozialismus schien sich damals zu beleben; Trafalgar Square 1887, der Londoner Dock- Streik 1889, der Pariser Kongreß, die Maibewegungen, vom Mai 1886 in Chicago zum ersten Mai 1890, der so viel zu versprechen schien, — all das zeigt, wie sich Bakunin auszudrücken pflegte (in Briefen der sechziger Jahre),, daß nach der Ebbe wieder die Flut kam, und solche Hoffnungsbotschaften mögen auch zu Malatesta gedrungen sein. Auch waren, wie wir sehen werden, einige Mittel für den Beginn einer neuen propagandistischen Tätigkeit vorhanden. Kurz, im Sommer 1889 kehrte er nach Europa zurück und begann im September von Nizza aus seine neue Tätigkeit.

 

XV. Malatesta in Nizza und in London (L’ Associazione, 1889—1890); zweites Londoner Exil, Herbst 1889 bis Anfang 1897.

Ein Appello (italienisch, 4 S., 4°) und ein Circular (spanisch, 2 S., 4°) zeigten im September 1889 die Herausgabe von L’Associazione an, von welcher Nr. 1—3 seit dem 10. Oktober in Nizza und Nr. 4—7 bis zum 23. Januar 1890 in London erschienen.

In diesem Appell (in der Révolté vom 12. Oktober 1889 größtenteils übersetzt) wird nach Erklärung, die Herausgeber seien Anarchisten, Revolutionäre, verwürfen parlamentarische Tätigkeit und seien Kommunisten, folgendes bemerkt:

„Aber in all diesen Dingen ist es notwendig, eine Linie zu ziehen zwischen dem, was wissenschaftlich bewiesen ist und dem, was im Stadium einer Hypothese oder einer Voraussicht bleibt; es ist notwendig, zu unterscheiden zwischen dem, was auf revolutionäre Weise geschehen muß, das heißt durch Gewalt und sofort und dem, welches die Folge späterer Entwicklung sein wird und den freien Energien aller überlassen werden muß, die spontan und allmählich zur Harmonie gelangen. Es gibt Anarchisten, welche andere Lösungen, andere Formen sozialer Organisation verkünden, aber dieselben wünschen wie wir die Zerstörung der politischen Macht und des individuellen Eigentums, wie wir die spontane Reorganisation der sozialen Funktionen ohne Delegierung der Macht und ohne Regierung, wie wir selbst den Kampf bis zuletzt, bis zum endgültigen Sieg. Diese sind auch unsere Genossen und Brüder. Geben wir daher den Exklusivismus auf und verstehen wir einander wohl in bezug auf Mittel und Wege und marschieren wir vorwärts.“

Die Associazione wird veröffentlicht „mit der Absicht, eine internationale sozialistisch-anarchistisch-revolutionäre Partei“ zu gründen mit einem gemeinsamen Programm. Die Hauptlinien der Tätigkeit umfassen:

  1. Propaganda

  2. „Die bewaffnete Revolution vorzubereiten und zum Ausbruch zu führen und direkten, tätigen und persönlichen Anteil an ihr zu nehmen mit dem Ziel der Niederschlagung der Regierungen und um die Massen des Stadt- und Landvolkes zu veranlassen, sofort und ohne auf die Befehle von irgend jemand zu warten in Besitz zu nehmen und der Gemeinschaft zuzuführen, die Fabriken und Häuser, den Grundbesitz, die Maschinen, Rohstoffe, Verkehrsmittel, im Besitz der Arbeitgeber befindliche Werkzeuge — kurz alles, das nicht von den gegenwärtigen Besitzern persönlich und auf nützliche Weise gebraucht wird.

  3. jede Delegierung der Macht zu bekämpfen und durch Propaganda und Beispiel die Organisation des Konsums und den Wiederbeginn der Produktion vorzubereiten;

  4. durch Propaganda und mit Gewalt zu verhindern, daß neue Regierungen, unter welcher Verkleidung immer, ihren Willen über den der Massen stellen und die Entwicklung der neuen sozialen Formen hindern“.

Dieser Appell, der in bezug auf diesen Punkt leider wenig beachtet wurde, zeichnet sich durch die klare Aufstellung des Unterschieds aus, der zwischen allgemein als bewiesen betrachteten Ideen und Hypothesen zu machen ist, zwischen dem, über welches wir heute übereinstimmen können und müssen und dem, das nur durch den Versuch selbst, unter den neuen Verhältnissen nach der Revolution in praktischer Form uns bekannt werden kann. Ob diese Idee und der Wunsch, sie anerkannt und verwirklicht zu sehen, hier von Malatesta zum erstenmal ausgesprochen wurde, kann ich nicht feststellen.[14]) Denn ähnliches war früher (1887) ausgesprochen worden, was ihm bekannt sein mußte, aber er kann gerade so gut längst selbst zu demselben Schluß gelangt sein. Denn jeder offene Kopf, und tolerante Geist mußte dies fühlen, als kollektivistische und kommunistische Anarchisten zusammenstießen, wie 1886 in Spanien, und dasselbe geschah vor seinen Augen, wenn Italiener und Spanier sich in Argentinien trafen. In solchen Fällen fühlten beide Teile, daß sie Anarchisten seien, beide waren von dem Wert ihrer ökonomischen Grundlage, Kollektivismus oder Kommunismus, überzeugt, und es lagen zwei Wege vor ihnen — zu streiten bis der Gegner im Staub liegt und sich unterwirft, oder „to agree to disagree“ (übereinstimmend anzuerkennen, daß jeder bei seiner Meinung bleibt), wie dies Malatesta in diesem Appell tat und der Productor (Barcelona) es getan hatte, als eine gewisse propagandistische Aggressivität der kommunistisch-anarchistischen Gruppen von Madrid und Gracia diese Frage in Spanien akut gemacht hatte; vgl. La Révolté, 9. Juli, 6., 13. August 1887. Der Redakteur des Productor bemerkte, daß die Frage der Verteilung des Ertrags der Arbeit nicht gelöst werden könne vor der Umwandlung des Eigentums und der Abschaffung der Regierungen; daher fordert er auf, daß diese Frage beiseite gelassen werde, um von jeder Gruppe auf ihre eigene Weise in die Hand genommen zu werden usw.

Malatesta nahm diese Frage auch in seiner Londoner Rede vom 3. August 1890 auf, die er selbst in der Révolté vom 4. Oktober resumierte. Er verschiebt all diese verschiedenen ökonomischen Auffassungen auf die Zeit nach der Revolution und selbst dann solle dieser Unterschied nur zu freundlichem Wettstreit um die Verwirklichung des größten sozialen Glücks führen; wenn jeder die Resultate freier Versuche beobachten könne, werde diese Frage, die uns heute nicht teilen sollte, entschieden werden.

Denselben Standpunkt nimmt wieder der Genosse im Productor ein (Barcelona, 7. August 1890), der in der Révolté vom 6. und 13. September schreibt: Wir sind Anarchisten; wir predigen die Anarchie ohne Beiwort. Die Anarchie ist ein Axiom, die ökonomische Frage ist eine Angelegenheit zweiten Ranges. Derselbe Verfasser stellt gegenüber Kropotkins „industrielles Dorf“ (d. h. die lokale Produktion aller wesentlichen Bedürfnisse) Malatestas Ansichten, die den Austausch von Produkten zwischen weit entfernten großen Organisationen voraussehen usw.

Es besteht kein Zweifel daran, daß jener spanische Vertreter dieser Idee Tarrida del Marmol war, der wohl auch diesen Gegenstand in seinen langen Reden in den internationalen Versammlungen in Paris (September 1889) berührte, wo ich ihn zuerst sah und der, so oft von diesem Gegenstand die Rede war, sich stets für „Anarchismus sans phrase“ oder „Anarchismus ohne Etikette“ (anarchism without a label) offen aussprach. Hier ist nicht der Platz den Gegenstand weiter zu besprechen. Toleranz sollte selbstverständlich sein und die Unterscheidung zwischen experimentellen Ergebnissen und Hypothesen der normale Denkvorgang. In der Praxis ist dies nicht so, da die gutgläubigen Besitzer einer Wahrheit sich meist für verpflichtet halten, dieselbe um jeden Preis zu verbreiten und durchzuführen und Toleranz als Flauheit oder Begünstigung eines Unrechts betrachten. Ich freue mich, Malatesta auf der Seite der Toleranz zu sehen, damals 1889, 1890 und ebenso dreißig Jahre später in seinen jetzigen Schriften. Man legt diesem Detail gewöhnlich kein Gewicht bei, während es doch sehr wichtig ist; denn alles im geringsten Grad autoritär gefärbte und mit Intoleranz infizierte bringt nur zustande, sich absolut verhaßt zu machen und ist lebensunfähig.

Obgleich die Associazione (Nizza, London) Malatestas Namen nicht trug, konnte sie es nicht vermeiden, der Questione sociale ähnlich zu scheinen und war ein großes, wohlgeordnetes, gut geschriebenes Blatt, das eine lange und erfolgreiche Laufbahn vor sich haben konnte, obgleich im Anfang größere Mittel nötig sein mochten, um ihm eine sichere Grundlage zu geben. Denn seine Verbreitung in Italien würde von der Polizei nach Möglichkeit gestört worden sein, und es hätte Zeit gebraucht, um in all den zerstreuten italienischen; Kolonien festen Fuß zu fassen. Wie das immer hätte sein können, zwei Zwischen- und Unfälle trafen das Blatt und unterbrachen sein Erscheinen bald nach den ersten Anfängen.

Der frechste Spitzel jener Jahre, Terzaghi, schon 1872 entlarvt (s. Kap. V), setzte sein Treiben noch immer fort, und sein damaliger Trick war der: Genossen, besonders jüngere und solche, die sich mit riskanten Dingen beschäftigten, bekamen Briefe, die sie einluden, mit „Angelo Azzati“ zu korrespondieren, einer Persönlichkeit, die behauptete, ein so großes Risiko zu laufen, daß sie niemand sehen dürfe und dessen „Adresse“ daher war: poste restante, Genf. Es gelang dem Kerl so, hinter die Geheimnisse mancher französischer und italienischer Anarchisten zu kommen und Opfer ans Messer zu liefern. Er beeilte sich, an das neue Blatt in Nizza zu schreiben und wußte wahrscheinlich nichts von Malatestas Anwesenheit an Ort und Stelle. Dieser erkannte auf den ersten Blick Terzaghis Handschrift, untersuchte die Sache und veröffentlichte diese neueste Leistung der internationalen Polizei. Nun wurde natürlich die französische Polizei auf die Anwesenheit des Ausgewiesenen in Frankreich aufmerksam, und er hatte gerade noch das gute Glück, ungestört London zu erreichen (etwa Ende Oktober 1889), wo er nun über sieben Jahre lang blieb (vgl. auch La Révolte, 23. November 1889).

Damals sah ich ihn zum ersten Mal, an einem Montagabend während und nach der Sitzung des Council der Sozialist League im Haus der League in Great Queen Street, W. C. Mitglieder waren bei diesen Sitzungen anwesend, ebenso kamen Besucher und Delegationen. Er trat mit einem anderen Italiener ein und setzte sich schweigend rückwärts nieder. Ich saß neben V. Dave, der ihn, wie ich glaube, schon am Vormittag im Bureau der League gesehen hatte, und er sagte mir, das sei Malatesta. Ich war unendlich erstaunt; ich hatte schon in den alten Zeitschriften seine Person von 1872 bis 1884 im Auge behalten, als einen der wenigen, welche diese ganzen Jahre hindurch bis zuletzt der Bewegung treu geblieben, bis er dann verschollen, das heißt, wie ich wußte, nach Südamerika ausgewandert war. Einige Engländer erinnerten sich an ihn vom Londoner Kongreß 1881 her, aber allen anderen außer Dave, dessen Erinnerungen auf die ganze Internationale zurückblicken, war er unbekannt, auch William Morris, der sich um die kontinentalen Bewegungen wenig, das heißt gar nicht kümmerte. Morris wurde damals mit Malatesta bekannt gemacht, doch lagen ihr Arbeitsfeld und ihr Interessenkreis weit auseinander. Ich wurde ihm an jenem Abend von Dave als jemand mit antiquarischen Neigungen auf anarchistischem Gebiet vorgestellt. Die Lage war etwas sonderbar, denn für die andern, wahrscheinlich auch für sich selbst, war Malatesta damals ein junger Mann von 35 Jahren, während er für mich, neben Dave, der mir stets (seit Ende 1887) viel über die belgische Internationale der sechziger und siebziger erzählt hatte, eine der größten Antiquitäten in der internationalen anarchistischen Bewegung war, die ich hätte finden können. Ich hatte schon Kropotkin gesehen (1888), aber dieser kam damals nur für die Ideen in Betracht und entwickelte ein retrospektives Interesse erst zehn Jahre später, als seine Memoiren und dann historische Studien die Vergangenheit in ihm wiederbelebten. Man sah damals noch manche viel ältere sozialistische Antiquitäten im Milieu der Socialisi League. So den uralten E. T. Craig, von der Ralahine Kolonie in Irland und Jeanne Deroin, von der Pariser 1848er sozialistischen Frauenbewegung in der Hammersmith Branch, den alten deutschen Kommunisten F. Leßner (Blüthner) im Bloomsbury, Dan Chatterton, Charles Murray und andere Reste der Chartisten, der Bronterre O’Brien-Richtung usw., auch den kleinen Franzosen Lassasie, der die Tradition von Joseph Dejacque und Coeurderoy überlieferte, ohne ihren Ideen nahezustehen usw. Nun war auf einmal auch eine der größten anarchistischen Seltenheiten, der verschollene Malatesta, leibhaftig vor meinen Augen.

Er faßte die Situation gutmütig auf und stellte mir frei, ihn in Fulham zu besuchen und seine alten Zeitschriften usw. durchzusehen. So kam ich in das kleine, fast leere Haus, 4, Hannel Road, wo er und einige Italiener sich soeben niedergelassen und die Typographie der Associazione eingerichtet hatten.

Er zeigte mir einen wirklich großen Schatz, eine Kiste Drucksachen und Papiere, die er seit 1883 in London zurückgelassen, alles, was er bis dahin aufgehoben hatte. Er gab mir eine Anzahl Zeitschriftennummern, die noch in meiner Sammlung sind; andere lieh er mir, und ich machte wochenlang Auszüge daraus, die auch erhalten sind, und gab die Blätter zurück. Anderes blieb natürlich unberührt, so ein großes Paket Briefe von Cafiero an ihn, die wohl vieles etwa seit 1879 intim beleuchtet hätten, das nun unbekannt bleibt. Denn all seine Papiere gingen 1893 durch einen Brand in seinem Zimmer in Islington zugrunde, ein unersetzlicher Verlust, der ihm auch erschweren muß, seine Erinnerungen zu rekonstruieren, so genau sein Gedächtnis ist. Dieses Gedächtnis nahm ich dann oft in Anspruch in bezug auf Bakunins Zeit und erfuhr dadurch auch, was ich über ihn selbst aus jenen Jahren Genaueres weiß. Ich bewundere seine Geduld, die immer bereit war, sich für diesen Zweck in die Vergangenheit zurückzuversetzen.

Die Associazione ging unerwartet zugrunde durch folgenden tückischen Zufall. Ein bis dahin alles Vertrauen genießendes Mitglied der kleinen Herausgebergruppe in dem Hause in Fulham, ein junger Mensch, den der Anblick des noch vorhandenen Geldes, das sorglos daliegen mochte, verführte, stahl einfach dieses Geld und verschwand damit. Als ich einmal wieder hinkam, gab mir Malatesta einen schmalen gedruckten Zettel, etwa eine halbe Spalte, der dies erzählt und den Namen des Diebes nennt. Es wird das Ende des Blattes mitgeteilt, und dieser Zettel wurde an eine Anzahl Korrespondenten verschickt, ohne daß die Sache sonst, soviel ich weiß, in die Oeffentlichkeit gebracht wurde. Das Haus und die Typographie in ihrer damaligen Form mußten aufgegeben werden.

Daß der Schlag ein großer war, zeigt wohl, daß seitdem auf Jahre hinaus keine Zeitschrift erschien, eine Einzelnummer L’Anarchia (August 1896) ausgenommen.

Es war aber möglich, einige Broschüren zu drucken; der Prospekt der Serie ist in der Révolte vom 31. August 1890 gedruckt. Die Biblioteca dell’ „Associazione“ enthält von Malatesta: La politica parlamentare nel movimento socialista (Nr. 1, London 1890, 31 S., 12°), Die parlamentarische Politik in der sozialistischen Bewegung;

In tempo di elezioni. Dialogo (Nr. 2, 1890, 16 S.), Zur Wahlzeit;

Fra contadini (Nr. 3, Dezember 1890, neue Auflage April 1891, 63 S.), Unter Landarbeitern (s. Kap. XIV);

L’Anarchia (Nr. 5, März 1891, 59 S.), Anarchie (deutsch 1909). Diese Broschüren sind oft übersetzt; am bekanntesten ist L’Anarchia, auch in den Freedom Pamphlets (Nr. 5, 1892, englisch), französisch in Genf 1902, Paris 1907 usw.

Die einzige andere Broschüre der Serie ist Un anarchico ed un repubblicano von Emilio Sivieri (Nr. 4, 1891, 22 S.), Ein Anarchist und ein Republikaner.

Die Kritik von Staat und Regierung, die Ausführungen über Solidarität, die Darlegungen der anarchistischen Methode in L’Anarchia gehören zu dem Klarsten, was hierüber geschrieben wurde. Das Endziel wird so geschildert: „Durch die freie Assoziation aller würde eine soziale Organisation entstehen, indem sich die Menschen spontan nach ihren Bedürfnissen und Sympathien gruppieren, von unten nach oben, vom einfachen zum komplizierten, von den unmittelbaren zu den entfernteren und allgemeineren Interessen übergehend. Diese Organisation hätte als Ziel die größte und vollständigste Freiheit aller; sie würde die ganze Menschheit zu einer gemeinsamen Brüderschaft zusammenfassen und würde verändert und verbessert werden nach der Veränderung und dem Wechsel der Verhältnisse, den Lehren der Erfahrung entsprechend.

Diese Gesellschaft freier Menschen, diese Gesellschaft von Freunden würde die Anarchie sein.“ . . .

Die internationalen Demonstrationen am l.Mai (und am ersten Sonntag im Mai) 1890 hatten überraschend großes Interesse des Volks an der Arbeitersache gezeigt, aber auch die Abwesenheit revolutionärer Initiative und die wachsende Versklavung der Massen unter der parlamentarischen Taktik. Der Versuch, mit den Massen durch Teilnahme an Gewerkschaften in Kontakt zu kommen, der in anderen Ländern erst fünf oder sechs Jahre später von revolutionärer Seite gemacht wurde, begann in Italien sofort, mit Malatestas Hilfe, und eine Wahlenthaltungsbewegung während der Wahlen im Oktober 1890, Zusammenkünfte und Distriktskongresse, all das war vorbereitende Tätigkeit, die zu einem allgemeinen Kongreß hinleitete, der in Lugano am 11. Januar 1891 stattfinden sollte, während in Wirklichkeit (wie in Freedom, März 1891 erzählt wurde) ein geheimes Zirkular den Kongreß nach Capolago (Tessin, nahe bei Chiasso) für den 4. Januar festsetzte. So wartete die Schweizer und italienische Polizei am 11. Januar in Lugano vergebens auf den ausgewiesenen Malatesta und manchen anderen; der Kongreß von Capolago, 4.—6. Januar, hatte längst ungestört stattgefunden; 86 Delegierte, Vorsitzende Malatesta und Cipriani, wie berichtet wird. Näheres in La Révolte, 31. Januar, Freedom, März 1891 usw.; der Text der Resolutionen in Manifesto ai socialisti ed al Popolo d’Italia e Programma del Partito socialista rivoluzionario anarchico Iialiano. Risoluzioni del Congresso socialista italiano di Capolago, 5 gennaio 1891 (Forli, 2. März 1891, 16 S. 16°). Ein Protokoll kenne ich nicht und ist wohl nicht erschienen; doch mögen italienische Zeitschriften Näheres enthalten.

Die italienische Föderation der sozialistisch-anarchistisch-revölutionären Partei wurde da gegründet. Als Endziel wird angegeben ,,gemeinsame Organisation der Produktion und des Verbrauchs durch frei abgeschlossene Verträge zwischen den assoziierten Arbeitern und die freie Föderation ihrer Assoziationen“.

Ein provisorisches Nationalkomitee (Adresse: Ludovico Nabruzzi, in Ravenna) sollte in kürzester Zeit Distriktkongresse einberufen, welche korrespondierende Komitees in den Distrikten einsetzen würden; dann würde das Nationalkomitee zurücktreten. Solche Kongresse fanden in der Romagna und in Toskana statt. Ich übergehe weitere Einzelheiten. Es ist leicht zu sehen, daß zwei vielleicht gleich starke Strömungen zusammentrafen und daß die Resolutionen zwar nicht den anarchistischen Ideen zuwiderlaufen, aber doch die Gefühle der anderen Strömung, des „revolutionären Sozialismus“ des Cipriani- oder Romagnatypus zu schonen suchten, einer mehr auf Gefühlen als auf Ideen basierten Richtung, die zu stürmischen Wahlen wie zu gewaltsamer Revolution gleich hinneigte. Sie sahen den Anarchismus gern, griffen aber auch nach anderen, anscheinend ebenso naheliegenden Mitteln. Nichts wäre für Malatesta leichter gewesen, als sich von diesen Leuten fernhalten und sich auf Kongresse ausgesuchter Anarchisten zu beschränken, aber das war nicht seine Art. Er suchte die seit 1879 durch Costa und andere geschaffene Konfusion zu entwirren, und es war praktischer, mit den Besten dieser Leute sich in Capolago auszusprechen als in London zu Hause zu bleiben. Der erste Mai 1891 sollte zeigen, was die neue Bewegung leisten konnte. Cipriani, der sich ja in Italien frei bewegen konnte, unternahm eine Propagandareise, Malatesta kehrte wohl nach London zurück (wo er bei der Kommunefeier sprach). Ein Organ dieser in Capolago begründeten Richtung, La Questione sociale, sollte in Rom erscheinen (nach Révolte, 18. April), dürfte aber der l.-Mai-Verfolgungen wegen kaum erschienen sein.

Denn die Regierung ging gegen diese Bewegung vor durch gewaltsame Eingriffe gegen die Maidemonstrationen, besonders in Rom (Cipriani und Palla) und in Florenz, und es folgte der Riesenprozeß von Rom, in welchem durch Monate seit dem 14. Oktober Cipriani und viele andere, auch der deutsche Student Wilhelm Koerner aus Anhalt, im eisernen Käfig vor den Richtern standen; im Juli 1892 werden 39 Angeklagte zu je 8 bis 25 Monaten Gefängnis verurteilt.

Malatestas Reisen im Sommer 1891 sind mir nicht näher bekannt; er wurde am 22. Juli in Lugano verhaftet, „durch die Schweiz reisend“ (Révolte, 8. August), aber ob auf dem Weg nach Italien oder von dort zurückkehrend, weiß ich nicht. Nach seiner Freilassung schrieb die Révolte (5. Oktober): „Er bringt den günstigsten Eindruck von der anarchistischen Bewegung in Italien zurück“; die Lähmung durch die sozialdemokratische Propaganda sei im Verschwinden; selbst in der Lombardei (dem Ursitz der Legalitären) sei der tätige Teil der jungen Generation anarchistisch; in der Romagna, in Toskana, selbst in Piemont sei alles wiederbelebt. Alle sagen, wenn die anderen eine Insurrektion beginnen, wir sind bereit. Die republikanischen Arbeiter sind beinahe Sozialisten, und die legalitären sozialistischen Arbeiter sind zum großen Teil Anarchisten. Diese Angaben deuten auf eine Reise durch jene Provinzen hin.

Nach der Verhaftung in Lugano wurde er wegen Reversion als Ausgewiesener von 1879 zu 45 Tagen Gefängnis verurteilt; er blieb aber ungefähr drei Monate eingesperrt, da die italienische Regierung seine Auslieferung verlangte mit der an den Haaren herbeigezogenen Begründung: er sei der Urheber des Kongresses von Capolago, dieser Kongreß hätte den 1. Mai 1891 organisiert, der 1. Mai hätte zu Gewalttaten in Rom und Plünderung in Florenz geführt, — daher sei Malatestas moralische Komplizität an nichtpolitischen Verbrechen bewiesen! Man wundere sich nicht hierüber, denn die letzte Prozedur gegen ihn (Mailand 1920 bis 1921) beruhte auf derselben absurden Verkettung heterogener Tatsachen, und 1883—84 war der Londoner Kongreß von 1881 in derselben Weise zum Ausgangspunkt der Anklage gegen ihn und Merlino gemacht worden (wie er in einem Brief vom 19. Juli 1891, gedruckt in der Révolte, 8. August, feststellte). Die Tessiner Regierung und der Bundesrat wiesen diese schäbigen Argumente zurück, und er wurde natürlich nicht ausgeliefert und konnte endlich die Schweiz verlassen, wo einige Schweizer Genossen die Oeffentlichkeit auf diesen Fall energisch aufmerksam gemacht hatten.

Gar nicht lange nach diesem Schweizer Abenteuer finden wir ihn auf einer Propagandareise in Spanien, wo er in einer ganzen Anzahl von Versammlungen sprach, natürlich spanisch, wozu ihn seine lange südamerikanische Erfahrung vollkommen befähigte. Die Reise war nicht geheim, und die Versammlungen wurden z. B. in einer in dem dreisprachigen Porvenir anarquista (Barcelona) durch P. Schicchi geführten Polemik diskutiert; aber sein Auftreten scheint für die spanische Polizei so überraschend gekommen zu sein, daß sie nicht gleich wußte, was zu tun, und unterdessen war die Reise zu Ende oder wurde abgebrochen, und er reiste noch glücklich ab und fand seitdem keine neue Gelegenheit, nach Spanien zu kommen. Dies war, denke ich, Ende 1891, und am 6. Januar 1892 fand die lokale Revolte in Xerez statt, die zu den vier furchtbaren Hinrichtungen vom 10. Februar führte; die Infamie der damaligen Prozedur gegen diese und viele andere Opfer wurde 1900 ans Licht gebracht; vgl. Les Temps nouveaux, 10. und 17. März 1900.Es folgten viele Verhaftungen in Barcelona (Februar 1892); Malatestas Reise (etwa November—Dezember 1891) brachte ihn also an den äußersten Rand einer großen Gefahr, wenn die eben erwähnte italienische Theorie der moralischen Verantwortung gegen ihn angewendet worden wäre.

Um seine Art, in Versammlungen zu sprechen, kennenzulernen, welche keinerlei deklamatorische Rhetorik ist, sondern die ruhige gerechte, oft elementare und stets praktische Entwicklung einer Idee vor den Augen der Hörer, betrachten wir einen Bericht über seine Rede bei der Kommunefeier, März 1891, im South Place Institute, London. Nach Freedom sagte E. Malatesta, „daß, wie alle revolutionären Bewegungen, die Kommune den Keim der Zukunft enthalten habe, aber dieser Keim sei erstickt worden durch die Ernennung einer Regierung. Diese Regierung proklamierte die territoriale Dezentralisation. Statt einer Regierung, wären 36 000 Regierungen in Frankreich gewesen, deren jede auf demselben autoritären Prinzip beruht hätte. In sozialistischer Hinsicht tat die Kommune nichts. Sie schützte das Eigentum, und wenn sie länger bestanden hätte, wäre sie gezwungen gewesen, gegen das Volk vorzugehen, wie alle anderen Regierungen. Trotzdem hatte die Kommune eine ungeheure Bedeutung. Nicht Ideen verursachen Taten, sondern Taten bewirken Ideen (Pisacane). In Italien begann die sozialistische Propaganda durch Bakunin im Jahre 1864. Er sammelte etwa 15 Sozialisten um sich, und deren Zahl wuchs nicht bis zur Kommune von 1871, aber dann, durch diese Tat, zählte sie nach Tausenden. Wir sind eine Partei der Tat und dürfen das nie vergessen. Wenn eine große Tat geschieht, nimmt unsere Zahl schnell zu. Wenn nicht, ist der Fortschrit nur langsam; tatsächlich ist es wahrscheinlich, daß wir Terrain verlieren.“

„Noch eine Lehre der Kommune ist, daß wir Volksbewegungen und Volksströmungen große Aufmerksamkeit schenken müssen. Wir können nicht erwarten, daß sich das Volk mit einem bestimmten kommunistischen und anarchistischen Programm erheben wird. Eine Revolution beginnt nie mit einem festgesetzten Programm. Die um 1789 begann mit Rufen: „Es lebe der König!“ (nämlich, weil der König die seit 150 Jahren suspendierten Generalstände, Etats generaux einberufen hatte). Ebenso ist es mit der sich jetzt vorbereitenden großen Bewegung. Das Volk verlangt den Achtstundentag, aber dieser wird nie verwirklicht werden, und weil seine Forderung eine so kleine ist, ist das kein Grund, daß wir beiseite stehen sollten. Wir müssen uns unter das Volk mischen und ihm zeigen, wie zu expropriieren und wie die Autorität anzugreifen sei. Wenn wir mit dem Volk sind und seine Gefühle teilen, werde es unsere Ideen besser verstehen und sie besser verwirklichen.“ (Hier sind eine Reihe die Gedankengänge verbindender Zwischensätze im Bericht ausgelassen, die man sich leicht ergänzen kann.)

Ein Jahr später erschien Merlinos damals vielbesprochene Broschüre Necessité et Bases d’une entente in Brüssel (Mai 1892) in der Serie Propagande socialiste-anarchiste-révolutionaire; die Adresse der herausgebenden Gruppe war die von Malatesta, von dem selbst eine Broschüre Organisation et Tactique angekündigt ist, die aber nicht erschien. Ich weiß nicht, ob Merlinos Reise nach Amerika (1892) diese Publikation unterbrach, und ich werfe die beiden Verfasser nicht zusammen und interpretiere auch nicht Merlinos Broschüre im Sinne seiner späteren Ansichten. Ich denke vielmehr, daß der schroffe Tadel seines Versuchs, die Bewegung auf eine breitere Grundlage zu stellen, ihn enttäuschte und von uns wegtrieb. In Italien wurde damals ein Arbeiterkongreß in Genua abgehalten (August 1892), der eine anarchistische Majorität hatte, der Gori, Galleani und andere angehörten; die Sozialisten verließen den Kongreß, und eine antipolitische Arbeiterpartei wurde gegründet. Dies waren alles praktische Bemühungen, mit Personen und Organisationen in Italien, wie sie wirklich waren, in Kontakt zu bleiben oder zu treten und entspricht der späteren Teilnahme von Anarchisten am Syndikalismus, was damals, kleine gewerkschaftliche Kampfgruppen ausgenommen, noch unerhört war. So brachte dies Malatesta und seinen Freunden viele Angriffe, und man verdächtigte sie gar einer Entwicklung in der Richtung der legalitären Parteien!

Dies geschah nicht nur in gewissen skurrilen pseudo-individualistischen Londoner Drucken, wie solche in drei Sprachen damals hergestellt wurden, sondern fand Ausdruck in der Révolte selbst (13. August 1892), um natürlich in der nächsten Nummer (20. August) von Kropotkin mit Entrüstung zurückgewiesen zu werden: „dies ist einfach lächerlich .... so falsche und unwürdige Anklagen hätten sich nie in die Révolte einschleichen sollen“. . . . Grave aber, im innersten Sanktum seines Elfenbeinturms hält seine theoretische Verwerfung von allem seit Capolago Geschehenen aufrecht. Malatesta verlangt Beweise. Ich halte mich bei den Bemerkungen des Korrespondenten nicht auf, der, wie spätere Vorgänge zu schließen erlauben, unserer Aufmerksamkeit nicht würdig ist. Malatesta veröffentlicht interessante Erklärungen (20. und 28. August, 12. Sept.) und den Artikel „Taktische Fragen“ (Révolte, 1. Oktober). Er gibt diesen Irrtum von Capolago zu, daß er geglaubt habe, alle Anarchisten könnten zusammengehen, weil sie in allgemeinen Formeln übereinstimmen, während sie aber über die Arbeiterbewegung verschiedener Ansicht sind, indem einige dieselbe mit Indifferenz und Feindseligkeit betrachten, während er und seine Freunde der Meinung seien, daß wir nichts tun können, bevor wir nicht die Volksbewegung den Händen der Legalitären entreißen. Ebenso beständen verschiedene Ansichten über die relative Wichtigkeit individueller und kollektiver Taten und über den inneren Wert gewisser Taten. (Letzteres betrifft den Komplex von Problemen, die sich an die Handlungen von Duval, Pini, Ravachol knüpfen, bei denen ideal fühlende Personen im Vordergrund standen und Freiheit und Leben verloren, während weniger und gar nicht ideal fühlende Personen diese Vorgänge teils doktrinär und intolerant, teils einfach sehr vulgär ausbeuteten.)

Er sagte auch: wir wollen Propaganda machen und begnügen uns nicht damit, wie Aristokraten unsere Kenntnis der Wahrheit (allein) zu genießen. Wir denken, daß eine nur von einer Partei, ohne die Volksmasse, gemachte Revolution nur zur Herrschaft dieser Partei führen und auf keine Weise eine anarchistische Revolution sein würde.

Deshalb müssen wir mit den Massen sein und waren dies immer, außer wenn wir zeitweilig durch Verfolgungen außer Kampf gesetzt wurden, nie aus freiem Willen. Er verlangt Teilnahme an allen Volksbewegungen und Volksorganisationen. Ob die Legalitären sagen, daß wir Organisation predigen und keine Anarchisten sind, sei ihm ganz egal.

Er denkt, daß die meisten italienischen und spanischen Anarchisten derselben Ansicht sind.

Hinter diesen Meinungsverschiedenheiten italienischer und französischer Genossen jener Zeit lag eben die Tatsache, daß Malatesta nie aufhörte, an die Möglichkeit einer wirklichen allgemeinen revolutionären Aktion zu glauben, während in Frankreich man damals glaubte, den Kontakt mit dem Volke vorläufig in solchem Grade verloren zu haben, daß Propaganda und individuelle Protesthandlungen die einzigen vorhandenen Mittel zu sein schienen und eine allgemeine Aktion in unabsehbarer Ferne lag; die Wiederentdeckung des Syndikalismus im Jahre 1895 änderte diese Mentalität bei den meisten.[15])

In der Pariser Ravacholzeit, Frühjahr 1892, veröffentlichte Jules Huret im Figaro (Paris) ein intelligent wiedergegebenes Interview über die damaligen Gewalttaten, dem sich Malatesta nicht hatte entziehen wollen; gedruckt in Hurets Enquête und im supplément der Révolte (vol.II, S. 337—339). Können Sie fassen, daß eine Gesellschaft ohne Regierung leben kann? ist die Frage; es wäre vielmehr schwer für mich, mir eine Regierung vorzustellen, die eine Gesellschaft leben macht, erwidert Malatesta. Die sozialen Ursachen der individuellen Empörungsakte werden dann klar beleuchtet. — Etwas später dekretiert der Pariser Untersuchungsrichter Meyer, die Korrespondenz aller gefährlichen Anarchisten zu beschlagnahmen; in der langen Liste findet sich neben Kropotkin und Reclus auch Malatesta, 112 High Street, Islington, London, N. (Révolte, 13. Januar 1894).

