#title An wen richten wir uns? #author Machete #LISTtitle wen richten wir uns? #SORTauthors Machete #SORTtopics Gefängnis #date November 2009 #source [[http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2010/06/18/an-wen-richten-wir-uns/][http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/post/2010/06/18/an-wen-richten-wir-uns/]] #lang de #pubdate 2015-01-10T20:01:49 #notes Dieser Text wurde aus der 5. Ausgabe der italienischen anarchistischen Zeitschrift “Machete“ (www.macheteaa.org) übersetzt. Er erschien auf Deutsch in der "Entfesselt" (www.abc-berlin.net/entfesselt) vom Frühjahr 2010. Im Juni 2010 wurde er nochmal überarbeitet. Es ist offensichtlich, dass wir uns nicht in der Situation befinden würden, in der wir uns befinden, wenn sich nicht überall um uns (sowie in unserem Innern) eine gewisse Abgestumpftheit breitgemacht hätte. Wenn jeder Vorfall, der die Arroganz der Macht ans Tageslicht befördert, noch immer eine Wut provozieren würde, die fähig ist, die Strassen und Plätze zu füllen, dann würden wir heute nicht täglich Razzien und Patrouillen, Überwachungskameras und kleinen Lagern, Baustellen von militärischen Stützpunkten und Atomkraftwerken begegnen. Doch so ist es. Jede Überlegung darüber, wie es dazu kommen konnte, kann insofern interessant sein, wie sie ein Beitrag zu einer möglichen Umkehrung der Tendenz darstellt. Das heisst, insofern sie hilfreich ist, um aus dieser Pattsituation auszubrechen. Denn es ist notwendig zu reagieren, da besteht kein Zweifel. Doch das Erwachen scheint nicht einfach zu sein. Wen wollen wir miteinbeziehen, wenn wir uns entschlossen haben, dieser Welt den Kampf anzusagen? Richten wir uns an all diejenigen, die unterworfen werden, oder haben wir bestimmte, zu bevorzugende Kategorien im Sinn? Wessen Ohren sind es also, die wir öffnen wollen? Wessen Reaktionen sind es, die wir hervorrufen wollen? Und vor allem, wie gedenken wir, dies zu erreichen? Welche Knöpfe wollen wir drücken? Die klassische Gegeninformationsarbeit tritt auf der Stelle. Mittlerweile ist allen klar, dass das Problem nicht so sehr ist, die Leute zu informieren und Fakten zu überliefern. Es scheint nicht die Unwissenheit zu sein, die eine mögliche Revolte hemmt. Viele sind sich dessen bewusst, was so passiert, doch dieses Wissen bewirkt keine Reaktionen. Es bleibt eine notwendige und fundamentale Arbeit, die Entfremdung zu denunzieren, die von einer durch die technologische Entwicklung allgegenwärtig gewordenen Propaganda herbeigeführt wird und die Verfälschung unserer Emotionen zu denunzieren, die uns in Zuschauer verwandelt, die all das betrachten, was einst noch endlose Proteste hervorgebracht hätte. Doch es ist offensichtlich, dass das nicht ausreicht. Und wir meinen hier nicht einen Mangel an Handlungen, von denen es schön wäre, wenn sie die Worte stets begleiten, sondern eben die Begrenztheit solcher Formen der Kritik an sich. Genauso wie ein Übermaß an Informationen paradoxerweise zu einer Desinformation führt, so führt auch ein Übermaß an Empörung zu Trägheit. Missbrauch folgt auf Missbrauch und Gewaltakt auf Gewaltakt. Wir gewöhnen uns ans Schlimmste. Wir haben uns so sehr an das untragbare gewöhnt, dass wir achtlos über die noch warmen Kadaver der dahingeschlachteten steigen. Angewidert von allem. Wer gegenüber Befehlen, die von oben kommen Taub geworden ist, ist es auch gegenüber den Kritiken, die von unten kommen. Die Verweigerung der Zustimmung geht mit der Ablehnung des Protests einher. Nun, genügt es, um endlich eine Bresche in der Mauer der Apathie zu öffnen, die Lautstärke des Weltschmerzes bis aufs Maximum zu verstärken? Eine Apathie, vielleicht wichtig zu erinnern, die in den meisten Fällen eine Art Selbstschutz darstellt. All die Empörung über die begangenen Missbräuche, all das Leid aufgrund des erfahrenen Unrechts mit dem eigenen Herzen aufzunehmen, ist als Mensch nicht ertragbar. Dies beweist die Spezialisierung, der oft diejenigen verfallen, die sich dazu entschieden, den Stimmenlosen eine Stimme zu geben. Wer ihre Verteidigung aufnimmt, zeigt Sensibilität und eine edle Seele, das steht ausser Frage, doch weist auch einen gewissen Fürsorgecharakter auf. Ein sich in den Dienst von anderen Stellen, das manchmal auch unangenehm werden kann, wenn etwa die Bedürfnisse der „Betreuten“ im Kontrast mit den Bedürfnissen ihrer „Betreuer“ stehen. Doch vorallem bringt das eine gewisse Form der Intervention mit sich, die nicht nur dazu neigt, den eigenen Aktionsradius einzugrenzen, sondern meistens danach drängt, aus der moralischen Erpressung den Punkt zu machen, auf den man sich stützt („Sie leiden und was macht ihr?