Titel: Treibsand des Nichts
Datum: September 2010
Bemerkungen: Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 3, Juni 2011.

Das Bestehende, einschliesslich seiner Spannungen, kann nicht der einzige Horizont jener sein, deren Herzen nicht aufhören wollen zu schlagen. Die plattgetretenen Pfade der Ideologie enden immer wieder dort, wo sie begonnen haben. Die Subversion kann nicht mit der politischen Terminologie von Siegen und Niederlagen angegangen werden, sie kann nur jeglicher historischen Finalität entfliehen.


Ich habe kein Zuhause mehr, keinen Herd mehr, an dem ich mich wärmen könnte. Ein Fremder in einer Welt, in der alles fremd geworden ist, in der alles entfremdet ist. In der Worte und Taten nur noch mit viel Mühe die Intentionen verraten können. Eine Welt von Fremden, die endlos in einem weitschweifigen Zeitkontinuum umherirren, worin die permanente Veränderung, das Einsacken von jeglichem festen Boden, der einzige Leitfaden ist.

Die Entfremdung ist zum Produkt schlechthin dieser Gesellschaft geworden. Sie umfasst nicht mehr nur die sogenannte produktive Sphäre, die von den kapitalistischen Verhältnissen dominiert und vom Spektakel vermittelt wird. Sie hat sich mehr oder weniger überall eingenistet. In meinen Bewegungen, in meinem Kopf, in meinen Empfindungen und – was wahrscheinlich der schwerste Schlag ist – in meinen Träumen. Die einzige Gemeinschaft, der wir heute angehören, ist jene des Kapitals, die uns alle zu Fremden machen will. Die Tatsache, diese Lebensbedingung mit der mehr oder weniger bewussten Entscheidung zu vermischen, ohne

stabile Banden zu leben, ist vielleicht einer der größten Kunstgriffe der Entfremdung. In den heutigen Bedingungen verbirgt sich keine Positivität, sondern nur neurotischer Zwang. In unserer Vorstellung würden wir gerne in einer Art freien Bewegung, wie in einem permanenten Dahinfließen umherziehen können: eine der letzten Illusionen, die uns das Kapital noch lässt, während es sich der Tatsache sicher ist, jegliches Außerhalb verunmöglicht zu haben, jeden Raum für dieses Dahinfließen umzäunt zu haben.

Vielleicht ist es mehr als sinnlos geworden, eine Auflistung der Gebiete zu erstellen, in denen die Entfremdung regiert. Ich bin kein Kind mehr der Illusion, die behauptet, dass eine detaillierte Beschreibung der desolaten sozialen Landschaft Brüche erzeugen kann, eben weil ich keinen Ausgangspunkt, keinen festen Boden mehr habe, von dem aus ich zum Angriff überzugehen könnte. Außerdem ist die Entfremdung so allgegenwärtig, dass ihre Beschreibung schließlich nichts anderes wäre, als unser persönliches Tagebuch. Und doch, obwohl die Tage der Beschreibung gezählt sind, bleibt sie der Referenzpunkt der Aktivität für die meisten Revolutionäre. Ich will damit nicht sagen, dass die Analyse der Umgebung, in der ich mich befinde, überflüssig geworden ist. Ich sage bloß, dass der Ausgangspunkt für diese Analysen nicht mehr besteht. In all unseren Analysen von der sozialen Situation, von diesem oder jenem Kampf oder Konfliktfeld, werden wir letzten Endes von dieser Entfremdung absorbiert, eben weil die Verbindung zwischen der Intention und der Aktion, zwischen dem Traum und der Analyse durchbrochen ist. So finden wir keine Worte mehr, um auszudrücken, was uns antreibt, was uns inspiriert, was uns den Mut gibt, unsere Umgebung mit einer feindlichen Miene zu betrachten.

