#title Gegen den Krieg, gegen den Frieden, für die Revolution!
#author Luigi Galleani
#SORTauthors Galleani, Luigi; Bertolucci, Franco;
#SORTtopics Krieg, Frieden, Aufstand, Militarismus, Erster Weltkrieg
#date 18. März 1916
#source Entnomme aus "Ne znam - Zeitschrift für Anarchismusforschung", Nr. 2, Berlin, Herbst 2015, S. 81-110.
#lang de
#pubdate 2016-01-26T01:17:29
#notes Aus dem Italienischen von Tina Düspohl.
*** Einleitung (von Franco Bertolucci)
Die vom Krieg gebeutelten Frauen und Männer begrüßte das Jahr 1916 mit sich verdichtenden finsteren Vorahnungen am Horizont. Der Konflikt, der laut der Strategen auf beiden Seiten von kurzer Dauer sein sollte, hatte sich nach eineinhalb Jahren recht bald in einen zermürbenden Stellungskrieg mit einem enormen Verschleiß an Menschenleben und Material verwandelt.
Das Jahr 1916 hatte mit der endgültigen Evakuierung der britischen Militärtruppen von der Halbinsel Gallipoli und den Dardanellen begonnen, einer harten Niederlage der Entente, und der Besetzung Montenegros durch das österreich-ungarische Heer. Am 21. Februar begann die Schlacht von Verdun und zwischen dem 11. und 19. März fand an der italienischen Front die fünfte Schlacht am Isonzo statt, der x-te Vorstoß der von der österreich-ungarischen Verteidigung blockierten italienischen Truppen.
Luigi Galleani, einer der von den nach Nordamerika ausgewanderten Arbeitern meist gehörten italienischen Anarchisten, hatte in der Cronaca sovversiva, eine von ihm 1903 in Barre (Vermont) gegründete Zeitschrift, ein hartes journalistisches Gefecht gegen den Krieg und seine Unterstützer lanciert. Am 18. März 1916 veröffentlichte er auf den Seiten der eigenen Zeitung einen Artikel mit dem exemplarischen Titel „Gegen den Krieg, gegen den Frieden, für die Revolution“. Diese Intervention kann als ein weiteres aussagekräftiges Zeugnis jenes Teils der Bewegung betrachtet werden, der sich kohärenterweise gegen das ungeheure Massaker positionierte. Galleani, „ein effizienter, wenn auch manchmal heftiger und exzessiver Polemiker“, war der Hauptvertreter einer Richtung des Anarchismus, die sich als „aktionistischer Individualismus“ definieren lässt: „Individualismus, weil er die Methode der politischen, permanenten und kollektiven Organisation zurückweist, aktionistisch deshalb, weil er das Moment der permanenten Revolte gegen die etablierte Ordnung hervorhebt. Daher finden sich in der journalistischen Produktion Galleanis, die ausschließlich in der zeitgenössischen Polemik als ein Akt der Revolte ihren Ort hatte, selten eine ideologische Vertiefung oder programmatische Beiträge; eine politische Strategie jenseits einer unablässigen Zerstörung autoritärer Institutionen findet sich fast nicht.“[1]
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte die Arbeiterbewegung und ihre politischen Avantgarden tief zerrissen. Diese hatten sich in diejenigen, die eine direkte Beteiligung am Konflikt wollten, und in die anderen, die den Prinzipien des Arbeiterinternationalismus getreu gegen den Krieg opponierten, geteilt. Die italienischen Anarchisten – zu zurückgekehrt von den antimilitaristischen Agitationen, mit denen sie Zentral- und Norditalien zwischen dem 7. und 14. Juni überzogen hatten, was später in die Geschichte als „Rote Woche“ einging[2] – mobilisierten in den Monaten zwischen August 1914 und Juni 1915 (Eintritt Italiens in den Krieg auf Seite der Entente) gegen die interventionistischen Kräfte[3]. Obwohl die Mehrheit im Land keinen Krieg wollte, eroberten sich letztere von extremen Minderheitenpositionen aus Monat für Monat größere Zustimmung und drängten die öffentliche Meinung zur Entscheidung für den Krieg – dank der finanziellen Hilfen von den französischen Freimaurern, der moderaten liberalen Presse, der Industriellen und der Bankiers, bis hin zur Unterstützung durch führende Gruppen in der Regierung und der Krone, die den Kriegseintritt Italiens ersehnten. Auch unter den Anarchisten brachen sich, wenn auch in der Minderheit, philo-interventionistische Positionen Bahn, die dazu beitrugen, die Bewegung in politischer Hinsicht zu schwächen.
Gegen diese politischen Positionen veröffentlichte am 20. März 1915 die Zeitschrift Volontà aus Ancona zeitgleich mit anderen Organen des weltweiten Anarchismus das „Anarchistische internationale Manifest gegen den Krieg“, zum Großteil von Malatesta geschrieben und fünfunddreißig anderen Anarchisten aus verschiedenen Ländern unterzeichnet – unter ihnen Alexander Berkman, Luigi Bertoni, Henri Combes, Emma Goldman, Alexander Schapiro, Hyppolyte Havel und Ferdinand Domela Nieuwenhuis –, in dem man bekräftigte, dass die Ursache des Krieges einen allgemeinen Charakter habe und in der Natur des Systems der politischen und ökonomischen Ausbeutung selbst, repräsentiert durch Staat und Kapitalismus, bestehe. Es gebe keine pazifistischen Alternativen, die den Kurs ändern könnten, der Krieg werde gegen die Völker geführt und diese hätten nur eine Wahl, die soziale Revolution, wenn sie dieser Situation aus Zerstörung und Tod nicht unterworfen bleiben wollten.