“). Ja, es ist seltsam, wenn, nachdem man es müde geworden ist, die eigene Sache auf dem Nichts zu gründen, man sich dazu entschliesst, sie auf jener der anderen zu gründen. Doch dann lassen wir sie gerade wenn die Selbstlosigkeit verschwindet durch Zerstörtheit und Willenlosigkeit begraben? Nehmen wir als Beispiel den Kampf gegen das Gefängnis. Zu einer Zeit, in der die Sicherheitshysterie ihren Höhepunkt erreicht hat (mit verschärften Strafen für Verurteilte, mit dem Baubeginn von neuen Haftanstalten, während in vielen Gegenden “Null-Toleranz“ gefordert wird) und sich ein Grossteil der Sorgen der Leute um die deprimierende Leere in ihren Geldbeuteln dreht, macht es dann Sinn, sich daran zu machen, die Herzen und Köpfe der Leute zu erreichen, indem über das Unglück und die Probleme derjenigen geredet wird, die sich nun hinter den Gittern eines Gefängnisses befinden? Unter uns gesagt, scheint das der beste Weg zu sein, um gegen die Gummiwände der Gleichgültigkeit zu prallen. Deshalb ist es leider nicht verwunderlich, wenn die gedruckten Infoblätter und die diesbezüglich organisierten Initiativen, das Interesse von so wenigen Individuen wecken. Es wäre besser, zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Antiknastkampf, der die Gefangenen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt, der sich an sie widmet, heute kaum Chancen hat, sich auszuweiten. Er wird zwangsläufig auf ein spezifisches Umfeld begrenzt bleiben, das aus den Gefangenen selbst, deren Freunden und deren Verwandten besteht. Das bedeutet natürlich nicht, die Frage beiseite zu lassen. Es bedeutet, die Grenzen des eingeschlagenen Weges zu erkennen, ohne sich einzubilden, das er irgendwohin führt, wo er nicht hinkommen kann. Es bedeutet, die eigenen Gefährten (oder diejenigen, für die wir ein gewisses Interesse hegen) mit Stolz zu verteidigen, sich selbst zu organisieren, um so gut wie möglich zu helfen, ohne zu erwarten, wer weiss was für eine Bereitschaft vorzufinden, die über einen beschränkten Kreis von Interessierten hinausgeht. Doch es bedeutet auch etwas anderes. Wenn wir die Frage des Gefängnisses irgendwie nach aussen tragen, sie so vielen Menschen wie möglich bemerkbar machen wollen, bedeutet das, dass wir einen anderen Weg einschlagen müssen. Es bleibt alles zu entdecken, zu umreissen und zu eröffnen. Wenn sich die vorherrschende Gleichgültigkeit durch das Desinteresse gegenüber den Anderen charakterisiert, dann wäre es an der Zeit, damit aufzuhören, davon auszugehen. Wenn man sich an diejenigen richten möchte, die sich in Freiheit befinden, ist es notwendig, von ihnen zu sprechen, von ihrem Unglück und ihren Problemen. Nur so ist es vielleicht möglich, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihnen zu zeigen, dass das, was sie vom Knast entfernt, lediglich die eine Mauer ist. Gerade die Verschärfung der Gesetzgebung, mit der Kriminalisierung jedes geringsten von der Gehorsamkeit abweichenden Aktes, begleitet vom raschen Zerfall der allgemeinen Überlebensbedingungen bringen täglich grössere Bevölkerungsschichten den Toren der Gefängnisse näher. Ihre, wie auch die unsere, ist eine unter Führungsaufsicht gestellte Freiheit, die jederzeit widerrufen werden kann. Das verbindet uns mehr mit den Inhaftierten, als wir denken. Man kann ausserdem beobachten, wie die Lebensbedingungen innerhalb und ausserhalb der Knäste immer ähnlicher werden. Drinnen wie draussen arbeitet man und sitzt vor der Glotze. Drinnen wie draussen ist man gezwungen, unter den stets wachsamen Augen der Überwachungskameras und durch Metalldetektoren zu gehen. Drinnen wie draussen lebt man unter Zwangsbedingungen innerhalb