Der Verlust des Raumes, um über unsere Intentionalität zu sprechen – und ich spreche hier nicht von unseren intimen Gedanken, die wir verwirrt in unsere Tagebücher kritzeln –, entspricht der sozialen Realität, in der wir uns befinden. Noch nie standen wir außerhalb von ihr, und heute nicht weniger. Die Kritik einer Wut ohne Träume, die in diesen letzten Jahren immer wilder um sich schlägt, gilt genauso für die Revolutionäre. Wir benutzen passe-partout Begriffe, die uns zufriedenstellen, genau wie die Ideologie andere Revolutionäre jahrzehntelang zufriedengestellt hat. „Freiheit für...“ ist das ultimative Placebo, das wir uns geben, um nicht in die düstere Ecke im Innern von uns selbst schauen zu müssen, dorthin, wo sich vor allem das Nichts versteckt. Es ist verblüffend, zu sehen, wie stark die Entwicklung des Kapitals, die als eine Bewegung betrachtet werden kann, die alles in Waren verwandelt – mit anderen Worten, immer mehr Nichts kreiert – mit der Entwicklung einer Idee der Revolution einherzugehen scheint, die inzwischen, ob man es zugibt oder nicht, das Nichts zum Ausgangspunkt hat.

So beschränkt sich die revolutionäre Landschaft im Allgemeinen darauf, Beiträge – einige etwas feuriger als andere – zum Anwachsen dieses Nichts zu liefern. Dahinter verbirgt sich wohl eine Begründung im Stil von „nichts von dieser Welt soll bewahrt werden“, und so bekommt die Negation den süßen Geschmack der Intention. Aber glauben wir das wirklich, wie es viele russische Nihilisten Ende des 19. Jahrhunderts geglaubt haben? Das scheint mir eine gewisse geistige Akrobatik zu erfordern. Denn die Ausweitung und Verbreitung der Negation, die von nicht wenigen Revolutionären als ihre letztendliche Projektualität vorangestellt wird, spricht gewissermaßen von einem Nichts, das dem Nichts, das vom Kapital produziert wird, entgegengestellt ist. Und wer kann behaupten, dass die heutige soziale Konfliktualität eher zu ersterem neigt?

Eine gewisse Verwirrungen macht sich breit, wenn mit Subversion ausschließlich Zerstörung assimiliert wird. Wartet noch einen Moment, bevor ihr mich an den Schandpfahl nagelt: auch ich denke nicht, dass die Subversion ohne einen gewaltsamen Bruch sowohl auf individueller wie auf mehr gesellschaftlicher Ebene möglich

ist. Gewiss nicht. In Hinblick auf die Perspektiven scheint es mir jedoch nicht länger möglich, die Subversion als automatischen Fortsatz von Zerstörungsakten darzustellen. Die Subversion der sozialen Verhältnisse, von der wir so oft reden, fällt nicht automatisch vom Himmel, sobald die Normalität für einen Moment aussetzt. Die Existenz einer subversiven Intentionalität, ihr Anwachsen und Reifen, sind untrennbar mit der Fähigkeit verbunden, zu träumen, über eine

Analyse des Bestehenden hinauszugehen und der Vorstellungskraft Flügel zu verleihen. Sie fordert mehr, viel mehr als eine Multiplizierung brennender Gebäude und zerbrochener Schaufensterscheiben.

Eine Welt, die uns in den Regalen der Läden oder auf dem virtuellen Markt für jedes beliebige Verlangen ein geschmackloses Placebo anbietet, ist eine Welt, die sich uns Untertan macht. Es mag vielleicht sein, dass die Peitsche immer weniger Verwendung findet, doch die Einschränkung unseres Horizonts tut die Arbeit mindestens ebenso gut. Aus diesem Grund sind die Theorien mit revolutionären Ansprüchen über das Überleben so besonders unausstehlich: anstatt weiterhin zu versuchen, in die Ferne zu spähen, wird die Nabelschau als einzige Möglichkeit präsentiert, die nicht an den Krankheiten des Militantismus, des Voluntarismus und der Ideologie leidet. Dem Mangel wird nicht mehr die Großzügigkeit, die Fülle oder das Exzessive des Lebens entgegengestellt, sondern die Tatsache, die Gesellschaft mit Überlebenstechniken überlisten zu können, von denen eine gerissener ist als die andere. Die Entfremdung erreicht ihren eigentlichen Höhepunkt, wenn es ihr gelingt,

Anpassung und Einschränkung als Revolte und Kampf durchgehen zu lassen.

