#title Warum ich Anarchist bin / Woran ich glaube #author Lorenzo Kom’boa Ervin #SORTauthors Ervin, Lorenzo Kom’boa; #SORTtopics Rassismus, U.S.A., Black Panther Party, Autorität, Gefängnis, Student Nonviolent Coordinating Committee, Schwarze Befreiungsbewegung, #date 1993 #source Aus: Gabriel Kuhn (Hg.): >Neuer Anarchismus< in den USA, 1. Auflage, April 2008 S.112–119 #lang de #pubdate 2015-09-20T22:28:29 #notes Originaltitel: „Why Am I An Anarchist?“, „What I Believe“. Erschienen in: Lorenzo Kom’boa Ervin, Anarchism and the Black Revolution, 1993 *** Warum ich Anarchist bin Die anarchistische Bewegung in den USA ist zum allergrößten Teil weiß, und ihre Anhängerinnen entstammen der Mittelklasse. Außerdem ist sie zum Großteil pazifistisch. Es stellt sich also die Frage: Warum bin ich ein Teil dieser Bewegung, wenn nichts davon für mich gilt? Der Grund ist, dass ich eine Vision habe, die über die heutige anarchistische Bewegung in Nordamerika weit hinausgeht. Ich habe die Vision einer Bewegung, die Hunderttausende, vielleicht Millionen von Schwarzen, Latinos/Latinas und andere nicht-weiße Arbeiterinnen vereinen wird. Dies wird keine Bewegung sein, der sich schwarze Arbeiterinnen und andere Unterdrückte einfach »anschließen« werden, sondern es wird eine unabhängige Bewegung sein, eine Bewegung mit ihrer eigenen sozialen Perspektive, kulturellen Bestimmung und politischen Ausrichtung. Sie wird im Herzen anarchistisch sein, und zwar so anarchistisch, wie es keine europäische soziale oder kulturelle Bewegung je war. Die Arbeiterinnen, die diese Bewegung konstituieren werden, werden wie ich glauben, dass der Anarchismus der demokratischste, effektivste und radikalste Weg ist, unsere Freiheit zu erreichen — doch sie werden gleichzeitig davon überzeugt sein, dass wir zunächst der Freiheit bedürfen, diesen Weg selbst zu konzipieren, ob das nun von weißen nordamerikanischen Anarchistinnen verstanden oder »gutgeheißen« wird oder nicht. Unsere Freiheit muss von uns selbst erkämpft werden, niemand kann das an unserer Stelle tun. (Auch wenn uns andere in unserem Kampf helfen können.) Ich schreibe diesen Text vor allem aus drei Gründen: 1. Um eine landesweite Föderation zum Kampf gegen Rassismus und Polizeibrutalität zu gründen, die anarchistisch ist oder in der zumindest viele Anarchistinnen engagiert sind. 2. Um eine Koalition zwischen Anarchistinnen und revolutionären schwarzen Organisationen wie der neuen Black-Panther-Bewegung der 1990er zu schaffen. 3. Um in den afroamerikanischen und anderen unterdrückten Gemeinden, in denen Anarchismus bestenfalls ein Kuriosum ist, einen neuen revolutionären Impuls zu schaffen und die Gründung neuer Organisationen zu ermöglichen. Ich denke, dass dies meine Aufgabe als entschlossener, respektierter libertärer Revolutionär ist. Würden weiße Anarchistinnen diese Ideen in die besagten Gemeinden tragen wollen, sie würden kaum ernst genommen, egal wie gut ihre Absichten sein mögen. Warum ich Anarchist bin, werde ich nunmehr erklären: In den 1960ern war ich Teil einer Reihe von revolutionären schwarzen Bewegungen, inklusive der Black Panther Party, für deren Scheitern ich vor allem den autoritären Führungsstil von Huey P. Newton, Bobby Seale und anderen Angehörigen des Zentralkomitees verantwortlich mache. Dies sollen keine persönlichen Schuldzuweisungen sein, doch es muss betont werden, dass viele Fehler gemacht wurden, dass die Führung der Partei zu weit von den lokalen Gruppen (die sich auf das ganze Land verteilt hatten) entfernt war und dass