Die kompromisslose Linie Malatestas und eines Großteils der Bewegung wurde dann von einem in die Geschichte als „Le Manifeste des Seize“ [Das Manifest der Sechzehn] eingegangenen Manifest zur Diskussion gestellt, das Peter Kropotkin und Jean Grave am 28. Februar 1916 verfassten und das am 14. April 1916 in der Tageszeitung La Bataille zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Unterzeichnet hatten es fünfzehn libertäre Persönlichkeiten, unter ihnen Christiaan Cornelissen, Charles Malato, Paul Reclus und Warlaam Tscherkesoff -- alle als Vertreter einer Position für die Entente. In einer Woge von Emotionen aufgrund der militärischen Erfolge Deutschlands sowie Österreich-Ungarns und aufgrund eines möglichen Friedens, der den Status quo zugunsten dieser beiden Reiche sanktionieren würde, schrieben sie:
„Unserer tiefsten Überzeugung nach ist die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin. Deshalb haben wir Anarchisten, wir Antimilitaristen, wir Kriegsgegner, wir leidenschaftlichen Befürworter des Friedens und des brüderlichen Miteinanders der Völker, uns auf die Seite des Wiederstandes gestellt, in dem Glauben, unser Schicksal nicht von dem der übrigen Bevölkerung trennen zu dürfen. Wir halten es für überflüssig zu betonen, dass wir es lieber gesehen hätten, dass diese Bevölkerung ihre Selbstverteidigung in die eigenen Hände nimmt. Da dies unmöglich war, blieb nur, sich in das Unabänderliche zu fügen. Und mit denen, die kämpfen, sind wir der Meinung, dass solange die deutsche Bevölkerung nicht zu vernünftigeren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit zurückkehrt und endlich aufhört, sich als Werkzeug pangermanischer Herrschaftspläne missbrauchen zu lassen, von Frieden keine Rede sein kann. Trotz des Krieges, trotz des Gemetzels haben wir natürlich nicht vergessen, dass wir Internationalisten sind, dass wir die Einheit der Völker wollen, das Verschwinden der Grenzen. Und gerade, weil wir die Versöhnung der Völker, einschließlich des deutschen Volkes, wollen, sind wir der Auffassung, dass man einem Aggressor widerstehen muss, der die Auslöschung all unserer emanzipatorischen Hoffnungen verkörpert. Von Frieden zu sprechen, so lange die Partei, die Europa seit fünfundvierzig Jahren in ein befestigtes Heerlager verwandelt, in der Lage ist, ihre Bedingungen zu diktieren, wäre der schlimmste Fehler, den man begehen könnte. Widerstand zu leisten und ihre Pläne zum Scheitern zu bringen, heißt, dem vernünftig gebliebenen Teil der deutschen Bevölkerung den Weg zu bereiten und ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich dieser Partei zu entledigen.“[4]
Malatesta, zu dieser Zeit im Londoner Exil, antwortete den Pro-Entente-Anarchisten mit den folgenden Worten:
„Die Maxime ihres Handelns ist den Anarchisten durch die unerbittliche Logik ihrer Ziele eindeutig vorgegeben. Der Krieg hätte durch die Revolution verhindert werden müssen oder zumindest durch die Angst der Regierungen vor einer drohenden Revolution. Die Stärke und das Geschick, die dazu notwendig gewesen wären, haben gefehlt. Der Frieden muss durch die Revolution erzwungen werden, oder zumindest durch den Versuch, sie herbeizuführen. Dazu fehlt es derzeit wiederum an Stärke und Geschick. Nun gut! Es gibt nur einen Ausweg: es in der Zukunft besser zu machen. (...) Bis dahin halte ich es für ein Verbrechen, auch nur das Geringste zu unternehmen, was diesen Krieg verlängern könnte, der Menschen mordet, Wohlstand vernichtet und das Wiederaufleben des Kampfes um Befreiung verhindert. Ich denke, dass wer einen ,Krieg bis zum Äußersten' propagiert, in Wahrheit das Spiel der Regierenden in Deutschland betreibt, die ihre Untertanen täuschen und ihren Kampfesmut anstacheln, indem sie ihnen einreden, ihre Gegner wollten das deutschen Volk unterwerfen und knechten. Jetzt, wie seit jeher, muss unsere Devise lauten: ,Nieder mit den Kapitalisten und den Regierungen, allen Kapitalisten und allen Regierungen!'“[5]
In Italien erschien als Antwort auf das Manifest der Pro-Entente-Anarchisten ein klandestines Heft mit dem Titel Der europäische Krieg und die Anarchisten, unterzeichnet von einer Gruppe von Anarchisten, aber eigentlich von Luigi Fabbri geschrieben. Der Text, eine klar formulierte Antwort auf die Argumentation der Gruppe des „Manifests der Sechzehn“, verwarf die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg; er rief sowohl die Verantwortung Deutschlands als auch aller anderen für den Ausbruch des Konflikts in Erinnerung wie auch, dass sich von einer grausamen Auseinandersetzung zwischen Staaten nichts Gutes und noch viel weniger das spontane Ausbrechen einer Revolution erwarten ließe. Wenn letztere überhaupt hätte ausgelöst werden können, hätte sie den Weg zu tatsächlichen sozialen Umwandlungen nur finden können, wenn sich im Vorhinein der Zusammenhalt und die Zielstrebigkeit revolutionärer Bewegungen wie der anarchistischen mit zersetzender und nicht kollaborationistischer Haltung auf internationalem Niveau erhalten hätte.