Um den anfänglichen Faden wieder etwas aufzunehmen: ich denke nicht, dass wir unsere Fremdheit, unsere Entfremdung zu einem Ausgangspunkt machen können. Die Sache wird noch viel schwieriger, nun, da alle Illusionen über ein Außerhalb, über eine zwar limitierte aber dennoch mögliche Beseitigung unserer Fremdheit, wie Schnee in der Sonne dahinschmolzen. Ich kann der heutigen Entfremdung auch nicht eine Art von Gemeinschaft entgegenstellen, da diese immer von Autorität und von der Unterwerfung des Individuums gezeichnet ist. Diese Pfade sind endgültig verbaut, und jene, die sich noch immer auf sie begeben, werden sich innert

kürzester Zeit in den Fallstricken und Gruben des Bestehenden verfangen, oder von den Rittern der Herrschaft wieder eingefangen werden. Schließlich kann ich auch nicht dem reinen Nichts als meine Intentionalität huldigen, denn dieses Nichts gleicht nur allzu sehr dem Nichts des Kapitals. Ich muss andere Wege ausfindig machen.

Auch wenn sie überall vom Nichts spricht, ist die soziale Landschaft, die sich vor uns ausbreitet, dennoch keine Wüste. Die Trockenlegung und Ausrottung sind zweifellos Taktiken, die verwendet wurden, heute aber wurden sie von einer subtileren Art von Verwaltung überholt. Der feste Boden ist eingesunken und zu einem Sumpf geworden. Viele ertrinken, verirren sich im hängenden Nebel, viele andere aber entfachen wandelnde Flämmchen, die diese Verwaltung aus der Orientierung bringen. Es handelt sich also nicht um eine Wüste, und es sieht gar so aus, als würden sich die Flammen in den kommenden Jahren immer weiter verbreiten. Aber das Feuer, das heute wütet, ist nicht dasselbe, wie jenes, das die Festungen und Gefängnisse von einstmals niederbrannte. Darüber will ich mir keine Illusionen mehr machen. Und abgesehen davon, müssen denn diejenigen, die erneut Fauna und Flora in den Sumpf bringen wollen, diesen Flammen hinterherrennen? Ich will mir stattdessen lieber überlegen, wie ich meinen eigenen Flammen die tausend Farben der Freiheit geben kann.

Wir befinden uns nicht in der Situation eines totalen Bruchs mit der Vergangenheit. Auch wenn sich die heutige soziale Realität eher schwer mit ihr vergleichen lässt, gibt es gewiss Möglichkeiten, bei einigen Punkten wieder anzuknüpfen. Wir müssen uns wieder bewusst werden, dass dagegen sein nicht ausreicht, dass es nicht ausreicht, wenigstens zu wissen, was wir auf alle Fälle nicht wollen. Die rechtmäßige Kritik der Wartehaltung wird auf diese Weise allzu schnell zu einem vermummten Gradualismus. Die Unmittelbarkeit der revolutionären Intentionalität verträgt keinen Aufschub, sonst droht ihr die ideologische Versteinerung. Wir müssen nicht nur hier und jetzt zerstören, was wir nicht wollen, wir müssen auch von dem sprechen, was wir wollen. Jeglicher Aufschub ebnet der Entmutigung und der Niederlage den Weg.

Es gab Menschen, die auf eine Art und Weise von ihren Träumen zu sprechen wussten, die die unmittelbare Subversion forderte, Menschen, die sich nicht in die Dialektik von These und Antithese mit dem Bestehenden verstricken ließen. Die Entfremdung und die Ideologie arbeiten im Detail, in der Trennung. Sie unterteilen die Gesamtheit der Subversion in Fragmente, unter dem Vorwand, sie an diesen oder jenen spezifischen Kampf anzupassen. Und selbst wenn wir das Gefühl haben, dass ein solcher Kampf vorangeht, sehen wir uns früher oder später gezwungen, festzustellen, dass die Subversion auf der Strecke blieb, und dass wir uns auf das Terrain der Politik begeben haben, mit seinen Siegen und Niederlagen. Auf das Terrain der Gewöhnung und des normalen Laufs der Dinge.

Subversion bedeutet Untergrabung des Bestehenden, des Wie die Dinge sind. Sie kann nichts anderes sein, als ein Sprung weit weg von dem, was wir erwarten. Jetzt, da deutlich ist, dass die physische Befreiung von Räumen und Gebieten mit größter Wahrscheinlichkeit nichts anderes als eine Reproduktion der Entfremdung wäre, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf unser eigenes Leben richten, den authentischen Ort des sozialen Krieges, wie einmal jemand sagte. Nicht um sich eine individuelle Nische aus dem Granit zu hauen, sondern um sich dem Unerwarteten, dem Unerhörten zu öffnen. Den Begegnungen, die in dieser Welt eigentlich nicht stattfinden sollten und somit die Rollen auf den Kopf stellen, die in der sozialen Realität wie in den revolutionären Kreisen den Ton angeben. Nur so macht es Sinn, von Komplizenschaft zu sprechen.