sich eine Befehls- und Zwangsstruktur entwickelt hatte, die von denjenigen, die in Führungspositionen saßen, bestimmt wurde. Gleichzeitig wurden viele Probleme durch die marxistisch-leninistische Ausrichtung der Organisation geschaffen. Es gab wenig innerparteiliche Demokratie, und wenn es zu Konflikten kam, waren es die Anführer, welche die entsprechenden Entscheidungen trafen — die Leute an der Basis hatten wenig zu sagen. Schließlich kam es immer häufiger zu internen Säuberungen, und viele gute Leute wurden einfach deshalb aus der Partei ausgeschlossen, weil sie nicht mit der Meinung der Führung übereinstimmten. Letztere konzentrierte so viel Macht auf sich, dass die Partei als Massenbewegung schließlich mehr oder weniger zu existieren aufhörte, während die Anführer sich nach Oakland, Kalifornien, zurückzogen. Natürlich sind viele Fehler, die gemacht wurden, der Tatsache zuzuschreiben, dass die Black Panther Party eine junge Organisation war, die sich erbarmungslosen Angriffen von Seiten des Staates ausgesetzt sah. Ich will nicht behaupten, dass die Fehler, die intern gemacht wurden, der Hauptgrund für das Ende der Partei waren. Der Hauptgrund waren die Angriffe des Staates. Wenn die Partei jedoch besser und demokratischer organisiert gewesen wäre, hätte sie diesen Angriffen vielleicht standgehalten. Meine Kritik darf nicht als leichtfertig oder gehässig missverstanden werden. Ich liebte die Black Panther Party. Und niemand — weder ich noch sonst irgendwer, und egal, wie viel Kritik angebracht sein mag — kann der Partei die enorm wichtige Rolle nehmen, die sie für die schwarze Befreiungsbewegung der 60er Jahre gespielt hat. Trotzdem müssen wir alle Aspekte der Organisation und ihrer Geschichte betrachten, um die Fehler, die begangen wurden, nicht zu wiederholen. Ich denke, dass die kurze Zeit, die ich in der Partei verbracht habe, sehr wichtig war, da sie mir die Grenzen, ja das Versagen, autoritärer Führungsstrukturen in einer revolutionären Bewegung zeigte. Das Problem waren nicht die individuellen Persönlichkeiten derjenigen, die Führungspositionen innehatten — das Problem war, dass es einen Widerspruch gab zwischen ihren Interessen und den Interessen der Leute an der Basis. Später zog ich dieselbe Lehre aus meiner Verbindung mit der African People’s Socialist Party (APSP) — das war in den 1980er Jahren, nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen worden war. Ich traf Omali Yeshitela[277] im Gefängnis in Leavenworth, Kansas, als er 1979 zu unseren jährlichen Feiern anlässlich des Black Solidarity Day [278] eingeladen wurde. Wir blieben in Kontakt, vor allem in Zusammenhang mit der Gründung der schwarzen Gefangenenhilfsorganisation African National Prison Organization (ANPO), die von der APSP initiiert worden war. Die ANPO leistete zweifellos gute Arbeit. Neben jenen der News and Letters Committees, der Kentucky-Sektion der National Alliance Against Racism and Political Repression sowie der Social Revolutionary Anarchist Federation[279] (die es jetzt nicht mehr gibt) waren es die Briefe und Telefonanrufe der ANPO, die mir das Leben retteten, als ich an Tuberkulose erkrankt war. Ohne sie wäre ich nie ins Krankenhaus überführt worden. Leider löste sich die Gruppe auf, als Sektierertum die Gründung einer gemeinsamen Organisation platzen ließ. Unmittelbar nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis verlor ich den Kontakt zur APSP, da die Organisation von Louisville, Kentucky, an die Westküste gezogen war. Erst 1987 sprachen wir uns wieder, anlässlich