Der Kriegseintritt Italiens, mit der Einberufung tausender Proletarier und Bauern, unter ihnen unzählige libertäre Aktivisten, führte zu einem autoritären Vorgehen der Regierung. Die bürgerlichen Freiheiten und politischen Kundgebungen wurden stark eingeschränkt, was dazu führte, dass die libertäre Bewegung 1916 de facto gezwungen war, sich in einer halb klandestinen Weise einschließlich eines internationalen anarchistischen Aktionskomitees mit Koordinationsfunktionen für Propagandaaktivitäten zu organisieren. Wie in allen kriegsführenden Ländern war in dieser Zeit die Presse, vor allem die der Opposition, strengen restriktiven Maßnahmen unterworfen, und viele Zeitungen wurden von den Behörden geschlossen. Zu Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 schloss eine anarchistische Zeitung nach der anderen, wie La Libertà aus Mailand, Il Cavatore aus Carrara und Volontà aus Ancona, während Guerra di classe, das Organ der italienischen Gewerkschaftsunion, seine Ausgaben im September aussetzte. Die einzige libertäre Wochenzeitung von nationaler Reichweite, die weiter regelmäßig veröffentlichte und auf eine einigermaßen umfangreiche Verbreitung zählen konnte, war L’avvenire anarchico aus Pisa, während Il Libertario aus La Spezia das erste Mal zwischen Mai und Ende Juli 1915 und dann von Mai 1917 bis Februar 1919 aussetzen musste. Im Ausland gab es hauptsächlich zwei Publikationsorgane in italienischer Sprache, die kontinuierlich erschienen und einen gewissen Einfluss nicht nur in den italienischen Auswanderercommunities, sondern auch auf die Ausrichtung der wichtigen aktiven Gruppen in Italien ausübten: Die Cronaca sovversiva, wie schon gesagt von Luigi Galleani[6] in den USA herausgegeben und Il Resveglio, von Luigi Bertoni[7] in der Schweiz publiziert. Dies sind die Zeitungen, die auf internationalem Niveau die Positionen der italienischen Anarchisten zum Krieg bekannt machten.
So oder so war der Krieg dazu bestimmt, tief in das Leben Luigi Galleanis einzuschneiden. Entschieden gegen den Krieg zögerte er nicht, sich mit den interventionistischen Anarchisten auseinanderzusetzen, auch wenn unter ihnen einige der beliebtesten Exponenten der Bewegung waren, wie Kropotkin oder Cipriani, dem er besonders verbunden war.
Galleanis am 18. März 1916 in der Cronaca sovversiva veröffentlichter Artikel „Contro la guerra, contro la pace, per la rivoluzione“, formuliert, jenseits des typisch rhetorischen und feierlichen Stils des piemontesischen Autors, mittels einer knappklaren Untersuchung der Ursachen für den Krieg und seiner Fortführung eine scharfe Kritik an den Konzepten von Kultur, Nation und Vaterland, wie sie sich seit der industriellen Revolution herausgebildet haben, und an der militaristischen Logik des Krieges als einer Menschlichkeit und Wohlergehen zerstörenden Höllenmaschine. Galleani, wie die anderen bekannten Anarchisten, Malatesta zum Beispiel, setze der Hypothese eines Friedens, der vom deutschen Militarismus und von einer Lösung der Weltkrise nach kapitalistischem Modell beherrscht würde, die einer sozialen Revolution entgegen, die einzige mögliche Alternative für einen anarchistischen Aktivisten und für eine Zukunft ohne Kriege. Für Galleani wie für Malatesta und die Anarchisten, die sich gegen den Krieg wandten, wussten die Unterzeichner des „Manifests der Sechzehn“ sehr wohl, dass ihre Erklärung nicht an dem Punkt vollkommen anti-anarchistisch wird, an dem sie den absoluten Pazifismus ablehnt und ihm die Idee der Gerechtigkeit gegenüberstellt, welche dem Frieden übergeordnet sein müsse, da es sich beim Frieden nicht um einen der wichtigsten Werte handelt. Tatsächlich war es nicht anti-anarchistisch, den Frieden als einen relativen Wert zu betrachten und also auch diesen Krieg als etwas, das akzeptiert werden konnte, falls eine Fortsetzung durch höherer Werte wie Gerechtigkeit und Freiheit gerechtfertigt würde. Es war selbst nicht anti-anarchistisch, einer internationalen Idee von Gerechtigkeit zuzustimmen, nach der die Aggressoren (in diesem Fall Deutschland) in die Lage gebracht würden, nicht mehr schaden zu können. Das, was anti-anarchistisch war, für Galleani wie für Malatesta, war die entscheidende Tatsache, dass der Krieg trotz allem vornehmlich ein Ausdruck der Aktivität von Staaten war, weshalb die Unterstützung der „moralischen Gründe“ des Krieges letztlich bedeutete, die Politik der Institution des autoritären Prinzips zu unterstützen. Hier liegt der grundlegende Fehler der Unterzeichnenden. Denn wenn es richtig war, dass Österreich-Ungarn und Deutschland die größte Schuld am Ausbruch des Krieges trugen, so hatte es keine Grundlage, alle anderen am Krieg beteiligten Mächte der Verantwortung zu entheben. Hieraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass man nicht annehmen konnte, den deutschen Militarismus zu stoppen, indem man sich mit Regierungen verbündete, auch wenn man zugesteht, dass allein Deutschland für den Krieg verantwortlich war. Dies hätte nur eine soziale und proletarische Revolution vermocht. Ansonsten würde man damit enden, dem ähnlich zu werden, das man bekämpfte, und de facto hätte sich die Bewegung den sozialdemokratischen Kräften eingereiht, die den Kriegskrediten zugestimmt und die internationalistischen Prinzipien verworfen hatten.