Nach Verlassen des kleinen Hauses in Fulham wohnte Malatesta in einem möblierten Zimmer in der Nähe von Euston Station, George Street, wenn ich nicht irre. Bald aber übersiedelte er in das Haus der Familie Defendi, 112, High Street, Islington, N., wenige Minuten vom Angel, dem belebten Kreuzungspunkt. Diese freundliche und gemütliche Familie, Defendi, seine lebhafte, tätige Frau, mit vielen in diesen Jahren um sie heranwachsenden Kindern, hatte einen unscheinbaren, aber gut gehaltenen und wahrscheinlich innerhalb mäßiger Grenzen prosperierenden Laden italienischer Produkte, Salami und Teigwaren, Käse, Südfrüchte und Wein. Malatesta wurde dort verpflegt und bewohnte das denkbar einfachste Zimmerchen in einem oberen Stockwerk. So hatte er immer freundliche und junge Gesichter um sich, die Pflege einer guten Hausfrau, italienische Küche und Lebensweise und natürlich den beständigen Besuch italienischer Genossen, solcher, die in London wohnten, anderer, die nach Italien oder Amerika gingen oder von dort kamen. Alles wurde ihm erzählt und sein Rat und seine Hilfe in zahllosen Fällen in Anspruch genommen. Er hatte so stets ein kleines Italien um sich, selbst im trübsten Londoner Winter. Ebenso besuchten ihn französische Genossen, und er war in den französischen und spanischen Bewegungen stets auf dem laufenden, dem revolutionären Pulsschlag lauschend, während er sich um die Einzelheiten anderer Bewegungen nicht weiter kümmerte, einfach weil er — dies ist wenigstens mein Eindruck — in anderen Ländern damals keinerlei revolutionäre Möglichkeiten sah. Dagegen schaute niemand schärfer als er nach solchen Möglichkeiten in den genannten romanischen Ländern aus, und etwas Wichtiges entging ihm natürlich in keinem Lande.

So lebte er in den Neunzigern und so wahrscheinlich bis zum letzten Tag des Londoner Exils ein Vierteljahrhundert später. Schwere Arbeit (hierüber später Näheres), keine Bequemlichkeit, aber auch durchaus keine Not, unermüdliche Inanspruchnahme durch Besucher, Korrespondenz und die notwendige Lektüre, all dies in einer heimatlichen Atmosphäre ruhiger, freundlicher Sicherheit und frischen tätigen Lebens um sich — so vergingen die Jahre. Daß später seine harte Arbeit Spuren hinterließ und seine Gesundheit etwas schwächer wurde, wird noch erzählt werden. Einstweilen war er durch viele Jahre in voller Kraft und sein Haar und seine Augen schienen mit den Jahren schwärzer zu werden.

Die italienische Bewegung hatte in den Achtzigern allmählich aufgehört, den Namen Internationale zu gebrauchen; der Kongreß von Capolago versuchte die vorhandenen anarchistischen und sozialrevolutionären lokalen Organisationen zusammenzufassen. Aber die Bewegung war dem schon entwachsen und an den direkten lokalen Kampf gegen den doppelten Feind gewöhnt, den immer stärker heranwachsenden Kapitalismus und seine Schutzgarde von legalitären, reformistischen Sozialisten, die sich den kapitalistischen Kräften parallel dort wie überall entwickelten. Trotzdem war der revolutionäre Geist noch stark, das damals sehr akute materielle Elend wirkte mit, und der Anfang der Neunziger konnte noch eine wirklich revolutionäre Periode in Italien werden. Gerade in Norditalien, wo der autoritäre piemontesische Staat und die lombardische Industrie dem legalitären Sozialismus den ersten Boden verschafft, wuchs damals der Anarchismus mächtig heran, in Mailand, Turin, Genua besonders, aber die revolutionäre Bewegung in der Lunigiana (Massa Carrara) war die einzige, die wirklich einen Ausbruch fand, wie unendlich gespannt und revolutionsbereit die Lage in Sizilien auch damals schien.

Freilich wurden überall ungeheure Anstrengungen gemacht, den Anarchismus niederzuhalten, — die spanischen Folterungen in Montjuich, die französischen „lois scélérates“ (die „Schandgesetze“ von 1894, wie sie ebenso spontan genannt wurden wie seinerzeit das deutsche Sozialistengesetz von 1878), Verfolgungen und Prozesse in England usw. — und es kam zu der Zeit, zweite Hälfte 1894 bis erste Hälfte 1895, in der die äußeren Formen der Bewegung meist verschwanden oder wenig sichtbar wurden. Damals war Il Pensiero in Chieti (Abruzzzen), 30. September 1894, vielleicht die letzte und das Avvenire sociale in Messina, 26. Januar 1896 eine der ersten wiedererscheinenden italienischen Zeitschriften. In Frankreich schwieg die Révolte vom 10.März 1894 ab, bis sie als Les Temps nouveaux am 4. Mai 1895 wiedererschien und der am 21. Februar 1894 suspendierte Père Peinard Pouget’s, durch einige Londoner periodische Broschüren ersetzt, erschien in Paris erst wieder als La Sociale am 11. Mai 1895. Auch in London verschwand das Commonweal am 6. Oktober 1894, später wurde auch Freedom einige Monate unterbrochen, bis Mai 1895, und nur die kleine Torch überbrückte die Lücke.

All dies bereicherte das Londoner Exilleben und alle Genossen, die der Bewegung intensiver folgten, haben natürlich Malatesta gekannt. Von Italienern nenne ich Dr. F. S. Merlino, mit dem der Prozeß von Benevento, der Londoner Kongreß 1881 und der italienische Prozeß (1883—85) ihn schon zusammengeführt hatten, wenn nicht viel ältere heimatliche Bekanntschaft. In seinem Exil (1885—93) kam Merlino schnell in die erste Reihe der anarchistischen Denker und zu literarischer Propaganda Befähigten jener Zeit. So fand ihn Malatesta nach seiner Rückkehr; ob sie nun eng zusammenarbeiteten oder nicht, was ich nicht weiß, war hinreichend Spielraum für beide. Denn Malatesta geht immer auf der breiten Linie volksmäßiger anarchistischer Propaganda, Organisation und, wenn möglich, Aktion vor, und sieht nicht rechts und nicht links. Dies bedeutet nicht, daß er nicht allen Formen und Erscheinungen der Bewegung folgt und die Zeitschriften enthalten Artikel, in denen er zu vielen Fragen Stellung nimmt.[16])

Aber seine Hauptarbeit bleibt immer dieselbe. Merlino dagegen hatte einen beweglicheren Geist, der ihn in die unmittelbare Propaganda trieb, wodurch er der englischen, belgischen, amerikanischen Bewegung in ihren damaligen Anfängen sehr nützlich wurde, und auch zur Diskussion von Problemen und Möglichkeiten, kurz, es fehlte ihm diese starke und ruhige, sichere Geduld und Beharrlichkeit, die für Malatesta so charakteristisch ist. Merlino hat in hohem Grade den Mut, nicht populäre persönliche Ansichten auszusprechen und fand leider auch unter den Anarchisten nicht die Toleranz gegen abweichende Meinungen, auf die er Anspruch gehabt hätte. Doch will ich nur einige Hauptschriften erwähnen, sein Buch Socialismo o Monopolismo (Sozialismus oder Monopolismus), Neapel und London, 1887, 288 S., die oft übersetzte Broschüre Per chè siamo anarchici (New York, 1892, 24 S.), deutsch: Weshalb wir Anarchisten sind (Hamburg, „Kampf“, 1913), die vielbesprochene Necessite et Bases d’une entente (Brüssel, Mai 1892, 32 S.) und das Buch L’ltalie telle qu’elle est (Paris, 1890, 392 S.), „Italien, wie es wirklich ist“, eine Beschreibung des modernen Italien, welche Leser, welche sozusagen die „ökonomische Basis“ von Malatestas Entwicklung und Tätigkeit, auf die ich hier so wenig eingehen kann, kennenlernen wollen, in diesen Gegenstand ausgezeichnet einführen würde. Merlino half dem Londoner Freedom, dem Brüsseler Homme libre, trug zur Gründung der ersten New Yorker Solidarity John Edelmans (18. Juni 1892) und des dortigen Grido degli Oppressi (5. Juni 1892) bei usw. Seine Verhaftung in Neapel am 30. Januar 1894 machte seiner Exilarbeit ein Ende.

Malatestas gelegentliche kontinentale Reisen im Anfang der neunziger Jahre waren mit solcher Gefahr der Verhaftung überall verbunden, daß nicht unnötig von ihnen gesprochen wurde und sie keine Spuren hinterließen. Ein- oder zweimal waren die Gerüchte von bevorstehend den Pariser Volksbewegungen am ersten Mai so stark, daß er hinüberfuhr, um mit eigenen Augen zu sehen, aber es ereignete sich nichts Wesentliches. Die belgischen Sozialisten bereiteten einmal einen großen Bergarbeiterstreik vor, um das allgemeine Stimmrecht zu erzwingen. Wenn ich nicht irre, erzählte Malato in seinem Joyeusetés de l’Exil (Paris 1897, 328 S.) — in denen das französische Milieu in London, dem Malatesta nahestand, vielfach geschildert wird —, wie er und Malatesta damals nach Belgien reisten; der Streik, wenn er überhaupt stattfand, war aber eine sehr zahme Sache.

Als im Winter 1893—94 die Organisation der sizilianischen Bauern, die Fasci, von G. de Felice geführt, eine wirkliche Rebellion androhte — die nicht stattfand und G. de Felice fand den Weg ins Parlament —, schien das ganze proletarische Italien auf diesen Ausbruch wie auf ein Signal zu warten, aber nur die Arbeiter von Massa Carrara, der Lunigiana, unter denen viele Anarchisten waren, schlugen los und unterlagen in ihrer Vereinzelung. Damals reiste Merlino nach Italien, wurde lange gesucht und schließlich am 30. Januar 1894 in Neapel, buchstäblich niedergehetzt, zusammenbrechend gefangengenommen. Von Malatestas Anwesenheit in Italien, wie er überall gesehen wurde und um Haaresbreite entkam, war Ende 1893 täglich in den Zeitungen zu lesen, aber ich habe nie gehört und nie danach gefragt, ob er damals überhaupt in Italien war oder nicht. Diese Episode müßte interessante Erinnerungen geben oder könnte mit einem Wort gestrichen werden; gegenwärtig liegt nur die Legende vor.

Die Pariser Verfolgungen einer Gruppe italienischer und anderer Arbeiter und Studenten, die mit Merlino zusammenarbeiteten (Mai 1890) trieb einige derselben nach London, von denen ein damaliger Studierender der Chemie ein dauernder Genosse Malatestas und einer der besten Köpfe der italienischen Bewegung wurde. Ändere wendeten sich nach Genf, von wo sie dann im November ausgewiesen wurden. Luigi Galleani, der damals Elisée Reclus (in Clarens) besonders nahe gestanden, wurde dadurch nach Italien zurückgeworfen und die norditalienische Bewegung erhielt einen Redner ersten Ranges. In Italien selbst entwickelten sich damals Luigi Molinari und Pietro Gori in Mailand, letzterer als Verteidiger, Redner und Dichter der Anarchie gleich nützlich. In diesen zwei bis drei Jahren lebhafter Agitation wurde der Anarchismus von Venedig bis Genua fest begründet. Gegen Ende 1893 gipfelten die Verfolgungen im Prozeß gegen Galleani und 34 andere, dessen Einzelheiten und die Vorwände, unter welchen Anarchisten prozessiert wurden, man aus Pietro Goris Rede als Verteidiger ersehen kann: Gli anarchici e l’art. 248 del Codice Penale Italiano, Difesa dell’ avvocato Pietro Gori innanzi al tribunale penale di Genova (New York, Mai 1895, 47 S.), einer Rede vom 2. Juni 1894. In Mailand war auch der stille Edoardo Milano (aus Grugliasco bei Turin), einer der ernstesten, intensivsten Propagandisten, Freund Caserio Santos, nach dessen Tat in Lyon (24. Juni) die besten Genossen der Mailänder Gruppe, mit Gori und Milano, ins Exil nach Lugano getrieben wurden, wo ich Milano damals kennenlernte und mit seiner Hilfe den Spuren Bakunins in Lugano (1874—76) folgte. Im Frühjahr 1895 mußten diese Italiener die Schweiz verlassen und wendeten sich meist nach London.

Nun begann eine reizende Episode. Gori und Milano und etwa 20 andere Genossen fanden ein gastliches Zentrum in der Druckerei der Torch, einer zuerst 1891 ganz privat und handschriftlich von drei jungen Geschwistern, darunter zwei Mädchen, gegründeten anarchistischen Zeitschrift, die nach dem Verschwinden des Commonweal und während der Suspension von Freedom das einzige englische Blatt gewesen war. Jetzt hatte dieses Blatt sogar zwei Räumlichkeiten, in denen die Setzerei und eine große alte Presse installiert wurden. Kein anderer als Malatesta, als Mechaniker, richtete diese Presse dort ein, die Harry Kelly im New Yorker Freedom (1919) als eine alte Oscillator- Presse vom Wharfdale-Typus beschreibt, ohne Motor und Blätterablegung, so daß drei Personen nötig waren zum Umdrehen, Einlegen und Herausnehmen der Blätter. Es mag also vollkommenere Maschinen geben und das Drehen des Rades, das wir alle oft getan in späteren Jahren, war kein Zeitvertreib. Auf jeden Fall aber wurden auf dieser Maschine viele englische und internationale Sachen gedruckt, damals italienische, und manche von Goris Gedichten, kaum geschrieben, schnell gesetzt, verließen die Presse in kürzester Zeit als Flugblätter. All dies besteht noch heute, da diese Räume seit 1896 die Räumlichkeiten von Freedom wurden und als man viele Jahre später die Verbesserung der Beleuchtung wünschte, war es wieder Malatesta, der das Gas im Setzerraum zweckmäßiger einrichtete. „Dies waren glänzende Tage für alle von uns“, schreibt Harry Kelly in den späteren Neunzigern, und so war es auch für den Sommer 1895, als all diese Mailänder Flüchtlinge diese typische, sehr arme Londoner Gegend belebten; sie fühlten sich wohl dort, weil auch die beiden englischen Mädchen, aus einer italienisch-englischen Dichterfamilie, italienisch wie englisch sprachen. In dem Buch A Girl among the Anarchists (London, 1903, VIII, 302 S.) ist viel aus diesen Tagen erzählt, doch gehört ein damaliger näherer Beobachter dazu, um Wahrheit und Dichtung zu trennen. Ich sah damals nicht selten Gori und viel häufiger Milano und hörte ihre vielfachen Eindrücke und Urteile über Malatestas Tätigkeit; hier standen unmittelbar im gegenwärtigen Italien Aufgewachsene dessen Tätigkeit, der dieser Kontakt damals fehlte, der aber um so viel weiter blickte und erfahrener war, gegenüber. Es ergab sich immer ein gewisser Skeptizismus in bezug auf „Organisation“, die andere stets mehr als er selbst, den sie nie beengte, als Einschränkung empfinden; hierüber später einige Worte. Damals lebte der arme Milano in einem Verschlag, nicht viel größer als eine Schublade unter dem Dach, der als Taubenschlag gedient hatte, und Gori wohnte in der Nähe in einer unheimlich engen Gasse, die sich als Zentrum der lokalen Diebszunft herausstellte; aber diese Diebe hatten großen Respekt vor dem stattlichen Gori, den sie so oft von Detektivs überwacht sahen, und sie mochten ihn für einen echten Banditen halten, der sich zeitweilig zurückgezogen hatte. Nach einigen Monaten fuhr Gori nach Amerika, indem er, der auf der Insel Elba aufgewachsen und das Meer so gut kannte, als Matrose sich die Ueberfahrt erarbeitete, er kam von dort, nach vielfacher Propaganda in den Vereinigten Staaten, zur Zeit des Londoner internationalen Kongresses 1896 zurück. Edoardo Milano war auch in den Vereinigten Staaten, dann in Brüssel; sein so klarer Geist, dem wir den Primo Passo all' anarchia (Livorno, 1892, 83 S.) verdanken, verdüsterte sich allmählich. Er kehrte nach Grugliasco zurück; ich sah ihn noch 1898 in Turin, aber 1907 erzählte mir Malatesta von seinem tragischen Tode in Grugliasco.

Wie zahllose andere Schicksale sah Malatesta aus größter Nähe, in der italienischen und französischen Emigration jener Jahre und dazu den beständigen infamen Verfolgungskampf der Polizisten aller Länder gegen die Geflüchteten, so die traurige Auslieferung Meuniers, der den an Ravachol begangenen Verrat gerächt hatte! Es gehörte ein kühler Kopf dazu, sich selbst und viele andere weniger vorsichtige Genossen vor den ihnen beständig von der gierigen italienischen, französischen, englischen Polizei gelegten Fallen zu bewahren. In jeder schwierigen Sache war Malatestas Rat und die Hilfe, die er zu verschaffen wußte, der letzte Ausweg.

Von Kameraden, die er damals kannte, möchte ich erwähnen: Kropotkin, Tcherkesoff, Malato, Pouget, Guérineau, Victor Richard, Lorenzo Portet und andere Catalonier, viele englische Genossen, gewiß auch Paul Reclus, sobald er in London war, Elisée Reclus (1895 in London); dann zur Zeit des Kongresses von 1896 F. Domela Nieuwenhuis, G. Landauer, Tom Mann und viele andere. Daß sich sein Interesse auf Personen sozialistischer Richtungen erstreckte, möchte ich nicht sagen, außer es zeigte sich irgendwo ein ehrliches Bestreben, sich etwa auf dem Gebiet des Antiparlamentarismus und des Syndikalismus mit den Anarchisten freundlich zu verständigen, wie dies Tom Mann und andere zur Zeit des Kongresses und seitdem taten; hier stand er gewiß keiner ernstgemeinten Annäherung im Wege, ohne, wie manche andere, sie mit zu großem Optimismus aufzunehmen. Eine alte Bekanntschaft verband ihn und Tscherkesoff mit Hermann Jung, dem alten Schweizer Sekretär der Internationale, der sich ganz von Marx losgesagt hatte, ohne sich aber von dessen Ideen theoretisch zu entfernen. (Ein anderer alter Internationalist, den Malatesta 1891 in Barcelona noch sah, war G. Sentinon, der Bakunin seit 1869 gekannt hatte.)

Es liegt mir fern, die oppositionellen Strömungen zu übergehen, die sich gegen Malatestas Tätigkeit in jenen Jahren und mehr oder weniger bis jetzt richteten. Es ist immer einzelnen Personen möglich, schneller als die Massen vorzugehen, glänzender zu sein, vorgeschrittener zu erscheinen, in einigen Monaten oder auf einen Schlag die Energie eines ganzen Lebens auszugeben. Solchen schien Malatesta langsam zu sein; denn sein ganzes Streben ist eben darauf gerichtet, daß eine größere Anzahl relativer Durchschnittsmenschen einen entschiedenen Schritt nach vorwärts machen und nicht, allein weit vorauszustürmen, um dann in hilfloser Einsamkeit dazustehen. Er tat derartiges, als er mit fünf andern sich 1874 in Castel del Monte festsetzte und 1877 mit siebenundzwanzig andern in den Matesebergen herumzog und keine Hand sich rührte, mit ihm zusammen die Fahne der Revolution zu erheben. Er wünschte jetzt, wohl seit 1883 etwa, daß größere Massen wenigstens einige elementare sozialistische Ziele wirklich erfassen und für dieselben eintreten. Dies ist nicht Mäßigung; es ist Entsagung von persönlichem Glanz, um tüchtige, einfache Arbeit zu leisten.

Wenn er also von jugendlicher Exuberanz angegriffen wurde, wie etwa im Porvenir anarquista von Barcelona, Ende 1891, — soweit ich mich jetzt dieser Polemik entsinne —, so macht dies nichts aus. Andere schon erwähnte Angriffe in Publikationen, die seit 1887 in Paris und bis etwa 1893 in London erschienen, sind durch ihre manifeste Bösartigkeit wertlos und ein Londoner Prozeß, zehn bis fünfzehn Jahre später, warf ein erschreckendes Licht auf dieses traurige Milieu. Der Individualismus, mit dem sich diese Personen drapierten, hat mit dem der vielen jetzigen individualistischen italienischen Publikationen, wie der in Mailand erscheinenden, nichts zu tun. Auch jetzt noch geben Individualisten der Bewegung, die sie anzieht und in die sie sich doch nicht einfügen möchten, viel polemische Arbeit, ein Kräfteverlust durch unnötige Reibungen, aber es ist der gute Wille vorhanden, der früher meist fehlte.

Das Hauptargument jeder Opposition ist immer Malatestas Bestehen auf einer Art Organisation. Er meint damit, daß wirkliche Arbeit einer technisch richtigen Zusammenarbeit bedarf, und das ist eben für ihn die Organisation. Kropotkin und Reclus hatten keine unmittelbar auf gemeinsame Aktion gerichteten Pläne vor sich, daher konnten sie diese Frage beiseite lassen, und so erscheinen sie als freier gesinnte Anarchisten als Malatesta; in der Praxis war übrigens ihr eigenes Werk, ihre unermüdliche wissenschaftliche Arbeit, außerordentlich gut organisiert und die jährlichen Riesenbände von Reclus’ Geographie kamen nur durch intensivste Organisation der eigenen und der Hilfskräfte zustande. Malatestas Forderung nach Pünktlichkeit und Verläßlichkeit bei praktischer Arbeit ist also selbstverständlich.

Nur ist eben durch seine Intelligenz, Arbeitsfreude und Erfahrung in einer Organisation seine Rolle unwillkürlich die eines geistigen Führers, und in seiner Jugend wurden seine Fähigkeiten in dem kleinen Kreise Bakunins so schnell erkannt, daß er auch da nur die leichtesten Bande empfand und sich beinahe sogleich unter Gleichen befand, bis dann, durch das Verschwinden so vieler anderer, eine immer größere Vertrauenslast auf ihm allein lag. Daß dies ein Ausnahmefall war, und daß die Fesseln einer Organisation auf fast allen andern stärker und auf den Schwächsten am stärksten lasten würden, ist etwas, das für ihn verständlich sein muß, aber nicht die Kraft einer persönlichen Erfahrung hat. Deshalb zögern eben andere, sich Organisationen anzuschließen, in denen begabte Männer eine natürliche Präponderanz haben.

Uebrigens scheint mir diese Frage durch die Zeit selbst erledigt zu werden. Es gab viele Jahre, in denen die Bewegung so eingeschränkt war, daß Malatesta eine einzigartige Stellung hatte, als der ausdauerndste und erfahrenste. Seitdem aber wuchs die Bewegung zu Dimensionen, die jede persönliche Einzeltätigkeit überragen, und hierdurch wird die Organisationsfrage im alten Sinn allmählich von selbst eliminiert.

Bei der Durchsicht der Révolte bemerke ich den nicht unterzeichneten Artikel Encore Bysance (7. und 14. Juni 1890) mit der Bakuninanekdote vom freien Willen, und ich glaube mich an Malatesta als Verfasser zu erinnern. Er spricht von gewissen Leuten, die einfach nur das tun, was gerade in ihrem Interesse liegt und alles durch das Fehlen des freien Willens für entschuldigt halten. Malatesta glaubte an solche Leute nicht, und er war in ihren Augen ein Tyrann.

In dem am 4. Oktober gedruckten Brief rekonstruiert er seine Rede vom 3. August 1890, in der internationalen Versammlung im Saal des Klubs Autonomie, wo unter anderm der allgemeine Streik lange besprochen wurde; F. Charles und andere aus der Provinz waren anwesend, ich erinnere mich gut an die lange Versammlung. Die Hauptfrage, internationale Solidarität bei der Aktion, führte zur Organisationsfrage; einige verwarfen jede Organisation. Malatesta, nachdem er autoritäre Organisationen verworfen, behauptete andererseits: „Nichtorganisation bedeutet Ohnmacht und Tod; sie führt zur Nichtsolidarität, zum hassenswerten Wetteifern aller gegen alle und sie endet in Tatlosigkeit. Eine Initiative wird in der Regel nur ergriffen, wenn man fühlt, daß sie zu etwas führt; diejenigen, die auf jeden Fall handeln, ohne an andere zu denken, sind sehr selten. Der Isolierte ist das ohnmächtigste aller Wesen.“ (Hier erinnere ich mich, daß er von Ibsens Paradox: der Stärkste sei der, der allein steht [Ein Volksfeind] sprach und dies für eine sehr törichte Bemerkung erklärte.)[17])

Er bekämpfte auch die Neigung — die der Londoner Dockarbeiterstreik von 1889 und die dann folgenden vielen unerwarteten Streiks ungelernter Arbeiter damals entstehen ließen — „alles von Streiks zu erwarten und beinahe den Streik mit der Revolution zu verwechseln“, eine gefährliche und trügerische Auffassungsweise. Denn der allgemeine Streik „würde nur eine großartige Gelegenheit sein, die Revolution zu machen, nichts weiter“. Kurz, für ihn gab es nie einen Weg, wie er so oft gesucht wurde, der um die Revolution herumführte, nie verführte ihn ein Seitenweg, eine einladende Zwischenstufe — er hielt an der absoluten Notwendigkeit der vollständigen Revolution fest, wozu alle andern Bewegungen nur Vorarbeit leisten, nicht aber die revolutionäre Operation selbst ersetzen können.[18])

In diesem Sinne riß ihn weder die allgemeine Streiksidee, noch der Syndikalismus mit sich. Nach den Verfolgungen von 1892—1894 war die plötzliche und schnelle Entwicklung des französischen Syndikalismus für alle eine große Freude, und viele sahen hier einen neuen Weg. Man sprach davon in London um die Mitte 1895 und Malatesta hatte gewiß den Gegenstand besonders mit Pouget durchgesprochen, der zuerst den Bann der lois scélérates brach, nach Paris reiste, seine, nach dem Ausgang des Procès des trente zweifellose Prozeßangelegenheit schnell erledigte und La Sociale herausgab, dem Syndikalismus einen Weg unter den Anarchisten bahnend. In jenem Sommer, in einer Besprechung bei Alfred Marsh, der Freedom redigierte, in Camden Town, N. W. (Malatesta war anwesend), wurden diese neuen Verhältnisse in Frankreich besprochen[19]) und auch der Internationale sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß von London, 1896, ins Auge gefaßt und von nun ab die Teilnahme von Anarchisten, die Gewerkschaftsdelegierte wären, betreffs welcher den marxistischen Arrangeuren des Kongresses kein an gemaßtes Kontrollrecht (Anerkennung der politischen Aktion usw.) zustand, vorbereitet.

Es würde zu weit führen, Malatestas jedenfalls in vielen Artikeln präzisierte Aeußerungen über Syndikalismus zu sammeln; zuletzt äußerte er sich in seiner Rede zum Kongreß der Unione Sindacale Iialiana (Rom, März 1922) und in dem langen, kristallklar seine Ansicht vom Wert und von den Grenzen des Syndikalismus wiedergebenden Artikel Sindicalismo e anarchismo (Umanità nova, 6. April 1922), der in jede Sammlung seiner Schriften, aber nicht in eine kürzere Biographie gehört.

Durch die erwähnte Teilnahme am internationalen Kongreß (1896) machten die Anarchisten einen neuen Versuch, die Solidarität der sozialistischen und Arbeiterorganisationen aller Nuancen zu erhalten, wie die Kongresse von St. Imier, Bologna, Genf und Bern, 1872 bis 1876, dies vorgeschlagen hatten; man war bereit, sich mit den Sozialdemokraten zu gemeinsamer, freundlicher Diskussion zusammenzusetzen. Zahlreiche Syndikatsdelegierte kamen, deren Standpunkt von den französischen Allemanisten, von den Holländern mit F. Domela Nieuwenhuis und Cornelissen, von den deutschen Unabhängigen und Anarchisten mit Gustav Landauer, von Engländern wie Keir Hardie (I. L. P.), Tom Mann und vielen andern unterstützt wurde. Es ist bekannt, daß die Marxisten diese Kongresse beherrschten durch die Stimmen der Delegierten vieler kleiner Nationalitäten, wodurch sie, nebenbei bemerkt, das ihrige beitrugen zur Aufzucht des heute in seinen Folgen sichtbaren krassen Nationalismus. Auf solche Weise drückten sie die Bestimmung durch, daß nur Delegierte, welche politische Aktion und die Notwendigkeit, auf parlamentarischem Wege Arbeitsreformen zu erreichen, anerkennen, zu künftigen Kongressen zugelassen werden sollten. Sie waren glücklich darüber und triumphierten, auf diesem Wege endlich die Arbeiterbewegung gespalten und die Solidaritätswünsche der Anarchisten, Antiparlamentarier und Syndikalisten gründlich weggestoßen zu haben! In diesem Geist der bigotten Intoleranz, der Freude an Zank und Spaltung wurde die sogenannte ..zweite Internationale“ 1896 in London geboren, im August 1896, um wieder im August, diesmal des traurigen Jahres 1914, schmachvoll die Segel vor dem Weltkrieg zu streichen, der eben verstand, die menschliche Solidarität noch gründlicher mit Füßen zu treten.

Durch Malatestas praktische Intervention wurde 1896 für die Kongreßzeit ein italienisches Klublokal in Frith Street, Soho, gesichert, wo die Kongreßminorität und die Londoner Genossen sich tagsüber trafen. Damals wurde eine der größten und schönsten Londoner Versammlungen in Holborn Town Hall abgehalten; die Redner waren J. Presberg (Perry), J. Keir Hardie, Paul Reclus (George Guyon), Chr. Cornelissen, Tom Mann, Louise Michel, J. C. Kenworthy (damals Tolstoianer), Tortelier, Kropotkin, Bernhard Lazare, Touzeau Parris (ein unabhängiger englischer Sozialist), F. D. Nieuwenhuis, W. K. Hall, E. Malatesta, Pietro Gori, Gustav Landauer, Louis Gros (Syndikalist, Marseille) und in der improvisierten Nebenversammlung, für die von dem überfüllten Saal Ausgeschlossenen, W. Wess, Frank Kitz, S. Mainwaring, A. Hamon und Paul Pawlowitsch (Berlin). Aus Malatestas Rede hebe ich nach Freedom (Aug.—Sept. 1896) hervor: . . . „Das Eigentum wird nie berührt werden, wenn die es Angreifenden nicht über die Körper seiner Verteidiger — der Gendarmen hinwegschreiten. Aus diesen Gründen sind wir gegen alle Regierungen, selbst die der Sozialdemokraten. Die Gendarmen von Bebel, Liebknecht und Jaurès bleiben immer Gendarmen. Wer immer sie in Händen hat, wird immer imstande sein, das Proletariat niederzuhalten und abzuschlachten. Daher wollen wir diese Macht niemand geben — weder den Sozialdemokraten noch uns selbst; denn niemand in einer solchen Stellung kann etwas anderes werden als eine Canaille. . . . . Befreit euch selbst durch die Organisation eurer eigenen Kräfte und ihr werdet frei sein. Aber wenn ihr eure Befreiung von einer Regierung erwartet, — sei sie aus wohlwollenden Bourgeois, sei sie aus Sozialdemokraten zusammengesetzt — werdet ihr für immer verloren sein.“ ....

Malatesta nahm auch an den Diskussionen unter Anarchisten teil, die in der Kongreßzeit in St. Martins Hall stattfanden[20]); so sprach er über die Bauernfrage, gegen den marxistischen Standpunkt, der die Proletarisierung der Bauern in Aussicht nimmt. . . . . „in Wirklichkeit ist das Land eines der Werkzeuge des kleinen Bauern und das Werkzeug soll dem Arbeiter gehören. Das Produkt seiner Arbeit soll ihm auch gehören — wer kann beides den Bauern nehmen?“ .... (Diese Frage wird durch diese kleinen Auszüge natürlich nicht erledigt; wenn dies auf einige kleine Bauern paßt, ist doch die große Masse des Grund und Bodens zu wichtig, um wie ein kleines Werkzeug individuell appropriiert zu werden, gerade so wie die große Masse der wichtigsten Werkzeuge, die Maschinen, nicht Privatbesitz sein können, wie ein Hammer oder ein Spaten. All diese Werkzeuge im großen, wie alle Rohstoffe und natürlichen Reichtümer müssen immer allen gehören, also weder einzelnen noch dem Staat, sondern der Allgemeinheit, die von ihnen auf Grund der allgemeinen Zugänglichkeit dieser lebenswichtigen Gegenstände Gebrauch macht, während unwichtige Gegenstände in verschiedenem, durch die Erfahrung sich ergebendem Grade den einzelnen vollständig zur Verfügung stehen können.)

Ich kann Malatestas Kongreßmandate nicht anführen (er vertrat spanische Syndikate, nach L. Fabbris kleiner Biographie, S. 5); ich kenne auch nicht seine von Fabbri erwähnten Kongreßberichte in der Mailänder Italia del Popolo (1896), einem anständig gehaltenen republikanischen Blatt.

Dies sind einige wenige Züge und Episoden aus den beinahe siebeneinhalb Jahren des zweiten Londoner Exils. 1897 verjährte seine italienische Verurteilung von 1885, aber er war schon vorher im geheimen nach Italien zurückgekehrt. Er wußte, wo ein neues Aktionsfeld für ihn vorbereitet war und täuschte sich nicht. Er verschwand unbemerkt, und wir finden ihn wieder in dem großen adriatischen Seehafen Ancona.

 

XVI. Ancona (L’Agitazione, 1897—98); Gefängnis, Deportierung auf eine Insel, Flucht; amerikanische Reise; drittes Londoner Exil, Frühjahr 1900 bis zum Frühjahr 1913.

Eine Uebersicht der Geschichte von Malatestas Zeitschrift L’Agitazione in Ancona findet man in Umanità Nova, 12. Dezember 1920, einige weitere Details auch im Nekrolog Adelmo Smortis (ebenda, 28. Januar 1921). In meiner Sammlung befindet sich ein mir jetzt nicht vorliegendes Exemplar, bestehend aus: L’Agitazione, vom 14. März 1897 ab, 6 Nummern, L’Agitatore (25. April), Agitiamoci (1. Mai), Agitatevi (8. Mai), dann Nr. 10—42, II 1—17 (5. Mai 1898); Nr. 18 (12. Mai) war im Druck, als der Polizeiüberfall stattfand; von dieser letzten Nummer sollen nur einige Exemplare existieren, von denen ich keines kenne.[21])

In Ancona waren schon eine ganze Anzahl guter, meist kurzlebiger anarchistischer Blätter erschienen, so Il Paria (26. April 1885—1887), Il Libero Patto (seit 3. Februar 1889), Primo Maggio (1892), Carlo Cafiero (24. Juli 1892), L’Articolo 248 (seit 7. Januar 1894), Tempi Nuovi 22. März 1896), L’Errore giudiziario (1896), La Lotta Umana (seit 26. April 1896) und gewiß noch andere. Es mußte eine tüchtige lokale Gruppe bestehen, Cesare Agostinelli[22]), Smorti u. a., und diese bereitete wohl das neue Blatt vor und Malatesta entschloß sich, im geheimen nach Ancona zu kommen und sich durch diese Zeitschrift in unmittelbaren Kontakt mit der Bewegung zu versetzen. Damals waren einige zum domicilio coutto auf den Inseln trotz ihrer Freisprechung im Prozeß Lega außergerichtlich Verurteilte, wie E. Recchioni (der den Articolo 248 herausgegeben, am Sempre Avanti von Livorno lebhaft mitgearbeitet hatte usw.) provisorisch freigelassen und widmeten sich sofort dem neuen Blatt (Agostinelli, Recchioni, Smorti u. a.).