einer Massendemonstration gegen Polizeibrutalität, die wir in meiner Heimatstadt[280] organisierten. Gemeinsam mit der NAPO[281] und verschiedenen anderen linken Gruppen nahm die APSP an der Demonstration teil, und in den nächsten zwei Jahren tauschten wir uns immer wieder aus. Aber ich fühlte ständig, dass die APSP politisch eine autoritäre Organisation war, und obwohl ich niemals ein Mitglied wurde, war mir ihre organisatorische Struktur nicht geheuer. Im Sommer 1988 reiste ich schließlich nach Oakland, einerseits um einen »Agitatorinnen-Kurs« zu besuchen, andererseits um mehr über die internen Dynamiken der APSP zu erfahren. Für sechs Wochen arbeitete ich von ihrem Zentralbüro aus an lokalen Projekten. Dies erlaubte mir, einen wirklichen Einblick in die Arbeit und Politik der Organisation zu gewinnen. Ich erfuhr von den Säuberungen, Fraktionskämpfen und dem diktatorischen Stil (bzw. dem »Ein-Mann-Führungsstil«) der Partei. Als ich gefragt wurde, ob ich nicht im Herbst zu einem Treffen nach Philadelphia reisen wollte, um die ANPO wiederzubeleben, willigte ich dennoch ein. In Philadelphia angekommen, wurde ich jedoch richtig unruhig, als mir offenbart wurde, dass ich auf einer Liste von »Kandidatinnen« stand, aus denen sich die Offiziellen der ANPO-Gruppe formieren sollten. Dafür hatte es nie eine demokratische Diskussion unter denjenigen gegebenen, welche die Basis der Organisation bilden sollten, und diesen Aktivistinnen war es nicht möglich, sich selbst als Kandidatinnen zu nominieren. Schlussendlich wurde ich tatsächlich zum obersten Offiziellen der Organisation gewählt. Auch wenn ich immer noch daran glaube, dass es eine Massenbewegung politischer Gefangener geben muss — im Besonderen eine schwarzer Gefangener —, wusste ich sofort, dass die wiederbelebte ANPO diese Aufgabe nicht erfüllen konnte, da es ihr nicht gelingen würde, die Kräfte schwarzer und progressiver Bewegungen wirklich zu vereinen. Nur so kann aber die Massenbasis geschaffen werden, die für eine effektive Organisation politischer Gefangener unerlässlich ist. Im Falle der Wiederbelebung von ANPO ging es nur darum, eine Partei und ihre Politik zu fördern. Die Befreiung der Gefangenen schien in Wirklichkeit zweitrangig. Ich verließ die Organisation daher und habe seither nichts mehr mit ihr zu tun gehabt. Ich erlaube niemandem, mich zu missbrauchen — zumindest nicht lange. Es war desillusionierend und deprimierend zu realisieren, was hier wirklich vor sich ging. Die frühe Phase des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC)[282] war etwas Besonderes. Keine Phase der schwarzen Befreiungsbewegung — vorher oder nachher — kann mit ihr verglichen werden. Die meisten der SNCC-Aktivistinnen entstammten der Mittelklasse und waren College-Intellektuelle. Dazu kam eine kleine Anzahl von Aktivistinnen an der Basis, die der Arbeiterinnenklasse entstammten. Trotzdem wurde eine Arbeitsweise entwickelt, die sehr antiautoritär und in der Bürgerrechtsbewegung einzigartig war. Anstatt Repräsentantinnen einer Zentralorganisation in alle möglichen Orte zu schicken, um dort die lokalen Kämpfe zu führen — so wie Dr. Martin Luther King Jr. und sein Southern Christian Leadership Council (SCLS) es taten —, schickte das SNCC einfache Agitatorinnen, die direkt mit den Menschen der betroffenen Gemeinden zusammenarbeiteten, um eine lokale Kontrolle der Kämpfe zu entwickeln und zu sichern. Das SNCC glaubte an die Fähigkeit der Menschen der Basis, ihre Ziele selbst zu formulieren und die Wege selbst zu finden, entlang