Léopold Roc
Die vernebelte Spur von Os Cangaceiros durch die soziale Pampa
Zwischen 1985 und 1990 erlangte die Gruppe „Os Cangaceiros“ durch einige durchschlagende Aktionen in Frankreich einen gewissen Ruf; jetzt, da Os Cangaceiros der Vergangenheit angehören, sind es wahrscheinlich diese Aktionen, die es wert sind, in der Erinnerung zu bleiben, oder eher noch die Lektionen und Kritiken, welche man daraus ziehen kann. Die folgenden Anmerkungen versuchen dennoch weder Bewunderung noch Verachtung zu erregen: ich denke ganz einfach, dass sie nützlich sein können für andere, die sich auf einen ähnlichen praktischen Dissens einlassen wollen.[1]
Die verschiedenen Sabotageakte, die wir ausführten, waren die Erklärung, dass eine handvoll entschlossener Leute sich etwas effizienterem hingeben können als dem gewohnten Flugblatt/PamphletVerteilen, wenn es darum geht, Solidarität oder Unzufriedenheit auszudrücken. Im Jahr 1985 war es die Idee, die Forderungen der damals revoltierenden Gefangenen durch die Störung des Schienenverkehrs im großen Rahmen zu verbreiten. Das Blockieren von Autobahnen und Eisenbahnlinien hat eine lange Tradition im französischen Arbeiterkampf und durch das Anwenden dieser Mittel wollten wir verdeutlichen, dass die Revolte eines Gefangenen ein ebenso legitimer sozialer Kampf ist wie jeder andere: genauso wie Arbeiter für eine Lohnerhöhung streiken, revoltieren Gefangene für die Reduzierung der Strafen – und bei beiden steht natürlich mehr auf dem Spiel als die ausgedrückten Forderungen. Selbstverständlich erkannten die Medien und der Staat dies nicht an und wetterten gegen die von Kriminellen unterstützten Terroristen (oder umgekehrt). Trotzdem wurde diese Art, Solidarität zu zeigen, gut von den Menschen innerhalb der Gefängnismauern aufgenommen und auch von jenen draußen. Im Zuge der Berichte über unsere Aktionen musste die Presse auch die Forderungen der Gefangenen erwähnen und erlaubte so die weitere Verbreitung eben jener Forderungen. Es muss auch hinzugefügt werden, dass die vier wegen dieser Aktionen angeklagten Personen, trotz der irren Beschuldigung des Terrorismus, letztendlich sehr milde Strafen bekamen, dank einer lokalen Verteidigungskampagne, die in Bezug auf die „Terroristen“-Frage die entgegengesetzte Richtung einschlug.
Obwohl wir diese bestimmte Art der Aktion nicht endlos reproduzieren und unsere ganze Zeit auf dem Gleisschotter verbringen wollten, griffen wir im Februar 1986 noch einmal darauf zurück. Dieses Mal, um Abdelkarim Khalki zu unterstützen, der seinen großzügigen Sinn für Freundschaft und Menschlichkeit gezeigt hatte, indem er versuchte, seine Kumpels, Courtois und Thiolet, während ihres Prozesses zu befreien. Er nahm das Gericht, die Jury und die Journalisten als Geisel. Nach 36 Stunden scheiterte sein Versuch, jedoch nicht bevor sie es schafften, die Richter, das Rechtssystem und die Gesellschaft live in der Hauptsendezeit des Fernsehens zu „richten“. Jetzt war Khalki im Hungerstreik und forderte, dass der Innenminister das von ihm gegebene Versprechen einhielt, ihn im Austausch für das Aufgeben von Thiolet und Courtois gehen zu lassen. Eines Morgens fanden tausende Pariser eine gute Ausrede, um zu spät zur Arbeit zu kommen, nachdem wir praktisch das ganze U-Bahn-Netzwerk für mehr als eine Stunde lahmgelegt hatten, indem wir ganz einfach schwere Gegenstände auf die Gleise warfen und die elektrischen Hauptleitungen durchschnitten. Plakatierte Poster in und um die U-Bahn-Stationen informierten jeden über Khalkis Situation und seine Forderungen. Wiederum zwang diese Aktion die Presse dazu, Khalkis Hungerstreik, den sie bis zu diesem Zeitpunkt vertuschte, zu erwähnen. Selbstverständlich hielt die Regierung nie ihr Versprechen und Khalki bekam eine schwere Strafe. Wie unser Poster damals sagte: „Was kann man vom Staat außer Lügen und Schlägen erwarten?“
Die Reihe von Aktionen, die wir zwischen 1989 und 1990 ausführten, gründeten auf einer anderen Perspektive. Dieses Mal war es keine direkte Antwort auf eine gerade stattfindende Revolte[2], sondern eine Entscheidung, um irgendwie gegen den geplanten Bau von neuen Gefängnissen vorzugehen. Das bedeutete, dass wir selbst das Timing und die Mittel wählen konnten, die wir für angebracht hielten, ganz abgesehen von den offensichtlichen Gründen, warum einen die Aussicht auf 13.000 neu gebaute Käfige ankotzt. Wir hatten auch persönliche Gründe für unseren Ärger, da wir in den letzten Jahren permanenten Auseinandersetzungen mit der Polizei ausgesetzt waren, welche versuchte, die Cangaceiros mit so wenig wie möglich Aufsehen zu beseitigen, was uns zur ständigen Flucht zwang. Es war keine Übertreibung anzunehmen, dass diese Gefängnisse auch für uns gebaut wurden und da „Angriff die beste Verteidigung ist“, dachten wir, dass wenn wir schon gefasst würden, dann auch für etwas sich Lohnendes. Dennoch spielte das Gefühl eines sorgenvollen Notfalls auch eine schädliche Rolle bei der ganzen Sache. Das spielende Element, notwendig für jede Art der subversiven Aktivität, neigte sich in eine neurotische Besessenheit vom erzwungen erfolgreichen Ergebnis zu verwandeln.