Wie seinerzeit in der Agitation gegen die Wahlpolitik Costas (1883—1884) wurden jetzt viele Gruppen in Italien zu gemeinsamem öffentlichen Auftreten zusammengefaßt durch ein von ihnen unterzeichnetes vielverbreitetes Manifest gegen die Teilnahme an Wahlen, das die Agitazione herausgab (übersetzt in Freedom, Mai 1897). Damals hatte sich Merlino gegen die absolute Verwerfung parlamentarischen Vorgehens erklärt (Brief an den Messagero, Rom), während Malatesta in einem anderen Brief bemerkte: „Wenn man die Wahl hat zwischen Parlamentarismus, den man akzeptiert und vertritt, und Despotismus, den man unter dem Druck der Gewalt und mit zur Empörung bereitem Sinn erträgt, so ist der Despotismus tausendmal vorzuziehen“.

Bald traten nach Acciaritos Attentat gegen den König Umberto in Rom neue Verfolgungen ein; E. Recchioni, E. Agostinelli, R. Recchi, A. B. Faccetti von der Agilazione wurden verhaftet und einige von ihnen wieder auf die Inseln verbannt. Malatesta hatte zurückgezogen gelebt, ging abends in geschickter Verkleidung aus und erst als die Zeitschrift trotz aller Verhaftungen der daran sichtbar Beteiligten ungebrochen weiter erschien und Zeitungen von Malatestas Anwesenheit schrieben, wurde er eifrig gesucht, aber noch lange nicht gefunden. Damals wurde ein neues Gesetz über Deportierung auf die Inseln (domicilio coatto) vorbereitet (Frühjahr, Sommer 1897). Die Korrespondenz der Agitazione wurde aufgefangen. In der Nummer vom 2. September erklärte Malatesta, dessen Verurteilung von 1884—1885 jetzt verjährt war, warum er trotzdem vorziehe, incognito zu leben. Am 15. November fand ihn schließlich die Poilzei, mußte ihn aber bald in Ruhe lassen.

G. Ciancabilla Temps nouveaux, [(]20. November 1897) beschreibt diese neun Monate von 1897 und bringt Malatestas Rückkehr nach Italien mit der von Merlino empfohlenen Teilnahme am parlamentarischen Treiben in Zusammenhang (wodurch ein gewisser Parallelismus mit Malatestas Rückkehr von 1883, um gegen Costa aufzutreten, vorliegen würde). Ich kann nicht sagen, ob diese Behauptung begründet ist, nur weiß ich, daß Merlinos damaliger Standpunkt vor allem ihn selbst isolierte und in eine Zwischenstellung zwischen Anarchisten und Sozialdemokraten brachte, und daß dies für die Bewegung nicht im entferntesten den Schaden verursachte, wie Costas Abfall seit 1879, da eben Costa ein raffinierter Streber und Merlino ein ehrlicher Einzelgänger war. Ciancabilla deutet die Existenz einer Partei an, die ungefähr auf dem Standpunkt der Ideen von Capologo (1891) zu stehen scheint; auch Nino Samaja (ebenda, 25. Juni 1898) beschreibt die Organisationstätigkeit der Agitazione-Richtung in ähnlicher Weise. Ich kann nur sagen, daß diese etwaigen jeweiligen Organisationsanfänge oder -absichten stets wieder durch große Verfolgungen gestört wurden, denen dann Perioden der Stagnation folgten, bis es zu neuem Versuch, die Fäden wieder zu knüpfen, kam; ob dies aber in irgend einer formellen Weise geschah, bezweifle ich im höchsten Grade, da man sich diesen Formen entwachsen fühlte. Was da 1891—1893 entstanden sein mochte, wurde 1893—1894 zersprengt und lag 1895—1896 in Ruhe, bis gewiß vieles 1897 bis Anfang 1898 wieder aufgenommen und dann durch die Verfolgungen von 1898 wieder zerstört wurde und so ging es auch durch die folgenden zwanzig Jahre weiter.

Als dann im Winter 1897—1898 in etwa fünfzig italienischen Städten Unruhen wegen der Brotteuerung stattfanden, geschah dies auch in Ancona (16., 17. Januar 1898) und einige Vorkommnisse am zweiten dieser Tage gaben endlich den erwünschten Vorwand zur Verhaftung Malatestas; vgl. Rudinis zynische Erklärung im römischen Senat. Er wurde auf dem Wege in die Druckerei in der Via Mazzini verhaftet unter dem Vorwand, „Es lebe die Anarchie!“ gerufen zu haben. Damals wurden Smorti, Bersaglia, Panficchi, Baiocchi und andere Genossen verhaftet und als verbrecherische Vereinigung (malfattori, nach art. 248) prozessiert.

Dies brachte bekanntlich eine Reihe ganz junger Genossen, meist Studenten, nach Ancona, wo sie von nun an die Agitazione fortsetzten; unter diesen waren Nino Samaja (Bologna) und der sehr junge Luigi Fabbri (Macerata).

Der Prozeß fand im April 1898 statt. Dreitausend Anarchisten hatten eine Erklärung, unterzeichnet, daß sie sich desselben Verbrechens wie die Angeklagten schuldig bekennen, daß sie malfattori („Verbrecher“) im Sinne des art. 248 seien. In einem Artikel zur Erinnerung an Pietro Gori schreibt L. F. (Fabbri) in Um. N., 12. Januar 1921: „Ich erinnere mich noch daran, wie er in seiner Toga (als Advokat) im April 1898 vor dem Gerichtshof von Ancona seine wundervolle Verteidigungsrede Malatestas und seiner Genossen hielt und darin erklärte, auch er sei „zu verbrecherischen Zwecken assoziiert“ mit den Angeklagten und daß man ihn von seinem Platz als Verteidiger wegjagen möge auf die Bank der Angeklagten, diesen Ehrensitz, wenn man den Mut habe, dies zu tun. Alle, auch einige von den Richtern, hatten in diesem Augenblick Tränen in den Augen.“ Die öffentliche Entrüstung regte sich und das Gericht wagte nicht, den art. 248 anzuwenden und sprach Verurteilungen zu sechs oder sieben Monaten Gefängnis aus wegen Teilnahme an einer nicht „verbrecherischen“ aber „aufrührerischen“ oder „subversiven“ Vereinigung. Die höheren Gerichte bestätigten dieses Urteil, gegen das der Staatsanwalt appelliert hatte.[23])

Kurz darauf traten die gewaltigen Maiereignisse von 1898 ein — der Volksaufstand von Mailand Anfang Mai, die größte revolutionäre Aktion seit den spanischen Insurrektionen von 1873, der sich nur die roten Wochen von Barcelona, 1909 und der Romagna und Ancona, 1913 zur Seite stellen lassen. In Ancona und den Marken geschah damals nichts, aber am 9. Mai brach die Polizei in die Druckerei der Agitazione ein, die dann wie alle anderen anarchistischen Blätter in Italien unterdrückt blieb. Samaia, Lacchini, Vezzani, Zavattero verließen damals Italien; Fabbri wurde in Macerata verhaftet.

Diese Unruhen hatten gerade gegen den Schluß des Prozesses (21.—27. April) im Süden, in Bari und weiter nördlich, in Foggia begonnen (27., 28. April), ein verzweifelter Widerhall der Chikagoer Spekulationen eines gewissen Leiter, der ein „corner“ in Weizen zu bilden versucht hatte, — Vorgänge, welche die ökonomischen Weltzusammenhänge blitzartig beleuchteten und die Frank Norris zu seinem „Epic of the Whent“ inspirierten, dessen dritter italienischer Teil seines Todes wegen ungeschrieben blieb. Diese besonders in Foggia die schärfsten Formen annehmende Bewegung drang unaufhaltsam nach Norden und erreichte Mailand am 7. Mai. Gleichzeitig war der Süden Spaniens um Murcia buchstäblich in Brand (massenhafte Verbrennung der Verzehrungssteuergebäude). Von da an sah man die durch die kapitalistische Entwicklung, welche die frühere Lokalisation der Produktion zerstörte, geschaffenen Zusammenhänge von Getreideproduktion, -transport und -verbreitung, Kohlenproduktion und allen Transportmitteln usw. ein und begann die revolutionären Konsequenzen dieses Zustands zu erwägen, leider nicht klar genug, um nicht, statt durch eine revolutionäre Blockade dem Kapitalismus und dem Krieg Halt zu gebieten, dieses Mittel den kapitalistischen Kriegen als Waffe zu überlassen.

Malatesta hatte zwar das zufällige Glück, daß sein Prozeß unter Dach und Fach war, bevor er unter dem Eindruck dieser Ereignisse vor einer intensiver rachsüchtigen Justiz stattfand; das Gericht tat immerhin, was es konnte und ließ ihn nach Ablauf der sieben Monate (17. August) nicht frei; er blieb im Gefängnis und wurde dann auf die Inseln deportiert, zuerst nach Ustica, dann nach Lampedusa.[24])

Einige Sozialisten und Republikaner wollten ihn aus dem domicilio coatto befreien durch Nominierung als Kandidat bei lokalen Wahlen; er verbat sich das (Brief im Avanti, Rom, 21. Januar 1899). Als er schon in London war, schlug Merlino einmal den Anarchisten vor, Malatesta als ihren Sprecher in die Kammer zu wählen und dadurch, wie er meinte, ein politisches Sprachrohr für ihre Ideen zu gewinnen und sich Luft zu verschaffen (Brief an die Italia nuova, Rom, 22. Mai 1900). Malatesta schrieb an Jean Grave (Temps nouveaux, 9. Juni): „Ich halte die einfache Annahme, daß ich wünschen könnte, die parlamentarische Laufbahn zu betreten, für eine unverdiente Beleidigung“.

Von der Insel Lampedusa befreite er sich selbst, indem er mit drei anderen während eines Sturmes in einer Barke nach Malta entkam und von dort nach London reiste (Mai 1899).

Im August 1899 reiste er in die Vereinigten Staaten, wo er in vielen Versammlungen in italienischer und spanischer Sprache endlich einmal wieder in dieser Form seine Ideen vertrat. Ich weiß nicht, ob und wenn ja, in welchem Grade seine Reise mit den Verhältnissen bei der Questione sociale (Paterson, New Jersey) zusammenhing? Die erste Serie dieses tüchtigen Blattes (127 Nummern, 15. Juli 1895 bis 2. Sep; tember 1899) endete gerade damals und G. Ciancabilla, Barile und Gnabello, die sich in der Organisationsfrage als 3 gegen 80 den anderen gegenüber befanden, verließen (mit einer Erklärung) freiwillig das Blatt und begannen die Aurora in West-Hoboken zu veröffentlichen (16. September), während Malatesta vorläufig die neue Serie der Questione sociale zu redigieren begann. Ich habe alle damaligen Jahrgänge dieser Zeitschriften, die Questione sociale bis Nr. 411 der neuen Serie (25. Januar 1908), aber leider nicht jetzt vor mir. Malatestas Verbindung mit dem Blatt dauerte einige Monate. Ich erinnere mich, daß in dieser Zeit, wo immer Malatesta sprach, eine heftige individualistische Opposition gegen seine Ueberschätzung der Organisation in der Regel die Diskussion monopolisierte und daß, wenn etwa die Mehrheit der Versammlung Ungeduld zeigte, dies erst recht zu keinem erquicklichen Ausgang führte. Ich habe die Erinnerung, daß damals einmal in einer solchen Versammlung jemand auf ihn schoß, ohne ihn zu verletzen; denn für die Gegner seiner Organisationsideen war er bald der Erzfeind und viel Energie, die dem Kampf gegen den Kapitalismus hätte nutzbar sein können, verbrauchte sich im Kampf gegen ihn. Ich habe übrigens von den Zeitschriften dieser Richtung damals eine etwas bessere Erinnerung, ich meine Ciancabillas Aurora in West-Hoboken, dann in Yohoghany (Pennsylvania), bis 14. Dezember 1901, worauf ihn eine lokale Verfolgung nach San Francisco trieb, wo seine letzte Zeitschrift, La Protesta Umana (Febr. 1902) bis 1. Oktober 1904 (III, Nr. 23) erschien; er starb am 16. September 1904. Man müßte die damaligen Argumente auf beiden Seiten heute in Ruhe nachlesen und würde vieles interessante und anregende finden. Luigi Galleanis Cronaca sovversiva (Barre, Vermont, seit 6. Juni 1903) erschien dann durch viele Jahre und wußte, wenn ich mich recht erinnere, über dieser Streitfrage zu stehen und der Bewegung eine neue Blüte zu verschaffen.

In Freedom (Dezember 1900) schrieb ich einmal, daß im Frühjahr 1900 Versammlungen Malatestas in Habana (Cuba) verboten oder verhindert wurden. Dies mag etwa Pedro Esteves spanischem Despertar (Brooklyn) oder der anarchistischen Zeitschrift von Habana El Nuevo Ideal entnommen sein? Reiste er wirklich über Cuba zurück oder hatte er nur diese Absicht?

Auf jeden Fall war dies seine letzte größere Reise damals, und es beginnen die dreizehn langen Jahre seines neuen Londoner Exils (1900 bis 1913), die wohl nur seltene Reisen nach Paris und die zum Kongreß von Amsterdam (1907) unterbrachen. Er wohnte wieder in Defendis Haus in High Street, Islington, bis das ganze Haus, Familie und Geschäft, etwa zehn Jahre später nach Arthur Street, ganz nahe bei Oxford Circus übersiedelte, wo auch er sein Heim wiederfand.

Cause ed Effetti, 18981900, eine Einzelnummer, erschien im September 1900; die blutige Unterdrückung der Aufstände des hungernden Volks 1898 und Umbertos Tötung durch Gaetano Bresci waren die im Titel gemeinten „Ursachen“ und „Wirkungen“.

Dies war die erste einer kleinen Reihe von italienischen Zeitschriften und Einzelnummern, die von da ab dann und wann in London von Malatestas Gruppe herausgegeben wurden und Hauptbeiträge von ihm enthalten. Ich habe wohl all diese Blätter, aber meine Liste enthält auch einige, die von irgend einer anderen Gruppe in London veröffentlicht wurden und ich kann diese nach dem Gedächtnis nicht aussondern. Daher führe ich hier unter diesem Vorbehalt alle an, während nicht absolut alle hierhergehören

L’Internazionale, 12. Januar bis 5. Mai 1901, 4 Nrn.;

Lo Sciopero generale. La Greve generale. 18. März bis 2. Juni 1902, 3 Nrn.; hieran nahmen auch Spanier und S. Mainwaring teil und wahrscheinlich nicht speziell Malatestas Gruppe;

La Rivoluzione soziale, vom 4. Oktober 1902 ab, 9 Nrn.;

La Settimana sanguinosa, 18. März 1903;

Germinal, 1. Mai 1903;

L’Insurrezione, Juli 1905;

La Guerra Tripolina, April 1912.

Eine Propagandabroschüre, ein Pendant zu Fra contadini (1884) ist: Al Caffé (Im Café). Conversazioni sul socialismo anarchico (Biblioteca della „Questione sociale“), Paterson, Neu Jersey, 1902, 63 S., übersetzt ins französische, spanische, portugiesische, yiddishe, bulgarische usw. usw.

II nostro Programma (Paterson, 1903, 31 S.), herausgegeben vom Gruppo (socialista) (anarchico) L’Avvenire von New London, Connecticut. Mir jetzt nicht vorliegend; ich weiß nicht, ob diese und die beiden folgenden Broschüren von oder für Malatesta veranstaltete Ausgaben sind oder gelegentliche Abdrücke von Artikeln desselben?

Non votate! (Gebt keinen Stimmzettel ab!) Appello dei socialisti anarchici ai lavoratori italiani in occasione delle elezioni, und:

Il Suffragio universale (das allgemeine Stimmrecht), beide in Mantua, 1904 und o. J. erschienen, 8 und 13 S., letztere in der „Biblioteca del Pensiero“.

Auch ein schriftlicher Beitrag zum Pariser anarchistischen Kongreß (1900) liegt vor als S. 43—57 von: I Congressi socialisti internazionali (Biblioteca della „Questione sociale“, 8), Paterson, 1900, 72 S. 16 °, enthaltend Kongreßbeiträge von Kropotkin, Malatesta und Pedro Esteve; dies muß sich also französisch im supplément der „Temps nouveaux“ (6. Oktober bis 1. Dezember 1900) befinden, spanisch vielleicht in dem Buch El Congreso Revolutionario International de Paris de 1900. Buenos Aires, 1902, 304 S.) usw.

Während dieser Kongreß, dem die Polizei nachjagte, nur in Form einiger eiliger Besprechungen stattfinden konnte (September 1900) und vor allem in den zahlreichen eingesendeten Berichten lebt, fand ein internationaler Kongreß mit offener Diskussion in Amsterdam vom 24.—31. August 1907 statt, der zur Bildung der Internationale Anarchiste führte; am Kongreß und an der Organisation nahm Malatesta entschiedenen Anteil und die Debatten zeigen ihn als den klaren Vertreter des unbeugsamsten Anarchismus, der allen Seitenströmungen entgegenzutreten weiß. Ueber diesen Kongreß liegen neben Zeitschriftenberichten im wesentlichen vor:

Resolutions passed at the Anarchist Congress held at Amsterdam, August 2431, 1907. Published by the International Bureau (London, Dezember 1907, 13 S.);

The International Anarchist Congress, Amsterdam . . . Reprinted from „Freedom“ (von Karl Walter), (,Freedom‘ pamphlet), London, Dezember 1907, 23 S.;

Congres anarchiste tenu à Amsterdam, août 1907. Compte-rendu analytique des séances et résumé des rapports ... (Paris, Paul Delesalle, März 1908, 116 S.);

Resoconto generale del Congresso Int. Anarchico di Amsterdam con prefazione di Errico Malatesta . . . (Paterson, N. J., dl h. Rom, 1907, 24 S. 4°); dies ist von L. Fabbri, ein Abdruck aus II Pansiero, Rom, 1. November 1907, S. 321—344).

Auch ein russischer Bericht (aus dem Genfer Burevestnik Nr. 6—7), Genf, November 1907, 30 S., von N. Rogdaev (N. I. Muzil), von dem eine erweiterte bulgarische Ausgabe von der Zeitschrift Bezvlastie in Razgrad, 1909, VIII, 66 S. ausgegeben wurde; auch Amédée Dunois in Pages libres (Paris), 23. November und 21. Dezember 1907, wobei ich die holländischen, deutschen, österreichischen u. a. Berichte ganz übergehe.

In das Internationale Bureau (London) wurden gewählt: Malatesta, Rudolf Rocker, Alexander Schapiro (Sekretär), John Turner und G. Wilquet. Näheres in dessen Bulletin de l’Internationale Anarchiste (31. Jan. 1908 — April 1910, 13 Nrn.), den Zirkularen dieses Bureaus usw. Es soll nicht verhehlt werden, daß das Leben dieser Gesellschaft ein ziemlich mattes war, weil eben die gewöhnliche Propaganda in allen Ländern lokal eingewurzelt ist und nicht mehr, wie vor vielen Jahren, der Anregungen aus einzelnen vorgeschritteneren Ländern bedarf und weil — auch dies soll gesagt werden — für wirklich internationale revolutionäre Verständigungen, die für den Kriegsfall von 1914 so nützlich hätten sein können — leider damals und noch immer kein wirklich reges Interesse bestand und besteht. Malatesta muß das eingesehen haben, und auch er ließ den internationalen Dingen ihren Lauf (oder ihren Stillstand, nichtiger gesagt) und tat das seinige für Italien, wie wir sehen werden, sobald er nur konnte.

Ein neuer Kongreß hätte im August 1914 in London stattfinden sollen, als der Krieg ausbrach. Ernst im Dezember 1921 kam dann wieder die internationale Zusammenkunft in Berlin zustande, bei der zu erscheinen, Malatesta durch die dem versklavten Europa von heute eigentümlichen Paß- und Reisehindernisse unmöglich gemacht wurde.

Die Kongresse ersetzt übrigens seit vielen Jahren die beständige Diskussion der Ideen in den Zeitschriften, von denen nicht wenige durch viele Jahre regelmäßig erschienen, — so die Temps Nouveaux, Le Père Peinard, Le Libertaire, L’ Anarchie (Paris), Le Réveil—Il Risveglio (Genf), Il Pensiero (Rom), Il Grido della Folla (Mailand), Il Libertairo (Spezia), Freedom (London), Free Society, Mother Earth (Vereinigte Staaten), Der Sozialist, Der freie Arbeiter, Der Anarchist (Berlin), Wohlstand für Alle (Wien), De Vrije Socialist (von F. Domela Nieuwenhuis, Holland), Revista blanca, Tierra y Libertad (Spanien), Questione sociale, Cronaca sovversiva, El Despertar (Vereinigte Staaten), La Protesta (Argentinien), Arbeiterfreund, Freie Arbeiterstimme (yiddish), Chlêb i Volja (Genf, russisch) und so viele andere. Was sich hier von wertvollerem herauskrystallisierte, wurde zur Broschüre, die dann durch Uebersetzungen von Land zu Land und von Hand zu Hand ging. Dieser internationale geistige Austausch vollzog sich zwanglos von den Azoreninseln und Portugal bis China und Japan und New Zealand und von Norwegen und Canada bis Chile, Peru und Südafrika. Diese geistige Internationale machte eine formelle Organisation scheinbar ganz überflüssig und brachte eine Unzahl internationaler freundlicher Beziehungen zustande in diesen glücklichen Jahren, in denen die Erde eine einzige dem Verkehr frei geöffnete Fläche war, — ein Paradies gegen den jetzigen Zustand der Absperrung und der Atomisierung der Völker, die wie die wilden Tiere einer Menagerie sich hinter Eisenstäben die Zähne weisen und aufs neue einander an die Gurgel zu springen lauern. Man trug leider in jenen glücklichen Jahren das seine hierzu bei, indem der Glaube an die Möglichkeit revolutionärer Aktion, den Malatesta nie aufgab, so sehr schwand, daß man sich keine Mühe gab, internationale revolutionäre Aktion, sei es auch nur im Kriegsfall, ernstlich zu erwägen, — unbeschadet der gewiß mit viel gittern Willen, aber doch in unzureichendem Umfang gepflegten antimilitaristischen, Friedens- und ähnlicher Propaganda.

Man wird also für jene Jahre nach Spuren von Malatestas Arbeit — deren wesentlicher brieflicher und mündlicher Teil uns ja ganz entgeht — nicht so sehr in den wenigen erwähnten Broschüren suchen, sondem in all diesen und speziell den italienischen und französischen Zeitschriften, da er gewiß zu jeder wichtigen Frage irgendwie Stellung nahm. Die seit 1895 auf den Syndikalismus gesetzten Hoffnungen hatten sich nicht ganz verwirklicht und es wurde notwendig, gegen die Ueberschätzung des revolutionären Werts des bestehenden Syndikalismus aufzutreten, da die Tendenz entstand, dem „sich selbst genügenden“ Syndikalismus gegenüber den Anarchismus ganz in den Hintergrund, wenn nicht in die Rumpelkammer, zu relegieren. Der allgemeine Streik machte auch diese Zeit der Ueberschätzung durch, vor der Malatesta hier schon 1890 gewarnt hatte. Er unterstützte den Antimilitarismus ohne auch hier in Exklusivismus zu verfallen. Gewiß wurde oft und oft die Organisation; und Individualismusfrage von ihm berührt. Seine Ausführungen sind immer klar, präzis, einfach, bleiben bei der Hauptsache; Seitenwege und Phraseologie sind ihm fremd, ebenso betritt er, so viel ich weiß, nie ein anderes Gebiet, obgleich er vielen Dingen mit Interesse folgt und manches zu sagen wüßte, aber er fühlt, daß das nicht seine Sache sei.

Man würde sich über all dies ziemlich orientieren, wenn man folgende Zeitschriften der Jahre 1900 bis 1913 durchsehen würde: Les Temps Nouveaux (seit 4. Mai 1895), Le Reveil. Il Risveglio (L. Bertoni, Genf, seit 7. Juli 1900), Le Questione sociale (Paterson, New Jersey, seit. 15. Juli 1895), L’Era Nuova (seit 13. Juni 1908), Cronaca sovversiva (L. Galleani, Barre, Vermont, dann Lynn, Massachusetts, seit 6. Juni 1903), El Despertar (Pedro Esteve[25]), seit 1891), Freedom (London, seit Okt. 1886).

Ferner müßte man teils Schriften von ihm, Mitteilungen über ihn, teils kritische Stellungnahme zu seinen Ideen in italienischen Blättern aufsuchen, besonders etwa in: L’Agitazione (Rom, seit 2. Juni 1901), Il Pensiero (25. Juli 1903 bis 9. Dezember 1912), L’Alleanza Libertaria (seit 8. Mai 1908), Il Libertario (P. Binazzi, Spezia, seit 16. Juli 1903) Il Grido della Folla (Mailand, 4. April 1902 bis 8. August 1905), La Protesta Umana (seit 13. Oktober 1906), weiteren Grido della Folla-Serien von 1905—1907 und seit Oktober 1910; auch L’Avvenire sociale (Messina), das vom 26. Januar 1895 bis 1905 oder länger erschien, usw. Auch Il Grido degli Oppressi (New York, Chicago, 1892—94), L’Aurora, West- Hoboken, dann Yohoghany, Pa., 1899—1901), La Protesta Umana (San Francisco, 1902—04) kommen in Betracht. Ich besitze die Kollektionen oder die meisten Nummern all dieser Zeitschriften und vieler anderer und hoffe, dieselben zur Erweiterung dieser Biographie später durchsehen zu können.

Außerhalb dieses Kreises zu suchen, ist kaum notwendig; eine Mitarbeit an Tageszeitungen und Revuen fand, soviel ich weiß, nicht statt, etwaige briefliche Richtigstellungen ihn berührender Angaben ausgenommen. Es ist möglich, daß, nachdem sein Name immer bekannter wurde, Londoner Korrespondenten italienischer Zeitungen ihn gelegentlich ausfragten und wahres, ungenaues und falsches in ihren Londoner Briefen von ihm erzählten, aber dies ist alles ohne weitere Bedeutung, da klare Aeußerungen von ihm zu jeder ihm wichtig erscheinenden Frage gewiß in den erwähnten besten anarchistischen Blättern vorliegen.

Einige mir vorliegende Artikel sind u. a.: L’Individualisme dans l’Anarchisme (Le Réveil, Genf, 12. und 26. März 1904) über den „Vorsehungsglauben“ oder „optimistischen Fatalismus“ der „individualistischen Anarchisten der kommunistischen Richtung“. Seine Definition der Anarchie ist: „Freie, freiwillige Zusammenarbeit zum besten aller“.

Les anarchistes et le Sentiment moral (ebenda 5. November 1904, and in Temps nouveaux, 8. Dezember 1906), gegen diejenigen, welche „die Moral der Ehre und Solidarität“ verwerfen.

Anarchism und Syndicalism (Freedom, November 1907) verlangt, daß die Anarchisten „aufhören sollen, sich mit der syndikalistischen Bewegung zu identifizieren und das als Ziel zu betrachten, was eines der ihnen zur Verfügung stehenden Propaganda- und Aktionsmittel ist“ ... „Der Fehler, die Arbeiterbewegung beiseite gelassen zu haben, tat dem Anarchismus ungeheuren Schaden, aber er ließ dessen eigentliches Wesen unberührt. Der Fehler, die anarchistische Bewegung mit der Gewerkschaftsbewegung zusammenzuwerfen, würde ein noch viel schwererer sein. Es würde so gehen wie den Sozialdemokraten, seit sie in den parlamentarischen Kampf traten. Sie gewannen an Zahl, aber nur indem sie täglich weniger sozialistisch wurden. Wir würden auch zahlreicher werden, aber wir würden aufhören, Anarchisten zu sein“.

Ueber diesen Gegenstand sagte er auf dem Amsterdamer Kongreß (nach Freedom): „Er sei selbst ein so energischer Vertreter des Eintritts in die Syndikate gewesen, daß er selbst beschuldigt wurde, ein Syndikatsgründer zu sein. Das war alles seinerzeit recht schön, aber jetzt stehe man vor dem Syndikalismus als einer Doktrin. Er bekämpfe die Idee, daß der Syndikalismus für sich allein, wie man behauptet habe, den Kapitalismus zerstören und die von einigen Syndikalisten so weit propagierte Idee, daß der allgemeine Streik die Insurrektion ersetzen könne.

Es sei ein Irrtum, bemerkte er hierbei, „sich bei diesen Begründungen, wie einige es tun, auf einen angeblichen Produktionsüberfluß zu stützen. Da er selbst nicht viel mit Statistik sich abgegeben, habe er eines Tages Kropotkin gefragt, wie es sich wirklich in England damit verhalte, und er bekam zur Antwort, daß England nur für drei Monate im Jahre ausreichend produziere und daß, wenn die Einfuhr vier Wochen unterbrochen würde, jeder im Land vor Hunger sterben würde.“ . . .

Den allgemeinen Streik betrachtend, sagte er: „Wir müssen damit beginnen, die Notwendigkeit von Nahrungsmitteln ins Auge zu fassen. Dies ist eine mehr oder weniger neue Grundlage dieser Auffassungsweise. Ein Streik der Bauern erschiene ihm zum Beispiel als die größte Absurdität. Die einzige Taktik sei sofortige Expropriation, und wo immer wir sie (die Bauern) auf diese Weise vorgehen sehen, ist es unsere Sache, hinzugehen und ihnen gegen die Soldaten zu helfen.“ . . . (Die Zerstörung von Eisenbahnbrücken betreffend) . . . „er wundere sich, ob die Verteidiger solcher Narrheiten je daran dachten, daß Getreide auf denselben Gleisen kommen muß wie Kanonen. Wenn man so vorgeht, daß weder Kanonen noch Getreide kommen können, so werden dadurch alle Revolutionäre zu Feinden des Volkes. Wir müssen den Kanonen Stand halten, wenn wir Getreide haben wollen.“ . . . „In seiner eigenen Jugend, als man zuerst über den allgemeinen Streik sprach, da hatte jeder von uns sein Gewehr und seinen Revolver, seinen Plan der Stadt, der Befestigungen, Arsenale, Gefängnisse, Regierungsgebäude usw. Heutzutage denke keiner an diese Dinge, und doch rede man geläufig von der Revolution. Seht, was in Süd-italien geschah. Die Regierung ließ Hunderte von Bauern niederschießen, und der einzige Soldat, der dabei zu Schaden kam, fiel durch einen Unfall von seinem Pferde herunter. (Dieses Massakre führte dazu, daß sich Bresci zu seiner Tat entschloß. Er glaubte an ein ihm von Rom geschicktes Telegramm, nach welchem der König selbst den Soldaten befohlen habe, ohne Erbarmen zu schießen).“ . . .

In einem Artikel Anarchists and the Situation (Freedom, Juni 1909) kommt er zum Schluß, daß „die Revolution im Anmarsch sei“, und daß die Anarchisten ernstlich bedenken müßten, wie sie sich in dieser Lage verhalten würden. An dem Interesse, sich ernstlich auf Kommendes vorzubereiten, mangelte es leider. . . .

Wie diese wenigen Artikel, würde auch jeder andere den unerschütterlich festen, auf das einzige Ziel der Revolution gerichteten Charakter seiner Ideen zeigen. Es war ein Unglück für den Anarchismus, daß man in diesen dreizehn langen Jahren, 1900—1913, seine Energie und Geisteskraft, die er ans Licht zu stellen zu bescheiden ist, nicht mehr in Anspruch nahm. Das schreckliche Wort „Organisation“ hatte nicht wenig damit zu tun; wir waren alle so glücklich, uns frei zu fühlen und den Kinderkleidern einer „Organisation“ entwachsen zu sein, daß wir Malatesta als auf diesem Gebiet für rückständig geltend, im allgemeinen zu sehr bei Seite ließen. Wenn er nur das Ding praktisches Zusammenarbeiten, Tüchtigkeit und Gründlichkeit genannt hätte, wäre es verständlich gewesen, und man hätte versucht, sich diesem Zustand größerer und wirklicher Leistungsfähigkeit zu nähern. So übersah man beinahe (auch durch die lange Gewohnheit verführt), daß man den fast einzigen Mann neben sich hatte, der noch, wie Bakunin selbst, an die Möglichkeit wirklicher revolutionärer Aktion glaubte und nicht nur an die allmähliche Ideenpropaganda oder einen automatischen oder zufälligen Zusammenbruch des ganzen Systems. Der Anarchismus bildete sich in jenen Jahren nach allen möglichen Seiten hin sehr schön aus, nur nicht in der wirklichen Leistungsfähigkeit, real efficiency, die allein zur Aktion führen kann; hier stand Malatesta leider sehr allein.

Er tat das seinige im Kampf gegen die erste Woge des Nationalismus, als der Krieg um Tripolis 1911 die Serie der Kriege eröffnete, die noch im Jahre 1922 im griechisch-türkischen Kriege ihre neueste Fortsetzung findet. Im Herbst 1911 waren stürmische Londoner italienische Versammlungen, und der Nationalismus fraß sich auch unter bis dahin radikalen Italienern ein, wurde aber doch im großen und ganzen damals zum Stillstand gebracht. Den Balkankrieg vom Herbst 1912 begrüßte man im englischen Publikum schon als „christlichen Kreuzzug“, man hatte schon Blut geleckt und ließ nun immer gleichgültiger Kriege hereinbrechen.

Gustave Hervé kam um jene Zeit nach London und legte seinen neuen Standpunkt vor; er hatte nach seiner letzten Gefängniszeit seinen lauten „Insurrektionismus“ aufgegeben, und 'unerfahrene Leute, wie z. B. ich selbst, waren der Ansicht, er habe durch seine bisherigen Erfahrungen und Gefängnisjahre das Recht erworben, auf eine gemäßigtere Art vorzugehen, da ihm bei seinem früheren Vorgehen nur unendlich wenige gefolgt waren. Malatesta, in jener Versammlung in Charlotte Street, sah unendlich klarer; er sah sofort, daß der frühere Hervé ganz tot war, und riß in der Diskussion den vor ihm befindlichen Mann in Stücke, indem er zuerst in ihm den kommenden Renegaten erkannte.

Einige Zeit vorher, im Dezember 1910, erlebte Malatesta ein sonderbares Abenteuer. Damals wurde in einem Magazin in Houndsditch von einem leerstehenden Haus an der Rückseite aus eingebrochen. Die Citypolizisten überraschten die Einbrecher, die auf der Flucht einige Polizisten erschossen. Ein zurückgelassener Sauerstoffzylinder, zum Kasseneinbruch bestimmt, und ein von einem Arzt im Eastend damals an Wunden gepflegter und dann allein totgefundener Einbrecher, waren Spuren, die zur wochenlangen, intensivsten Verfolgung der übrigen Einbrecher führten, die bekanntlich mit der militärischen Beschießung des Hauses in Sidney Street, Stepney und dem Tode der Hauptbeteiligten endete, dem Londoner Vorbild der Verteidigung von Bonnot und Garnier in der Umgebung von Paris ein Jahr später. Der Sauerstoffzylinder nun mit seiner Nummer war wie eine Visitenkarte, und es wurde sofort festgestellt, daß er für Malatestas Werkstatt bestellt worden war, wo der tot gefundene Einbrecher gearbeitet hatte. Was geschehen war, war dies: Malatesta hatte diesem Mann, einen geflüchteten lettischen Terroristen, erlaubt, in seiner Werkstatt für sich zu arbeiten, und dieser hatte dieses freundliche Engegenkommen mißbraucht, indem er sich den Zylinder für den Einbruch geschäftlich dorthin von Malatestas Lieferanten kommen ließ. Malatesta hatte all dies der Polizei haarklein nachzuweisen, und es gelang ihm auch, bei der ungeheuren Sensation, die dieser Fall verursachte, unbelästigt zu bleiben und vollständig korrekt behandelt zu werden; aber wenig fehlte daran, wie man sieht, daß die Rücksichtslosigkeit dieses lettischen Terroristen ihn in eine sehr unangenehme Lage gebracht hätte. Ich war damals anwesend, wir wir uns alle in vagen Suppositionen überall diese Vorzüge erschöpften (kurz vor Weihnachten) und er, der geschwiegen hatte, dann auf einmal diese ganzen Zusammenhänge und das Vorgehen der Polizei gegen ihn unendlich klar und ruhig erzählte und ohne Groll gegen den erwähnten Letten, dem er diese große Störung zu verdanken hatte.