[8]
Galleanis Propaganda gegen den Krieg und gegen die Wehrpflicht, die er auf vielen öffentlichen Konferenzen und in unzähligen Artikeln betrieb, sowie seine in sich geschlossene libertäre und subversive Position provozierten letztendlich die Behörden der Vereinigten Staaten – auch sie in das Kriegsgeschehen verwickelt.[9] Ein Gesetz vom Oktober 1917 verpflichtete alle in einer Fremdsprache publizierten Zeitungen dazu, Übersetzungen der Artikel abzuliefern, die sich auf den Krieg bezogen. Nach und nach wurden die Redaktionen und subversiven Gruppierungen unter eine strenge Kontrolle mit Durchsuchungen und Verhaftungen gestellt. Cronaca sovversiva entschied daraufhin, die Veröffentlichungen einzustellen und nur noch einige klandestine Nummern, ebenfalls unter der Redaktion Galleanis, herauszugeben. Doch die Zeit der garantierten Bürgerrechte fand in Amerika ihren Schlussakkord in den Abschiebeverfahren aller unerwünschten und als antinational verdächtigten Subjekte. Die italienische Regierung hatte ihr Erstaunen gegenüber den amerikanischen Behörden darüber ausgedrückt, dass sie während des laufenden Krieges ein so gefährliches Element wie Galleani nach Italien zurückführen wollten. Doch am Ende erklärte sie sich einverstanden. Paradoxerweise wurde seine Abschiebung als unerwünschter ausländischer Bürger erst dann erlassen, als der Krieg in Europa schon seit einigen Monaten beendet war. Galleani wurde zusammen mit anderen Subversiven per Dekret auf ein Schiff nach Genua verfrachtet, wo er im Juli 1919 ankam. Diese Abschiebung war für Galleanis Gefühle und Gesundheit ein harter Schlag: Nach circa zwanzigjährigem Aufenthalt in den USA war er gezwungen, seine Gefährtin, die eigenen Kinder und Freunde zurückzulassen.
Trotz seines Alters und seiner Gebrechen beteiligte sich Galleani nach seiner Rückkehr in Italien weiter aktiv an den Arbeiterkämpfen des Biennio rosso[10] und wurde ein zäher Gegner des Faschismus. Er wurde verfolgt und im November 1926 für drei Jahre in polizeiliche Verbannung geschickt. Am 4. November 1931 verstarb er plötzlich in Caprigiola, einem kleinen Dorf in der Provinz Massa Carrara, wohin er sich gemeinsam mit den Freunden Pasquale Binazzi und Zelmira Peroni zurückgezogen hatte.
** Luigi Galleani
Gegen den Krieg, gegen den Frieden, für die Revolution![11]
La vérité est en marche et rien ne l’arretera.[12]
E. ZOLA
Sie steigt auf und legt in die absolut reinen Hände die Fackeln und Palmwedel der Gerechtigkeit. Doch da sie sich nun nicht mal zu den Stirnen von Galileo[13] und Bruno[14] leuchtend und erbarmungslos gegen die die göttliche Majestät der Dogmen und Konzile aufschwingt; auch wenn sie demütig, diskret und bescheiden keine andere Ernte erhält und bewacht als die der täglichen und universellen Erfahrung, muss sie die Steigung nach Golgatha nehmen![15] Sie wird keinen anderen Weg finden.
Oh, ihr erinnert es!
Vor nun zwanzig Monaten, zu Ausbruch des Krieges, ermahnten wir schlicht und aufrichtig die Genossen, deren Bewusstsein, Zuversicht und Erwartung ein zwischen Donau und Schelde wirbelnder Zyklon verwirrte und drohte, weit und breit alles in das schlimmste Verderben zu ziehen:
„Wenn euch ein Strahl der Wahrheit mit einem Kuss im düsteren Limbus der gemeinen Knechtschaft traf – diese Freude und diesen Stolz, tauscht sie doch nicht gegen die Bitterkeit der morbiden Begeisterung, die jenseits des flüchtigen Rausches des Augenblicks im Bittersten, in der unglücklichsten aller Ernüchterungen versinkt; gebt diese Freude nicht auf, auch wenn zu allen Seiten um euch herum die Einsamkeit durch Vernachlässigung lauert, die dunklen Phalangen desertieren und zum Feind überlaufen, die Anführer und die Boten; auch dort nicht, wo auf den blassen Gesichtern die blinde Wut des Pöbels und der Fluch der zürnenden Oberpriester tobt… wenn euch ein Strahl der Wahrheit im düsteren Limbus der gemeinen Knechtschaft mit einem Kuss traf.