Die spezifischen Kämpfe, die wir führen, bleiben trotz allem wichtig, denn sie sind paradoxerweise die einzigen Orte, an denen wir von etwas anderem als vom spezifischen Kampf sprechen können. Hier verbirgt sich die schöne Irrationalität der Subversion. Wieder von unseren Träumen, von der sozialen Revolution sprechen zu lernen, wenn auch auf eine ganz neue Weise, bedeutet dennoch nicht unbedingt, „die revolutionäre Bewegung aufzubauen“ oder dem „totalen revolutionären Kampf“ beizutreten, wie es einige gerne predigen. Es bedeutet vielmehr, sich der Möglichkeiten der Subversion innerhalb der bestehenden sozialen Konfliktualität anzunehmen. Aber letztendlich wurden die Fragen vielleicht schon zu lange auf eine falsche Weise gestellt: die Subversion – auch wenn wir es bis zum Überdruss wiederholen – lässt sich nicht auf Statistiken über die Kräfteverhältnisse und noch viel weniger auf das Ausmaß an Zerstörung reduzieren. Die Subversion kann nicht mit der politischen Terminologie von Siegen und Niederlagen angegangen werden, sie kann nur jeglicher historischen Finalität entfliehen. Sie bricht mit der linearen Auffassung von Zeit und Geschichte, sie drückt sich in einer spiralförmigen Bewegung aus. Sie verbirgt sich in der Entdeckung eines neuen Spiels zwischen allein sein

und zusammen sein, in einer neuen Verknüpfung zwischen dem Teil und der Gesamtheit. Sie drückt sich in einer neuen Auffassung der Zeit, einer neuen Verwendung der Zeit aus, die wir mit aller uns möglichen Gewalt entreißen.

Unsere gegenwärtige Situation ist kritisch. Wir befinden uns zurückgedrängt in eine Ecke, unsere Sprache wurde von der Ideologie beschlagnahmt und selbst die Materialität, die noch in unserer Reichweite lag, rieselt uns wie Sand durch die Finger. Dennoch verfügen wir über Waffen, die, während sie dem Rost der Herrschaft gut standhalten, die Abnutzung durch Inaktivität jedoch schlecht vertragen. Wir tragen in uns ein ganzes Arsenal, das uns helfen könnte, von einer Revolte zu sprechen, die nicht mehr nur die Negation der sozialen Bedingung ist, sondern stattdessen ein Sprung in die Subversion der Verhältnisse. Eine Entschlossenheit, die

die Zugeständnisse der Gesellschaft zu verachten weiß. Ein Mut, der es ermöglicht, alleine zu gehen. Eine Beharrlichkeit, die sich weigert, Unterdrücker und Unterdrückte in einer Ode an das Nichts zu vermischen. So ziehe ich in den Kampf, mit dem Enthusiasmus eines Kindes. Doch ich weiß jetzt, das dies nicht mehr ausreicht. Ich brauche mehr, ich muss auch wieder lernen, wie ich Figuren in den Wolken erkennen kann.

Die Ideologie hat unsere klassischen Phrasen von ihrem Inhalt getrennt, während der gesunde Menschenverstand des erstickenden Realismus weiterhin die Feder ist, die das Uhrwerk der Herrschaft bis in alle Ewigkeit wieder aufzieht. Das Bestehende, einschließlich seiner Spannungen, kann nicht der einzige Horizont jener sein, deren Herzen nicht aufhören wollen zu schlagen. Die plattgetretenen Pfade der Ideologie enden immer wieder dort, wo sie begonnen haben. Sie weiterhin zu begehen, wird die Umzingelung nicht durchbrechen. Nur das Abenteuer abseits der Pfade bietet noch eine Chance, uns und unsere Zeitgenossen der Entfremdung zu entreißen. Und dieses Abenteuer fragt all unsere Aufmerksamkeit. Die Poesie des Lebens duldet keine Waffenruhe, in einer Welt, die mit dem Tode verbandelt ist.