Im April 1912 ließ er eine Erklärung drucken: Errico Malatesta alla Colonia Italiana di Londra. Per un fatto personale (E. M. an die italienische Kolonie in London. In einer persönlichen Angelegenheit), von ihm unterzeichnet (22. April; 1. S. in—4°). Hierin besprach er das verdächtige Benehmen eines Italieners namens Ennio Bellelli (aus Bologna). Dieser Mann, der seit vielen Jahren als Genosse gegolten hatte und auch von Malatesta zunächst als solcher betrachtet worden war, verklagte Malatesta wegen verbrecherischer Ehrenbeleidigung, und der Richter im Old Bailey verurteilte ihn am 20. Mai zu drei Monaten Gefängnis, und empfahl ihn der Regierung zur Ausweisung aus England; er verweigerte ihm auch die Erlaubnis, an ein höheres Gericht zu appellieren.

Da rührten sich nun Malatestas Freunde und machten dem Gericht und dem Minister des Innern den Stanpunkt klar. Es erschienen u. a.: An Appeal to the Men und Women of London by the Malatesta Release Committee; Why we demand Malatestas Release; Malatesta (Abdruck eines Leitartikels des Manchester Guardian, 25. Mai); Memorandum on the Malatesta Scandal (vom Italian Defence Committee): ein Brief Kropotkins in The Nation usw.; auch im Juli, gerade im Monat seiner Freilassung, La Gogna (Der Pranger, eine Einzelnummer von italienischen Freunden, in der mit dem Ennio Bellelli Fraktur gesprochen und die Kulissen des Prozesses enthüllt wurden). Der Minister des Innern sah schließlich ein, daß er sich nicht erlauben dürfe, Malatesta für seine Handlung im Interesse der Reinheit des öffentlichen Lebens auch noch auszuweisen, und er wurde freigelassen, ohne weitere Genugtuung zu erhalten; ein die libel laws raffiniert benutzender Schurke hat bekanntlich in England leicht gewonnenes Spiel.

In all diesen Jahren arbeitete Malatesta in seiner Werkstatt oder bei Installationen, und nun fing auch das Alter an, ihn etwas herzunehmen. Einmal durchbohrte ein Nagel oder ein spitzes Werkzeug direkt seinen ganzen Handrücken, es entstand eine furchtbare Wunde, und es ist ein wahres Wunder, daß sich keine Blutvergiftung entwickelte. Er mußte oft Gasröhren und Elektrizitätsdrähte legen oder ausbessern und in kalten, zugigen Lokalen arbeiten, manchmal auf kaltem Fußboden oder Steinen ausgestreckt liegend. Da zog er sich einmal eine Lungenentzündung zu, die wochenlang seinen Zustand lebensgefährlich machte, wie sehr ihn auch Frau Defendi in dieser Zeit pflegte. Nach den Londoner Gefängnismonaten vom Sommer 1912 schien seine Gesundheit wirklich untergraben, und eine kurze Erholung, wenn ich nicht irre am Meer, half nicht viel. Damals suchten einige seiner Freunde ihn zu bewegen, den Winter in Portugal zuzubringen, dem einzigen Land im Süden, wo er damals, wie man glaubte, hätte ungestört leben können. Aber er wollte durchaus nicht und dachte vielleicht schon an Italien selbst, wohin ihn der Sommer 1913 endlich führte.

Er lernte endlich englisch sprechen in diesen Jahren; ich war dabei, als er einmal bei einer Diskussion aufstand und sagte, dies würde nun seine erste englische Rede werden; vorher wurde er meist aus dem Französischen übersetzt. Er half den englischen Genossen immer, wenn etwas von ihm gewünscht wurde und blieb besonders durch Tcherbesoff und gegebenenfalls damals Alfred Marsh in Kontakt mit denselben.

Kropotkin hatte eben soviel zu tun wie er, und sie lebten weit von einander entfernt und sahen sich nicht gerade häufig, außer wenn Kropotkin einige Zeit in London selbst seiner Bibliothekstudien wegen zubrachte. Aber Tcherkesoff, damals der beste alte Freund beider, sah beide recht oft und so wußten sie stets voneinander.

Tarrida del Marmol war ihm ein sehr lieber Freund. Ich brachte einen schönen Tag mit Malatesta bei Tarrida in Highams Park, N. E., zu, wo dieser dann im März 1915 so früh, vierundfünfzig Jahre alt, starb. In Freedom (April 1915) schrieb Malatesta über ihn: „Ich persönlich war vielleicht nie mit ihm derselben Meinung — und wir waren trotzdem die besten Freunde. Man mochte mit ihm streiten, aber man konnte nicht umhin, ihn zu lieben, weil er vor allem ein liebender und der Liebe werter Mann war. Und indem ich dies sage, denke ich ihm den höchsten Tribut zu zollen, den man einem Mann zollen kann." Tarrida hatte in der Tat eine wunderbare Liebenswürdigkeit, die in jedem Milieu, das er belebte, bewirkte, daß man sich freier und glücklicher fühlte. Durch ihn hat gewiß Malatesta Francisco Ferrer, als derselbe nach London kam, kennen gelernt, obwohl ich dies nicht direkt weiß.

Leider kann ich seine näheren italienischen Freunde nicht nennen, E. Rechioni und andere, da ich mich nie nach den Namen mancher bekannter Gesichter um ihn erkundigte. Mehr hierüber wird Arnold Roller wissen, der, nach dem er als fahrender Ritter des allgemeinen Streiks Europa durchwandert, heute dem deutschen Militarismus einige Prügel zwischen die Füße werfend und morgen die Republik Andorra als erster Anarchist durchwandernd nach London gekommen war und Malatesta oft sah. Alle kannten ihn, Harry Kelly, Alfred Marsh und Th. H. Keel, Rudolf Rocker usw. Von Besuchern in London nenne ich nur Luigi Fabbri und Jacques Mesnil, der so lange in Toskana gelebt hatte — beide gewannen von ihm den dauerndsten, ausgeprägtesten Eindruck.

Was mich selbst betrifft, so war ich mir zu sehr der vielen Mühe, die ich ihm brachte, bewußt, wenn ich ihn zwang, sein Gedächtnis nach Details aus Bakunins Zeit anzustrengen, als daß ich nicht gewünscht hätte, ihn wenigstens für die Gegenwart nicht zu stören, und so vermied ich alle modernen Gegenstände und bedauere dies jetzt natürlich sehr. Einmal fand ich Guiseppe Montanellis Questioni lialiane (Turin, 1851), worin Il Socialismo italiano (S. 109—126), ein wirklich sozialistische Ideen aussprechendes frühes italienisches Buch, daß er doch vom bekannten Namen des Verfassers abgesehen noch nicht kannte. Seine Empfehlungen an einige alte Genossen in Italien zu Bakuninzwecken waren mir 1899 auf meiner Reise sehr nützlich; ich sah dort erst, wie ihn seine italienischen Genossen verehrten und brachte z. B. einen schönen Tag mit S. Mazzotti in Faenza zu, der, wie seine Frau Marietta, zu Bakunins nächster Umgebung in den letzten Monaten seines Lebens gehört hatte. Ich hatte übrigens die konstante Idee, daß Malatesta in diesen ruhigen Londoner Jahren seine Memoiren hätte schreiben sollen und vergaß dabei zwei Dinge, einmal, daß er durchaus nicht seine Laufbahn für beendet halten mochte, der gewöhnlichen Zeit für Memoiren, und dann, daß seine tägliche geschäftliche Arbeit und all seine Propagandaarbeiten ihn mehr ermüden mußten, als ich mir damals vorstellte. Er ist auch, möchte ich sagen, der am wenigsten persönliche Anarchist, nicht als ob es ihm an einer ausgeprägten Personalität fehlt, sondern, weil er so beständig selbst zurücktritt und sich den sachlichen Erfordernissen der Lage anpaßt. Er mag sehen, daß die meisten der Leute, die er handeln zu sehen wünscht, nicht selbst glänzende, originale Individualitäten sind, und er läßt seine eigenen Fähigkeiten im Hintergrund und fügt sich in ihr Niveau ein. In diesem Sinne ist er der demokratischste, am wenigsten an sich selbst denkende Anarchist. Deshalb wünscht er auch nicht vor dem Publikum von sich zu sprechen, so interessant und genau er die Vergangenheit im Gespräch oder in den seltenen autobiographischen Stellen seine Schriften rekonstruieren kann.

Am 22. März 1912 schrieb er mir (französisch): „Ich bin jetzt mit einem Buch beschäftigt, das ich nennen will: Die soziale Revolution. Gedanken eines Anarchisten, oder ähnlich. Dies nimmt mir mehr Zeit weg als ich wünschte, aber ich will es um jeden Preis beendigen.

„Nachher will ich die „Erinnerungen“ beginnen. Ich werde vielleicht diese Form wählen, daß ich solche meiner alten Schriften sammeln werde, die mir von einem gewissen Interesse zu sein scheinen und Bemerkungen über Zeit und Umstände ihrer Entstehung, die Personen, mit denen ich zusammenarbeitete usw. hinzufüge . . . .“ Er fügt mit gutmütiger Ironie hinzu: „Wenn diese Arbeit einigen Wert haben sollte, verdanke ich dies Ihnen, der mich mit einer Beharrlichkeit dazu antreibt, die ich wahrlich nicht verdiene.“

Ich hatte ihm vorgeschlagen, ein italienisches Buch „Bakunins italienische Tätigkeit“ zu veröffentlichen, das die sehr seltenen, teilweise noch nicht wieder aufgesuchten gedruckten italienischen Schriften und viel handschriftliches und briefliches Material aus den Jahren 1864 bis 1872 oder 1874 umfassen würde, eingeleitet und im einzelnen erklärt und historisch beleuchtet von Malatesta. Die Idee gefiel ihm, aber wer sollte es verlegen — Bertoni in Genf oder Luigi Molinari in Mailand (jetzt gestorben) oder ein großer italienischer Verleger? — Einige Zeit später besprach damals Gustav Landauer mit mir den Plan eines „deutschen Bakunin“, der seine deutschen und schweizerischen Schriften und Briefe aus den Vierzigern bis zu den Festungsbriefen von 1849—50 enthalten hätte — und damals kam auch das lange besprochene russische Bakuninprojekt schließlich in Kropotkins Hände und wir besprachen auch so einen alles Origina-Russische Bakunins vereinigenden Band. Die von mir 1895 begonnene französische Ausgabe brachte James Guillaume bis zu dem die Mazzini-Schriften enthaltenden siebenten Band, dessen jetzt erst vorbereitetes Erscheinen er nicht mehr erlebte. Während all diese Pläne durch Krieg und Tod zerfielen, nimmt noch 1922 der alte A. Roß den russischen Plan wieder auf. Möge auch der italienische wieder aufleben,[26])

Diese etwaigen literarischen Pläne unterbrach Ende April 1912 die erwähnte Bellelliaffäre; dann war seine Gesundheit erschüttert und das Exil lastete vielleicht am schwersten auf ihm. Da fand sich — es ist mir ganz unbekannt, unter welchen Verhältnissen — eine neue Gelegenheit, in Italien tätig zu sein und Malatesta reiste etwa im Mai oder Juni 1913 nach Ancona, um dort die neue Zeitschrift Volontà (Der Wille) herauszugeben.

 

XVII. Ancona (Volontà, 1913—14); die Revolte in der Romagna und in Ancona, Juni 1914. Viertes Londoner Exil, Sommer 1914 bis Ende 1919; der Krieg.

 

Wie lange immer Malatesta im Exil bleibt, seine Verbindung mit der italienischen Bewegung und dem sozialen und politischen Leben Italiens bleibt stets eine so enge, daß von der Questione sociale von 1883 bis zu Volontà dreißig Jahre später eine reichhaltige, gut redigierte Zeitschrift stets wie aus nichts im Augenblick entsteht und er als sofort möglichst in Anspruch genommener Redner und in all den vielen praktischen Fragen des Tages von Anfang an in Kontakt mit der ganzen Bewegung steht. Eine hier aus Mangel an Personalkenntnis von mir nicht erfüllbare Aufgabe wäre die Schilderung der nächststehenden Genossen bei all diesen neuen Anfängen (1883, 1889, 1897, 1913, 1920), deren Wahl meist eine glückliche zu sein scheint. Seitens der Gruppen im ganzen Land regt sich sofort das alte Vertrauen in immer größerem Umfang, weil man eben wirklich fühlt, daß dieser Mann das Volk nicht täuschen wird, daß er nicht für sich selbst arbeitet, daß er heute wie vor fünfzig Jahren sein bestes gibt und das nur das erreichte Ziel oder ein kühner Versuch oder eine neue Verfolgung seine Tätigkeit zum Abschluß bringen werden. Nur wenige der älteren Sozialisten gaben der Allgemeinheit diesen Eindruck absoluter Uneigennützigkeit, so Robert Owen, Fourier, Blanqui, Proudhon, später Bakunin, Cafiero, Reclus, Kropotkin und in engeren Kreisen natürlich viele andere. In weiten Kreisen noch Mazzini und Garibaldi und Tolstoi, sonst aber unendlich wenige. Das italienische Volk hatte solche Erfahrungen mit seinen Politikern und Sozialisten gemacht, daß 1913 wie noch mehr 1919 Malatestas Name auch vielen Nichtanarchisten ein erlösendes Wort erschien. In London so unscheinbar, ist er für viele in Italien der Mann, von dem große Dinge, fast Wunder, wie von Garibaldi, erwartet werden. Seine Schuld sind diese Illusionen nicht; keiner sagt klarer als er, daß sein Wille nicht genügt, daß aber das Volk, wenn es nur will, alles erreichen kann. Aber das arme Volk, kaum der Führung der Kirche entrönnen und stets vom Staat geknechtet, verfällt der Herrschaft neuer politischer und sozialistischer Führer und wagt nicht frei zu sein.

Volontà erschien seit dem 8. Juni 1913 in Ancona, von Malatesta redigiert, bis zur settimana rossa, der roten Woche vom Juni 1914, später erschien das Blatt noch durch längere Zeit wieder, aber ich weiß nicht, ob Malatesta, damals in London, sich noch daran beteiligte, und kenne diese Fortsetzung oder neue Serie überhaupt nicht, und von der ersten Serie nur einen Teil der Nummern.

Im Herbst 1913, während der Wahlen, wurde von den Anarchisten rege Antiwahlpropaganda gemacht durch Manifeste, Zeitschriften, Versammlungen, und Malatesta reiste viel herum und hielt Reden. Denn man wollte ihn natürlich überall hören und ließ ihn kaum wieder fort. Er schreibt einmal in Volontà, 7. Juni 1914, als man ihn nach Neapel rief, er hätte schon lange an eine sehr notwendige Propagandareise im Neapolitanischen gedacht, aber er hatte keine Zeit. Wo er immer hinkomme, erhalte er gleich noch weitere Einladungen, während doch das Richtige wäre, daß er dorthin ginge, wo keine oder nur wenige Genossen seien; solche jungfräulichen Gegenden gebe es noch überall. Im Frühjahr 1914 bereitete man einen allgemeinen italienischen Kongreß vor (der Fascio Comunista Anavchico von Rom besorgte dies), Nachfolger des in Rom 1911 abgehaltenen Kongresses. Kurz, es vollzog sich die übliche anarchistische Reorganisation; auch suchte man Augusto Masetti, den Soldaten, der so tapfer gegen den tripolitanischen Krieg protestiert hatte, Antonio Moroni und andere Opfer des Militarismus zu befreien, die in Gefängnissen, Strafkompagnien (compagnie di disciplina) und Irrenhäusern (obgleich geistig gesund) gemartert wurden.

Dies alles unterbrachen plötzlich die Ereignisse der Romagna, die auf Ancona und die Marken Übergriffen, im Juni 1914, wobei alle lokalen antimonarchistischen und antiklerikalen Parteien kurze Zeit in gewissem Grade zusammenarbeiteten.

Am 16.—18. Mai hatte ein italienischer republikanischer Parteikongreß in Bologna stattgefunden. Malatesta und andere Genossen waren in der Preßgalerie Zuhörer. Wir sehen einen derselben, der oft Catilina unterzeichnet (Volontà, 7. Juni 1914) einigermaßen fasziniert von dem lebhaften Geist der meisten jungen Republikaner, der für ihn anziehender ist als das Wesen vieler Sozialisten, wie sie heutzutage sind. Diese republikanischen Redner scheinen den nahen Fall der Monarchie zu erwarten, die Notwendigkeit, für die Revolution vorbereitet zu sein, und auf der Straße (in piazza, wie der althergebrachte Ausdruck ist), inmitten des Volks, mit den Syndikalisten, den Anarchisten und allen Gegnern der monarchischen Institutionen zusammenzuarbeiten. Catilina glaubte auch zu bemerken, daß der Kongreß sich nur formell vor dem irredentistischen Sentimentalismus verbeuge, und daß auch seine antimilitaristische Tendenz stark entwickelt sei.

Ein schöner Traum, den der Krieg und die von da ab auf die Republikaner wirkenden Einflüsse bald zerstörten. In der Umanità Nova, 26. September 1920, beschreiben die Genossen von Ancona (Unione Anarchica Anconetana), wie die Politik der Republikaner seit dem Kriegsausbruch die vollständige Verleugnung dieses Kongresses war, auf dem einige gerufen hatten: genug von Trient und Triest! und andere die freimaurerischen Einflüsse enthüllt hatten, durch die später der „Interventionismus“ (die Kriegsteilnahme Italiens, 1915) genährt wurde. Auf dem Kongreß von Bologna waren noch diejenigen republikanischen Abgeordneten, die in der tripolitanischen Kriegssache sich gebeugt oder auch nur geschwankt hatten, niedergezischt, und jedes Zusammengehen mit der Monarchie unter irgendeiner Form war verworfen worden.

Dies zeigt, daß im Mai 1914 in der Romagna die tiefste politische und soziale Unzufriedenheit und Erregtheit bestand und eine Volksbewegung im Juni 1914 verbreitete sich wie ein vom Sturm über ausgedörrtes Gras dahingetriebenes Feuer in der Romagna und auch den Marken, bis zur großen Hafenstadt Ancona von Ort zu Ort. Republikaner, revolutionäre Sozialisten, Syndikalisten, Antiklerikale und Anarchisten wirkten zusammen wie nie vorher; es schien, wie wenn die vierzig Jahre früher, 1874, von Bakunin, Costa und ihren Genossen vorbereitete allgemeine Bewegung gerade dieser Gegenden (s. o. Kap. VIII) so lange unterirdisch geglüht habe und nun plötzlich mit hellen Flammen ausgebrochen sei; wo waren alle andern von 1874? Aber Malatesta war wie damals an Ort und Stelle; aus den sechs von Castel del Monte waren 1914 Legionen geworden — und doch war auch diese Anstrengung noch nicht groß genug, und die Bewegung unterlag.

Ich kenne keinen sicheren Bericht über diese Ereignisse, da ich nur viele Spalten in italienischen Tagesblättern von damals sah und durch den Krieg von der anarchistischen Presse abgeschnitten wurde. Der Krieg seit August 1914 drängte auch diese Vorgänge sofort in den Hintergrund, die republikanische Partei widmete sich so gründlich dem „Interventionismus“, d. h. der Bekämpfung einer etwaigen, stets sehr prekären italienischen „Neutralität“, und wurde Todfeindin der zahlreichen kriegsfeindlichen Sozialisten, Syndikalisten und Anarchisten. Die faszistische Mentalität begann sich herauszubilden, und die Monarchie sah das mit Wohlgefallen. Ich weiß nicht einmal, ob Prozesse stattfanden, höchstens wohl gegen mißliebige Kriegsgegner, auch nicht, ob Schilderungen der Ereignisse, die historischen Wert besitzen, erschienen sind.

In U. N., 28. Juni 1922 (Movimenti stroncati) beschreibt Malatesta kurz diese Vorgänge: . . . „Seit einiger Zeit bewegten sich die Umsturzparteien und speziell die Anarchisten und die Syndikalisten für die Befreiung von Masetti und die Abschaffung der Strafkompagnien. Es gab zahlreiche Reden und Versammlungen, aber die Wirkung war gering und die Regierung gab kein Zeichen der Nachgiebigkeit. Man suchte eine lautere Demonstrationsart, um die öffentliche Meinung aufzurütteln und auf die Behörden Eindruck zu machen. In einer Versammlung in Ancona machte ein in der Bewegung Tätiger (den ich nicht nenne, weil ich nicht weiß, ob es ihm jetzt angenehm wäre) einen mit Enthusiasmus angenommenen Vorschlag. Da der erste Sonntag im Juni nahe war, an dem die offizielle Welt die „Bewilligung“ der albertinischen Verfassung durch militärische Revuen und Empfänge beim König und den obersten Behörden feiert, müssen wir, sagte der Antragsteller, dieses Fest verhindern oder wenigstens stören: berufen wir für diesen Tag Versammlungen und Umzüge in allen Städten Italiens ein und die Regierung wird gezwungen sein, die Truppen in den Kasernen oder im öffentlichen Sicherheitsdienst zu halten und die Revuen werden nicht stattfinden.

Diese von unserem damaligen Blatt Volontà in Ancona akzeptierte Idee wurde mit Eifer verbreitet und am ersten Junisonntag in vielen Städten verwirklicht.

Die Truppenbesichtigungen fanden nicht statt; die Demonstration war gelungen und wir hätten in jenem Augenblick die Sache nicht weitergetrieben, auch weil damals eine allgemeine Bewegung in Italien heranreifte und wir kein Interesse daran hatten, unsere Kräfte in vereinzelten Unternehmungen auszugeben. Aber die Dummheit und Brutalität der Polizei machten, daß es anders kam.

In Ancona waren die Truppen Vormittag in den Kasernen geblieben und es war nichts ernstes vorgefallen. Nachmittag fand eine Versammlung statt im Lokal der Republikaner in der Villa Rossa; nachdem Redner der verschiedenen Parteien gesprochen und die Ursache der Demonstration klargelegt hatten, begann die Menge das Lokal zu verlassen. Aber die Polizei am Ausgang befahl den Leuten sich aufzulösen und wegzugehen, während Gendarmeriekordons die Abzugsstraßen sperrten und das Weggehen verhinderten. Es entstand ein Konflikt; die Gendarmen schossen und töteten drei junge Leute.

Sofort stellten die Straßenbahner den Verkehr ein, alle Läden wurden geschlossen und der allgemeine Streik war zur Wirklichkeit geworden, ohne daß man nötig gehabt hätte, über ihn zu beraten und ihn zu proklamieren. Am nächsten und den folgenden Tagen befand sich Ancona im Zustand potentieller Insurrektion. Waffenläden wurden geplündert, Getreide wurde requiriert, eine Art Organisation für die Lebensmittelbeschaffung war im Entstehen. Die Stadt war voll von Militär, Kriegsschiffe befanden sich im Hafen, aber die Behörden ließen zwar große Patrouillen herumziehen, wagten aber keine Repression, augenscheinlich weil sie nicht sicher waren, auf den Gehorsam der Land- und Seesoldaten rechnen zu können. Tatsächlich fraternisierten Soldaten und Kriegsmatrosen mit dem Volk: Frauen, die unvergleichlichen Frauen von Ancona, karessierten die Soldaten, gaben ihnen Wein und Zigaretten und brachten sie dazu, sich unter das Volk zu mischen; hier und da wurden Offiziere in Gegenwart ihrer Truppen angespuckt und geohrfeigt und die Soldaten ließen es geschehen und ermutigten oft dazu mit Zeichen und mit Worten. Der Streik nahm jeden Tag mehr den Charakter einer Insurrektion an und die Proklamationen sprachen schon deutlich aus, daß es sich nicht mehr um einen Streik handle und daß man das ganze bürgerliche Leben auf neuer Basis reorganisieren müsse.

Inzwischen hatte die Bewegung sich mit Blitzesschnelle in den Marken und der Romagna verbreitet und dehnte sich schon in Toskana und in der Lombardei aus. Die Stimmung der Arbeiter war einem Wechsel des ganzen Regimes günstig. Das Zusammenarbeiten der revolutionären Parteien war von selbst entstanden und trotzdem die Pirolini, die Chiesa und die Pacetti in Automobilen herumfuhren, um die Bewegung herabzusetzen, kämpften die republikanischen Arbeiter in schöner Harmonie mit den Anarchisten und dem revolutionären Teil der Sozialisten.

Man war im Begriff zu entscheidenden Handlungen überzugehen. Der Streik mit insurrektioneller Tendenz dehnte sich aus. Die Eisenbahner bereiteten sich vor, die Leitung des Verkehrs in eigene Hand zu nehmen, um die Truppenverschiebungen zu verhindern und nur die im Interesse der Insurrektionsbewegung liegenden Züge verkehren zu lassen.

Die Revolution begann zu entstehen durch spontanen Impuls der Bevölkerung und mit großer Aussicht auf Erfolg.

Gewiß wären damals nicht die Anarchie und nicht einmal der Sozialismus verwirklicht worden, aber viele Hindernisse wären aus dem Weg geräumt worden und die Zeit der freien Propaganda, der freien Experimentierung wäre eröffnet worden und die bürgerlichen Kämpfe, an deren Ausgang wir unser Ideal siegreich leuchten sehen.

Aber mit einemmal, als die Hoffnung am größten war, erklärte die Leitung der Confederazione Generale del Lavoro (gemäßigte Gewerkschaftsorganisation) durch Zirkulartelegramm die Bewegung als beendet und befahl die Beendigung des Streiks. So wurden die Massen, die im Vertrauen an einer allgemeinen Bewegung teilzunehmen handelten, desorientiert; jeder Ort sah natürlich ein, daß es unmöglich sei, allein Widerstand zu leisten, und die Bewegung hörte auf.“

Malatesta in Ancona, dessen nähere Tätigkeit ich nicht kenne, konnte die Bewegung nicht retten. Die Zeitungen vervielfältigten dann Malatesta, der überall versteckt gesehen wurde, auf dem Felsen der Republik San Marino und wo nicht sonst, ungewisse Tage für seine entfernten Freunde. Eines Tages erschien er dann plötzlich bei einem alten Genossen in Genf und brachte einige angenehme Stunden dort zu, auf dem Weg nach London in sein viertes Londoner Exil, das sechs und ein halbes Jahr dauerte.

Neben den Mairevolten von 1898 in Italien (bes. in Mailand) und Ferrers Revolutionswoche in Barcelona (Juli 1909). war diese Junirevolte von 1914 in der Romagna und in Ancona die größte europäische Volksbewegung gewesen seit er Kommune von 1871 und den spanischen Bewegungen von 1873; höchstens die belgischen Unruhen in Lüttich und in Borinage (März 1886) kämen noch in Betracht. Ich glaube, daß die Bewegung von 1914 schon in zweifacher Hinsicht mit dem Krieg zusammenhing. Italien hatte schon den ersten dieser Kriege geführt, den freiwilligen, durch keine feindliche Handlung der Türken provozierten Angriff, um sich Tripolis zu bemächtigen (1911—12). Dies hatte — wie dies auch z. B. die Berichte Iswolskis an Sasanoff im Livre noir, Band I (Paris, Editions de L’Humanité) zeigen — schon durch das Spiel der Kompensationen andere Ansprüche an die Türkei zur Durchführung ermuntert, und es folgte der Balkankrieg gegen die Türkei (1912—13), der serbisch-griechische Krieg gegen Bulgarien, mit nachträglicher rumänischer Teilnahme am Sieg (1913), während auf der adriatischen Seite des Balkan (Montenegro, Skutari, Albanien) 1913—14 noch eine permanente Krisis bestand, die immer mehr eine weitere Teilnahme Italiens wahrscheinlich machte. Diesem westlichen Sturmzentrum des Balkans lagen Ancona und die Romagna am nächsten, und es regte sich dort gewiß ehrlicher Volkswille gegen die imperialistische Ausdehnung nach Albanien hin, die einigen Kapitalisten nützte, und deren Kosten an Geld und Blut das Volk tragen mußte. Kurz, man hatte das von der Monarchie geförderte imperialistische Treiben satt und erhob sich daher im Juni aus dem zufälligsten Anlaß mit einer Intensität, die überall in Europa den Herrschenden zeigen mußte, daß Volksbewegungen heutzutage, wenn sie wirklich einmal ausbrechen, eine unerwartete elementare Wucht besitzen.

Dies mag mit dazu beigetragen haben, daß im Sommer 1914 nicht mehr ernstlich von den westlichen und südlichen Großstaaten versucht wurde, den serbisch-österreichischen Konflikt zu lokalisieren, wie die drei vorhergehenden Kriege (1911, 1912, 1913) und die Skutari- und albanischen Fragen seelenruhig lokalisiert worden waren. Man dachte, daß nach solchen Ausbrüchen des Volkswillens, wie in der Romagna im Juni, eine allgemeine Ausblutung der Völker durch einen großen Krieg und eine neue Verkleisterung der Gehirne durch gegenseitigen Nationalhaß das zweckmäßigste Mittel seien, die so angenehme Herrschaft und Blüte des Kapitalismus zu verlängern[27]).

Denn das Volk war im Juni unerwartet stark und erbittert gewesen, und was hätte nicht verhindert werden können, wenn ein Funken dieses Geistes im August 1914 die Völker beseelt hätte! Aber aus nichts kann nichts werden, und nicht umsonst hat die Romagna fast ein Jahrhundert konspiriert und gekämpft, war sie in den Siebzigern ein Hauptsitz der blühenden revolutionären Internationale — all diese zahllosen Keime brachten im Juni 1914 eine Frucht. Wo aber all diese Vorarbeit nicht geschehen war, wo die Revolution längst als unpraktisch und „unwissenschaftlich“ abgetan war, da war auch dann im entscheidenden Moment der revolutionäre Geist nicht da; denn dieser Geist stellt sich nicht von ungefähr ein, sondern bedarf einer langen, sorgfältigen Pflege wie jede andere gedeihliche Entwicklung.

Malatesta kehrte in sein Londoner Exil zurück und blieb dort, bis er gegen Ende 1919 endlich England verlassen konnte. Es muß traurig für ihn gewesen sein, zu beobachten, wie sich das öffentliche Leben, die allgemeine Mentalität änderte, wie so viel von der relativen persönlichen Freiheit, an die er durch so viele Jahre gewohnt war, weggestrichen wurde, um nur kümmerlich und nicht mehr in alter Stärke nachher wiederzuerscheinen. Er wohnte wieder in Arthur Street, und hier, wie ich erst kürzlich erfuhr, vollzog sich eine Tragödie durch die Geisteskrankheit und den Tod von Frau Defendi, in den letzten Kriegsjahren; er pflegte sie bis zuletzt. Dies muß ein sehr harter Schlag für ihn gewesen sein, und so schloß sich auch diese Londoner Oase, die ihm so lange Jahre ein Heim geboten hatte.

Wenn ihn etwas aufrecht hielt in diesen traurigen Jahren, mag es die Einsicht gewesen sein, daß dieses Mal wirklich der Kapitalismus sein eigenes Grab grub, daß die ungeheuren entfesselten Kräfte doch nur in letzter Linie dahin wirkten, daß die Weiterexistenz des Kapitalismus eine Zeitfrage ward, und die Siegesbeute zwar von momentanen gierigen Kriegsgewinnern und politischen Triumphatoren des Tages, aber nicht von einer ihres Lebens wirklich sicheren und frohen neugestärkten kapitalistischen Gesellschaft genossen werde. Er sah dies von Anfang an und verlor seine Ruhe nicht über irgendeine Seitenfrage; schon 1917 zeigte die russische Revolution, daß die entfesselten Kräfte der kapitalistischen Kontrolle entgingen; daß sich dies in einer seinem Ideal nicht entsprechenden Form vollzog, ist hier Nebensache.

Ich kenne bis jetzt nur, was er in Freedom (London) 1914—1916 schrieb. Es müßten andere mutige Blätter jener Jahre, der Réveil-Risveglio Bertonis (Genf), die Cronaca sovvevsiva L. Galleanis (die schließlich aus Amerika nach Turin verlegt wurde) und die anarchistischen Blätter in Italien nachgesehen werden; ob seine Tätigkeit in Pariser Zeitschriften, wie Le Libertaire und La Vie ouvrière besprochen werden konnte, weiß ich nicht; die Kriegszensur aller Länder wird seine Worte nach Möglichkeit unterdrückt haben. Der tägliche Avanti (Mailand) dürfte einiges Material enthalten[28]).

Anarchists have forgotten their principles (Anarchisten, die ihre Grundsätze vergessen haben) ist der Titel seines Artikels in Freedom, November 1914. Er beginnt:

„Auf die Gefahr hin, für einfältig gehalten zu werden, gestehe ich, daß ich es nie für möglich gehalten hätte, daß Sozialisten — selbst Sozialdemokraten — ihren Beifall geben und freiwillig teilnehmen, auf Seite der Deutschen oder der Alliierten, an einem Krieg, wie dem, der jetzt Europa verwüstet. Aber was soll man sagen, wenn dasselbe von Anarchisten geschieht — nicht von vielen allerdings, aber von solchen, unter denen sich Genossen befinden, die wir am meisten lieben und achten?“

Ich will Malatestas Argumente nicht resümieren und nur anführen, wie er die Lage Ende Oktober 1914 beurteilte:

.... „Ich für meine Person, während ich den „tollen Hund" von Berlin und den „alten Henker“ von Wien nach ihrem richtigen Wert einschätze, habe kein größeres Vertrauen in den blutigen Zar noch in die englischen Diplomaten, die Indien unterdrücken, Persien verrieten, die Burenrepubliken zertraten, noch in die französische Bourgeoisie, welche die Eingeborenen von Marokko massakrierte, noch in die Bourgeoisie Belgiens, welche die Kongogreuel erlaubte und großen Profit daraus zog — und ich erinnere hier nur an einige aufs geradewohl ausgewählte Uebeltäter, und erwähne gar nicht, was alle Regierungen und alle kapitalistischen Klassen in ihrem eigenen Lande gegen die Arbeiter und Rebellen verüben.

Nach meiner Meinung würde der Sieg Deutschlands sicher den Triumph des Militarismus und der Reaktion bedeuten; aber der Triumph der Alliierten würde eine russisch-englische (d. h. eine Knutokapitalistische) Herrschaft in Europa und Asien, allgemeine Wehrpflicht und die Entwicklung des militärischen Geistes in England und eine klerikale und vielleicht monarchistische Reaktion in Frankreich bedeuten.

Uebrigens ist es meiner Ansicht nach am wahrscheinlichsten, daß auf keiner Seite ein endgültiger Sieg sein wird. Nach langem Krieg, ungeheurem Verlust an Leben und Besitz, und der Erschöpfung beider Teile, wird eine Art Frieden zusammengestoppelt werden, der alle Fragen offen läßt, und so einen neuen Krieg vorbereitet, der noch mörderischer als der gegenwärtige sein wird.