Nicht der feige Schlag der Menschen entscheidet das Schicksal der Welt! Unsere Stunde wird zurückkommen, verzweifelt nicht, gebt die Vorposten nicht auf, die mit so viel Kraft erreicht und so sorgsam bewacht wurden; verratet nicht die heilige Sache der gemeinsamen Befreiung für die Restauration des Regimes, gegen das ihr euch erhoben habt. Verratet die Revolution nicht für den Krieg!
Ein unmoralisches Entern von Piraten, eine Raserei von Schakalen, ein Zürnen von Taschendieben, die sich über den Wucher ärgern, von Krämern, Priestern, Zulieferern und Spielhöllenbesitzern, die nach der Dividende, dem Zehnten und dem schnellen Geld lechzen, ist der Krieg! Zivilisation, Vaterland, Freiheit und Fortschritt sind nur die Fahne, mit der sich der Schmuggel behängt und unter der sich der schamlose Betrug versteckt, um für die eigene Tasche, für ein Kopfgeld oder für das Glück der großen Diebe den nötigen Tribut an Energie und Blut einzufahren, den allein das Proletariat zollen kann, und den es – wenn auch fügsam und begriffsstutzig – andernfalls nicht mit der Begeisterung, dem Opferwillen und blinden Eifer zollte, alles wesentliche Voraussetzungen zum Erfolg.“
Schrieben wir dies nicht vor fast zwei Jahren bei Ausbruch des Krieges?
*** Fluch!
Mehr noch erinnert ihr!
Von jeder Wegkreuzung, aus jeder Höhle, jedem Nest, von jeder Kanzel, aus allen Mündern, aus den bekümmerten der anständigen Leute und denen der schamlosen Killer, aus dem vernebelten Gemüt des Packs und im spöttischen Grinsen der Duckmäuser schallt voller Schmeicheleien, Mitleidsbekundungen, Drohungen, Spott, Hetze und Ängste ein Ausbund an Beschimpfungen und Abscheulichkeiten: als Verlorene für die einen, Bastarde für die anderen, Unschuldige für diese, als Verkaufte für jene, vom Weg abgekommene Sturköpfe oder Wagemüter für die übrigen, haben wir zwanzig Monate die schmerzlich langsame unfehlbare Gerechtigkeit der Dinge und der Zeit im Graben erwartet, in vom innersten Bewusstsein und von schmerzvoller Erfahrung gestählter Zuversicht, während wir die rächerische Morgenröte der unbezwingbaren Wahrheit, die heute dämmert, herbeisehnten.
Sie dämmert noch sehr zaghaft; doch es reicht, um den Tag vorherzusagen, den Lauf des grauenvollen paradoxalen Betrugs zu durchdringen, das erschreckende Geflecht aus Kalkulationen, Verwicklungen, Ironie und Zynismus zu erhellen und so die Unglücklichen zu erbauen, die sich unbefleckte Fahnen einer höheren Zivilisation von diesem Krieg erwarteten, die Bekränzung des großen Vaterlandes, das blutige Banner der Freiheit, jegliche Fülle an Überfluss und Wohlergehen und die geweissagte Erneuerung des Menschengeschlechts im hyperbolischen Blutbad, das ihm seine Konstitution stärken sollte, den Willen, die Hoffnung und die Absichten, während es sich mehr schlecht als recht mit der Heuchelei tröstet, dass dieser Krieg wenigstens den ungewöhnlichen Vorteil hat, der letzte der Geschichte zu sein, wenn schon der Krieg das größte Unglück bedeutet.
*** Die Zivilisation
Wenn sich die Fortschritte der Zivilisation an den Siegen des Rechts über die Willkür bemessen, des Verstandes über die Gewalt, des Willens über den Verzicht, des Bewusstseins über das Vorurteil, des Stolzes über die Trägheit, des Menschen über das Raubtier oder das körperhafte Tier im Allgemeinen, dann gibt es keinen Zweifel: Der Krieg hat das Recht, die Vernunft, die Wahrheit, die Würde und jeglichen tiefsten und gerechtfertigten Stolz mit seinen Massen an Freiwilligen, den erzwungenen Rekrutierungen, mit den systematischen Gemetzeln, der blinden Zerstörung, mit der Schließung der Schulen, der gewaltsamen Verhinderung jedes Geisteslebens und mit der geplanten Restauration von Kirche und Kaserne – längst die einzigen Garanten eines gemeinen Lebenslaufes – zerstört. Der Krieg hat uns in jedem Land in die Finsternis des Mittelalters zurückgeworfen, in die düsterste Stunde seiner Barbarei.
*** Die Nation
Wenn die Nation nicht mehr die Überwältigung der „corveables et taillables à merci“[16] des alten Regimes und der abgeschafften adeligen Monarchien ist, sondern seit der großen Revolution die Gesamtheit der Bürger, die Ursprung, Tradition, Geschichte und Umgangsformen teilen, kann auch hier kein Zweifel sein: Der Krieg ist das am wenigsten Nationale, was man sich vorstellen kann.