derer sie diese Ziele erreichen wollten. Seine Angehörigen wandten sich gegen die Vorstellung, dass diese Menschen Befehle oder Führung von anderen benötigten. So gab es auch innerhalb des SNCC keine mächtigen Anführerinnen. Es gab Personen, die mit einer gewissen Entscheidungsgewalt ausgestattet waren, doch mussten sie sich stets den Ausschüssen der Basis gegenüber verantworten, was ansonsten innerhalb keiner der Organisationen, welche die Bürgerrechtsbewegung konstituierten, der Fall war. Das SNCC war außerdem eine säkulare Organisation. Dies unterschied sie wesentlich von Organisationen wie beispielsweise dem SCLS, der von schwarzen Predigern geformt wurde und seine Organisationsstruktur auf derjenigen schwarzer Kirchen aufbaute, in denen eine religiös legitimierte Autoritätsfigur ihren Untergebenen Befehle erteilt. Die meisten Politologinnen und Historikerinnen weigern sich bis heute, die Effektivität des SNCC in der Bürgerrechtsbewegung anzuerkennen, doch viele der erfolgreichsten Kämpfe der Bewegung wurden von ihm initiiert und gewonnen, etwa der Großteil der Wahlrechtskämpfe oder die sogenannte »Mississippi-Phase«.[283] Ich lernte im SNCC eine Menge über interne Demokratie und darüber, wie das Überleben bzw. die Moral einer Organisation von deren Stärke abhängt. Alle Menschen, die im SNCC organisiert waren, konnten in die Entscheidungsprozesse der Organisation eingreifen und fühlten sich damit als Teil eines historischen Moments, der für immer ihre Leben verändern sollte. Und sie hatten Recht. Auch wenn das SNCC später von den Reichen zerstört und ein autoritärer Führungsstil eingeführt wurde, hatten wir alle, die wir im SNCC engagiert waren, aus diesem Engagement enorm wichtige Lehren für unser Leben gezogen. Nachdem ich gezwungen wurde, die USA zu verlassen, überdachte ich vieles neu. Ich ging zuerst nach Kuba, dann in die Tschechoslowakei und andere Länder des »sozialistischen Blocks«, wie das damals genannt wurde. Auch wenn diese Länder viele bedeutende Reformen durchgeführt und die materiellen Lebensbedingungen vieler ihrer Einwohnerinnen verbessert hatten, war mir klar, dass sie im Grunde Polizeistaaten waren. Außerdem existierte in diesen Ländern nach wie vor Rassismus, den Menschen wurden grundlegende demokratische Rechte verweigert, und es gab teilweise Armut, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte. Darüber hinaus war die Korrumpiertheit der »kommunistischen« Mächtigen unübersehbar — ihnen ging es gut, während die Arbeiterinnen reine Lohnsklavinnen waren. Ich dachte mir, dass es einen besseren Weg geben müsse als diesen. So stieß ich auf den Anarchismus, über den ich zu lesen begann, als ich in Ostdeutschland gefangen genommen wurde, und über den ich schließlich mehr erfuhr, als ich in den USA im Gefängnis saß. Es ist unvermeidlich, im Gefängnis über seine Vergangenheit nachzudenken und all seine bisherigen Vorstellungen zu hinterfragen. Ich reflektierte über meine Erfahrungen in der schwarzen Befreiungsbewegung, meine schlechte Behandlung in Kuba, meine Gefangennahme in und meine Flucht aus der Tschechoslowakei sowie meine endgültige Gefangennahme in Ostdeutschland. Ich ließ all dies immer und immer wieder in meinem Kopf Revue passieren. Zu meiner ersten richtigen Einführung in den Anarchismus kam es 1969, unmittelbar nachdem ich in die USA zurückgebracht und in New York City eingesperrt worden war. Dort traf ich Martin Sostre. Sostre erklärte mir, wie ich im Gefängnis überleben würde, er gab mir zu verstehen, wie wichtig es ist, für