Die einzige Hoffnung ist die Revolution, und da ich denke, daß. bei der gegenwärtigen Sachlage, aller Wahrscheinlichkeit nach von einem besiegten Deutschland die Revolution ihren Ausbruch nehmen wird[29]), so wünsche ich aus diesem Grunde — und nur aus diesem Grunde — die Niederlage von Deutschland.“

Dieser Artikel wurde von dem Gründer des Faszismus, Mussolini, aufgegriffen, der schrieb: „Da Malatesta glaubt, daß die Niederlage Deutschlands die Revolution bestimmen (determinare) könne, müsse er beistimmen, daß es notwendig sei, den Ententeregierungen zu helfen. Deutschland zu schlagen.“ Hierauf erwiderte Malatesta im Avanti (Dezember 1914, wiedergedruckt U. N., 8 Sept. 1920), daß, während er diese Niederlage wünsche, es nicht Sache der Revolutionäre sei, den kapitalistischen Regierungen zu helfen, diese Niederlage zu erreichen.

Er schreibt auch: „Aber für diejenigen, welche die Sache der

Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit unter den Menschen über alles stellen, kann nicht länger ein Zweifel bestehen: wenn die rohesten Leidenschaften entfesselt sind, wenn die unbewußten Massen durch die perversen Suggestionen der privilegierten Klassen verführt werden, ihren Brüdern den Hals abzuschneiden, dann müssen sie mehr als je aufrufen zum Frieden unter den Unterdrückten und zum Krieg gegen die Unterdrücker, und gegen alles Verhandeln mit ihren eigenen Feinden, alle Unterwerfung unter deren Willen auftreten.“ ...

Nach der Kriegserklärung Italiens an Oesterreich-Ungarn (Mai 1915) schrieb Malatesta „Italy also!“ (Auch Italien!), Freedom, Juni, „Wir hatten gehofft, daß die italienischen Arbeiter den herrschenden Klassen sich widersetzen und bis aufs äußerste ihre Brüderlichkeit mit den Arbeitern aller Länder und ihren Entschluß aufrecht halten würden, im Kampf gegen die Ausbeuter und Unterdrücker, für die wirkliche Befreiung der Menschheit zu verharren. Die Tatsache, daß die große Mehrzahl der Sozialisten und Syndikalisten und alle Anarchisten sehr wenige ausgenommen, entschlossen gegen den Krieg waren und die augenscheinliche Stimmung der Massen (in gleichem Sinn), gab uns die Hoffnung, daß Italien dem Massakre entgehen und all seine Kräfte für Werke des Friedens und der Zivilisation behalten würde.

Aber es ist leider nicht so. Auch Italien wurde in das Geschlächter hineingezogen. Dieselben Italiener, die in ihrem Geburtsland unterdrückt und ausgehungert waren und oft ihr Brot in weit entfernten Ländern sich verdienen mußten, dieselben Italiener, die morgen wieder ausgehungert und zur Auswanderung gezwungen sein werden, töten jetzt und werden getötet zur Verteidigung der Interessen und des Ehrgeizes derjenigen, die ihnen das Recht zu arbeiten und ein ordentliches Leben zu führen verweigern.

Es ist erstaunlich und niederdrückend, zu sehen, wie leicht die Massen durch die plumpsten Lügen getäuscht werden können.

Durch all diese langen Monate hindurch bereicherten sich die italienischen Kapitalisten durch den Verkauf einer ungeheuren Menge kriegsdienlicher Güter an Deutschland und Oesterreich zu erhöhten Preisen. Die italienische Regierung versuchte den Zentralmächten Neutralität zu verkaufen, im Austausch gegen neuen Zuwachs zu den Besitzungen des Savoyischen Königs. Und jetzt, weil sie nicht alles, was sie wollten, erhalten konnten und es vorteilhafter fanden, mit den Alliierten gemeinsame Sache zu machen[30]), sprechen sie mit eherner Stirn, als seien sie uneigennützige fahrende Ritter, von der Verteidigung der Zivilisation und der Genugtuung für das „arme Belgien“. Und doch ist ihre Maske sehr durchsichtig. Sie sagen, daß sie Krieg führen, um die Völker von fremder Herrschaft zu befreien, und sie versuchen die jungen Leute durch den Ruhm des italienischen Kampfes gegen östereichische Tyrannei zu beeinflussen; aber sie versuchen die Araber von Tripolis zu erdrücken, daß sie sich unterwerfen, sie wünschen die zur Zeit des türkischen Krieges „provisorisch“ besetzten griechischen Inseln zu behalten, sie verlangen Landstriche und Privilegien in Kleinasien, sie besetzen einen Teil Albaniens, der gewiß in keinem Sinn des Wortes italienisch ist, und sie haben die Prätension, Dalmatien zu annektieren, wo die Italiener nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung bilden. In der Tat behaupten sie, einen Anspruch auf jedes Land zu haben, das sie zu nehmen und zu behalten die Macht haben oder zu haben glauben. Ein Ort soll Italien gehören, weil er einmal von den alten Römern erobert war, ein anderer, weil sich dort eine venezianische Geschäftsniederlage befand, wieder einer, weil dort viele italienische Einwanderer wohnen, einer, weil er für die militärische Sicherheit notwendig ist, und dazu noch jeder andere Ort auf der ganzen Erde, weil er der Entwicklung des italienischen Handels nützlich sein kann[31]).“ ....

Aus der mitgeteilten Verhaftung vieler Anarchisten in Italien schloß Malatesta, „daß sie ihrer Fahne bis aufs äußerste treu bleiben, und was noch wichtiger ist, daß die Regierung ihren Einfluß auf die Massen fürchtet.“ Er schließt: „Dies gibt uns die Gewißheit, daß, sobald sich das Kriegsfieber beruhigt hat, wir wieder unsern eigenen Krieg werden beginnen können — den Krieg für menschliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit — und in besserer Verfassung als bisher, weil das Volk eine neue Erfahrung gehabt haben wird, und was für eine schreckliche! Daß von der Regierung nur erwartet werden können: Ungerechtigkeit, Elend und Unterdrückung, und dann zur Abwechslung Schlächtereien in kolossalem Umfang, daß der Patriotismus, der Nationalismus, die Rivalitäten zwischen Rassen nur Mittel zur Versklavung der Arbeiter sind, und daß deren Rettung in der Abschaffung von Regierung und Kapitalismus liegt.“

Malatesta hatte das Internationale Anarchistische Manifest über den Krieg unterzeichnet, das in Freedom, März 1915, abgedruckt ist; die Namen der Unterzeichneten sind: Leoonard D. Abbott (New York), Alexander Berkman, L. Bertoni, L. Bersani, G. Bernard, George Barrett (†), A. Bernardo, E. Boudot, A. Calzitta, Joseph J. Cohen (New York), Henry Combes, Nestor Ciele von Diepen, F. W. Dunn, Charles Frigerio, Emma Goldman, V. Garcia, Hippolyte Havel, T. H. Keell, Harry Kelly, J. Lemaire, E. Malatesta, H. Marques, F. Domela Nieuwenhuis, Noel Panavich, E. Recchioni, G. Rijnders, J. Rochtchine, A. Savioli, A. Schapiro, William Shatoff, V. J. C. Schermerhorn, C. Trombetti, Pedro Vallina, G. Vignati, Lilian G. Woolf, S. Yanowsky (New York)[32]).

Im Februar 1916 erschien das sogenannte Manifest der 16, das gegen einen „vorzeitigen“ Frieden der Entente mit Deutschland bitteren Einspruch erhob[33]).

Malatesta protestierte hiergegen in dem Artikel Pro-Government Anarchists (Anarchisten, die für die Regierung sind), Freedom, April 1916[34]).

Er beginnt: „Soeben erschien ein Manifest, unterzeichnet von Kropotkin, Grave, Malato und einem Dutzend anderer alter Genossen, in welchem dieselben, ein Echo der Unterstützer der Ententeregierungen, die den Kampf bis zum Ende und die Erdrückung (erushing) von Deutschland verlangen, Stellung ergreifen gegen jede Idee eines „vorzeitigen Friedens.“ ....

„Die Anarchisten, bemerkt er hierzu, .... sind es sich selbst schuldig, gegen diesen Versuch zu protestieren, den Anarchismus in die Fortsetzung eines wilden Geschlächters hineinzuziehen, das nie einen Nutzen für die Sache der Gerechtigkeit und Freiheit versprach, und das sich jetzt als absolut frucht- und resultatlos selbst vom Standpunkt der Herschenden auf beiden Seiten erweist.“ . . . .

Ich führe nur die Schlußworte an: . . . „Die von Anarchisten zu befolgende Haltung wird durch die Logik ihrer Ziele selbst klar bestimmt.

Der Krieg hätte verhindert werden sollen durch die Herbeiführung der Revolution oder wenigstens dadurch, daß die Regierungen die Revolution gefürchtet hätten. Hierfür fehlten entweder die Kraft oder das Geschick.

Der Friede sollte erzwungen werden durch Herbeiführung der Revolution oder wenigstens durch die Drohung, daß dies geschehen werde. Bis jetzt fehlen Kraft oder Geschick hierzu.

Nun, da gibt es nur ein Mittel: es in Zukunft besser zu machen. Mehr als je müssen wir jedes Kompromiß vermeiden, die Kluft zwischen Kapitalisten und Lohnsklaven, Herrschern und Beherrschten vertiefen, Expropriation des Privateigentums und Zerstörung der Staaten predigen als das einzige Mittel, das Brüderlichkeit unter den Völkern und Gerechtigkeit und Freiheit für alle gewährleistet, und wir müssen uns vorbereiten, diese Dinge zur Ausführung zu bringen.

Bis dorthin scheint es mir verbrecherisch, irgend etwas zur Verlängerung des Krieges zu tun, der Männer niederschlachtet, Güter zerstört und jede Wiederaufnahme des Emanzipationskampfes hindert. Es scheint mir, daß „Krieg bis zum äußersten Ende“ zu predigen in Wirklichkeit den deutschen Herrschern in die Hände spielt, die ihre Untertanen täuschen und zum Kampf aneifern, indem sie ihnen die Ueberzeugung beibringen, daß ihre Gegner das deutsche Volk erdrücken und versklaven wollen“ . . . . . . „Es leben die Völker, alle Völker!“

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Leider kenne ich Malatestas Aeußerungen in den Jahren 1917, 1918 und 1919 nicht, aber die Schriften von 1914—16 und von 1920 (Umanità Nova) sind so homogen und seinen früheren Schriften entsprechend, daß die fehlenden Jahre nichts irgendwie Ueberraschendes enthalten dürften. Er wird, wie alle, die russische Revolution von 1917 freudig begrüßt haben, ohne sich Illusionen zu machen, da er sie zuerst in die Hände nationalistischer Bourgeois, dann in die autoritärer Kommunisten gleiten sah, die beide der wirklich revolutionären Betätigung des Volkes entgegentraten.

In einem Briefe an Luigi Fabbri (London, 30. Juli 1919)[35]) bespricht er die sogenannte „Diktatur des Proletariats“, die in Wirklichkeit „die Diktatur einer Partei oder vielmehr der Führer einer Partei ist“ und schließt: „Auch der General Bonaparte diente der Verteidigung der französischen Revolution gegen die europäische Reaktion, aber bei dieser Verteidigung der Revolution erwürgte er sie. Lenin, Trotzki und Genossen sind gewiß aufrichtige Revolutionäre, wie sie die Revolution verstehen, und werden dieselbe nicht verraten, aber sie bereiten die regierenden Kräfte vor, die denen nach ihnen dienen werden, die die Revolution ausbeuten und töten w[e]rden. Sie werden die ersten Opfer ihrer Methode sein und mit ihnen, fürchte ich, wird die Revolution fallen. Die Geschichte wiederholt sich mutatis mutandis, die Diktatur Robespierres brachte Robespierre auf die Guillotine und bereitete Napoleon seinen Weg.[36])

In Italien hatte zwar der Nationalismus seit 1914 furchtbar gewütet und die Mussolini, d’Annunzio, de Ambris und viele andere legten die Grundlagen des Faszismus, aber es war daneben stets eine so starke kriegsfeindliche sozialistische, syndikalistische und anarchistische Agitation offen tätig, daß die Regierung sich vor einer brutalen Repression, wie in anderen Ländern, unter den prekären Kriegsverhältnissen hüten mußte. Dazu kam der Zauber der russischen Revolution in ihrem ersten Glanz. Da entstand dann, viel weniger unter den Führern, die die Sache mitmachten, um sie, wenn es ihnen paßte, wieder im Stich zu lassen, als unter dem arbeitenden Volk selbst, der rank and file der Bewegungen, den zahllosen namenlosen Mitgliedern der Parteien, die Idee der fronte unico rivoluzionario, der einzigen revolutionären Front, genährt auch durch das jahrelange Beispiel der gemeinsam gehaltenen langen Fronten im Weltkrieg.

Zu einem solchen gemeinsamen Wegräumen der nächsten Hindernisse einer freien Entwicklung waren die Anarchisten immer bereit gewesen; sie allein hatten ja die ganzen Jahre hindurch revolutionäre Aktion gefordert, während die sozialistischen Parteien sich damit abgaben, pseudowissenschaftlich die Absurdität der Revolution und die Alleingültigkeit des parlamentarischen Weges „nachzuweisen“. Erst die russische Revolution von 1917 zeigte den gegenwärtigen sozialistischen Generationen, daß Revolutionen wirklich doch noch vorkommen. Genauer gesagt, von da ab (1917) wurde es den sozialistischen Führern unmöglich, die Möglichkeit einer Revolution ihren Anhängern länger zu verbergen, und so machten sie gute Miene zum bösen Spiel, denn sie sahen, daß die Volksstimmung im Begriff war, über sie hinwegzuschreiten, und sich der von Malatesta so rein verkörperten revolutionären Richtung zuzuwenden, ob nun die Einzelnen dem Anarchismus selbst näher standen oder nicht.

Diesem Zug der Zeit, der unaufhaltsam schien und große Möglichkeiten in sich bergen konnte, stellte sich Malatesta, damals sechsundsechzig Jahre alt, ganz zur Verfügung. So kam es, daß er sogar in einer Versammlung der Londoner Sektion der italienischen sozialistischen Partei sprach, welche die sozialistischen Wahlsiege vom 16. November 1919 feiern sollte. Nach dem Avanti (angeführt in der Vie ouvrière, Paris, 2. Januar 1920) sagte er: „Vor einigen Jahren würde ich mich geweigert haben, einer Versammlung zur Feier eines Wahlsieges anzuwohnen, aber heute sind die Fragen, die uns verbinden, zahlreicher und wichtiger als die Fragen, die uns trennen. Ich wünsche in dieser kritischen Stunde, wenn alle Kräfte der Reaktion die Revolution zu unterdrücken suchen, daß alle revolutionären Kräfte vereint und kompakt gegen den gemeinsamen Feind Vorgehen“ . . . Der Anarchismus bedeute Freiheit, das anarchistische Ideal könne nicht mit Gewalt verwirklicht werden.[37]) Die Anarchisten verlangten nur Freiheit für das Volk, das ihm passende System zu wählen. So der Bericht des Avanti, der zeigt, welch unendlich guter Wille Malatesta beseelte.

In diesem Geist kehrte er nach Italien zurück, sobald er nur konnte. Er hatte von den, wie ich überzeugt bin, in ihm immer regen Ideen der gegenseitigen Toleranz ausgehend, sich die Ueberzeugung gebildet, daß kein noch so gutes System durch Zwang verallgemeinert werden kann und daß das vernünftigste Vorgehen dies wäre, gemeinsam Staat und Kapitalismus niederzzuwerfen und dann jeder auf seine Art, in voller Freiheit, nebeneinander sein Ideal zu verwirklichen. Er wußte natürlich, daß es den sozialistischen Führern mit dem Zusammenarbeiten nicht ernst sei, aber er konnte hoffen, daß die Masse die Grenzpfähle zwischen den vorgeschrittenen Parteien niederreißen und die Zollwächter und sonstigen Hüter exklusiver Parteiinteressen zum Teufel jagen würde. Ob er nun innerlich wirklichen Optimismus fühlte oder nicht, ist mir unbekannt; klar ist, daß er sich der neuauflebenden Bewegung wie immer voll und ganz zur Verfügung stellte.

XVIII. Rückkehr nach Italien (Ende 1919). Malatesta und die Umanità Nova (Mailand), 1920.

Die fünfzig Jahre anarchistischen Fortschritts in Italien, die Malatesta bis dahin durchlebte, können symbolisch durch das Vorschreiten seiner Tätigkeit von Süden nach Norden charakterisiert werden. Von der mittelalterlichen Ruine von Castel del Monte, 1874, zu den viel realistischeren Dörfern der Berge um Benevento, 1877, von da in eine historische Hauptstadt, Florenz, 1883, dann in den lebhaften Seehafen Ancona, 1897, 1913 — jetzt endlich in die industrielle Hauptstadt Italiens, Mailand, einst die Heimstätte des legalitären Sozialismus, und seit 1921 nach Rom selbst.

In Mailand war der Anarchismus Anfang der neunziger Jahre erblüht, in den jungen Tagen Pietro Goris, und eine weitere Blüteperiode war die Zeit, als zwischen 1902 und 1911 der Grido della Folla und die Protesta Umana so lange erschienen. Die näheren Verhältnisse während der Kriegsjahre sind mir nicht bekannt, aber es entstand bald nachher der Plan einer täglichen anarchistischen Zeitung. Der anarchistische Kongreß von Florenz (März 1919) billigte die Idee und seit dem 1. Juni begannen praktische Vorbereitungen. Nach U. N., 28. August 1920, hatte man Ende Januar 1920 200 000 Lire gesammelt und innerhalb eines Jahres beinahe eine halbe Million.[38])

Diese Summen bestehen aus zahllosen kleinen Beiträgen von Italienern in allen Teilen der Erde, darunter sehr viele in den Vereinigten Staaten, von wo übrigens viele als Anarchisten und Kriegsgegner vertrieben wurden. Es gibt Arbeiterorganisationen mit großen Fonds, deren Delegierte solche Summen mühelos votieren könnten, aber es gibt wohl keine Bewegung, deren meist blutarme Anhänger, auf die lockerste Weise oder gar nicht organisiert, solche Summen, hinter deren Aufbringung die mühsame freiwillige Kleinarbeit vieler steckt, aufbringen würden. Aber es galt der Anarchie, der Revolution und es war allgemeine Freude vorhanden, daß Malatesta endlich wieder ganz direkt für die Bewegung tätig sein konnte. Dies ist das berühmte „oro straniero“, fremde Gold der Umanità Nova und 1920—21 gaben sich erbärmliche Richter den Anschein, sie müßten Malatesta im Kerker behalten, bis sie der Spur jedes Groschens dieser Beiträge nachgegangen wären, um die „fremden“ Quellen aufzuspüren, während — wie ihnen entgegnet wurde — kein Mensch sich um die zahllosen Millionen kümmerte, welche einem Teil der italienischen Presse seit 1914—15 zuflossen und die Politik und Aktion des Landes seit 1915 beeinflußten.

Das Programm des Blattes wurde mit dem Subskriptionsaufruf vom Sommer oder Herbst 1919 an allgemein verbreitet[39]); es erschien in der ersten Nummer (26.—27. Februar 1920) und ist ersichtlich von Malatesta verfaßt.[40]) Es beginnt:

„Wie sind Anarchisten, Anarchisten im eigentlichen und allgemeinen Sinn des Wortes; das bedeutet, daß wir jene soziale Ordnung zerstören wollen, in der die Menschen im gegenseitigen Kampf sich ausbeuten und unterdrücken . . . um zur Einrichtung einer neuen Gesellschaft zu gelangen, in der jeder, mit allen andern Menschen in Solidarität und Liebe verbunden, volle Freiheit, die größtmögliche Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche und die größtmögliche Entwicklung seiner geistigen und Gemütsfähigkeiten findet.

In welchen konkreten Formen sich dieses ersehnte Leben der Freiheit und des Wohlstandes für alle ausdrücken wird, kann niemand mit Genauigkeit sagen; vor allem kann keiner, der Anarchist ist, daran denken, andern die ihm als die beste erscheinende Form aufzulegen. Das einzige Mittel das beste zu entdecken, ist die Freiheit, Freiheit der Gruppierung, Freiheit des Experiments, vollständige Freiheit ohne andere Grenze als die gleiche Freiheit des andern.

Es gibt unter den Anarchisten solche, welche lieben, sich als Kommunisten oder Kollektivisten oder Individualisten oder sonstwie zu qualifizieren. Oft ist dies eine Frage von Worten, die verschieden interpretiert werden und eine grundsätzliche Gleichheit der Bestrebungen verdunkeln und verbergen; manchmal handelt es sich nur um Theorien, um Hypothesen, mit welchen jeder auf verschiedene Weise Schlüsse, die praktisch identisch sind, erklärt und rechtfertigt.“

Die Zusammenarbeit all dieser ist ebenso wünschenswert, wie die der Anhänger der revolutionären Tat (fatto rivoluzianario) und die der allmählichen Ausdehnung der Idee durch Propaganda und Erziehung.

Dagegen verhält sich das Programm ablehnend denjenigen gegenüber, die sich zwar Anarchisten nennen, aber am Schicksal der Allgemeinheit kein Interesse nehmen und sich nur um ihre Freiheit und ihre individuelle Vervollkommnung kümmern, nicht um die der andern, und gegenüber solchen, welche durch das Mittel der Autorität zur Freiheit gelangen zu können glauben.

Als Ziele werden angegeben: Abschaffung des Kapitalismus . . ., Abschaffung des Staates in jeder seiner Verkleidungen, mit seinen legislativen, gerichtlichen und militärischen Organen; Konstituierung freier Gemeinschaften (anarchistischer Kommunen), freiwillig vereinigt zu tatsächlicher Brüderlichkeit und Zusammenarbeit mit allen Völkern der Erde.

(Die übrigen Teile des Programms mögen im folgenden durch Auszüge aus einzelnen Artikeln ersetzt werden. Die „eine revolutionäre Front“ ist nicht erwähnt).

Das für den 24. Januar beabsichtigte Blatt konnte erst am 27. Februar 1920 erscheinen; 262 Nummern erschienen 1920 und 71 bis 24. März 1921. Papiermangel verzögerte das Erscheinen und die fabelhaften Papierpreise wurden für das sehr billig verkaufte Blatt eine schwere Last.[41]) Die Regierung glaubte sich diese Verhältnisse nutzbar machen zu dürfen und versuchte das Blatt durch Nichtzuweisung des rationierten Papiers oder ähnliche Mittelchen zu erdrosseln. Da telegraphierten am 27. März die Bergarbeiter von Valdarno an die Regierung, daß sie aufhören würden, den kohlenartigen Lignit zu graben, wenn die U. N. nicht sofort Papier erhielte; sie bekam es per Expreßtelegramm.

Am liebsten hätte natürlich die Regierung Malatesta durch die glorreiche Errungenschaft unserer traurigen Zeit, Paß- und Reiseschikanen, ewig in London festgehalten, obgleich er nach der Amnestie volles Recht zur Rückkehr hatte; andere Regierungen halfen brüderlich mit. Im Herbst 1919, zur Zeit der Wahlen, wurde in vielen Versammlungen seine Rückkehr verlangt und nun erst bekam er in London einen italienischen Paß. Aber Frankreich verweigerte die Durchreise. Er schrieb damals im Avanti (nach Vie ouvrière, 12. Dez.): „Die französischen Behörden verweigern mir die Durchreise, weil ich aus diesem Land ausgewiesen wurde — nur vor vierzig Jahren (1879) —, weil ich in einer öffentlichen Versammlung in Paris einen Spitzel des italienischen Konsulats als Provokateur entlarvt hatte, der junge Leute anstiftete, Bomben zu werfen.“

Um ihn auch zu Wasser abzusperren, verbot die englische Regierung (nach Cronaca sovversiva, Turin, in Vie ouvrière, 13. Februar 1920), daß irgendein Kapitän ihn an Bord nehme. So wurde er von einem griechischen Schiff weggewiesen, mit dem er am 4. Dezember abreisen sollte. Dann kam aber der Kapitän Alfredo Giulietti, Sekretär der Federazione Italiana dei Lavoratori del Mare (Bund der Seeleute) aus Genua nach London und brachte ihn, mit falschen Matrosenpapieren in Cardiff auf einen Kohlendampfer der italienischen Eisenbahnen. Sieben Stunden nach der Abreise wurde diesem Schiff drahtlos mitgeteilt, Malatesta sei an Bord. Aber er war nun in Sicherheit und erreichte in ruhiger Fahrt den Hafen von Genua.

Diese Organisation der Seeleute ist sehr gemäßigt und der Sekretär ein Republikaner, in welchem die Erinnerung an Garibaldi, auch ein Seemann, lebte und der Sympathie fühlte für einen von den Regierungen von seiner Heimat ferngehaltenen Mann wie Malatesta.[42])

Als das Kohlenschiff in Genua ankam, wurde es von allen Schiffen im Hafen gegrüßt, alle Arbeit ruhte und die ganze Arbeiterbevölkerung begrüßte Malatesta auf seiner Durchfahrt. Turin, Mailand, Bologna empfingen ihn auf ähnliche Weise und monatelang betrat er keinen Ort ohne von allen vorgeschrittenen Gruppen begrüßt zu werden. In der U. N. vom 28. Dezember 1920 (Ora è un anno ... Es ist ein Jahr her . . .) wird geschildert, wie man in ihm einen Führer, einen Retter, einen Befreier zu sehen glaubte, und ich kann mich vielleicht so ausdrücken, daß die alte Garibaldilegende und die neue Leninlegende zusammenflossen und viele aus dem Volk in Malatesta den sozialistischen Garibaldi oder den italienischen Lenin zu sehen meinten. Dieses Mißverstehen, die Frucht der Autoritätsverehrung, ist in diesem Fall tragisch gewesen. Malatesta war gewiß zu jedem Opfer bereit, nur wollte er nicht nach der Macht greifen, die Diktatur konnte vor ihm auf dem Boden liegen und er hob sie nicht auf. Das Volk seinerseits wartete auf ein Signal, einen Befehl, und diese kamen nicht und konnten von ihm nicht kommen und so war nichts zu tun als Freudenrufe auszustoßen und wieder nach Hause zu gehen. Die geringste Initiative von seiten des Volkes würde den Sturm entfesselt haben und ein neues Stück Geschichte hätte beginnen können — es sollte nicht sein. Er mochte auf das Volk warten und das Volk auf ihn, und ein glücklicher Zufall, der hier vermittelt hätte, trat nicht ein.[43])

Die Mailänder Umanità Nova, 4 Seiten in Halbfolio[44]) unterscheidet sich natürlich wesentlich von Malatestas Wochenblättern seit 1883. Die Bewegung ist nun so groß, daß er nicht mehr das meiste selbst machen kann, obgleich in der Sichtung des dem Blatt beständig zuströmenden massenhaften Materials auch viel Arbeit von ihm stecken wird. Nie vielleicht ereigneten sich — einige Perioden in Irland ausgenommen, — in einem Lande so viele der aufgeregten und revolutionären Stimmung des Volks entspringende Handlungen wie in Italien in den ersten 9 bis 10 Monaten von 1920, gefolgt von Solidaritätsakten, zahllosen Streiks usw. einerseits und blutigen Repression andererseits. Dazwischen begannen Akte infamster Brutalität, Mord und Brand, als Produkt der rasenden Nationalisten (fascisti), der Schoßkinder der Regierung und der Kapitalisten. Jedem dieser Funken und kleinen Brände konnte der große Brand entspringen, zu dem es doch nicht kam, und es muß wohl gesagt werden, daß das sich sehr bald herausbildende System, in Ort für Ort durch unerhörte fascistische Gewalttaten oder offizielle Massakres für eine Zeitlang Schrecken zu verbreiten, ein die Situation für den Kapitalismus momentan rettendes Mittel war. Aber diese Erfahrung wurde nicht vergebens gemacht und dauernd kann ein System sich nicht durch Mord und Brand obenauf erhalten.

Leider mußte auch viel Zeit und Mühe auf Auseinandersetzungen mit den von Moskau hypnotisierten kommunistischen Anhängern der Diktatur verwendet werden. Malatesta übernimmt oft die Polemik mit solchen Gegnern, deren guten Glauben er erkennt. Die ruhige, einfache, klar gefaßte, ehrliche Form dieser polemischen Artikel, in denen hie und da stiller Humor sich zeigt, erhält uns für später etwas von seiner Eigenart in der Propaganda und Polemik. Er faßt auch seine Ideen wiederholt zusammen, so in den Artikeln Le Due Vie (Die beiden Wege), 5.—10. August (auch als Broschüre, 15 S.). Fra contadini, In tempo di elezioni und L’Anarchia[45]) werden in großen Auflagen neu gedruckt.

Einige Auszüge aus seinen letzten Artikeln[46]), vor und während der Besetzung der Fabriken und bis zu seiner Verhaftung, mögen diese Zeit, vielleicht den Höhepunkt seiner Entwicklung, beleuchten:

Fra anarchici e socialisti (25. August 1920) setzt sich mit der Giustizia von Reggio-Emilia, einem seit 1886 erscheinenden, noch immer unendlich gemäßigten sozialistischen Blatt, auseinander.

.... „Aber wie oft sollen wir wiederholen, daß wir niemand etwas aufzwingen wollen; daß wir es weder für möglich, noch für wünschenswert halten, das Beste anderer durch Gewalt durchzuführen, und daß wir nur wünschen, daß uns niemand seinen Willen aufzwinge, daß niemand imstande sei, andern eine Form des sozialen Lebens aufzuzwingen, die sie nicht frei akzeptiert haben?“ ....

„Wir sind in Wahrheit die eigentlichen Evolutionisten, insofern, als wir für die menschliche Gesellschaft die Möglichkeit erobern wollen, sich frei zu entwickeln, und zu zerstören wünschen jenen Organismus der Gewalt und Ausbeutung, der jede freie Aeußerung individueller und kollektiver Initiative erstickt und die natürliche Entwicklung ablenkt, verletzt und aufhält im Interesse derjenigen, die im Lauf der Geschichte Macht und sozialen Reichtum zu erlangen imstande waren.“

„Wir sind Kommunisten, weil wir den Kommunismus für diejenige Form sozialer Organisation halten, die am besten individuelle Freiheit und das Wohlbefinden aller garantiert.“

„Aber wir denken, daß gewaltsam aufgezwungener Kommunismus die verhaßteste Tyrannei wäre, die man sich vorstellen kann, und daß er durch die Reaktion des Geistes der Freiheit mit der Rückkehr zum bourgeoisen Individualismus enden würde.“

„Was wir mit Gewalt durchführen wollen, ist die Expropriation der Inhaber der Produktionswerkzeuge, welche die Enterbten zwingen, zu ihrem Nutzen zu arbeiten, und natürlich die Zerstörung der Regierungsgewalt, ohne welche Zerstörung die Expropriation und darauffolgende soziale Reorganisation zum Nutzen aller und entsprechend dem verschiedenartigen und wechselfähigen Willen der Beteiligten nicht möglich wären.“

„Wenn die Regierung niedergeschlagen ist, wenn die Produktionswerkzeuge für alle Arbeiter erobert sind, wenn die Aufzwingung neuer Gesetze und die Schaffung einer neuen privilegierten Klasse durch eine neue Regierung verhindert sind, dann wird die Revolution in ihrem Entwicklungsgang den von praktischen Notwendigkeiten gezeichneten Linien folgen, die allmählich durch freies Experimentieren modifiziert werden. Einstweilen wird die Revolution sofort geben, was sie kann, nämlich was die Massen (einschließlich der Männer mit Ideen, Propagandisten, Intellektuellen, technischer Experten etc.) zu leisten imstande sind unter einem System des weitesten Föderalismus im topographischen Sinn und in bezug auf die Verteilung der Funktionen“. . . .

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Im Artikel Insurrezione, Libertà e Dittatura sagt er dem Kommunisten A. Viglongo, der im Turiner Avanii geschrieben hatte (U. N., 27. August): . . . „Nach einem Sieg durch eine Insurrektion wird es notwendig, die Revolution zu verwirklichen und zu verteidigen: einverstanden.“

„Aber die Gefahren, in denen eine Revolution schwebt, kommen weder ausschließlich noch hauptsächlich von seiten der für die Wiederherstellung der alten Zustände konspirierenden und ausländische Intervention anrufenden Reaktionäre: sie entspringen auch der Möglichkeit, daß die Revolution entartet, sie kommen von denen, die sich vordrängen, die als Revolutionäre von heute oder von gestern noch eine Bourgeois-Mentalität und Bourgeois-Gefühle behalten haben und die Revolution in eine ganz andere Richtung als in die der Gleichheit und Freiheit abzulenken suchen.“

„Wenn man glaubt, daß das Proletariat unfähig sei, sich gegen die Reaktionäre, die früheren Bourgeois zu verteidigen, ohne sich einer Diktatur zu unterwerfen, die, welches immer ihr Name sein möchte, notwendigerweise eine militärische Diktatur wäre, dann muß auch zugegeben werden, daß es unfähig ist, den Eingriffen der Macht und ihren reaktionären Folgen zu widerstehen. Und in so einem Fall kann man der Revolution Lebewohl sagen! . . . Wenn das Proletariat die Aufzwingung einer Diktatur unter der Illusion erlaubt, daß diese Diktatur sich seiner Interessen annehmen werde, wird ihm das gleiche geschehen wie dem Pferd in der Fabel, das, um besser den Hirsch verfolgen zu können, dem Menschen erlaubte, ihm Sattel und Zaum anzulegen . . . und das von diesem Tag an Sklave des Menschen blieb.“

„Die Diktatur würde mit der Bildung einer in ihren Diensten stehenden bewaffneten Organisation, beginnen, die auch gegen mögliche Invasionen und reaktionäre Anschläge dienen könnte, deren Hauptfunktion aber wäre, den Widerstrebenden den Willen der Diktatoren aufzuzwingen und dieselben möglichst lange im Besitz der Macht zu erhalten. Sie würde alle öffentlichen Funktionen Personen anvertrauen, die ihr dienstbar sind, ihren eigenen Freunden privilegierte Stellungen geben und eine Klasse professioneller Soldaten und Beamten schaffen, welche diese Regierung unterstützen oder gegebenenfalls durch Leute, die kein revolutionärer Ursprung bemakelt, ersetzen werden. Große Gehälter, einträgliche Stellungen, mit Regierungsämtern verbundener Profit, diese werden dann zur Wiederherstellung des individuellen Eigentums führen . . . und damit halten wir wieder am Ausgangspunkt. . . . Wenn die Kommunisten mit uns zusammen arbeiten wollen oder, wenn sie dies lieber hören, wenn sie unsere Mitarbeit annehmen wollen, um die Insurrektion vorzubereiten und auszuführen, sind wir immer dazu bereit. Wenn sie nach einer siegreichen Insurrektion uns unsere Freiheit lassen wollen, können wir uns immer noch dahin verständigen, daß jeder von uns sein eigenes Experiment mit einem Minimum von Reibungen betreibt; — wenn keine Verständigung stattfindet, würden wir darauf achten, daß wir respektiert werden.“

„Wenn aber an Stelle dessen die Kommunisten der Zusammenarbeit mit Anarchisten die Bedingung zugrunde legen, daß wir ihr Programm annehmen und uns ihrer Partei unterwerfen sollen, sobald sie (in Italien) konstituiert sein wird, dann ist es besser, nicht mehr von der Sache zu reden und jeder für sich zu handeln“. . . .