Denn eins von beiden: entweder verleugnen sich diese anthropologischen Sophistereien – und das wäre angesichts der Unmöglichkeit, heute, nach Millionen Jahren der verschiedenen Paarungen und der verbreiteten Promiskuität, die Unterscheidungsmerkmale der einzelnen ethnischen Gruppen nachzuzeichnen, nicht unvernünftig; und folglich ist der kriegerische Aufruf im Namen des Stammes Schmeichelei und Idiotie. Oder man akzeptiert, und dann muss man auch die Konsequenz akzeptieren und anerkennen, dass es von den Hochebenen des Punjab durch das ganze südliche Russland, durch Ungarn, Bayern, die Loraine, Norditalien, die östlichen Departments Frankreichs und den Großteil Belgiens nur Kelten gibt, die allesamt die gleiche Abstammung teilen, so wie wir im Norden Preußen, Schotten und Iren haben, die alle Teutonen sind, alle Stammesbrüder, nur durch den Zufall auf die eine oder die andere Seite der Grenze geschlagen, und die sich heute in Flandern, in den Vogesen und in Südtirol abstechen, im Namen des eigenen Stammes mit brüderlichstem Enthusiasmus.
So konnte Sir Ray Lankester – einer der einflussreichsten Anthropologen – in einer neuerlichen Studie zu dem Schluss kommen, dass „wenn verschiedene Ambitionen und Interessen zum Krieg bei[tragen], der Rasseninstinkt jedoch keiner von ihnen ist“[17].
*** Das Vaterland
Halten wir uns ruhig von einem solch unsicheren und unzuverlässigen Feld fern, das sich in die Grenzen des Vaterlandes quetscht, das geboren wurde mit der „Erklärung der Menschenrechte“ und dem Bürger, der als sein Eckpfeiler ihm Geschichte und Ruhm erbauen sollte.
Des Vaterlandes, das – gleich dem Bürger, der in freier Ausübung seiner anerkannten Rechte stets die gleichen Rechte seines Nachbarn schützt – in Anspruch nimmt, sich in der territorialen Integrität der ihm von der Natur und der Geschichte zugesprochenen Grenzen autonom, den eigenen Traditionen, Gesetzen, Gewohnheiten folgend und ohne Fremdeinmischungen zu regieren, davon ausgenommen nur die nötige Anerkennung des gleichen Rechts der anderen Völker, der anderen Nationen.
Denn nur in der gegenseitigen Anerkennung der gleichen Rechte besteht das Fundament der Vaterländer. Zerreißt ihr dieses Band, erniedrigt ihr dieses Recht bei euren Nachbarn durch Unterwerfung eines weniger zahlreichen und weniger starken Vaterlandes, so wird euer Recht auf die Integrität einer gleichen nationalen Existenz ungültig und löst sich auf.
Italien, um sich auf ein aktuelles und praktisches Beispiel zu beziehen, fordert von Österreich die Rückgabe Trentos und Triests; nun gut. Aber Italien hält unter seiner Knute Eritrea, Benadir, Tripolitanien und Kyreneika, es steht mit einem Fuß im Dodekanes und mit dem anderen in Albanien: es tritt also bei diesen Bevölkerungen das Recht mit Füßen, das es gegenüber Österreich ins Feld führt. Um die nationale Integrität geltend zu machen, schickt es unsere Söhne in die Julischen und Rätischen Alpen. Diese sind gerade erst davon zurückgekehrt, den islamischen Bevölkerungen Afrikas oder der griechischen der Ägäis, mit denen sie weder Ursprung noch Tradition, Sprache oder Glauben gemeinsam haben, die Rechte und Bestrebungen streitig zu machen, die ihr Vaterland bezüglich Trento und Triest anzuerkennen fordert.
Offensichtlich kann man das gleiche, was man über Italien sagt, genauso und mitunter mit größerer Berechtigung über Österreich, Deutschland, England, Russland und Frankreich sagen, deren Macht sich im Hass hunderter Nationen zeigt, gleichermaßen unterworfen und ausgeblutet. Eigentlich ist es überflüssig zu zeigen, dass man von den Gründen für den Krieg nicht nur den Antagonismus zwischen Rassen, sondern vor allem die zivilen Sorgen und die „befreiende“ Aufrichtigkeit der vielen verschiedenen Regierungen ausschließen muss, die ihn seit Jahren ausbrüten und zu einem günstigen Zeitpunkt in all seinem wilden Wüten zum Ausbruch gebracht haben.
Die Realität ist eine recht andere.
Tatsächlich ist das Vaterland in der neueren Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht mehr als eine Stichflamme: es existiert nicht mehr, für niemanden.
Die Befreiung des Eigentums von den adeligen Privilegien und die Erhebung des Dritten Standes zur Führung des Landes, des Dörflers und Handwerkers zum Bürger, die Revolution, die Erklärung der Rechte, der Terror und die großen Kriege der Republik – all das hatte das Vaterland, die Nation hervorgebracht. Von den Sansculotten in alle Länder gebracht, traten die Prinzipien von 1789[18] dort eine Reihe nationaler Forderungen und Revolutionen los, von denen das 19. Jahrhundert leuchtet, das unseren Erinnerungen besonders teuer zwischen 1848 und 1870 als Epilog der konstitutionellen Bewegungen von 1821 die Erhebung eines freien Italiens auf dem Kapitolsplatz sah.[19]
Im Vaterland vereinigten unsere Alten, die seinen Bau mit Blut zementierten, alle Bestrebungen nach Freiheit und Wohlergehen.
Doch, kaum geboren, schwand das Vaterland im Spott der einen und in der Ernüchterung der anderen.