von Räumen, die immer begrenzter sind. (Ausserdem muss man, um von Dienern des Staates niedergeschlagen zu werden, nicht mehr Mitgleid einer bewaffneten Gruppe sein oder sich als Demonstrant mit Hasskappe und einem Feuerlöscher gegen Polizeiangriffe verteidigen. Es genügt Fußballfan zu sein, mit ein paar Gramm Drogen erwischt zu werden oder bei Rot mit dem Fahrrad über die Ampel zu fahren). Lasst uns also die Herangehensweise an das Thema umkehren. Lasst uns vom Knast des Alltags ausgehen, in dem wir alle eingeschlossen sind, um die Frage des spezifischen Gefängnisses aufzuwerfen, jenes, in dem nur wenige eingeschlossen sind. Eine Verschiebung der Perspektive, die jedoch unangenehme Nebenwirkungen bedeutet, wie beispielsweise, dass die unmittelbaren Bedürfnisse der Gefangenen auf die zweite Ebene gestellt werden müssen. Derjenigen, die sehr recht haben, wenn sie nicht vergessen und aus den Leben derer ausgeschlossen werden wollen, die draussen sind, nicht aber, zu verlangen, dass ihre Forderungen gegenüber denjenigen von jenen Priorität haben, die gerade etwas glücklicher sind als sie. Wohl oder übel ist es die Situation ausserhalb der Knäste, die sich verändern muss, um darauf zu hoffen, auch jene drinnen zu verändern. Es handelt sich um eine Verschiebung der Perspektive, die auch praktische Folgen hat. Welchen Sinn haben die wiederholten Knastkundgebungen, wenn man die Gefangenen nicht zum konstanten Bezugspunkt macht? Die Kundgebung an sich stellt schon eine sehr limitierte Kampfform dar. Eine Kundgebung abzuhalten bedeutet im Grunde “zu verteidigen“[1]. Es macht also Sinn, ein Tal zu besetzen, um seine Zerstörung zu verhindern, aber was besetzen wir vor einem Knast? Die Struktur sicher nicht. Was die Gefangenen angeht, die dort eingeschlossen sind, so ist es unnütz zu verheimlichen, dass sie sich leider in den Händen des Feindes befinden. Wir sind gewiss nicht in der Lage, sie zu verteidigen. Besten Falls können wir sie unsere Anwesenheit spüren lassen und den Folterknechten zu verstehen geben, dass es auch für sie besser wäre, wenn sie eine ruhige Hand führen (Die Menschenrechtler würden das so ausdrücken: Lasst uns Druck auf die Behörden ausüben, damit sie die Gesetze in unserem Sinne respektieren). „Passt gut auf, sie sind nicht alleine, wir sind hier!“ Genau, wir sind hier… Berücksichtigen wir, dass Haftanstalten oft an verlassenen Orten gebaut sind, weshalb solche Kundgebungen oft zu Stelldicheins zwischen „uns“ und „ihnen“, Subversiven und Bullen werden, wo gegenseitige Beschimpfungen und böse Blicke ausgetauscht werden. Gewiss, manchmal wird erreicht, dass die schmerzhafte Einsamkeit der Gefangenen für ein paar Stunden gemildert wird und das bedeutet auch Zufriedenheit. Schön für diejenigen, die entschlossen sind, etwas zu tun (was, wie man weiss, besser ist als nichts); mager jedoch für die anderen, die die Tugend der Freiwilligkeit nicht spüren. Anders ist es jedoch bei Knästen, die sich immer noch inmitten der Stadt befinden. Hier ist es noch möglich, aus der Sackgasse der Gegenüberstellung von “wir/sie“ auszubrechen und andere miteinzubeziehen. Und zwar all diejenigen, die die Mauern des Knastes heute noch auf der angenehmeren Seite entlanggehen, sich aber morgen schon auf der anderen Seite wiederfinden könnten. Wenn wir die bestehende Generalisierung von Angst und Armut in Betracht ziehen, scheint es uns wenig schlüssig, denen vom Unglück anderer zu erzählen, die schon genug eigenes Übel zu lösen haben. Im Gegensatz dazu macht es mehr Sinn, zu versuchen aufzuzeigen, dass es sich um zwei Seiten ein und derselben Medaille handelt. Die Probleme derjenigen, die sich in Freiheit befinden, können sich schnell in das Unglück derjenigen verwandeln, die im Knast sitzen, da wir Gefangene ein und der selben Welt sind. Und dies ist der Punkt, an dem alle Entfernungen zusammenschrumpfen, Schicksale sich verflechten und es möglich wird, eine Kommunikation aufzubauen. [1] Anm. d. Ü.: Was hier mit Kundgebung übersetzt wurde, wird im Italienischen presidio, was eigentlich eher “Besetzung“ im militärischen Sinne bedeutet. Daher presidiare und difendere / verteidigen.