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Ancora su Communismo e Anarchia (U. N., 5. September 1920):

. . . „Nach der klassischen Formel gibt im Kommunismus jeder seiner Fähigkeit entsprechend und erhält seinen Bedürfnissen entsprechend.“

„Man versuche einmal diese Formel auf dem Wege der Autorität, durch allen gewaltsam aufgezwungene Gesetze und Regierungsdekrete durchzuführen!“

„Welches ist der Maßstab der Fähigkeiten eines Menschen, und wer kann dieselben beurteilen? Welches ist die Grenze vernünftiger Bedürfnisse und wer kann diese Grenze bestimmen und durchsetzen?“

„Die Fähigkeiten und auch die Bedürfnisse der Menschen sind sehr verschieden nach Ort, Beruf, Individualität und wechseln von Stunde zu Stunde. Wie ist es möglich und vorstellbar, daß eine Regel auf alle angewendet werden soll? Und wer ist das Genie, der Gott, der eine solche Regel diktieren könnte?“

„Ein Kasernenleben läßt sich durchführen, bei dem der einzelne erstickt und keiner befriedigt ist, bei dem formale, scheinbare Gleichheit besteht, in Wirklichkeit aber die odioseste und albernste Ungleichheit; ferner können Kasernen nur bestehen, weil die Führer, diejenigen, die ihren Willen aufzuzwingen wußten, sich selbst von der allgemeinen Regel ausnehmen und die Masse beherrschen und ausbeuten. Aber eine kommunistische Gesellschaft ist nur möglich, wenn sie spontan durch freie Vereinbarung entsteht, wenn sie verschiedenartig und Wechselfähig ist, sobald die äußeren Umstände und der Wunsch, der Wille jedes einzelnen dies verlangen.“

„Die erwähnte klassische Formel hält nur stand, wenn sie durch diese andere Formel interpretiert wird: Jeder gibt und nimmt, was er geben und nehmen will (ciascuno dà e prende ciò che vuole). Und dies setzt Ueberfluß und Liebe voraus (labbondanza e l’amore).“

„Ueberfluß wird durch erzwungene Arbeit nicht vermehrt, sondern vermindert, weil erzwungene Arbeit einen Interessen- und Gefühltsgegensatz zwischen dem Arbeiter, der die Arbeit ausführt, und dem, der die Idee konzipiert und den Auftrag gibt, verursacht. Liebe, der Geist der Brüderlichkeit, Geneigtheit, sich zu verständigen, miteinander Geduld zu haben, sich gegenseitig zu helfen, entstehen und entwickeln sich gewiß nicht durch Gesetze und Gendarmen.“

„Um möglich zu sein, um wirklich eine Kommunion der Seelen und der Dinge zu sein, und nicht eine Rückkehr zur Sklaverei, muß der Kommunismus lokal entstehen, unter verwandten Gruppen, durch Erprobung der materiellen Vorteile, welche er bringt, durch die Sicherheit, die er gibt, durch die Befriedigung der Gefühle der Geselligkeit und Herzlichkeit, die in der Seele jedes menschlichen Wesens ruhen und sich äußern und entwickeln, sobald nur der Zwang des gegenseitigen Kampfes um das eigene Leben und das unserer Lieben aufhört.“

„Mit einem Wort: der Kommunismus muß im Gefühl vorhanden sein, bevor er an den Sachen verwirklicht wird.“

„Es ist so wie in einer Familie oder in einer Gruppe von Genossen, die zusammen leben. Sie leben im Kommunismus, wenn sie einander lieben und im Ausmaß der Größe dieser Liebe. Das meiste wird dem schwächsten und dem, der es am meisten braucht, gegeben, und alle sind nur froh und stolz, zum gemeinsamen Wohl beizutragen, wenn Einverständnis und Liebe zwischen ihnen bestehen. Wenn sich Gewalt und Autorität einnisten, beginnt sogleich der Konflikt der Interessen, und die Familie ist aufgelöst.“

„Die autoritären Kommunisten sagen gewöhnlich, daß Autorität, Regierung, Diktatur im Anfang nötig seien, „provisorisch“, sofort nach dem Triumph der Insurrektion, um die Gesellschaft zu organisieren; wenn dies geschehen sei, seien auch sie bereit, die Anarchie zu akzeptieren.“

„Das gerade Gegenteil wäre vielmehr das richtige. Wenn die Kommunistische Gesellschaft gut organisiert ist und zur Zufriedenheit des ganzen Landes funktioniert, dann würde die Frage der Autorität nicht länger existieren, und die Verwaltung von Sachen im Interesse und mit der Teilnahme von allen würde nicht länger eine Herrschaft über Personen zulassen. Aber wenn statt dessen die Aufgabe vor uns liegt, den Kommunismus möglich zu machen und einzurichten, dann ist die Autorität verhängnisvoll, weil sie jede Spontaneität und jede Eigenart erstickt, weil sie die Interessen von Individuen und Kollektivitäten unter die der regierenden Kaste stellt, weil sie im besten angenommenen Fall mit Gewalt dieses Gute aufzwingen will, das nur bestehen kann, wenn es freiem Willen entspringt.“

„Der Kommunismus muß sich graduell entwickeln im Maße, es die äußeren Verhältnisse und die Entwicklung des moralischen Gefühls erlauben.“

„Um ihn zu erreichen, ist unserer Meinung nach notwendig und hinreichend, daß alle, die Freiheit und*) die Produktionswerkzeuge besitzen: daß keiner dem anderen seinen eigenen Willen aufzwingen kann und keiner den anderen zwingen kann, für ihn zu arbeiten. Und um diese Bedingungen herzustellen, halten wir die gewaltsame Revolution für notwendig. Ist einmal das materielle Hindernis (die Regierung), das sich ihrer Verwirklichung widersetzt, niedergeschlagen, dann würde jede Gewalt unnütz, schädlich, verbrecherisch sein.“

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Maggioranze e minoranze (Majoritäten und Minoritäten), U. N. 11. Sept. 1920: . . . „Niemand kann mit Sicherheit entscheiden, wer recht oder unrecht hat, wer der Wahrheit näher ist und welcher Weg zum größten Wohl der einzelnen und aller führt. Freiheit ist das einzige Mittel, um durch Erfahrung das Wahre und das Beste herauszufinden; und es gibt keine Freiheit, wo es nicht die Freiheit, sich zu irren, gibt.

Wir müssen also zum friedlichen und glücklichen Zusammenleben (convivenza) von Mehrheiten und Minderheiten gelangen durch freie Abmachungen, gegenseitiges Nachgeben, das intelligente Erkennen der praktischen Notwendigkeiten des kollektiven Lebens und des Nutzens von Vereinbarungen, welche die Verhältnisse notwendig machen.“

„Wir wollen niemand etwas aufzwingen, aber wir wollen von niemand uns einen Zwang auflegen lassen.“

„Glücklich, wenn andere das tun, was wir nicht selbst tun können, bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten auf allen Gebieten, wo wir einsehen, daß wir es nicht selbst besser machen können, verlangen und wollen wir für uns und für alle die Freiheit der Propaganda, der Organisation und des Experiments.“

„Die rohe Gewalt, materielle Macht von Menschen über Menschen, müssen aufhören, Faktoren des sozialen Lebens zu sein,“

„Wir wollen keine Gendarmen und werden sie nicht ertragen, weder rote noch gelbe noch schwarze!“

„Haben wir uns klargemacht?“

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Am 26. September 1920 gab der Avanti das Geheimnis der Diktatur preis, indem er schrieb: . . . „In Rußland, unter dem Sowjetsystem, leitet tatsächlich die Partei die ganze Staatspolitik und jede öffentliche Tätigkeit von Individuen und Kollektivitäten ist der Entscheidung der Partei untergeordnet; so ist tatsächlich die Diktatur des Proletariats die Diktatur der Partei und folglich die des Zentralkomitees selbst.“ — Hierzu bemerkte Malatesta (U. N., 28. Sept.), daß diesem zufolge in Italien die Exekutive der sozialistischen oder der künftigen kommunistischen Partei oder die der gemäßigten Syndikate (Confederazione del Lavoro) den Einfall haben könnten, sich als Diktatoren des italienischen Proletariats zu betrachten. Aber so etwas gibt es in Italien nicht; denn Anarchisten und (revolutionäre) Syndikalisten sind auch vorhanden. Wären diese so verhältnismäßig schwach, wie es vielleicht die Anarchisten in Rußland seien, dann wäre die Sache sehr einfach — die Diktatoren würden sich ihrer entledigen durch die jeder Diktatur lieben Mittel, den Galgen und den Kerker, und sie würden auf ihrem Weg weiterschreiten, bis sie von der Revolution oder von der Reaktion niedergeworfen würden.

Aber die Anarchisten in Italien seien zu zahlreich, als daß dies geschehen könne;[48]) „folglich würde eine autoritäre Revolution mit Diktaturbestrebungen in Italien notwendigerweise zum Krieg zwischen beiden Teilen der Revolutionäre führen.“

„Wir wünschen dies nicht, und die Sozialisten sollten es nicht wünschen.“

„Folglich wäre es das richtige für die Sozialisten, mit Beiseitelassen der Theorien und die Dinge realistisch betrachtend, jeder diktatorieilen Prätention zu entsagen und die libertäre Auffassung der Revolution anzunehmen: die einer Revolution, die sich verschiedenartig entwickeln würde nach den verschiedenen materiellen und moralischen Verhältnissen der einzelnen Regionen, Gemeinden, der verschiedenen Körperschaften, die eine verschiedene Färbung annehmen würde, je nach dem Vorwiegen der einen oder der anderen Partei in einer Gegend und die ein gemeinsames Ziel erreichen würde durch die allmähliche Angleichung der Interessen und der Willensmeinungen und nicht durch willkürlichen Zwang von oben.“

„Wenn die Sozialisten dieses Programm annehmen — die Freiheit von allen —, würde viel gegenseitiger Verdacht verschwinden, und wir könnten heute Zusammenarbeiten, um das jetzige Regime niederzuschlagen, und uns auch morgen helfen im Interesse einer glücklicheren Entwicklung der revolutionären Zukunft.“

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Noch eine Stelle über die anarchistische Aktion am Tage einer erfolgreichen Insurrektion. In Le Due Vie (August 1920, S. 9—10 der Broschüre) lesen wir:

„Wir Anarchisten wünschen, daß in jeder Lokalität die Arbeiter oder genauer jener Teil der Arbeiter, die am meisten bewußt sind und den größten Initiativgeist besitzen, in Besitz nehmen alle Arbeitswerkzeuge, alle Reichtümer, das Land, die Rohstoffe, Häuser, Maschinen, Nahrungsmittel usw. und so gut als möglich die neue Form des sozialen Lebens durchführen. Wir wünschen, daß die Landarbeiter, die heute für Landbesitzer arbeiten, deren Rechte nicht mehr anerkennen und intensiv auf eigene Rechnung arbeiten und mit den Industrie- und Verkehrsarbeitern in Verbindung treten zum Produktenaustausch; daß die Industriearbeiter, Ingenieure und Techniker einbegriffen, Besitz ergreifen von den Fabriken und die Arbeit fortsetzen und intensiver gestalten auf eigene Rechnung und die der Gesamtheit, indem sie sofort diejenigen Fabriken, die heute unnütze oder schädliche Gegenstände hersteilen, in Fabriken zur Herstellung der vom Publikum am dringendsten gebrauchten Gegenstände umgestalten; daß die Eisenbahner die Eisenbahnen weiter betreiben, aber im Dienst der Gesamtheit; daß Komitees von Freiwilligen und von der Bevölkerung Gewählten, unter der direkten Kontrolle der Masse, Besitz ergreifen von allen verfügbaren Häusern, um, so gut es der Moment erlaubt, all die Bedürftigsten zu beherbergen; daß andere Komitees, immer unter der direkten Kontrolle der Massen, für die Approvisionierung und Verteilung der Lebensmittel sorgen; daß alle jetzigen Bourgeois in die Notwendigkeit versetzt würden, sich mit der Masse der früheren Proletarier zu vermengen und wie die anderen zu arbeiten, um dieselben Benefizien zu genießen wie die anderen. Und all das schnell, am Tage der siegreichen Insurrektion oder am folgenden Morgen, ohne auf Befehle von zentralen Komitees oder von irgendwelcher anderen Autorität zu warten.“ . . .

Da diese Frage ja eine der wichtigsten ist, so führe ich noch eine Stelle aus Umanità Nova, 7. April 1922, an, wo Malatesta, mit einem Republikaner sich auseinndersetzend, schreibt:

. . . „Nehmen wir den Fall der Monarchie an. Die Armee fraternisierte mit dem Volk oder gab auf eine andere Weise den Widerstand auf, die Polizei lief davon, die Behörden, der König einbegriffen, flüchteten oder entsagten sonstwie ihrer Macht.“

„Es ist unnötig, hier zu erörtern, wie die Bewegung begonnen und sich entwickelt haben mag, ob durch einen direkten Angriff auf die bewaffnete Staatsmacht oder indem die Arbeiter von den Fabriken Besitz ergriffen usw., wodurch der gewaltsame Zusammenstoß an die zweite Stelle träte.“

„Die Regierung ist gefallen! Was ist zu tun?“

„Nach der Niederlage der monarchischen Behörden, der Zerstörung der Polizeiformationen, dem Auseinandergehen der Armee, werden wir keine neue Regierung anerkennen, besonders nicht, wenn sie eine zentrale Regierung wäre, die die Prätention hätte, die Bewegung zu leiten und zu regulieren. Wir würden in die Arbeiter dringen, vollständig Besitz zu ergreifen vom Grund und Boden, Fabriken, Eisenbahnen, Schiffen, allen Produktionswerkzeugen, mit einem Wort, um schnell den neuen Produktionsprozeß einzurichten, indem für immer unnütze und schädliche Arbeit und provisorisch die Herstellung von Luxusartikeln eingestellt wird und die größte Mühe auf die Herstellung von Lebensmitteln und anderen unbedingt nötigen Gegenständen verwendet wird. Wir würden in sie dringen, daß sie alle vorhandenen Produkte sammeln und sparsam verbrauchen und den lokalen Verbrauch und den Austausch mit nahen und fernen Orten organisieren, den Forderungen der Gerechtigkeit und den Erfordernissen und Möglichkeiten des Augenblicks entsprechend. Wir würden uns um die Benutzung leerer oder nur wenig bewohnter Häuser in dem Sinn kümmern, daß niemand obdachlos bleibt und jeder einen der Dichte der Bevölkerung entsprechenden Wohnraum besitzt. Wir würden uns beeilen, Banken, Besitztitel und alles, was die Macht des Staates und die kapitalistischen Privilegien vertritt und aufs recht erhält, zu zerstören[49]), und wir würden uns bemühen, einen Zustand herzustellen, der die Wiedererrichtung der Bourgeoisgesellschaft uns möglich machen würde.“

„Und all das und was noch für die Bedürfnisse des Publikums und die Entwicklung der Revolution nötig ist, würde von Freiwilligen geschehen, von Komitees aller Art, von lokalen, interkommunalen, regionalen und nationalen Kongressen, welche das soziale Leben koordinieren würden durch den Abschluß der nötigen Konventionen, durch Rat und Ausführung des ihrer Meinung nach Notwendigen, aber ohne daß sie das Recht und die Mittel hätten, ihren Willen durch Gewalt aufzuzwingen; sie würden nur eine Stütze finden in dem Nutzen, den sie bringen und dem Erfordernis der Lage entsprechend, wie die beteiligten Teile dieselbe auffassen.“

„Vor allem, keine Gendarmen, unter welchem Namen immer es sei! Aber die Bildung freiwilliger Milizen, ohne daß sie, als Milizen, sich in das Zivilleben einmischen und nur zum Zweck, etwaigen bewaffneten Anschlägen der Reaktionäre oder Angriffen fremder Länder, die sich noch nicht im Revolutionszustand befinden, standzuhalten.“

„Bei der praktischen Durchführung würde diese Maßnahme gewiß Abänderungen erfahren, da die Anarchisten nicht die Gesamtheit der Bevölkerung sind und nicht, selbst wenn sie könnten, ihre Ideen mit Gewalt aufzwingen würden. Aber auf jeden, Fall würden die Anarchisten, während sie den Willen anderer respektieren und versuchen würden, mit ihnen Abkommen behufs friedlichen Zusammenlebens (una pacifica convivenza) zu treffen, die vollständige Freiheit der Propaganda und der Experimentation verlangen. Mögen die anderen tun, was sie wollen, wir wünschen auf keinen Fall, weder ausgebeutet zu werden, noch Befehle zu erhalten“[50]). . . .

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Für eine Kritik oder nähere Besprechung dieser Aeußerungen ist hier kein Platz; hierzu müßte auch das Material vervollständigt werden. Um Malatestas allgemeine Ideen vorzuführen, wählte ich aus, was er in dieser Zeit seiner reifsten fünfzigjährigen Erfahrung, inmitten der relativ größten und blühendsten anarchistischen Bewegung, die bis jetzt irgendein Land sah, und angesichts einer Situation schrieb, die sich mehr als irgendeine andere Periode am Vorabend einer sozialen Revolution zu befinden schien, ich meine den Sommer 1920 in Italien und die Zeit der Besetzung der großen Metallfabriken durch die Arbeiter.

Es ist leicht, ein von Zeit und Ort unabhängiges Idealprogramm zu entwerfen; hier sollte die unmittelbare Lage berücksichtigt werden. Wir sehen, daß jeder Versuch gemacht wird, das stets vorhandene Problem, wie eine vorläufig kleine Zahl von Anhängern einer Idee diesen Ideen Verwirklichung schaffen kann, auf freiheitlichem Wege zu lösen; es gibt da in der Tat nur zwangsweise Verallgemeinerung einer Idee durch Diktatur oder experimentelle Erprobung des Werts jeder Idee bei gegenseitiger Toleranz, für welche Malatesta den Ausdruck pacifica convvenza (friedliches Nebeneinanderleben) geprägt hat. Der experimentelle Sozialismus, der in den Schriften Gustav Landauers eine so schöne Blüte fand, findet also auch in Malatestas Ideen eine Stätte und nicht zum erstenmal, wie z. B. das aus dem Appell vom Herbst 1889 hier Angeführte (Kap. XV) zeigt. Wir sehen auch, wie er, selbstverständlich, verschiedene Entwicklungsgrade der Anarchie vor sich sieht, — die unmittelbare Grundlegung durch die sofortige und lückenlose kollektive Expropriation, welche eine Rückkehr zur alten Gesellschaft unmöglich macht und sofort alle in die neuen Verhältnisse versetzt[51]) und die allmähliche Ausarbeitung eines wirklich solidaristischen Zusammenlebens erst kleinerer, dann größerer Teile der neuen Gesellschaft auf Grund eines nicht mechanischen, sondern innerem Bedürfnis entsprechenden Kommunismus, wie er in zahllosen geeinigten Familien oder Gruppen immer bestanden hat. Dieser Anarchismus knüpft daher an das wirkliche Leben an und könnte nichts besseres tun; das Leben, das das Schicksal eines jeden Menschen verschieden gestaltet und keine mit Staats- oder Parteietiketten auf die Welt kommenden Menschenkinder kennt, ist ja selbst der größte, unbeugsamste und unzerstörbarste Anarchist, und ihm muß sich jede Theorie und jeder praktische Vorschlag zu nähern suchen.

Man vergleiche diese eine stets wachsende Liebe und Achtung der menschlichen Freiheit zeigenden Vorschläge der esperimentazione und convivenza (Experiment und Nebeneinanderleben) dieses alten und doch immer jungen Anarchisten mit dem brutalen und gierigen, jede Freiheit höhnisch mißachtenden Diktaturgeschwätz der zwischen gestern und heute aufgeschossenen autoritären Kommunisten, die mit all ihren Ideen in der Zwangsgesellschaft der Vergangenheit wurzeln und einen geistig greisenhaften Eindruck machen. Das blühende Leben, die Zukunft wird immer der Anarchie gehören.

XIX. Malatestas Tätigkeit in Italien vom Januar bis Oktober 1920.

Malatestas Propagandafahrten in Italien in den ersten neuneinhalb Monaten von 1920, seine Versammlungen, Vorträge, Teilnahme an Kongressen und Konferenzen usw. sollten hier angeführt werden, um die Intensität der damaligen Bewegung verständlich zu machen; aber ich kenne vorläufig einen Teil der Quellen, die Zeitschriften bis Ende Juni, selbst nicht. Man wollte ihn überall haben, und er tat, was er konnte. Dreierlei Formen nahm sein Leben an; er war in Mailand, und die Genossen der Zeitung suchten ihn für die Redaktionsarbeit bei sich zu behalten. Dann verlangte man ihn dringend für schon vorbereitete Versammlungen, und er eilt in die Provinz; hier wünschen dann die Nachbarorte, ihn auch zu sehen, und er gibt gutmütig nach und agitiert von Ort zu Ort. Ein dritter Fall tritt ein, wenn er etwas ermüdet ist und sich irgendwohin zurückzieht, auch um etwas Größeres in Ruhe auszuarbeiten. Aber dann wird sein Zufluchtsort doch entdeckt, und er muß sich der lokalen Propaganda zur Verfügung stellen, bis ihn seine Redaktion dringend braucht. Auf dem Kongreß von Bologna (Anfang Juli) war eine regelrechte Debatte hierüber, und eine Resolution besagt, man wünsche, daß er bei der Zeitung bleibe und nicht von den Genossen stets für anderes reklamiert werde. Aber nach diesem Kongreß selbst hielt man ihn gleich wieder in Toskana zurück, und ich sah einmal einen Appell der Redaktion in der Zeitung, ihn doch endlich zurückkommen zu lassen. Seine eigene bescheidene Meinung, wie er sie auf dem Kongreß ausdrückte, war, daß die Zeitung ohne ihn gerade so gut sei, wie wenn er dort sei. Sie wurde auch in den sechs Monaten nach seiner Verhaftung tüchtig weitergeführt; von den Redakteuren seien nur Carlo Frigerio[52]) und G. Damiani genannt.

Schon Ende Januar verfügte die Behörde von Florenz Malatestas Verhaftung wegen einer Versammlungsrede, ein an sich ungesetzliches Vorgehen. Man wagte nicht, ihn in einer großen Stadt zu verhaften und nahm ihn aus dem Eisenbahnzug zwischen Livorno und Florenz heraus, gerade in Tombolo, einer der kleinsten und abgelegensten Stationen. Er wurde in ein Auto gesetzt und mit Handfesseln schnellstens nach Florenz gebracht. Aber die ihn begleitenden Genossen kehrten nach Livorno zurück, und als sich die Nachricht verbreitete, wurde sofort der allgemeine Streik beschlossen, der sich in wenigen Stunden auf ganz Italien ausgedehnt hätte. Dies bewirkte, daß das Gericht ihn nach einigen Stunden freiließ und einen Schwurgerichtsprozeß in Aussicht stellte. Im Oktober 1920 hätte er gleichfalls bis zum Prozeß müssen freigelassen werden, blieb aber über neun Monate in Haft; dies beweist, daß ein solcher schon im Januar gehegter Plan, ihn durch endlose Untersuchungshaft lahmzulegen, wirklich nur durch den sofortigen Gegendruck der Arbeiter von Livorno vereitelt wurde.[53])

Als die Umanità Nova begann, schlossen sich ihr Anarchisten aller Richtungen an, weil man die Revolution für unmittelbar bevorstehend hielt; später lockerte sich dieser Zusammenhang, und die individualistische Opposition machte sich wieder geltend. Ueber diese Verhältnisse, die auch 1922 weiterbestehen, sagt Malatesta (Dichiarazioni personali, U. N. 22. März 1922), daß die Illusion der bevorstehenden Revolution das Zusammengehen herbeiführte. Jetzt (1922) prüfe jeder sein Gewissen und schlage ein eigenes Aktionsprogramm vor; dadurch werde das Zusammenarbeiten verschieden Denkender oft schwer und lähme die ganzen Bemühungen. Er wisse noch keinen Ausweg. Er selbst hätte nach dem Ende der Periode fieberhafter Tätigkeit lieber die Zeitung verlassen und auf andere Weise gewirkt, aber er wurde von allen Seiten gebeten, die Zeitung nicht zu verlassen, und so zwang er sich, wurde versöhnend, farblos, mehr als sein Temperament und das Interesse der Propaganda hätte erlauben sollen. Diese Klagen eines vielbeschäftigten Mannes, der es allen recht machen soll, ändern nichts an der erfreulichen Tatsache, daß im Moment der erwarteten Aktion er und viele andere ihre Meinungsunterschiede beiseite ließen, soweit sie Anarchisten waren.

Denn eine weitergehende Absicht, die der einen revolutionären Front für die Insurrektion gegen die Regierung und die Niederwerfung des Kapitalismus, hatte nur ein Scheinleben. Am 13. März 1920 z. B. schrieb er in diesem Sinn und verlangte für die Zeit nach dem gemeinsamen Sieg das Recht voller Freiheit zur autonomen Organisation und versuchsweisen Durchführung der anarchistischen Methode; das übrige werde sich im Maß der Verbreitung dieser Ideen ergeben. Es sei nicht einmal wünschenswert, daß die Anarchisten allein die Revolution durchführten, weil sie dadurch unausweichlich zu einer herrschenden Klasse würden und in Widerspruch mit ihren Ideen gerieten (resümiert nach Le Libertaire, 28. März). — Die Besetzung der Fabriken, die Idee, beim Streik im Besitz der Produktionsmittel zu bleiben und nicht draußen zu stehen, wird schon im März oder April diskutiert (nach Vie ouvrière, 16. April). — Malatesta wendet sich besonders an die einfachen Mitglieder, the rank and file der Arbeiterorganisationen, welche die gemeinsame Sache unterstützen würden, nicht die Führer. Die Kapitalisten beuten alle aus, die Gendarmen schießen auf alle — möge dies eine Lehre der Solidarität sein (nach Le Libertaire, 18. April).

Nachdem am 22. Juni in Mailand eine ungeheure Versammlung im Freien den streikenden Eisenbahnern ihre Sympathie ausgedrückt (Malatesta in seiner Rede bot die Solidarität des allgemeinen Streikes an, wenn die Eisenbahner es wünschten), wurden auf die zurückkehrenden Arbeiter von Gendarmen und Faszisten Angriffe gemacht; fünf junge Arbeiter wurden erschossen und viele verwundet. Malatesta (wie er U. N., 25. Juni schrieb) „kehrte zum Stadtzentrum zurück und sah plötzlich eine auseinanderlaufende Masse vor sich und hörte das Zischen der Kugeln; er stellte sich unter ein Haustor. Was hätte er tun sollen? Sich töten lassen, um diesen Herren eine Freude zu machen? .... An dem Tag, an dem wir denken imstande zu sein, zu kämpfen — wir, nicht jene —, werden wir auf unserem Posten sein und alle unsere Pflicht tun. Das bedeutet nicht, daß wir auf der Straße stehen werden mit offener Brust, um uns auf dumme Weise töten zu lassen zur Befriedigung derjenigen, die aus dem sicheren Hinterhalt hinter ihren Fenstern (wie es geschehen war) auf uns schießen werden. Wir mögen getötet werden, wenn es nötig ist, aber wir werden nicht Selbstmord begehen. Wir wollen siegen und werden siegen“. Dies als Antwort auf infame nationalistische Angriffe, die ihm den Schutz mißgönnten, den ihm der Torweg geboten hatte (vgl. U. AL, 3. Juli). — Er sagte beim Begräbnis der

Opfer: . . . .„Unser hohes Ideal ist nicht Gewalt, sondern Friede, eine Gesellschaft von Freien und Gleichen, in der Konflikte und Massakres unmöglich sein werden. Die Gewalt ist nicht bei uns, sondern bei jenen, bei der herrschenden Klasse, welche die Schwächeren unterdrückt, zu Boden tritt und mordet. Es bleibt dem Proletariat nichts übrig, als gewaltsam gegen die Gewalt jener zu reagieren und dem Blei Blei entgegenzusetzen, um der Gewalt ein Ende zu machen“ (U. N., 26. Juni).

Die Lage schien sich bedeutend zu verschärfen, als in Ancona eine Militärrevolte stattfand, Soldaten, die sich weigerten, nach Albanien geschickt zu werden. Aber vielleicht erschöpften die vielen isolierten Bewegungen die lokalen Kräfte. Vielleicht zögerte man zu lange, und statt auf andere Art entscheidender vorzugehen, wurde erst wieder versucht, gemeinsam eine Amnestie und die Befreiung der zahllosen politischen und militärischen Gefangenen zu verlangen. Dies führte zu mühsamen Verhandlungen mit allen sozialistischen und Gewerkschaftsorganisationen, deren Führer eine Verschleppungstaktik anwendeten und so der Regierung immer wieder halfen, die Wochen und Monate dieses Sommers dahingehen zu lassen; ihr Plan war, daß sich der Enthusiasmus abkühlen oder lokal erschöpfen solle und die durch Malatestas Persönlichkeit gebrochene Isolierung der Anarchisten wieder eintrete. Denn die Führer, denen angesichts der zahlreichen Anarchisten und anderer Verhältnisse eine Moskauer Herrlichkeit für sie nicht erreichbar schien, zogen die Erhaltung des Kapitalismus vor, der sich mit ihrer Stellung als Zwischenhändler zwischen Kapital und Arbeit ja längst abgefunden hat und sie als unentbehrliche Stützen der kapitalistischen Weltordnung betrachtet. Jetzt sollte das anders werden, und vielleicht hätten sie gar in der neuen Gesellschaft wieder arbeiten müssen! — das ging doch nicht. Diese Leute machten sich ganz klein, als Malatesta die Sympathien so vieler ihrer einfachen Mitglieder gewann, aber sie hörten natürlich nie auf, die erwartete Bewegung zu sabotieren, und als Giolitti wieder Minister wurde, fühlten sie wieder festen Boden unter den Füßen — das war der Mann nach dem Herzen der Kapitalisten und der Arbeiterführer, und alle diese „Herzen“ schlugen ihm entgegen.

Die Vorgänge von 1920 sind längst Geschichte und sind auch durch den Mailänder Prozeß von 1921, dessen Einzelheiten ich nicht hinreichend kenne, so sehr von feindlicher Seite durchgestöbert worden, daß eine Kritik derselben niemand schaden kann und nur nützlich wäre. Für mich in der Ferne ist sie unmöglich; ich kann mich nur über manches wundern. Man war zu gut, zu vertrauensvoll, zu siegesbewußt, scheint mir, und es fehlte jemand, der „den Teufel im Leib hatte“, wie Bakunin manchmal sagte; auch der beste Explosivstoff, und gerade der, wirkt nicht ohne einen letzten Anstoß und verpufft, wenn nicht richtig plaziert. Man staunt, wenn mitten in dieser kritischen Zeit ein großer Kongreß (der zweite) der Unione Anarchica Italiana in Bologna stattfindet (1.—4. Juli). Malatesta war anwesend und berichtete über eine Prinzipienerklärung; dies ist wohl das Programma anarchico approvato dal Congresso dell’ Unione Anarchica Italiana in Bologna, mir noch nicht bekannt. In der Diskussion über einen Patto d’alleanza fra gli anarchici stoßen die organisierende und die individualistische Richtung, wie so oft, zusammen; Malatesta findet die Formel zur Vereinigung beider: „individuelle Autonomie, begrenzt durch die Verpflichtung, eingegangene Versprechen zu halten“. Er spricht auch über den fronte unico (die eine Front), man brauche die Hilfe aller, welche die Revolution wollen, weil der Anarchismus nicht verwirklicht werden kann, bevor der Boden erst freigemacht ist; wir müssen uns der Masse nähern, nicht den Führern.

Hier wird beschlossen: „der Kongreß billigt und ratet, daß — außerhalb der bestehenden Parteien und Organisationen — lokale Aktionsgruppen gebildet werden aus allen Elementen, die sich verpflichten, bei der ersten sich darbietenden oder vorausgesehenen Gelegenheit zur Aktion zu schreiten (scendere sul terreno dei fatti), um die bestehenden Einrichtungen mit allen Mitteln zu stürzen.“ Diese nuclei locali d’azione spielten in der Mailänder Untersuchung eine ziemliche Rolle, ohne daß etwas über ihre etwaige Verwirklichung an den Tag kam, soviel ich bis jetzt weiß. Dies war der einzige praktische Beschluß des Kongresses, und es ist merkwürdig, daß darüber damals noch ein Beschluß zu fassen war; an diesen lokalen Aktionsgruppen fehlte es eben in jenem Jahr, und der schöne Kongreß erscheint (aus der Ferne betrachtet) als Kraftverschwendung, solange dieser Mangel bestand.

Man besprach auch die internationalen Beziehungen und einen internationalen Kongreß zur Rekonstruierung der Internazionale Anarchica (Vorschlag von Binazzi und Boldrini).

Eine Resolution Boldrini und Malatesta protestiert dagegen, daß an manchen Orten Arbeiter in Organisationen gezwungen werden durch die Drohung, sie dürften sonst nirgends arbeiten. Dies beraube solche Organisationen jedes idealistischen Charakters und trage in sie Keime der Auflösung.

In einer syndikalistischen Diskussion sagte Malatesta, es sei nicht wahr, daß die Anarchisten mit der Unione Sindacale ltaliana nur kalte Beziehungen hätten; das Gegenteil sei der Fall. Er persönlich danke es zum großen Teil dem Vorgehen der U.S.L, daß er nach Italien kommen konnte (U. N., 10. Juli). Diese Organisation wurde durch den Kongreß von Modena, 1912, gegründet; ihr Sekretär Armando Borghi war bald Malatestas Kamerad im Gefängnis und im Prozeß von Mailand.

Die Korrespondenzkommission der Unione Anarchica ltaliana befand sich in Bologna.

Am 12. Juli wurde in den Räumen der Umanità Nova, in Malatestas Wohnung und in der Unione Anarchica Milanese, der er angehörte, unter dem ganz fiktiven Vorwand einer Lotterie gehaussucht (U. N., 15. Juli).

Die Delegiertenkonferenz der großen Organisationen zur Befreiung der Gefangenen kam endlich in Florenz am 15. August zusammen (Malatesta und Bonazzi für die U.A.I.). Diese Konferenz wies jeden Kontakt mit den republikanischen Führern zurück wegen deren Haltung im Krieg, ohne die Solidarität mit republikanischen Arbeitern zu verwerfen (Malatesta schrieb hierüber einiges). Die Wirkungslosigkeit einfacher Streiks wurde betont, und andere Mittel sollten geprüft werden. Ich übergehe die Windungen und Krümmungen der gemäßigten Führer, die schließlich zu einer weiteren Konferenz in Bologna (28. August; Malatesta und Bonazzi Teilnehmer) erschienen. Hier wurde das Manifest angenommen, das vom Partito Socialista Italiano neben der Unione Anarchica ltaliana und von der Confederazione Generale del Lavoro neben der Unione Sindacale ltaliana, sowie vom Avanti und der Umanità Nova usw. unterzeichnet ist (U. N., 31. August). All dies blieb wirkungslos und darf wohl, so wertvoll der Zweck war, als Kräftezersplitterung betrachtet werden.

Noch eine letzte, unerwartet große Chance hatte die Revolution. Die Metallarbeiter hatten etwa am 20. August in den Fabriken die obstruierende Tätigkeit begonnen (obstruzionismo operaio), und Ende August und Anfang September vollzog sich die wunderbare und bis dahin, leider auch seit damals, einzige Erscheinung der Okkupation der Fabriken durch die Arbeiter, eine tatkräftige, entschlossene Besetzung in grimmem Schweigen, zu bewaffnetem Widerstand gerüstet, während die Arbeit ihren Lauf nahm, die erste Aussperrung der Kapitalisten nach unzähligen Aussperrungen der Arbeiter.