Der abschließende Bericht, den wir zu dieser Kampagne veröffentlicht hatten, könnte einen betrügerischen Eindruck von Leichtigkeit und Mühelosigkeit hinterlassen. Genau genommen rannten wir für mehr als ein Jahr mit unseren Köpfen gegen die – gut bewachten – Wände der Regierungsbüros, privaten Unternehmen, Baustellen und geheime Daten beherbergenden Orte, mit dem Eindruck, dass unsere Sabotage nur ein Nadelstich gegen eine monströse Maschinerie war. Damit konfrontiert, war unsere erste Reaktion, unsere Ziele zu überschätzen, was zu einer gefährlichen (d.h. unkontrollierten) Eskalation führen kann. Zudem neigen Langzeitpläne in Zusammenhang mit Hit-Squad Aktivitäten dazu, ihre eigene „militärische“ Logik zu entwickeln, die uns von distanzierteren und selbstkritischeren Reflektionen entfremdet und die Mittel somit den Zweck erfüllen.[3] So unhierarchisch die Gruppe auch sein mag, hatte trotzdem jeder das Gefühl, die Initiative zu verlieren und es dauerte einige Zeit, bis wir realisierten, dass wir eine viel effizientere und einfachere Karte ausspielen konnten, nämlich die weite Verbreitung der geheimen Pläne und Dokumente, die in unsere Hände gelangt waren. Dies war jedoch nicht nur eine Änderung der Taktik; und ich möchte einige allgemeinere Überlegungen zu diesem Thema aufwerfen.
Die erste betrifft unsere Beziehung zu den Medien. Die Art der Sabotageaktionen, die wir 1985 und 1986 ausführten, war sehr abhängig von der Medienberichterstattung. Wie sehr man die Medien auch hasst, man braucht auch ihre Aufmerksamkeit, denn was ist eine solidarische Aktion wert, wenn jene, an die sie gerichtet ist, nichts davon mitbekommen? Und deshalb ergibt man sich ihrer Macht: der Macht, dich zu verleumden, deine Sache übertrieben aufzublasen, um Repression zu provozieren, oder dich ganz einfach nicht zu erwähnen und so unbemerkt zu bleiben. In den Jahren 1989 und 1990 hatte die Presse offensichtlich die Anweisung bekommen, unsere Aktivitäten auszublenden: sogar die lokalen Zeitungen, die es nie versäumen würden, über einen überfahrenen Hund zu berichten, schrieben keine einzige Zeile über die Sicherheitsfirma, die wir zu Asche verbrannt hatten oder über den Gefängnisarchitekten, den wir in Paris auf offener Straße verprügelt hatten.
Mit der Verbreitung des „13.000 Ausbrüche“-Dossiers stellten wir das Problem auf den Kopf. Bevor die Medien auch nur irgendwas erfuhren, waren sich schon zehntausende Menschen darüber bewusst was passierte. Wir hatten das Dossier zum Beispiel an alle Cafés der Orte geschickt, an denen neue Gefängnisse gebaut wurden, und unsere Spione vor Ort meinten, dass es in allen Bars Diskussionen nährte, die den ganzen Tag anhielten. Einer Lokalzeitung zufolge eilte eine entsetzte Rentnerin zum lokalen Gemeindeamt und fragte, ob es wahr sei, dass Gefangene durch sabotierte Gefängnismauern ausbrechen könnten. Die Beamten kopierten das Dossier, das die Frau erhalten hatte („die Kopierer waren an diesem Tag sehr beschäftigt“, schrieb ein Journalist) und es wurde an höhere Institutionen weitergeleitet. Die Journalisten waren dann gezwungen, herumzueilen, um eine Kopie des Dossiers zu ergattern und so gingen an diesem Tag die Neuigkeiten ihren Weg; von den Lokalzeitungen zur nationalen Presseagentur, bis ein Regierungsvertreter eine Pressekonferenz veranlasste, um die Öffentlichkeit bezüglich möglicher Gefahren der Enthüllung dieser Dokumente zu „beruhigen“. Und nur weil wir dieses Mal die Presse nicht als notwendiges Übertragungselement gebraucht hatten, um die Öffentlichkeit zu erreichen, waren ihre Meldungen weitaus folgerichtiger und genauer als gewöhnlich – manchmal sogar lustig. Le Figaro druckte einen ganzseitigen Artikel mit dem Titel „Ausbrüche – Anleitung zur Anwendung“, in dem sie unseren ganzen Brief rezitierten, und eine andere Zeitung kommentierte: „Diese Cangaceiros sind genauso romantisch wie ihre Vorfahren (d.h. die brasilianischen Sozialbanditen), aber besser organisiert.“ Ein TVNachrichtensprecher schlussfolgerte: „Man könnte denken, das sei ein schlechter Witz, denn waren diese Personen nicht schon der Polizei bekannt?“ Dies ist die Moral zur Geschichte: die beste Nutzung der Medien (anstatt von ihnen benutzt zu werden) ist, zu versuchen, sie zu übergehen.[4] Sie zuerst verzichtbar machen, damit sie vielleicht als gewöhnlicher Verstärker der Geschehnisse fungieren, ohne dass wir ihre Hilfe einsetzen.