die demokratischen Rechte der Gefangenen einzutreten, und versuchte, mir den Anarchismus begreiflich zu machen. Trotz des enormen Respekts, den ich Sostre entgegenbrachte, hatte dieser Einführungskurs in den Anarchismus keine unmittelbaren Auswirkungen, schlicht deshalb, weil ich damals seine theoretischen Konzepte nicht verstand. Erst 1973, nach bereits dreijähriger Haft, beschäftigte ich mich wieder mit anarchistischen Ideen, da ich von Anarchistinnen, die sich meines Falles angenommen hatten, anarchistische Literatur erhielt. Damit begann meine langsame Wandlung hin zu einem überzeugten Anarchisten. Freilich sollte es noch ein paar Jahre dauern, bis diese Wandlung gänzlich vollzogen war. Während der späten 1970er Jahre wurde ich vom Anarchist Black Cross in England adoptiert, ebenso wie von einer holländischen anarchistischen Gruppe namens HAPOTOC (»Help A Prisoner Oppose Torture Organizing Committee«), die auch eine internationale Unterstützungskampagne organisierte. Dies führte dazu, dass tatsächlich Menschen aus allen Teilen der Erde an die US-Regierung appellierten, mich frei zu lassen. Ich begann, eine Reihe von Artikeln für die anarchistische Presse zu schreiben und trat der Social Revolutionary Anarchist Federation [284], der IWW[285] und einer Reihe anderer anarchistischer Gruppen in den USA (und darüber hinaus) bei. Bald jedoch war meine anfängliche Begeisterung verflogen. Das Unvermögen der anarchistischen Bewegung, White Supremacy [286] zu bekämpfen, ebenso wie der Mangel an einer effektiven Politik des Klassenkampfes, frustrierten mich zusehends. Dies motivierte mich 1979, den Text Anarchism and the Black Revolution zu schreiben. Es ging mir darum, den erwähnten Fragen eine stärkere Präsenz in der anarchistischen Bewegung zu schaffen. Als ich 1983, nach beinahe 15 Jahren Haft, aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte der Text eine Reihe von Anarchistinnen beeinflusst, denen es mit dem Kampf gegen den Rassismus sowie mit dem Klassenkampf wirklich ernst war. Trotzdem wandte ich mich bald enttäuscht von der anarchistischen Bewegung ab.[287] Es sollte bis 1992 dauern, bis ich mit der anarchistischen Bewegung wieder Kontakt aufnahm. Dies verdankt sich einem Treffen mit einem Anarchisten namens John Johnson, zu dem es in jenem Jahr in meiner Heimatstadt Chattanooga, Tennessee, kam, wo ich in lokalen sozialen Projekten arbeitete. Johnson gab mir eine Ausgabe der Zeitschrift Love & Rage, woraufhin ich Chris Day von der Love & Rage Federation und Genossinnen von der WSA[288] in New York kontaktierte. Der Rest ist, wie es so schön heißt, Geschichte, und seither bin ich mit mehr Eifer denn je bei der Sache. Ich sehe, dass es heute Menschen in der Bewegung gibt, welche die Mechanismen der White Supremacy verstehen. Diese Menschen haben mich auch darin bestärkt, Anarchism and the Black Revolution zu überarbeiten. Ich habe dies dankbar getan. Warum bin ich also Anarchist? Weil es eines alternativen revolutionären Prozesses bedarf. Es gibt einen besseren Weg. Wenden wir uns ihm zu! *** Woran ich glaube Anarchistinnen glauben nicht alle an dasselbe. Es gibt Unterschiede zwischen ihnen. Das anarchistische Feld ist jedoch groß genug, damit diese Unterschiede nebeneinander existieren und respektiert werden können. Woran die anderen dabei genau glauben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, woran ich glaube. Dies werde ich mit einfachen, aber deutlichen Worten zu formulieren versuchen. Ich glaube an die schwarze Befreiungsbewegung, also bin