Diese Ereignisse sind noch hinlänglich bekannt und brauchen hier nicht beschrieben zu werden.[54]) Sie wurden in Umanità Nova in sehr interessanten Artikeln Tag für Tag kommentiert, die den besten Rat gaben, wie die Bewegung zu konsolidieren und auszubauen sei. Man sah bald, daß vor allem eine Ausdehnung der Aktion nötig sei, zu den Produzenten der Rohstoffe und deren Importeuren und den Transportgewerben hin, dann von den Fabriken zu den Maschinenbenutzern, besonders der Landwirtschaft und wieder von den Kooperativen usw., die landwirtschaftliche Produkte sammeln, zu den Fabrikarbeitern, die Lebensmittel brauchten und Werkzeuge und Maschinen liefern konnten; auch von den Fabriken zu den russischen Bauern, die Werkzeuge brauchten, und von denen man Weizen erwartete, wenn die Seeleute und Eisenbahner darauf bestanden hätten, diese Gegenstände zu befördern, statt beständig Kriegsmaterial und Soldaten überall hinzubringen, wo sie für kapitalistische Kriege und die Unterdrückung von Volksbewegungen gebraucht werden. Nichts von all dem geschah, aber die Lehre ist nicht verloren, und der Mechanismus der Expropriation kann nicht beim ersten Versuch vollendet sein.

Es wurde auch von allen Feinden und Zauderern beständig betont, daß ein revolutionäres Italien von den allmächtigen kapitalistischen Staaten, die das Geschick der gegenwärtigen Menschheit bestimmen, von England und den Vereinigten Staaten werde boykottiert und per Blockade behandelt werden. Ich glaube, daß, wenn wirklich eine italienische Revolution stattgefunden hätte, selbst diese letzten Zwingbürgen des Kapitalismus bei sich zu Hause Arbeit genug gefunden hätten; übrigens war, wie noch jetzt die Diskussionen von Genua zeigen, ihr Versuch, dem Revolutionären Rußland den Garaus zu machen, noch immer kein ungetrübter Erfolg. Diese Frage wurde in der U. N. besonders sorgfältig behandelt; die Artikel Fattori economici pel successo della rivoluzione sociale (Oekonomische Faktoren des Erfolgs der sozialen Revolution) erschienen auch als Broschüre (Mailand, 1920); der bekannte Epifane zeichnende Verfasser untersucht die ökonomischen Ressourcen Italiens und was Arbeiter und Bauern einmütig arbeitend gegen Boykott und Blockade leisten könnten.

Malatesta, der Ende August in Greco bei Mailand einen Vortrag hielt (U. N., 28. August), besuchte einige Mal die besetzten Mailänder Metallfabriken (graphisch geschildert in U. N., 12. September); er wurde in den „roten Laufgräben“ (trincee rosse), wo damals die „einheitliche Front“ wirklich bestand, enthusiastisch begrüßt. Er forderte auf, die Position zu halten, sie nicht aufzugeben, oder sie würden als Sklaven wiederkommen.

Wenn er nicht die ganze Zeit über gefühlt haben muß, daß die Arbeiter von den erschreckten Führern verraten wurden, die nur nach einem Abkommen mit den Kapitalisten suchten, um der revolutionären Situation ein Ende zu machen, und daß er und seine Freunde, die dies sahen, zu schwach waren, daran etwas ändern zu können, so müßten diese Besuche zu den glücklichsten Momenten seines Lebens gezählt haben, und vielleicht tröstet ihn, daß die beiden Lehren, die Macht der Arbeiter, wenn sie nur wollten, und der Verrat der Führer nicht so bald vergessen würden. Er stand wieder für einige Stunden auf freiem Boden, nicht mehr in der Ruine von Castel del Monte und im Schnee der Mateseberge, sondern mitten in der industriellen Hauptstadt Italiens, in mächtigen Fabriken, aus denen die Kapitalisten hinausgewiesen waren, und in denen die Arbeiter selbst, frei und brüderlich, ihre Angelegenheiten besorgten. Die servitude volontaire (freiwillige Knechtschaft), das Grundübel, an dem das Volk krankt, schien ein Ende zu haben; leider nur scheinbar, denn der Verrat der Führer war längst am Werk, sie in die Knechtschaft zurückzulocken.

Eine Ansprache Malatestas bei einem solchen Besuch (aus U. N. in Vie ouvrière, 8. Oktober), als der Verrat schon besiegelt war, lautet ungefähr:

„Diejenigen, die das in Rom Unterzeichnete Abkommen (zwischen der Confederazione und den Industriellen) als einen großen Sieg von euch feiern, täuschen euch. Der Sieg gehört tatsächlich Giolitti, der Regierung, der Bourgeoisie, die vor dem Abgrund gerettet sind, über welchem sie hingen.“

„Nie war die Revolution in Italien näher und hatte soviel Aussicht auf Erfolg. Die Bourgeoisie zitterte, die Regierung stand der Lage machtlos gegenüber. Macht und Gewalt wurden nicht zur Anwendung gebracht, weil ihr der Macht der Regierung eine höhere Macht gegenüberzustellen verstandet, weil ihr durch die Eroberung der Fabriken, die ihr mit den Mitteln zu Schutz und Trutz versehen habt, die ihr im Krieg gelernt habt, gezeigt habt, daß ihr der Gewalt Gewalt entgegenstellen würdet, und daß diesmal nicht ihr, sondern eure Feinde sich im Zustand der Inferiorität befinden.“

„Von Sieg zu sprechen, wenn die Abmachung von Rom euch unter die Bourgeoisausbeutung zurückwirft, die ihr hättet loswerden können, ist eine Lüge. Wenn ihr die Fabriken aufgebt, tut das mit der Ueberzeugung, eine große Schlacht verloren zu haben, und mit der festen Absicht, den Kampf bei erster Gelegenheit wieder aufzunehmen und gründlich durchzuführen. Ihr werdet die Unternehmer aus den Fabriken vertreiben und werdet sie nur als Arbeiter, als mit euch Gleiche zurückkommen lassen, die bereit sind, für sich und alle anderen zu arbeiten. Nichts ist verloren, wenn ihr euch keiner Illusion hingebt über den täuschenden Charakter des Sieges. Das berühmte Dekret über die Fabrikkontrolle ist ein Spott, weil es zur Entstehung einer neuen Schar von Beamten führt, die euren Reihen entstammen, aber nicht mehr eure Interessen, sondern ihre eigene neue Stellung verteidigen werden, und weil es eure Interessen und die der Bourgeoisie harmonisiert, was einer Harmonie zwischen denen des Wolfs und der Schafe gleichkommt. Glaubt nicht jenen eurer Führer, die Narren aus euch machen, indem sie die Revolution von Tag zu Tag verschieben. Ihr selbst müßt die Revolution machen, wenn eine Gelegenheit sich darbietet, ohne auf Befehle zu warten, die nie kommen, oder die nur kommen, um euch aufzutragen, vom Handeln abzustehen. Vertraut auf euch selbst, hebt den Glauben an eure Zukunft, und ihr werdet siegen.“[55])

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Unaufhaltsam folgte nun die Reaktion. Ich will noch seine letzten Artikel und Reisen erwähnen, die ihn bei der propagandistischen und polemischen Tagesarbeit zeigen. La psicosi autoritaria del Partito Socialista (U. N., 3. Oktober), Anche questa! A proposito di massoneria (7. Oktober) und La dittatura di . . . Malatesta! (12. Oktober) sind die drei letzten damaligen Artikel, die ich kenne. Er vergleicht das autoritäre Treiben von Marx und von Lenin in deren respektiven Internationalen; Lenin wird die seinige ebenso ruinieren wie einst Marx. Die Freimaurererinnerung von 1875—76 ist in Kap. IX angeführt. Im letzten Artikel nimmt er sich einen jungen Gegner vor, der sich für sehr modern zu halten scheint. „Aber die Wahrheit ist die — schließt er mit Humor —, daß das, was Sie und ich sagen, Sachen sind, die man schon ganz genau wußte in der prähistorischen Zeit (wie Simplicio [ein Hauptmitarbeiter des Blattes] sagt, damit ich mich ärgere), als ich ein kleines Kind war.“ Kaum eine Woche später saß er im Kerker, und es wurden ihm wieder neun Monate seines Lebens genommen.

Er hatte in diesen letzten Wochen die Wiedereröffnung der Modernen Schule in Clivio begrüßt (3. Oktober), die von der Regierung seitdem wieder geschlossen wurde (U. N., 17. Februar 1921), und er kam mit den Vorstandsmitgliedern (22 von 30) der Unione Anarchica ltaliana auf ihrer Halbjahreskonferenz in Bologna am 10. Oktober zusammen; er berichtete dort über die Aktion für die politischen Gefangenen, und es wurde auch beschlossen, mit der holländischen sozialistisch-anarchistischen Föderation, welche einen internationalen anarchistischen Kongreß vorgeschlagen hatte, in Verbindung zu treten (U. N., 14. Oktober 1920).

 

XX. Malatestas Verhaftung (Oktober 1920), Gefängnis und Prozeß in Mailand (Juli 1921). Die zweite Umanitä Nova (Rom, seit 1921). Seine gegenwärtige Tätigkeit. Schluß.

 

Als nach dem sang- und klanglosen Ende der so hoffnungsvoll begonnenen Besetzung der Metallfabriken die Regierung Giolitti ihre Zeit gekommen sah, brachte jeder Tag einen brutalen Schlag gegen die Bewegung, den man wenige Wochen vorher nicht gewagt hätte. Am 12. Oktober wurde Armando Borghi, der Sekretär der Unione Sindacale Italiana in Mailand auf Grund eines Verhaftbefehls vom 20. Juli verhaftet, auch seine Frau, Virgilia St. Andrea, die seine Arbeit übernommen hatte, und am 21. ungefähr 25 in Bologna sich treffende Delegierte dieser Organisation von ungefähr 300 000 Mitgliedern (U. N., 14., 23. Okt., 28. Nov. 1920, 15. Febr. 1921; Vie ouvrière, 28. Nov.). Borghi blieb wie Malatesta viele Monate eingesperrt, um den syndikalistischen Teil der großen „Verschwörung“ vorzustellen.

Am 14. Oktober fanden in ganz Italien Versammlungen für die politischen Gefangenen und für das revolutionäre Rußland statt, um die Unterstützung der Reaktionsversuche in Rußland durch die Regierung zu verhindern. Eine zweistündige Arbeitsruhe (3—5 Nachmittag) bildete einen Teil dieser Demonstration, die fast überall ruhig verlief. Ein Straßenumzug in Bologna nach Beendigung der Versammlung zog schließlich durch enge Gassen an dem alten Gefängnis vorüber, wo vielleicht einige Rufe ausgestoßen oder eine Rede gehalten worden wären. Aber aus den Steinmauern des Gefängnisses oder einer Kaserne dicht dabei oder von unbekannter Seite fielen Schüsse; schließlich fand sich, daß ein Polizist und ein Detektiv getötet waren; vgl. I Fatti del Casermone del 14 octobre a Bologna, U. N., 21. Nov. 1920.

Dies gab endlich den gesuchten Vorwand zu allgemeinen Verhaftungen — in Mailand, wo am 15. die Räumlichkeiten der Umanità Nova überfallen, die Redaktion verhaftet, und alles durchsucht wurde, auch Malatestas Zimmer, der in Bologna war (U. N., 16. Okt.). Mehr als 80 Verhaftungen fanden in Mailand statt und am Morgen des 17. wurde Malatesta verhaftet, der gerade aus Bologna kam, die Redaktion aufsuchte und dann nach Hause ging, wo eine Schar Polizisten auf ihn wartete. Nach einem Verhör in San Fedele wurde er in das Gefängnis San Vittore gebracht, wo dann eine von Maschinengewehren flankierte Kanone beim Eingang aufgestellt wurde (U. N., 19. Okt.).

In U. N., 21. Nov. und 13. Febr. 1921 sind seine letzten Tage in Bologna erzählt. Es wird geschildert, wie neun Zehntel der Versammlungen, in denen er sprach, ohne ihn zu fragen zustande kamen. Er erfuhr nur, daß alles vorbereitet sei, die Ankündigungen gemacht, die Säle gemietet; er wurde nur abgeholt und von Ort zu Ort gefahren, und er fügte sich hinein, damit nicht die Mühe und Kosten verloren seien und die Zuhörer enttäuscht. Wenn er für einige Tage verreiste, hielt man ihn so wochenlang zurück, und die Redaktion telegraphierte vergebens nach ihm.

In Bologna wohnte er bei einem Freund, sich auszuruhen und ein Werk über die soziale Frage zu vollenden, das er 1913 oder 1914 unterbrochen hatte (sollte dies das im März 1912 erwähnte Buch sein? vgl. Kap. XVI.).[56]) Er konnte nicht abschlagen, am 14. Oktober in Bologna zu sprechen, der dritte von sechs oder sieben Rednern vor Zehntausenden auf einem großen Platz; seine Stimme drang nicht durch. Er hielt seine gewöhnliche ruhige und klare Rede ohne Rhetorik und Aufreizungen, die im Ausdruck gemäßigteste von allen Reden und doch legt ihm die Anklage eine in allen Teilen erfundene Version dieser Rede in den Mund. Nach dem Meeting schrieb er in der benachbarten Arbeiterkammer einen Brief über Freimaurerei an das lokale Tageblatt, den Resto del Carlino, der ihn denselben Morgen einen „fratello dormiente“ genannt hatte (vgl. U. N., 5. Dez. 1920 und Kap. IX). Während dieser Zeit kam die Nachricht von der Schießerei beim Gefängnis. Er blieb noch am 15. und 16. Oktober ungestört in Bologna.

Diesmal wurde keine allgemeine Anstrengung, ihn zu befreien, gemacht; wir lesen nur von einem sofortigen lokalen Streik in Carrara, den die Camera del Lavoro Sindacale erklärte (U. N., 21. Okt., auch 24., 27.), sonst aber beschränkte man sich auf Reden und Resolutionen und ein sozialistisches Manifest (Florenz; U. N., 22. Okt.). Dies erlaubte Giolitti im Manchester Guardian (1. Dez.) zu prahlen, daß kein Protest stattfand und eine Richtigstellung der Umanità Nova, welche die immerhin zahlreichen Protestresolutionen vorlegte, wurde von dem großen Blatt in Manchester seinen Lesern nicht vorgelegt (U. N., 19. Dezember).

Die Räumlichkeiten der Unione Anarchica in Bologna wurden am 17. Oktober überfallen und die Geschäftsbücher der Umanità Nova am 25. Oktober weggenommen, der Administrator eine Zeitlang verhaftet usw. (17. N., 26. Oktober).

Als Gefangener wurde Malatesta lange Zeit schmählich behandelt; alles geschah, um ihn physisch zu brechen. Er hatte Fieber und Bronchialkatarrh und wurde nicht gepflegt. Warme Speisen von außerhalb wurden ihm kalt vorgesetzt, und ein Thermophor, den die anderen haben durften, wurde ihm verweigert. Lange waren Besuche verboten und dann sehr erschwert. Nach Wochen drang ein Brief von ihm (16. November) hinaus, in dem es hieß: „Ich bin krank, und hier ist es nicht möglich, sich rationell zu pflegen. Aber seid nicht beunruhigt, hoffen wir, daß es vorübergeht.“ Er ist kein Mann von vielen Klagen, und so sagen diese wenigen Worte viel (U. N., 28. Nov.).

Nach allem, was man über die Vorbereitung der Anklage hörte, scheint klar, daß die Mailänder Gerichtsfunktionäre auf Befehl von Rom vorgehend nichts gegen die Verhafteten in Händen, hatten — es war ja auch nichts vorgekommen — außer was ihnen die Polizei erzählte und daß sie daher, indem sie alle Anarchisten zusammenfingen und alle Papiere zusammenschleppten, den Versuch machten, ihre Opfer so ziemlich mit all und jedem, was 1920 und vorher, seit der Amnestie, vorgefallen war, in Verbindung zu bringen. Sie operierten mit dem, was „a priori“ von ihnen zu erwarten wäre und mit „moralischen Verantwortlichkeiten“, wodurch dann spielend alles Beliebige mit den Verhafteten verkettet wurde. Sie mußten wünschen, daß das und das geschehe, ergo bereiteten sie es vor oder taten es — das ist ungefähr, was Giolittis Justiz diesen Gefangenen an Gerechtigkeit zuteil werden ließ, und dabei war das ganze Land auf diesen Fall aufmerksam; wie mochte es weniger Bekannten ergehen? Einige terroristische Aktionen hatten in Mailand stattgefunden und das erste, was geschah, war, daß die Gefangenen um ihre Meinung über diese Taten gefragt wurden. Das italienische Gesetz kennt diese „moralische Verantwortlichkeit“ nicht; auch ist bei Zeitungen die Verantwortlichkeit auf den Herausgeber und den Verfasser, wenn er unterzeichnet, beschränkt; hier wurden alle an der Umanità Nova Beschäftigten in die Verfolgung einbezogen, auch begann die famose Untersuchung nach dem „fremden Gold“, den Dollars und Schillings und Lire von vielen tausend Genossen in allen Ländern (vgl. U. N. 6, 25. Nov.).

Am 30. November mußte selbst der Untersuchungsrichter Carbone in seiner ordinanza erklären, daß die Verschwörungsbeschuldigung unhaltbar sei, obgleich säe sich im Anfang als aprioristicamente attendibile (etwas, das a priori zu erwarten war) gezeigt hatte. . . . .Virgilia d’Andrea, die Syndikalistin, schrieb darüber: „Auf diese Weise kann jeder Revolutionär verhaftet werden; denn da er ein Revolutionär ist, ist anzunehmen, daß er die Revolution vorbereitet; all dies bedeutet, daß ein Prozeß gegen Absichten gemacht wird.“ — Der Richter mußte zugeben, daß nichts gefunden wurde, das die Meinungen der Angeklagten mit einer Tat verbinden würde und seine „verbrecherische“ Verschwörung löste sich in nichts auf. Aber er hatte eine „aufrührerische“ Verschwörung bei der Hand und blieb bei dieser. Teile seiner ordinanza sind in U. N., 16. Dez., gedruckt.

Der Mailänder Staatsanwalt Gasti akzeptierte dieses Resultat nicht und verlangte von der Anklagekammer die Anerkennung der „verbrecherischen“ Verschwörung. Soweit ich folgen kann, wurde ihm recht gegeben und demselben Untersuchungsrichter Carbone wurde der Auftrag gegeben, auf jeden Fall die „verbrecherische“ Verschwörung zu liefern (U. N., 24. Dez.; 2„ 5. Februar 1921). Carbone ging an die Arbeit und versuchte es jetzt mit der Vergrößerung der Zahl der Angeklagten; 22 Namen erscheinen in U. N., 2. Februar. Von diesen blieben Malatesta, Borghi und Corrado Quaglino, der junge Lokalredakteur des Blattes, im Gefängnis. Dies wurde Anfang Januar verfügt (U. N., 6. Januar). Schließlich produzierte Carbone seine neue ordinanza, die z. B. von Merlino in der römischen juristischen Zeitschrift La Scintilla zerpflückt wurde. Der Untersekretär für Justiz (Grazia e Giustizia) antwortete dem Sozialisten Buffoni in der Kammer, daß alles so gut ginge als möglich, daß gut Ding Weile braucht und so ein schwerer Fall unendlich lange dauern muß, daß aber die Regierung die größte Eile empfahl und dergleichen usuelle Phrasen (U. N., 18. Februar). Vogliamo il Processo, wir wollen den Prozeß, ruft U. N. am 19. Februar. Nun kam die Papiermasse wieder von Carbone zu Gasti, der sie gründlich studieren und seine Anklage der Anklagekammer vorlegen sollte, was weitere Monate in den engen Zellen kosten mußte (U. N., 26. Februar). Es wurde immer klarer, daß die Richter nur Zeit gewinnen und dem Prozeß aus dem Wege gehen wollten, der nur mit der Freisprechung der Angeklagten und der Diskreditierung ihrer Pseudojustiz enden konnte.

Damals, Anfang März 1921, ging wieder eine Welle tiefster sozialer Unzufriedenheit und vieler offener Ausbrüche durch Italien, von Spezia und Florenz bis gerade zu den kleinen apulischen Städten, Minervino, Barletta, Molfetta, Terlizzi, Cafieros und Covellis Heimat und der Gegend von Castel del Monte, wo Malatesta und fünf andere 1874 die schwarzroten Farben der Internationale getragen hatten. Die damals stoliden und passiven Bauern und Landarbeiter waren 1921 erwacht, und der ernsteste Name für bäuerliche Rebellen, die „Jacques“, wurde auf sie angewendet. Noch einmal schien es, als ob eine allgemeine Bewegung im schnellsten Anzug wäre.

Da warf das offizielle Italien die letzte Maske ab wie England um dieselbe Zeit in Irland, wie Spanien gegen Syndikalisten und Anarchisten von da ab, wie der Staat, an die Wand gedrückt, es überall tut. Die weißen Garden und Black and Tan (Regierungstruppen in Irland) in Italien, dort fascisti geheißen, von dem nationalistischen Sozialisten Mussolini zuerst gezüchtet, erhielten nun carte blanche für Mord, Brandstiftung, Vandalismus und jede Art bestialischer Grausamkeit gegen die organisierten Arbeiter und ihre Familien, ihre Häuser und die ihrer Organisationen und Zeitschriften. Die Polizei geht ihnen voran, nimmt durch Verhaftungen und Wegnahme von Waffen die Verteidigungsmittel fort und die Landsknechtsmeute folgt ihnen. Auch der gemäßigte Sozialismus entgeht ihnen nicht und pflegt sich tot zu stellen; es gibt Gegenden, wo er sich aus der Oeffentlichkeit wegfegen ließ. Alles, was nicht handfest und zum äußersten Kampf entschlossen, ist dem offiziell geduldeten, ja auf den Händen getragenen Banditentum ausgeliefert, das heute mächtiger ist als je.

Unter diesen Verhältnissen, als die öffentlichen Gewalten des Landes die Handlanger des Fascismus wurden und die Mailänder Behörden den gegenstandslosen Tendenzprozeß endlos verschleppten, um ihr Fiasko hinauszuschieben, entschlossen sich Malatesta, Borghi und Quaglino zum äußersten Mittel, dem Hungerstreik, um die Durchführung des Prozesses zu erzielen.[57]) Der Hungerstreik hatte in russischen und sibirischen Kerkern oft gewisse Erfolge erzielt, ebenso war es in den Jahren vor dem Kriege den englischen Suffragetten gelungen, sich daraus eine wirkungsvolle Waffe zu machen. Im März 1921 lag die Sache anders; damals waren der Märtyrertod Mac Swineys, des Bürgermeisters von Cork und die gleichen Leiden anderer irischer Gefangener im frischen Gedächtnis; hier war nach sechzig- oder siebzigtägiger Agonie, die sich vor der breitesten Oeffentlichkeit abspielte, ein Mann tätsächlich gestorben und die englische Regierung hatte das letzte Wort behalten, ohne daß sich die öffentliche Meinung wesentlich echauffiert hätte. Da war es nun ganz selbstverständlich, daß Giolitti, schon um Lloyd George durch ein abweichendes Verhalten nicht zu verletzen oder um zu zeigen, daß er dieselbe staatsmännische Gemütsruhe besitzt und Italien ein ebenso korrekt regiertes Land ist wie Irland, Malatesta seinem Schicksal überlassen hätte, das für den siebenundsechzigjährigen Mann einen qualvollen Tod bedeutet hätte oder allenfalls, wenn dies die erwähnten moralischen und diplomatischen Rücksichten zugelassen hätten, daß man ihn als für den Rest seines Lebens körperlich gebrochenen Mann aus dem Kerker hinausgestoßen hätte. Daher war dieser vom 18. März an durchgeführte Entschluß eine furchtbar ernste Sache.

Nun hätte das italienische Proletariat das Wort gehabt, das diesen Mann nach Italien eingeladen und monatelang auf den Händen getragen hatte, und dem er im Monat März oder April gerade fünfzig Jahre seines Lebens (seit 1871) gewidmet hatte. Das Proletariat ließ sich mindestens Zeit. Hören wir, was in U. N. am 13. Mai 1922 erzählt wird: . . . „Als wir am Sonntag vor dem Diana-Attentat in die

Tramwayremisen gingen, um die Tramwayangestellten von den Pflichten der Solidarität zu überzeugen, erhielten wir die Sicherheit, daß sie mit uns sein würden.“

„Sie kamen nicht. Die Führer, die Hierarchie der Sekretäre, verhinderten es. Wir versuchten es noch Montag und Dienstag; wir klopften noch an die Tür der Arbeitskammer, um die Solidarität des Streikes zu erlangen; wir versuchten über die Autorität der Arbeitskammer (Camera del lavoro) hinwegzuschreiten, um uns direkt an die Massen zu wenden. Alles war vergebens! Malatesta inzwischen verlöschte langsam, und der Sozialist Inversetti fiel als Opfer der fascistischen Vendetta. Die Luft erhitzte sich, und wir fühlten uns allein, schrecklich allein! Verlassen in der Macht einer Autorität, welche uns insultierte.“

„Aus dieser Verzweiflung entstand die Tat am Dianatheater, in dieser Verzweiflung keimten die gewalttätigen Entschlüsse, welche die Lunte in Brand setzten, die so viele Schmerzen ausstreute.“

„Ist es also zu verwundern, wenn die beiden direkten Täter (Mariani und Aguggini) heute vor der Justiz, die sie richtet, andern die Schuld an diesem Schmerz vorwerfen?“ ....

Dies genügt zur Erklärung der Explosion am Dianatheater am 23. März vollständig. Nicht jeder besitzt die Gemütsruhe, eine Tragödie wie den zollweisen Zusammenbruch und zu erwartenden Tod Malatestas und seiner jüngeren Genossen kühl bis ans Herz hinan mitanzusehen, und es war nicht zu verwundern, daß sich unter den Millionen, die ihm Sympathie entgegenbringen, wenigstens zwei befanden, die einen wirklich ernsten Entschluß faßten. Sie werden als grausame Feinde der Menschheit geschildert, aber sie hatten wohl gerade die Absicht, der Menschheit möglichst geringen Schaden zuzufügen, indem sie sich sagten, daß diejenigen Leute, die während einer solchen Tragödie unbekümmert ein elegantes Theater besuchen, den Leiden, Sorgen, Arbeiten und Hoffnungen der Menschheit am fernsten stehen. Oder sie wollten um jeden Preis eine Aenderung der Lage, eine Auslösung der furchtbaren Spannung herbeiführen; sie konnten ihre Genossen nicht gefoltert sehen und griffen zum nächsten Mittel, das einen ablenkenden Effekt haben mußte. Aguggini sagte vor dem Gericht (Mai 1922), nachdem er die Tatlosigkeit und Apathie des Volkes geschildert: „In dieser Lage hatten wir die Verzweiflung der Isolierung“ (la disperazione dell isolamento) (U. N., 13. Mai); er sagte auch: „Ich sah Malatesta und die Genossen ungerecht eingekerkert, ich wußte, daß sie den Kerker nur moralisch und physisch von der bürgerlichen Gesellschaft getötet verlassen würden, ich sah, daß die Bourgeoisie uns den Krieg erklärt hatte und ihn ohne Erbarmen führte, und ich entschloß mich zu handeln.“ An die Opfer erinnert erwidert er: „Und unsere Opfer? Die Bourgeoisie genierte sich nicht, sie niederzumetzeln.“ (U. N„ 12. Mai.)[58])

Alles Weitere zeigt der Prozeß (Mai-Juni 1922), zu welchem auch die preußische Justiz ihr Scherflein beitrug, indem sie G. Boldrini auslieferte, wie vorher spanische Syndikalisten, die mit der Tötung des spanischen Giolitti, Dato, in einen von der spanischen Polizei beliebten Zusammenhang gebracht wurden. In beiden Fällen handelte es sich um in ihrer Heimat verfolgte und gehetzte Propagandisten, welche die unendlich naive Ansicht hatten, daß in Deutschland eine Revolution stattgefunden und sich die Asylverhältnisse geändert hätten; in Wirklichkeit sind doch bloß Revolutionäre in nicht geringer Menge getötet worden und Sozialdemokraten in ähnlicher Menge zu Amt und Würden gelangt.[59])

Nach der Explosion vor dem Dianatheater, am Abend des 23. März, des Donnerstags in der Osterwoche, deren Opfer ebenso die Opfer des herrschenden Systems waren wie damals Malatesta und Borghi und jetzt Aguggini und Mariani und die ebenso zu beklagen sind als arme Opfer, wurde die Hölle losgelassen gegen die Mailänder Anarchisten. Die Fascistenmeute stürzte sich auf das Lokal der Umanità Nova und demolierte und vernichtete alles, so daß die Zeitung nicht mehr erscheinen konnte; die Polizei machte Massenverhaftungen; die Presse im ganzen Land wütete. Unter diesen Verhältnissen hätte sich eine Katastrophe im Hungerstreike schneller eingestellt, als die öffentliche Aufregung sich beruhigt hätte und auch im Fall eines Erfolgs hätte eine Jury unter dem Einfluß der lokalen Panik ein grausames Verdikt fällen können, das dann wieder nur durch lange Bemühungen zu beseitigen gewesen wäre. Daher wurde der Hungerstreik sofort abgebrochen.

Die folgenden Monate brachten beständige Orgien fascistischer Barbarei, aber Giolittis Regime, das seine Schuldigkeit getan, fiel trotzdem und nun zerbarst auf einmal die Seifenblase des riesigen „Komplotts“, und die Anklage folgte dem neuen Wind und legte der Jury in dem Prozeß vom 27.—29. Juli 1921 einen sehr zahmen Fall vor.

Die Freisprechung lag in der Luft; so sehr war die Anklage im voraus diskreditiert. Trotzdem mußten unser alter Genosse und seine Freunde drei Tage hinter den Stäben des eisernen Käfigs stehen, den die italienischen Richter für zweckmäßig halten, um ganz in Sicherheit vor Angeklagten sich zu befinden.[60]) Malatesta verteidigte sich mit seinem gewöhnlichen scharfen Geist, praktischem Verstand und klarer Fassung seiner Argumente. Seine Erklärungen analysieren die Situation von 1919—1920 und sind einer besonderen Betrachtung wert, für die hier vorläufig der Raum fehlt. Der ganze Prozeß liegt vor in dem größeren Buch Processo E. Malatesta e Compagni, das ich leider noch nicht kenne. Der Prozeß, der ihn in guter Gesundheit zeigte (nach dem Dianazwischenfall scheint er doch allmählich etwas besser behandelt worden zu sein), verlief ganz ruhig und endete mit der allgemeinen Freisprechung. Der alte Merlino, Verteidiger im Prozeß von Benevento, 1878, und im Prozeß Brescis, war auch jetzt unter den Verteidigern, wie er auch im Mai—Juni sich unter den Verteidigern der Justizopfer der Dianaexplosion befand.[61])

Ich unterlasse die Zusammenstellung von Aeußerungen über, die Dianaexplosion; eine der letzten Stimmen Malatestas hierzu ist sein Artikel „Il Diana“. Tormento d’animo (U. N„ 17. Mai 1922, vgl. auch 3. Mai); die Unverantwortlichkeit der Täter für einen Geisteszustand, den „die andauernde Ungerechtigkeit und die kalte Grausamkeit der Polizei und des Gerichts“ in ihnen hervorgerufen hatten, wird das allgemeine Urteil sein.[62])

Die Umanità Nova erschien nach einigen Monaten wieder, diesmal in Rom. Große Geldopfer wurden aufs neue gebracht, der Umfang wurde verdoppelt (großes Zeitungsformat), doch machen die wachsenden Kosten zeitweilig die Beschränkung auf zwei statt vier Seiten nötig (das Blatt enthält natürlich keine Inserate und sonstigen Ballast); nach Nr. 183 (12. August 1922) erschien das Blatt als Wochenschrift. Malatesta lebt in Rom und schreibt vielleicht etwas seltener in dem Blatt als 1920, aber gegebenenfalls mit alter Kraft und Fülle. Ich versage mir die Anführung von lehrreichen Auszügen, denen man manches aus seiner Erfahrung so gut entnehmen kann. Sein alter Standpunkt geht etwa aus folgenden Worten hervor (U. N., 31. März 1922): „. . . . Heute ist mehr als je die Eintracht aller Proletarier, aller Revolutionäre zu ihrer gemeinsamen Verteidigung nötig, und aus dieser kann und muß die Eintracht entspringen für den Angriff und die Zerstörung des Hindernisses, der gegenwärtigen Einrichtungen, das uns alle, wie wir sind, der Möglichkeit beraubt, unsere Ideen durch einen Versuch zu verwirklichen.“

„Diese Eintracht muß von den Massen selbst hergestellt werden, die hinwegschreiten über den Ehrgeiz, die Rivalität, Interessen und Tücke der Führer“. . . . . . . .

Einzelheiten seiner beständigen Tätigkeit, etwa seine Ansprache auf Wunsch des syndikalistischen Kongresses in Rom (März 1922) u. a. muß ich einstweilen übergehen. Er soll jetzt ganz weiß aussehen — in meiner Erinnerung lebt nur sein schwarzer, höchstens leicht angegrauter Kopf der Jahre bis 1913 — aber unser amerikanischer Freund Harry Kelly, von der Ferrer Modern School in Stelton (New Jersey), der ihn Ende Februar d. J. besuchte, teilte mir mit, daß Malatesta der optmistischste, hoffnungsfreudigste Revolutionär war, dem er auf seiner europäischen Reise begegnete.

Die der italienischen Bewegung vorliegenden Probleme und Aufgaben sind sehr zahlreich. Die internationale ökonomische Lage erlaubt dem europäischen Kapitalismus weder seine behagliche Vorkriegsstellung wieder einzunehmen noch die vom Krieg und der Kriegsbeute erwarteten Gewinne zusammenzuraffen und wirklich zu genießen, von dem rohen Herunterschlingen durch die Kriegsparvenus, die pescecani Italiens, abgesehen. Das Fiasko des Zwangskommunismus und der Diktatur in Rußland muß früher oder später auch deren blindesten Anhängern in Italien die Augen öffnen oder sie ganz isolieren. Die Gewerkschaftsbewegung wird zu wählen haben zwischen den Verrätern von 1920 und der geraden syndikalistischen Richtung (Unione Sindacale Italiana), welche die Fesseln von Amsterdam nicht abwarf, um die neuen Moskauer Fesseln sich selbst anzulegen. Die Sozialisten sind leistungsunfähig und machtlos, ob nun einer der ihrigen selbst Ministerpräsident ist (Bonomi), ob sie sich an das Ministerium Facta anlehnen oder ob Serrati zur 2., 2 ½ oder 3. Internationale sich so oder so stellt (ich folge diesen Vorgängen nicht mehr).

Endlich leistet die bestialischeste Form des Militarismus und Nationnalismus, der Fascismus, immer Unerhörteres; diese Richtung leistet dem Kapitalismus Schergendienste gegen Sozialisten und Anarchisten und dient den äußeren Zielen der Regierung, der Wachhaltung der Gier nach Fiume und Dalmatien, die an Stelle von Trient und Triest traten und denen, wenn erstere erreicht sind, der Tessin und Nizza, Corsika und Malta und anderes folgen werden. Die Arbeiter leisten einigen Widerstand, und ein Sturm mag sich ansammeln, der vielleicht die Luft reinigen wird. Einstweilen wurde im Sommer 1922 der Fascismus in einzelnen Teilen Italiens schon Selbstzweck und brachte alles unter die Herrschaft des Knüttels, des Revolvers, der Handbombe und der Brandfackel. Die weitere Entwicklung ist noch nicht abzusehen, vielleicht verschießt so der Staat und der Kapitalismus sein letztes Pulver vorschnell und die Entrüstung, die eines Tages den Fascismus hinwegfegen wird, wird dann vor dem hinter ihm versteckten feigen Kapitalismus und grausamen Staat wahrlich nicht Halt machen.