Das Bürgertum empfand seine Grenzen angesichts des Übermaßes seiner Produkte und der Anforderungen seines Verkehrs als zu eng, und es überschritt sie zur Eroberung der Märkte der Welt; es verstreute das Vaterland überall, es fand es unter jedem Himmel wieder, der mit unverhofften Profiten die eigene Unternehmerlust und den eigenen Eifer segnete: sein Vaterland war die Welt. Das Proletariat seinerseits sah, nachdem es vergeblich von den wechselnden politischen Kämpfen eine Befreiung samt der Aneignung der Produktionsmittel gefordert hatte, im Vaterland nichts als die habgierigste Reorganisation der Privilegien, von denen es fälschlich angenommen hatte, sie für immer unter den Ruinen der Bastille[20] und zu Füßen der Guillotine begraben zu haben. Es ging in die Verbannung, da es die Erfahrung machen musste, dass jedes Vaterland sich gleicht, dass sich Sprache und Bräuche manchmal unterscheiden, dass es aber überall Herren und Knechte gibt, Unterdrücker und Unterdrückte, Reiche und Arme, Erwählte und Verdammte. Vor allem Verdammte, mit denen es Schmerzen, Ketten und Miseren teilte. Es verschob die Grenzen des Vaterlandes, dorthin, wo es für den Schweiß auf der Stirn das ärmliche Brot auftrieb, über die kurze Frist hinaus, die die Tradition zwischen Wiege und Leichenstandarte gespannt hatte, weit fort, jeden Tag weiter fort, über die Alpen, über das Meer mit seinem weiten Horizont. Während seines trostlosen Pilgerns stolperte es nur über eine einzige Grenze, tief, uralt und unverändert: die Grenze, die sich zieht zwischen dem, der Müßiggang pflegt, und dem, der arbeitet, zwischen dem, der schwelgt, und dem, der stöhnt: sein Vaterland war die Welt.
Das kleine Vaterland ist tot: die Wahrheit ist im Anmarsch!
*** Ohne Zuversicht!
Es schlagen sich da unten, an verschiedenen Fronten, zwanzig Millionen Proletarier. Doch ohne Glauben, nur auf Befehl und aus Angst.
Warum sie sich abstechen, wissen sie nicht.
Das deutsche Volk, welches – hört man auf den General von Bernhardi[21], der sich dessen rühmt und auf die Verbündeten, die ihn verhöhnen – seit vierzig Jahren mit weiser Hingabe in den Kindergärten, Schulen, Vereinen, in den Kirchen und Kasernen erzogen und gestählt werde zur großen Auseinandersetzung, die „über alles“ das alte Deutschland zur Herrscherin erheben soll, fährt laut eines seiner unvoreingenommeneren Interpreten des „Vorwärts“[22] fort sich zu fragen: „Warum? Für welche Sache gibt es sein Blut? Was ist das Ziel des Krieges?“[23], und dies mit einer solchen Beharrlichkeit, dass die Reichskanzlei das indiskrete sozialistische Tagesblatt ohne Wimpernzucken unterdrückt.
Das englische Parlament ist gezwungen, um das Auseinanderfallen und das Desaster zu vermeiden, die irischen Untertanen vom Compulsory Act[24] auszuschließen und in Ägypten die rebellischen Hindu-Garnisonen angesichts des Feindes niederzuschießen. Die französischen Soldaten schreien Poincaré[25] ins Gesicht, dass sie vom Krieg „en ont assez soupé“[26]. Von der Begeisterung für die Rückangliederung italienischer Gebiete unter fremder Herrschaft in den ersten Tagen sind in Italien bewaffneter Ungehorsam und Massenerschießungen geblieben – letztere verstärkten jedoch nicht den Ungehorsam. Währenddessen ziehen den Krieg verfluchend in Wien und Petersburg die Ausgehungerten Bäckereien plündernd durch die Straßen und fordern so die Bestialität und das Blei der imperialen Kosaken heraus.
Immer noch schlagen sich einundzwanzig Millionen Menschen an verschiedenen Fronten – doch ohne Zuversicht, allein auf Befehl und aus Angst.
Wenn sie sich schlagen! In den Statistiken der „Peace Society“ aus London finden sich einige Zahlen, die eine Gegenüberstellung veranlassen.
Die Zahl der Kriegsopfer des letzten Jahrhunderts, vom englischen Krieg in Indien 1800 bis zu den Kriegen des Transvaal im Jahr 1899, summiert sich insgesamt auf zehn Millionen; die Gesamtausgaben der an den Kriegen beteiligten Nationen belaufen sich auf hundertdreiundzwanzig Milliarden Franken.
Die Opfer dieser zwanzig Monate Krieg erreichen heute laut offizieller Zahlen der verbündeten Regierungen und laut der Schätzungen Österreich-Ungarns und Deutschlands vierzehn Millionen neunhundertsechzig Tausend Menschen, während die Gesamtsumme der Schulden, also der neuen Schulden, die sich aufgrund des Krieges in diesen zwanzig Monaten ergeben haben, die Zahl von hundertfünfundvierzig Milliarden Franken erreichen.
Wir haben noch nicht die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt?
Ohne Zuversicht! Das glaubt niemand!