ich ein schwarzer Revolutionär. Ich glaube, dass schwarze Menschen sowohl als Arbeiterinnen als auch als Angehörige einer bestimmten Nation[289] unterdrückt sind und dass sie nur von einer schwarzen Revolution befreit werden können, die ihrerseits immanenter Teil einer breiten sozialen Revolution zu sein hat. Ich glaube, dass schwarze und andere unterdrückte Nationen ihre eigenen Ziele haben müssen, ihre eigene Weltanschauungen und kämpferischen Organisationen. Dies gilt auch, wenn sie sich dazu entscheiden, mit weißen Arbeiterinnen zusammenzuarbeiten. Ich glaube an die Zerstörung des kapitalistischen Weltsystems, also bin ich ein Antiimperialist. Solange der Kapitalismus auf dem Planeten herrscht, wird es Ausbeutung, Unterdrückung und Nationalstaaten geben. Es ist der Kapitalismus, der für die beiden Weltkriege sowie unzählige weitere kriegerische Konflikte und den Hungertod von Millionen von Menschen verantwortlich ist. Alles nur, um die Profitgier der reichen Länder des Westens zu befriedigen. Ich glaube an Gerechtigkeit für alle Menschen ungeachtet ihrer Ethnizität, also bin ich ein Antirassist. Das kapitalistische System wurde auf der Basis der Versklavung und der kolonialen Unterdrückung von Afrikanerinnen errichtet und wird darüber aufrechterhalten. Bevor es zu einer breiten sozialen Revolution kommen kann, muss White Supremacy besiegt werden. In den USA, dem »weißen Vaterland«, bilden Afrikanerinnen eine innerstaatliche Kolonie. Weiße Arbeiterinnen müssen ihren privilegierten Status sowie ihre »weiße Identität« aufgeben und unterdrückte nicht-weiße Arbeiterinnen in ihrem Kampf für Gleichheit und nationale Befreiung unterstützen. Freiheit kann nicht auf der Basis von Versklavung und Ausbeutung anderer erreicht werden. Ich glaube an soziale Gerechtigkeit und ökonomische Gleichheit, also bin ich ein libertärer Sozialist. Ich glaube, dass die Produkte der Arbeit von der Gesellschaft geteilt werden müssen bzw. von allen, die an ihrer Produktion beteiligt sind. Ich glaube weder an den Kapitalismus noch an den Staat. Ich glaube, dass beide überwunden und abgeschafft gehören. Ich akzeptiere die ökonomische Kritik des Marxismus, aber nicht sein Modell politischer Organisation. Ich akzeptiere die antiautoritäre Kritik des Anarchismus, aber nicht seine Vernachlässigung des Klassenkampfes.[290] Ich glaube an die Kontrolle der Gesellschaft und der Industrie durch die Arbeiterinnen, also bin ich ein Anarchosyndikalist. Anarchosyndikalismus ist revolutionärer Unionismus[291], in dem Taktiken direkter Aktion verwendet werden, um den Kapitalismus zu bekämpfen und die industrielle Produktion zu übernehmen. Ich glaube, dass die Arbeitsstellen von Fabrikkomitees, Arbeiterinnenräten und anderen Organisationsformen der Arbeiterinnen selbst verwaltet werden müssen. Den Kapitalistinnen muss durch Taktiken wie Sabotage, Streik, Arbeitsniederlegung, Fabriksbesetzung usw., die Kontrolle entrissen werden. Ich glaube nicht an das angebliche Heil, das von Regierungen kommt, also bin ich ein Anarchist. Ich glaube, dass die Regierung die schlimmste Form moderner Unterdrückung sowie die Ursache von Krieg und ökonomischer Ausbeutung ist. Deshalb glaube ich, dass alle Regierungen gestürzt werden müssen. Anarchismus bedeutet mehr Demokratie, soziale Gleichheit und ökonomischen Wohlstand. Angesichts dieser Ziele wende ich mich gegen alle Formen von Unterdrückung, welche die moderne Gesellschaft kennzeichnen: das Patriarchat, White Supremacy, Kapitalismus, Staatskommunismus, religiösen Dogmatismus, Homophobie usw.         [277] Omali Yeshitela ist ein Veteran der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Er verbrachte zweieinhalb Jahre im Gefängnis für die Zerstörung beleidigender Darstellungen von Afro-AmerikanerInnen in der City Hall von St. Petersburg, Florida. 1972 gründete er die African People’s Socialist Party (apspuhuru.org), aus der später auch das Uhuru Movement (www.uhurumovement.org) hervorging. (GK) [278] Seit 1969 als Tag der Erinnerung an die Mühen und Leiden von Afro-AmerikanerInnen in Zusammenhang mit dem Aufbau der USA gefeiert. (GK) [279] News and Letter Committees – seit 1955 existierende Organisation, die auf dem »marxistischen Humanismus« von Raya Dunayevskaya (1910–1987) aufbaut; National Alliance Against Racism and Political Repression – in den 1970er Jahren unter anderen von Angela Davis gegründete antirassistische Organisation; Social Revolutionary Anarchist Federation – eine lose Gruppe nordamerikanischer Anarchistlnnen in den 80er Jahren, am bekanntesten für das SRAF Bulletin. (GK) [280] Chattanooga, Tennessee. (GK) [281] New Afrikan People’s Organization – 1968 in Detroit, Michigan, als unabhängige Republik für Afro-Amerikanerinnen auf dem Gebiet der heutigen US-Staaten Louisiana, Mississippi, Alabama, Georgia und North Carolina ausgerufen. Anhängerinnen der Idee, dass die tatsächliche Etablierung der Republic of New Afrika als unabhängiger Staat der Befreiung der Afro-Amerikanerinnen in den USA dienlich wäre, werden als »New Afrikans« bezeichnet. [282] Eine der wichtigsten Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre – 2004 erschien im Verlag Graswurzelrevolution Clayborne Carsons Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren. (GK) [283] Im Sommer 1964 konzentrierten sich die Kräfte der Bürgerrechtsbewegung auf die Registrierung von Afro-Amerikanerinnen als Wählerinnen in Mississippi, wo es zu jener Zeit kaum registrierte afro-amerikanische WählerInnen gab. Es kam zu zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Morden an BürgerrechtlerInnen. Diese Phase der Bürgerrechtsbewegung ist auch als »Freedom Summer« oder »Mississippi Summer Project« bekannt. (GK) [284] Siehe Fußnote 279. [285] Industrial Workers of the World – siehe »Einleitung«. (GK) [286] Der Begriff der »White Supremacy« ist schwierig ins Deutsche zu übersetzen, insbesondere in seiner personalisierten Form (»White Supremacist«). Er bezeichnet die strukturelle und institutionelle Privilegiertheit derjenigen, denen »weiße« Identität zugesprochen wird bzw. die Bemühungen, diese Privilegiertheit aufrechtzuerhalten. »Weiße Vorherrschaft« käme dem Konzept als Übersetzung wohl am nächsten. [287] Zu einem großen Teil aufgrund wiederholter Frustrationen mit der Nicht-Bereitschaft weißer Anarchistlnnen, die Frage des Rassismus zu einem wirklich zentralen Thema ihrer Politik zu machen. Vgl. etwa »Let’s Get Organized« (a.a.O.) oder den Brief an »Brother Ali and everyone« (a.a.O.). (GK) [288] Workers Solidarity Alliance – 1984 gegründete anarchosyndikalistische Organisation. Ausgesprochen geringer Einfluss auf die gegenwärtige anarchistische Bewegung der USA. (GK) [289] Siehe zur Debatte um den Gebrauch des Begriffs die Einführung in dieses Kapitel „Anarchismus und People of Color“. (GK) [290] Dies ist vor allem im Kontext der Debatten um den »Lifestyle Anarchism« in den 1990er Jahren zu verstehen. [291] Der »Unionismus« ist als Begriff in Zusammenhang mit der IWW und ihrem Modell der »einen großen Gewerkschaft«, der »one big union«, entstanden.