So müßte man glauben, soweit ich aus der Entfernung urteilen kann, daß starke Kräfte am Werk sind, durch dieses traurige Beispiel allen Denkenden einen wahren Abscheu vor der Politik, der Autorität, dem Kapitalismus und dem Nationalismus beizubringen und daß die Zukunft mehr als je den Verwirklichungsversuchen freien, gerechten und glücklichen Lebens gehört, die wir Anarchismus nennen.

Da ist es schade, daß oft Zeit verloren wird mit geringfügigen Angelegenheiten, dem genauen Grad von Organisation und von Individualismus, den dieser oder jener in allen möglichen Einzelfällen für nötig hält und daß der alte Malatesta so viel Zeit damit verlieren muß, doktrinär Veranlagten, denen das frische Leben mit seiner natürlichen Vielartigkeit fremd ist, elementare Lektionen in billigem und gerechtem Denken zu geben.[63]) Man denkt, daß statt dieser Detailarbeit eine große allgemeine Anstrengung gemacht werden sollte, alle die zu gewinnen, die durch das Weltelend seit 1914 und 1918 dem jetzigen System entfremdet sind, denen aber die erlösende Stimme der Freiheit noch fern blieb. Leider wurden viele dieser Kräfte vom „Kommunismus“ aufgefangen, der sie entweder brutalisiert oder den sie ganz enttäuscht und hoffnungslos verlassen, um zum heutigen System zurückzukehren.

Dies gilt für alle Länder, und es ist ein tragischer Zufall, daß die Stimmen von Elisée Reclus, von Tolstoi, von Kropotkin, gerade vor unserer Gegenwart verstummten. Ich bin kein heroworshipper und habe auch Malatesta gegenüber meine eigene Meinung, aber ich kann ruhig sagen, daß er das Zeug in sich hat, an die Stelle jener zu treten und zur gesamten Mitwelt im Namen der Freiheit zu sprechen. Es gibt keinen in der Oeffentlichkeit bekannten Mann, in welchem mehr als fünfzig Jahre reinster revolutionärer Praxis und altruistischen Denkens, bei engem Kontakt mit dem Volk, eine solche Menge Erfahrung, vereint mit Energie und absoluter Ergebenheit an die Menschheit und an die Freiheit angesammelt haben, als in ihm. — Ich verstehe, daß seine alte Hoffnung in ihm so stark wie immer lebt, und daß er zuerst dieses Ziel, das jedem Leser seines Lebens klar sein wird, erreicht zu sehen wünscht, wodurch schließlich der Welt durch ein Beispiel eine größere Lehre gegeben würde, als durch alle Schriften und Appelle. Trotzdem wünschte ich — verwöhnt durch die vielen Jahre des Exils, da er allen gehörte und seine Kräfte oft leider zu wenig in Anspruch genommen wurden —, daß er mehr Gelegenheit fände, sowohl zur gesamten Mitwelt zu sprechen, als auch mit den Genossen der anderen Länder unsere geistige Internationale wiederherzustellen, die in einer Zeit, da die einzelnen Nationen in Käfige gesperrt sind wie wilde Tiere, im modernen Europa von heute, mehr notwendig wäre als je.[64])

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Dies ist, was ich zu Malatestas Biographie sagen kann, ohne zu vielem Material, das zu benutzen notwendig wäre, jetzt Zugang zu haben, und ohne neue Erkundigungen, zu denen wer weiß wie viele Reisen nötig wären. Vielleicht ist doch ein chronologischer Rahmen hergestellt, der sich allmählich mit verläßlichen Tatsachen ausfüllen wird. Ich kümmerte mich nie vom biographischen Standpunkt um lebende Kameraden, so sehr ich für die Niederschrift ihrer Erinnerungen und die Aufbewahrung von historischem Material eintrat. Ich hoffe noch immer, daß Malatesta selbst die Zeit erleben wird, wenn er nach erreichtem Ziel uns seine Vergangenheit selbst vorführen wird, und wenn er selbst schon bescheiden zurücktritt, wenigstens die Erinnerung an die vielen Freunde und Genossen, die ihm überall, vielfach unscheinbar, zur Seite standen, der Zukunft zu überliefern helfen wird.

Ob ich nun in dieser Biographie im einzelnen zu farblos oder zu indiskret war, von den zahllosen Irrtümern und Lücken ganz abgesehen, war meine Absicht eine gute, und ich empfand wirkliches Vergnügen auf dieser Reise durch fünfzig Jahre Anarchie, durch ein allen Hindernissen zum Trotz der Freiheit und dem Glück Aller gewidmetes Leben, das immer auf festem Boden fußt. Alt oder jung, in jedem Teil seines Lebens fand ich den freien Mann und den Rebell. Sein Leben ist zum Glück noch nicht abgeschlossen, und neue Kapitel mögen sich einst diesem biographischen Versuch anschließen, der nur ein Fragment ist.[65])

 

[1] Ueber Pisacane siehe z. B. Luigi Fabbri, Carlo Pisacane (I Precursori della Rivoluzione), Rom und Florenz, F. Serantoni, 1904, 32 SS.; auch sind viele seiner besten Seiten im Genfer „Risveglio“ 1921, 22 von L. Bertoni ausgewählt, abgedruckt.

[2] Seit ich das obige geschrieben, teilt mir ein alter Genosse mit, daß Malatesta, dessen Eltern vielleicht früh starben und der einen einzigen Bruder hatte, etwa in den Jahren 1868, 69, 70 in Pension bei den scolopii genannten Schulbrüdern des Ordens des Josef Calasanctius in Santa Maria gewesen sei, das Lyceum (Gymnasium) besuchend. Er habe damals entweder, als dieser Orden von der Regierung aus seinem Gebäude vertrieben wurde oder als Barsanti hingerichtet wurde, einen Brief an den König geschrieben, der einige Folgen für ihn und auch diese Brüder gehabt habe. Dies wird sich alles aufklären und widerspricht in nichts meiner Auffassung einer frühen, ungehemmten, entschieden freiheitlichen und tatlustigen Entwicklung.

[3] Im Oktober 1871 gab Carmelo Palladino eine Uebersetzung von Gustave Flourens’ Buch Paris livré heraus (Parigi caduta, Napoli, 300 S., 12°). Flourens war der revolutionärste und abenteuerlichste französische Sozialist der letzten Jahre vor der Kommune, Sohn eines Gelehrten und selbst Gelehrter. Er kämpfte in Creta und auf den Straßen von Paris gegen Napoleon III und gegen die provisorische Regierung, bis er Anfang April 1871 bei dem mißglückten Ausfall der Kommunekämpfer gefangen und von einem Versailler Offizier ermordet wurde; neben ihm wurde sein Adjutant Amilcare Cipriani schwer verwundet, für tot liegengelassen und dann nach Neucaledonien deportiert. Elisée Reclus wurde bekanntlich bei jenem Ausfall gefangen genommen. Flourens war Revolutionär, Mann der Tat, aber jedenfalls so autoritär, wie man nur sein konnte. Immerhin mögen seine Person und seine Ideen den jungen Malatesta, der sie durch Palladino gewiß nahe kennen lernte, ich sage nicht beeinflußt, aber doch lebhaft interessiert haben; er war der Barbès seiner Zeit.

[4] S. Lettres de Joseph Mazzini à Daniel Stern (Gräfin d’Agoult), Paris 1873, S. 153—154 (20. Juli 1869).

[5] Die Marx-Engels’sche Allianz-brochu[e]re (September 1873) sucht auf ihre perfide Weise durch Terzaghi Bakunin zu diskreditieren, der den Kerl doch früher als alle andern abgeschüttelt hatte, wie sich im einzelnen nachweisen läßt. Geradezu komisch ist, wie der vielerfahrene alte J. Ph. Becker zwei Monate später (Genf, 25. November 1873) trotzdem dem New-Yorker Generalrat (F. A. Sorge) schreibt: „Tretet doch auch ungesäumt mit C. Terzaghi .... in Verbindung, denn ich habe Ursache zu glauben, daß mit dem Burschen .... (hier eine nicht gedruckte Stelle im Brief) etwas zu machen ist für Italien . . . .“ (sic.). (Briefe, 1906, S. 131).

[5] Die Marx-Engels’sche Allianz-brochu[e]re (September 1873) sucht auf ihre perfide Weise durch Terzaghi Bakunin zu diskreditieren, der den Kerl doch früher als alle andern abgeschüttelt hatte, wie sich im einzelnen nachweisen läßt. Geradezu komisch ist, wie der vielerfahrene alte J. Ph. Becker zwei Monate später (Genf, 25. November 1873) trotzdem dem New-Yorker Generalrat (F. A. Sorge) schreibt: „Tretet doch auch ungesäumt mit C. Terzaghi .... in Verbindung, denn ich habe Ursache zu glauben, daß mit dem Burschen .... (hier eine nicht gedruckte Stelle im Brief) etwas zu machen ist für Italien . . . .“ (sic.). (Briefe, 1906, S. 131).

[7] Angiolini (Cinquant’ anni di Socialismo in Italia, 1900, p. 119) erzählt die Castelsdel-Monte-Affäre ebenfalls augenscheinlich nach einer Erzählung Malatestas; Guillaume (L’Int., III, p. 207; 1909) übersetzt Angiolini. Dieser Bericht weicht etwas von dem hier erzählten ab; da mir aber diese Details 1893 und 1900 auf gleiche Weise erzählt wurden, so bleibe ich bei der obigen Darstellung.

[8] Costa erklärte 1881, daß er zuerst der italienischen Internationale 1876 den kommunistischen Anarchismus vorschlug. Inwieweit dies durch seine Tätigkeit zwischen Juni und Oktober geschah, kann ich nicht beurteilen. Wie man sehen wird, kam die gleiche Anregung in jenen Jahren von mehrfacher Seite.

[9] Das Wort kommt weiter im Bulletin vor als Beschreibung des Gegenstandes eines Vortrages von Costa in Genf am 9. Juni 1877. Costa war nach den Ereignissen von Benevento, an denen er nicht teilnahm, in die Schweiz geflüchtet

[10] Vielleicht bezieht sich dies auf die Idées sur l'organisation sociale (La Chaux de Fonds, 1876, 56 S.) von James Guillaume, der diese Skizze einer späteren Gesellschaft zuerst für die italienische Internationale schrieb; das erste Kapitel, das revolutionäre Methoden diskutierte, blieb im Druck fort und ist verloren. Costa gab 1877 eine italienische Uebersetzung heraus; ein französischer Neudruck erschien vor nicht langer Zeit als achter Teil der Cahiers du Travail (Paris).

[11] Als ich Ende 1893 Z. Ralli besuchte, übergab er mir eine Handschrift dieses kleinen Handbuches für den revolutionären Krieg, um dieselbe Stepniak zurückzugeben. Ich kannte die Entstehung der Schrift damals nicht und sah sie, ihres technischen Inhaltes wegen, kaum durch. Als ich 1894 in London Stepniak über Bakunin befragte, den er 1875 besucht hatte, machte er einige recht abfällige Bemerkungen über das gewaltsame Vorgehen der Anarchisten. Ich war so grausam, ihm in diesem Moment sein Manuskript von 1877 zurückzugeben, das er mit großem Erstaunen wiedererkannte. Er lächelte eigentümlich und polemisierte dann nicht weiter gegen den Gebrauch der Gewalt.
Die klassische italienische Schrift über den Bandenkrieg ist Carlo Biancos sulla guerra di insurrezione per bande (Italia, 1833, 88 und 119 S.), von der ich in demselben Sommer 1894, als ich zum erstenmal Locarno betrat, auf dem Markt ein schönes Exemplar fand, das auch eine Geschichte hinter sich haben mochte.

[12] Von hier ab sind einige Ortsangaben und andere Details auch Angiolinis Buch (1900) entnommen.

[13] Ein österreichischer Sozialdemokrat hat sie kastriert und verballhornt einer sozialdemokratischen Verarbeitung zugrunde gelegt (Wien 1899), was an den Vorschlag erinnert, den einmal ein sehr hervorragender belgischer Sozialist P. Kropotkin machte, dessen Morale anarchiste in einer belgischen Parteiserie abzudrucken, nur mit der kleinen Abänderung, daß es im Titel und überall sonst „Morale socialiste“ statt anarchiste heißen solle!

[14] Ich bedauere, daß die Zeitschriften von der Questione sociale zur Volontà und selbst der größere Teil der Umanità Nova mir jetzt nicht vorliegen, auch viele zerstreute Artikel und Broschüren, da es interessant wäre festzustellen, unter welchen Verhältnissen er diese und andere Ideen zuerst geäußert hat. Uebrigens würde auch dies nicht ausschlaggebend sein, da solche Ideen oft lange bestehen und nur zufällig bei Gelegenheit schriftlich ausgedrückt werden. So formulierte Bakunin seine antitheologischen, antistaatlichen und antikapitalistischen Ideen erst 1864, 1865, um sie der italienischen Freimaurerei und seiner eigenen geheimen revolutionären Gesellschaft vorzulegen, hegte sie aber schon seit vielen Jahren. Ob die Jahre 1885—1889 für Malatestas Auffassung der Anarchie einen Schritt vorwärts bedeuten, oder ob sie nur das in Knospenform Vorhandene zur vollen Blüte brachten, kann ich nicht absolut nachweisen; aber ich neige zu der letzteren Ansicht. Jedenfalls erschien er, gleichsam gut ausgeruht, in voller Kraft, voll Ideen und aktionsbegierig auf dem Kampfplatz wieder.

[15] Fernand Pelloutiers Artikel in den neugegründeten Temps Nouveaux, (6. Juli, 3. und 24. August, 14. und 28. September usw., 2. November 1895) bezeichnen für die Leser den Beginn dieser neuen Entwicklung, der Diskussionen und Erwägungen in der zeitschriftlosen Zeit 1894—1895 (Frühjahr) vorau[s]gingen.

[16] Un peu de théorie, aus dem Pariser L’Endehors von Zo d’Axa (21. August 1892) wurde in der Brüsseler Serie Bibliothdque des Temps Nouveaux (Nr. 15, 1899, 15 S.) wieder gedruckt, einer Serie, deren Auswahl Elisée Reclus vor allem besorgte.

[17] Vgl. hierzu seinen Artikel Qual è l’uomo più forte? (Wer ist der stärkste Mensch?) U. N., 2. Sept. 1922.

[18] Der Artikel Lo sciopero generale (Der Generalstreik), U. N. 7. Juni 1922, resümiert Malatestas Standpunkt und enthält viele Rückblicke auf frühere Phasen der Bewegung.

[19] Man vergleiche hierüber neben Fernand Pelloutiers Artikeln in den Temps Nouveaux (1895) dessen Histoire des Bourses du Travail (mit seiner Biographie von V. Dave), Paris, 1902, XX, 232 S.). Vgl. auch Paul Delesalle, La resisianza operaria con prefazione di Errico Malatesta (Messina, 1901, L’Avvenire sociale, 14 S.), eine Vorrede, an deren Inhalt ich mich nicht erinnere. Auch Sindicalismo e Anarchismo von „Catilina“ (Umanità Nova, 28. November 1920), wo die ersten italienischen syndikalistischen Bemühungen Malatestas und anderer besprochen werden.

[20] Die Berichte in Freedom über die große Versammlung und jene Diskussionen sind von mir und werden ergänzt durch meine Berichte, auch über den Kongreß, im Berliner Sozialist (8. August bis 27. Oktober), die dann als Broschüre Der Londoner Kongreß. Zur Beleuchtung der Vorgänge auf demselben (Berlin, 1896, 71 S.) erschienen sind.

[21] Es erschienen zwei oder mehr Nummern eines täglichen Supplements (1898). Eine andere Gruppe nahm die Zeitschrift am 14. März 1900 wieder auf (54 Nummern, bis 11. April 1901) und L’Agitatore zum Ersatz von Nr. 55. Dann erschien ein Blatt gleichen Namens in Rom (vom 14. Juni 1901 ab, mit 8 oder mehr einzelnen Nummern mit anderen Titeln; dies erschien noch 1905 und vielleicht noch längere Zeit. Leider liegt mir nichts hiervon vor, und ich sah diese Zeitschriften seinerzeit nicht für einen Zweck, wie den gegenwärtigen, durch.

[22] Ueber ihn vgl. U. N., 12. August 1922.

[23] In London wurde damals ein internationaler Protest gegen diese schändliche Behandlung von Anarchisten als Malfattori unterzeichnet, der in Freedom, Mai 1898 zu finden ist. Da die Unterzeichneten das damalige Londoner und einiges kontinentale anarchistische und für eine anständige Behandlung politischer Gegner eintretende sozialistische und radikale Milieu sehr gut charakterisieren und auch vielfach Freunde oder Bekannte Malatestas in London waren, so führe ich diese Namen an: Edward Carpenter, Walter Crane, H. S. Salt (Humanitarian League), J. F. Green (Friends of Russian Freedom), C. C. Lisle (mir jetzt nicht erinnerlich), Lothrop Withington, H. W. Nevinson (der bekannte Journalist), Peter und Mrs. Macdonald, Miß C. Roche, Mrs. N. F. Dryharst, Miß Charlotte Skerritt, Miß A. Davis, Miß A. C. Morant, Miß E. Warlow, Tom Mann, J. Keir Hardie, Frank Smith (I.L.P.), Paul und Mrs. Campbell (Christian Socialists), Peter und Mrs. Kropotkin, Mrs. Fanny Stepniak, N. Tchaikovsky, V. Tcherbesov, Louise Michel, Lucien Guérineau, E. Defendi, F. Mattini, I. Pacini, J. Thioulouze (der in Montjuich Gefolterte), Victor Richard, F. Tarrida del Marmol, Jaime Brossa (Catalonier), Lorenzo Portet, M. Nettlau, F. Henneghien (damals der Setzer von Freedom, Belgier), John Turner (seitdem der vieljährige Präsident der Shopassistants’ Union), Harry Kelly (jetzt der Organisator der Ferrer Modern School in Stelton, New Jersey), Alfred Marsh (der langjährige Redakteur von Freedom, starb 1914), W. Wess (von der Socialist League, Freedom Group und Gruppe Arbeiterfreund im Eastend), Joseph Presberg (damals sehr tätig), Ch. Morton, H. Stockton, Thomas Cantwell, E. Lowe (mir nicht erinnerlich), R. C. Moore: dazu aus anderen Ländern Elisée Reclus, F. Domela Nieuwenhuis, Bernhard und Frau Kampffmeyer, Dr. Bruno Wille, Gustav Landauer, Wilhelm Spohr, Albert Weidner (Berlin, Sozialist) und andere. — Es mag heute schon Leute geben, denen die meisten dieser Namen nichts mehr sagen, aber für den Zeitgenossen rufen sie eine Ueberfülle von Erinnerungen wach; das revolutionäre London vor fünfundzwanzig Jahren lebt bei ihrer Durchsicht wieder auf. Die Eile, mit der dieser Protest der Oeffentlichkeit vorgelegt wurde, erklärt auch das zufällige Fehlen mancher bekannter Namen guter Genossen.

[24] Ueber diesen Prozeß liegt ein Bericht vor: Una pagina di storia del Partito socialista-anarchico. Resoconto del processo Malatesta e compagni (Tunis, Tipografia socialista-anarchica, 1898, 119 S., 16°). Malatestas Rede enthält Gli anarchici in Tribunale. Autodifesa di Errico Malatesta (Rom-Florenz, F. Serantoni, 1905, 16 S.). Auch Il Processo Malatesta e compagni (und andere Prozesse von Ancona), (Castellamare Adriatico, 1908, 116 S.). Dazu kommen neuere Ausgaben (Processi), die gegenwärtig Verbreitung finden. Leider liegt mir keine dieser Schriften jetzt vor.

[25] Pedro Esteve schrieb 1922 eine Malatesta’s Persönlichkeit zusammenfassend würdigende Vorrede zu der italienischen Ausgabe dieser Biographie.

[26] Ich spreche hier nicht von Ausgaben, die Uebersetzungen der französischen Ausgabe sind, wie die London-Moskauer (seit 1915), die deutsche (Berlin, Syndikalist, 1921, Band I, bald auch Band II) und die italienische (L. Fabbri, C. Molaschi, Mailand).

[27] Dies soll keine ausschließliche Erklärung der Kriegsursachen sein, nur ein kleiner Beitrag zu der furchtbaren Liste der übrigen Ursachen. Die italienischen Monarchisten und Kapitalisten müssen jedenfalls unter diesen Verhältnissen einen sicheren Krieg, in dem sie auf der Seite der Stärkeren standen, einer neuen Volksbewegung vorgezogen haben, und sie mögen gelächelt haben, als sie sahen, daß die Repblikaner wieder, wie in Mazzini und Garibaldis Tagen, der Monarchie die Kastanien aus dem Feuer holten.

[28] Nach Umanità Nova, 8. September 1920, wurde damals eine Ausgabe all seiner Schriften über den Krieg vorbereitet, die noch nicht erschienen sein dürfte. In Ancona wurde alles, was er schrieb, während des Krieges auch gedruckt (ebd., 20. September 1920). Größere Arbeiten sind es wohl nicht, sondern Artikel und Briefe in Zeitschriften.

[29] „that it is from vanquished Germany that . . . the revolution would break out“; leider kenne ich den italienischen Text nicht. Ich fasse die Stelle so auf, daß nicht nur eine im besiegten Deutschland ausbrechende Revolution erwartet wird, so[n]dern daß eine solche dort ausbrechende Revolution sich von dort weiter verbreiten, von dort also ihren Ausgang nehmen werde. — Ersteres geschah in sehr beschränktem Grade, letzteres geschah nicht, wie sich auch von Rußland 1917 die Revolution nicht weiter verbreitete; ein siegreiches Land scheint eben nie eine Revolution zu machen.

[30] Die Einzelheiten dieser italienischen Verhandlungen nach beiden Seiten enthält u. a. das Oesterreichisch-Ungarische Rotbuch, die Zeit vom 20. Juli 1914 bis 23. Mai 1915 umfassend (Wien, 1915, X, 213 S.), und, so viel ich weiß, zuerst von der russischen Sowjetregierung veranlaßte Aktenpublikationen, von denen eine französische Ausgabe im Oktober 1918 erschien: Les Traités secrets 1914—1917. Textes et commentaires traduits de l’anglais d’après l’édition de l’ „Union of Democratic Control“ et la publication du [Daily] „Herald“ (Comité pour la reprise des relations internationales, 115 S.). Hierdurch sind die Londoner Abmachungen dann Gegenstand der allgemeinen Diskussion geworden, was sie im April oder Anfang Mai 1915, als Malatesta schrieb, noch nicht sein konnten.

[31] Malatesta’s Worte wurden durch die Friedensverträge von 1919 und die noch nicht abgeschlossene Entwicklung seither genau bestätigt. Man vergleiche auch die auf Bakunin zurückgehenden ganz ähnlichen Aeußerungen vom Jahre 1866, die in Kap. II angeführt sind.

[32] Die alphabetisch geordneten Namen zeigen, daß London, New York und Holland hier vertreten sind.

[33] Vom 28. Februar 1916 datiert. Ein Abdruck vom Mai 1916 (Lausanne, „Libre Federation“, 8 S., 16 °) enthält eine Anzahl weiterer Unterschriften.

[34] Französisch gedruckt als: Réponse de Malatesta au Manifeste des Seize Anarchistes de Gouvernement (7 S., 16°, ohne Ortsangabe); vgl. auch U.N., 26. August, 8. September 1920.

[35] S. L. Fabbris Dittatura Rivoluzione (Ancona, 1921, XVI, 374 S. 8°), S. V bis VIII.

[36] Die zwingende Logik dieser Auffassung wird nicht dadurch widerlegt, daß das Personal der bolschewistischen Revolution aus der Geschichte der französischen Revolution lernte, daß zwar die unbeugsamen Gruppen, die Danton, Robespierre, Babeuf sukzessive der Revolution zum Opfer fielen, eine große Menge beugsamer Leute aber, die Talleyrand, Fouché usw. sich allen Systemen anpaßten und immer obenauf blieben. Sie lassen längst den Ereignissen ihren Lauf, und die Revolution ist längt in ihrem Kern gebrochen, aber ihre einstigen Führer, die Talleyrand- und Fouché-Typen sind geblieben und tragen noch nach Bedarf die alte Maske. Dies konnte der gerade Sinn Malatestas nicht voraussehen, aber materiell hat diese Personalfrage keine Bedeutung.

[37] Gemeint ist, es könne nicht Unwilligen aufgezwungen werden. Näheres in den Umanità-Nova-Artikeln von 1920; s. Kap. XVIII.

[38] Nach U. N., 27. Februar 1921 wurden zu den vor Februar 1920 vorhandenen 170 000 lire von da an bis Februar 1921 800 000 lire gesammelt.

[39] Vor Mitte Oktober 1919, wie aus U. N., 24. Mai 1922, hervorgeht.

[40] Ich habe den Wiederabdruck in U. N., 19. April 1922, vor mir.

[41] Damals schon stiegen Papierpreise von 30 auf 550 Lire, Fabbri (Ditt. e. Riv., S. 233, Anm.) gibt 50 000 als Auflage an.

[42] S. U. N., 29. Okt., auch 16. Sept. und 22. Okt. 1920. — Dieselbe Organisation läßt sich jetzt mit G. d’Annunzio ein, der, von seinem de Ambris unterstützt, es jetzt, wie es scheint, mit der Arbeiterbewegung versuchen will, der er schon zu gutem Teil den Fluch des Faszismus gebracht hat.

[43] Ich brauche kaum zu sagen, daß dies nur mein persönlicher Eindruck ist, der ganz irrig sein kann. Ob die allgemeine Bewegung damals wirklich einen derartigen Höhepunkt erreichte, werden er selbst und andere besser zu beurteilen wissen.

[44] Leider kenne ich Nr. 1—95 und auch sonst manche Nummern nicht. Vgl. auch La Vie ouvrière, 19. März 1920 (Jacques Mesnil) und Le Libertaire, 28. März.

[45] L’Anarchia settima ed. con una biografia di Fabbri (Milano).

[46] Das spanische Buch Páginas de lucha cotidiana (Buenos Aires, 1921), Blätter aus dem Tageskampf enthält eine wertvolle Sammlung einer Anzahl dieser Artikel.

[48] Luigi Fabbri (Dittatura e Rivoluzione, 1921, S. 232, Anm. 1) schreibt, daß der Kongreß von Bologna (1.—4. Juli 1920) zur Ueberraschung der Anarchisten selbst deren damalige große Zahl gezeigt habe; es existierten Zehntausende von Anarchisten in mehreren hundert Gruppen, von den vielen nicht organisierten ganz abgesehen. Er gibt die Anzahl der Mitglieder der revolutionären Unione Sindicale Italiana (Armando Borghis Organisation) auf mehr als 300 000 an. Fabbris Artikel in der Revue Anarchiste und dem Libertaire von 1922 enthalten viel weiteres Material zur Beurteilung der proletarischen Kräfte und Strömungen.

[49] S. hierüber erklärende Bemerkungen in U. N., 18. April 1922.

[50] Dieser Artikel erhält wieder interessante Ergänzungen in U. N., 18. April 1922. Hier lesen wir: .... „Der Zwangskommunismus wäre die verhaßteste Tyrannei, die der menschliche Geist fassen kann. Und der freie und freiwillige Kommunismus ist eine Ironie, wenn nicht das Recht und die Möglichkeit besteht, in einem anderen Regime, einem kollektivistischen, mutualistischen, individualistischen oder welches man will, zu leben, immer unter der Bedingung, daß man niemand unterdrückt und ausbeutet.“ ....

[51] Das unvollständige, halbe ist ein tödlicher Fehler der Revolutionen, weil es die Hoffnung auf Rückkehr offen läßt und dadurch dem neuen System sofort zahllose Feinde schafft und erhält.

[52] C. Frigerio gab schon 1899 in Bern den vielverbreiteten Conzionere dei Ribelli (47 S., 12°) heraus.

[53] Er hat in seinem Leben mehr als fünf Jahre in italienischen Gefängnissen und auf Deportationsinseln zugebracht und, so viel ich weiß, nur sieben Monate dieser Zeit auf Grund einer richterlichen Verurteilung (Ancona 1898), die ganzen übrigen Jahre also in Untersuchungshaft und durch administrative Verfügung. — Im Exil brachte er 36 Jahre zu, darunter ein weiteres Jahr etwa im Gefängnis. So nahm ihm der italienische Staat über vierzig Jahre des Lebens in der Heimat fort. Diese 41 Jahre liegen fast in der Mitte zwischen Bakunins 32 und Kropotkins 45 Jahren von Kerker und Exil; mit solchen Opfern bezahlten diese Männer ihre geistige Freiheit.

[54] Die Besetzung der Fabriken, die, wie erwähnt, schon im Frühjahr in U. N. diskutiert wurde, überraschte alle Welt als eine neue Taktik. Wer in den zwanzig Jahren vor dem Krieg in London lebte, konnte sie unzähligemale vor tauben Ohren predigen hören. Damals lebte noch ein alter Anarchist, James Harragan, ein Schuhmacher und Proletarier durch und durch. Dieser hielt am Schluß von Versammlungen, vielfach auch bei Sozialdemokraten, stets eine Rede, ein und dieselbe, die immer das stay in (drinnen bleiben) statt dem come out on strike (herausgehen, um auf der Gasse oder zu Hause zu hungern) im Fall von Streiks predigte, und jedes Gespräch mit Harragan führte unvermeidlich zu dieser Idee. Keiner hörte mehr darauf; so oft hatte man es gehört. Ich kann mir das Glück dieses Mannes kaum vorstellen, wenn er erlebt hätte, wie die italienische Kapitalistenaussperrung seine Lebensidee verwirklichte. Er hatte noch zur englischen Internationale gehört, Anfang der siebziger und sich nach einigem, was er über Proudhon und Bakunin damals hörte, seinen Anarchismus selbst gebildet. In seiner frühesten Jugend hatte bei seinem Vater, einem Schuhmacher in Marylebone (London) noch ein alter Geselle gearbeitet, der zu den jungen Radikalen gehört hatte, die mit Arthur Thistlewood, der 1820 gehängt wurde, konspirierten (Cato Street conspiracy); so vererbte sich diese sonst so verschollene revolutionäre Tradition fast ein Jahrhundert lang. In der Schilderung des Milieu der Torchgruppe in A Girl among the Anarchists spielt Harragan eine kleine Rolle. Er war zu einseitig, um sich zur Geltung zu bringen, hatte aber viel gesunden Witz, und es war ein Vergnügen zu hören, wie er manche sozialdemokratischen Kirchenlichter auslöschte, z. B. H. Queich; aber auch G. Bernard Shaw, mit dem er oft anband, wußte, daß, wenn Harragan sich erhob, er jetzt nicht mehr ganz die Lacher auf seiner Seite haben würde, — nur daß die Rede sich unvermeidlich zur Besetzung der Fabriken hin entwickelte, dem Einhämmern des stay in, don’t come out, was den meisten damals nichts sagte.

[55] Vgl. auch U. N., 28. Juni 1922.

[56] Man begreift, daß er zu keiner größeren Arbeit in dieser Zeit kam. Schon die Zweiteilung in Redaktion und Agitation durch Versammlungen war zu viel und mußte die Konzetration seiner Kräfte auf ein Ziel abschwächen. Von seinen älteren Broschüren scheint Al Caffè (Bologna, Edizione di Volontà) erweitert worden zu sein (U. N., 12. April 1922). Zu einem Gedichtband Tormento. Poesie libertarie von Virgilia d’Andrea (Mailand, Mai 1922) schrieb er eine Vorrede. Er wird als Mitarbeiter der l.-Mai-Nummer Sorgiamo (Imola, 1922) erwähnt, ist also nach allen Seiten hin freundlich helfend tätig, ohne eigene Arbeit in Ruhe abschließen zu können.

[57] Vgl. ihre Erklärung in U. N., 20. März 1921.

[58] Ettore Aguggini wird so geschildert (U. N., 31. Mai): „Zwanzigjährig, groß, mager, blaß, schwarze unverhältnismäßig große Augen. Das Gesicht eines Asketen: ein ewiger Träumer, auf den immer das Opfer wartet. Seine Worte sind gemessen, einschneidend, kalt. Keine gesuchte Phrase, keine tönenden Worte, keine unnütze Geste. Hinter den Stäben des Käfigs (dem Platz aller Angeklagten in Italien) ist er anscheinend indifferent; vielleicht hegt er tiefe Verachtung für alles, was ihn umgibt.“ . . . Sein Inneres zeigt ein Brief an seine Schwester, der im Anschluß an die hier wiedergegebene Schilderung abgedruckt ist.

[59] Die Versuche der deutschen Syndikalisten und Anarchisten, diese Auslieferungen zu verhindern, fanden auf sozialistischer Seite usw. nur die laueste Unterstützung; näheres im Syndikalist (Berlin, Jahrgang 1922). Der sozialdemokratische Reichsjustizminister Dr. Radbruch legte sich con amore eine Theorie zurecht, die innerhalb des „politischen Verbrechens“ nach Motiven spürt und hierdurch die Auslieferungsfähigkeit so ziemlich jedes „politischen Verbrechers“ statuiert. Hiervon ganz abgesehen, müssen die Auslieferungen auch die volle moralische Billigung dieses Sozialdemokraten und seiner Partei erfahren haben, da doch sonst, wenn Amtspflicht und moralische Ueberzeugung in Widerspruch geraten, Minister zu demissionieren und Parteien ihre Mitglieder zu mißbilligen pflegen. Hoffentlich ist durch diese Opfer die Illusion über ein irgendwie wesentlich verändertes System in Deutschland zerstört.

[60] Die einer italienischen Zeitschrift entnommene Umschlagzeichnung dieses Buches zeigt Malatesta und Borghi während dieses Prozesses.

[61] Ueber den Prozeß erschienen Processo agli anarchici nelle assise di Milano von Comitato pro vittime politiche di Milano und eine Spezialnummer der Pagine Libertarie (Nr. 8—9) von Carlo Molaschi (Mailand) herausgegeben, Sommcr 1922.

[62] Mariani und Guiseppe Boldrini verfallen dem ergastolo, Aguggini dreijähriger reclusione usw. (U. N., 3. Juni 1922.)

[63] Vgl. den Artikel Organizzatori ed anti-organizzatori (U. N., 20. Juni 1922); auch 1. Juli, 16., 30. Sept. u. ö.

[64] Seit diese geschrieben, hatten die den fünfzigsten Jahrestag des Kongresses von St. Imier (s. Kap. VI) feiernden Schweizer und internationalen Genossen in Biel und St. Imier Mitte September 1922 die Freude, Malatesta unter sich zu sehen, dessen Rede mit ihren Rückblicken und Ausblicken hoffentlich bald allen vorliegen wird. Vielleicht entspringt eine neue internationale anarchistische Union dieser zuerst von L. Bertoni angeregten Erinnerung an einen der Höhepunkte der Internationale. Vgl. Le RérveilIl Risveglio, Genf, 30. Sept. 1922.

[65] Das italienische Original dieser Biographie erschien als Errico Malatesta Vita e Pensieri con prefazione di Pietro Esteve (XIV, 352 S. New York, Mai 1922 Casa Editrice Il Martello, Station D. Box 92.) Zur weiteren Ausgestaltung des Werkes wäre mir die Mitteilung von älterem und neuerem Material, Ergänzungen und Berichtigungen, sehr erwünscht, auch von Material über die italienische Internationale, besonders aus den Jahren 1877—1883 (Adresse die des Herausgebers).