Quos vult perdere dementat deus! rief einst ein Dichter: „der gute Gott nimmt denen die Sinne, die er ins Verderben stürzen will“.[27] Während die Geschichtsschreiber am Hof, die höfischen Dichter, der Papst in seinen Enzykliken und die gierigen Schmarotzer des nationalen Strebertums sich in Sälen, auf Jahrmarktsfesten, bei Messen und in den heiligen Krämerläden abmühen, zum bedrohten Glauben, zum Vaterland und zur Zivilisation aufzurufen, zur Größe und Zukunft des Stammes, zu Tributen und Brandopfern, ist jedes Land ein Ozean grausamer Handelskriege.
Wollt ihr ein sehr bescheidenes Maß anlegen, dann geht ihr von nur sechs Prozent für die Provision aus, die die Bankiers sich auf die verschiedenen nationalen Anleihen genommen haben, und ihr seht, dass sich mindestens drei Milliarden Franken – dank des begeisternden Krieges – in ihren Taschen versteckt haben.
Wollt ihr nur ein Auge öffnen für die Wahrheit, die in der Tagesberichterstattung der großen Zeitungen durchscheint? Dann müsst ihr zugeben, dass die öffentliche Empörung längst nur noch ein Thema und ein Verbrechen kennt, und die Gerichte verschiedener Nationen beschäftigen sich mit nichts anderem mehr als dem Betrug bei Lieferungen, Schuhen aus Pappe, entrahmter Milch, Decken aus Brennnesseln und Jahrhunderte alten Konservendosen, die an die Soldaten im Krieg unter der Komplizenschaft der Kommandeure, Senatoren, Abgeordneten und der mit Orden Ausgezeichneten ausgeteilt werden, die wie die Schakale beim Aas stets bei einer Krise und öffentlichen Schwierigkeiten auftauchen. Während alle den Gürtel enger schnallen, das Mittag- oder Abendessen ausfallen lassen, um die Geschicke des Vaterlandes zu nähren, singen euch die Börsenberichte von Milliardengewinnen Krupps und Schneiders, der Navigazione Generale, von Terni, Barklay Co. und der Capital & County Bank, die nie zuvor so fruchtbare und glückliche Weingärten besaßen!
Das in Flüssen, in den Schluchten der Alpen, in den flämischen Dünen und auf allen Schlachtfeldern Europas vergossene Blut der Elenden nährt kein anderes Glück als das der Finanz- und Industriepiraten.
Da müsste man wirklich gutgläubig sein!
*** Der Frieden
Sie schlagen sich dennoch weiterhin!
Es ist erniedrigend; sagen wir es ganz ehrlich, die Wut steigt uns in die Kehle, wenn wir an das enorme Gemetzel der Gladiatoren denken, die – wie ihre Vorfahren im Kolosseum – ohne Grund und ohne Hass, auf Rechnung, für eine Laune oder zur Entspannung der Herrschenden und der Taschendiebe sich mit blinder Wut an allen Grenzen des alten Kontinents abschlachten.
Doch sie bleibt in der Kehle stecken.
Warum sollten sie sich nicht schlagen?
Aus der Liebe zum Leben? Zur Freiheit? Zum Frieden?
Ich werde es mein Leben lang erinnern. Ich erkundete gemeinsam mit einem Genossen, einem alten Bergarbeiter, eines der großen Bergwerke von Illinois. Am Rand des „Platzes“ hielt ich inne, um einen der Tragbalken zu betrachten, der unter dem enormen Druck des Felsens zu zerbersten drohte.
„Mir scheint, dass er durchbrechen wird.“
„Nicht heute. Der wird sicher noch bis morgen halten.“ „Doch wenn es ihm einfiele, einige Stunden vorher zu brechen, wer wird uns dann ausgraben?“
„Oh, was das betrifft, hat man nicht viel Zeit, sich etwas vorzumachen, den ein oder anderen Tag muss es so enden!“, knurrte mein Genosse, während er sich im Dreck streckte, um mit seiner Spitzhacke den Fels auszuhöhlen. Weiter sagte er nichts, doch die Spitzhacke hatte den ununterbrochenen Dialog wieder aufgenommen und hämmerte in mein Gemüt:
„Lohnt sie tatsächlich die Mühe, gelebt und bewacht zu werden, diese blinde, eingesperrte und eintönige Existenz, zu der wir verurteilt sind? Dieses Leben, das die Zärtlichkeiten der Liebe nicht kennt, nicht das Fiebern nach Wissen, noch Empfindungen des Stolzes auf die Freiheit, auch nicht die Waffenruhe der Rente und nicht die Versprechungen eines Morgen? Das Leben, das eine Düsternis ist, ein Elend, nur Angst und Leiden, und das der Hakenwurm und die Tuberkulose langsam dahinrafft? Das ein leiser Bergrutsch erstickt oder das das Grubengas mit seinen flammenden Turbinen zerschmettert? Lohnt es sich? Wenn es in unserem Dasein kein freudiges Lächeln gibt, dann ist im Krieg oder auf der Straße zu sterben, zu verbluten oder mit einer Ladung Blei alles eins. Die Strenge und die Verstümmelungen durch Disziplin sind als Zuchthausregime der Fabrik und der Arbeit am erniedrigendsten: wir haben nie erfahren, was Freiheit bedeutet. Die Unannehmlichkeiten, die Prüfungen, die Risiken und die Schrecken des Krieges sind nicht größer noch schlimmer als die des Friedens, die Sorgen der Alten, die Beschränkungen der Jungen nicht bitterer und die Drohungen des Morgens nicht finsterer: Wir haben nie erfahren, was Frieden bedeutet!“
Und sie schlagen sich.