Hinter der Medienproblematik liegt jedoch eine viel substanziellere Frage. Je mehr wir danach strebten, dem Gefängnisprogramm beständigen Schaden zuzufügen, desto mehr entwickelte sich das unbehagliche Gefühl, dass wir einen „eins gegen eins“ Kampf gegen den Staat führten – eine Herausforderung, die wir als solche offensichtlich verdammt waren zu verlieren. Wir waren „Die letzten Mohikaner“ in ihrem verzweifelten Angriff gegen die Bleichgesichter. Schlussendlich war es von geringerer Wichtigkeit, ob die Medien über diesen Kampf berichteten bzw. ob es Sympathie oder Verachtung in der Öffentlichkeit erzeugen würde, denn die „Öffentlichkeit“ konnte ohnehin nichts anderes als eine Öffentlichkeit von weit weg betrachtenden Zuschauern bleiben. Wir betrachteten uns nie als sich opfernde Avantgarde, dennoch fanden wir uns in eine Ecke gedrängt wieder, in der unsere „guten Absichten“ wenig Nutzen hatten. Die Option, die Gefängnispläne zu verbreiten, war so etwas wie ein Durchbruch, der Anklang fand, nicht bei den Zuschauern, sondern bei potenziellen Komplizen, die sich in unserer Initiative erkannten und diese weiterführen konnten. Dies funktionierte ganz gut. Obwohl einige Gefangene sicherlich von dem Dossier wussten und begeistert darüber waren, wissen wir nicht, ob es Häftlingen wirklich geholfen hat, um einen Weg aus dem Gefängnis zu finden (seither jedoch hat die Presse, sobald es in einem dieser Gefängnisse Unruhen gab, es niemals versäumt, an jene fehlende Dokumente zu erinnern, die irgendwo dort draußen frei zirkulieren). Nichtsdestotrotz trug die spielerische Seite des Stehlens verbotener Dokumente bzw. des heimlichen Weiterreichens an andere sicher zur großräumigen Verbreitung bei. Sogar Leute, die uns für gewöhnlich nicht mochten, schätzten es, dass wir dem Staat gezeigt hatten, was wir von ihm halten. Dieser schlussendliche Erfolg war auf alle Fälle auch eine Ablehnung gegen unsere frühere Perspektive, ganz abgesehen von der Freude, dass wir es durchgeführt hatten, denn letztendlich hinterließ die ganze Sache uns in völliger Erschöpfung.
Um zur entfremdenden Seite von langzeitlicher klandestiner Aktivität zurückzukommen: die Polizeistrategie gegen uns passte bemerkenswert gut auf die oben beschriebene. Wie ich bereits erwähnte, hatte es die Polizei auf ein hartes Durchgreifen ausgelegt, zusammengetragen zu einem spektakulären Schauprozess, komplettiert mit erfundenen Beweisen und es scheint, als ob sie auch versuchten, uns zu infiltrieren, um uns dazu zu bringen, Bomben zu legen.[5] Ihr Hauptinteresse dieser Jahre lag jedoch darin, uns durch permanente Schikanen von unseren potenziellen Verbündeten zu isolieren. Im Februar 1991 folgte dem „13.000 Ausbrüche“ Skandal eine mittels der Medien inszenierte Razzia in mehreren Städten, bei der 25 Menschen verhört und ihre Wohnungen durchsucht wurden. Dem Mordicus Magazin, das Teile unseres Dossiers veröffentlicht hatte, wurde mit gerichtlichen Schritten gedroht. Nachdem der französische Staat sich 1987 Action Directe entledigt hatte, suchte er nach einem neuen offiziellen inneren Feind, und wir waren definitiv auf ihrer Liste ganz oben, um diese Rolle einzunehmen. Es ist Grundschule der Polizeipsychologie, dass je mehr ein Individuum oder eine Gruppe vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten ist, es/sie mit einem umso erhöhten Level an Gewalt reagiert, was es/sie wiederum weiter isolieren wird. Die Nachrichtensperre der Medien über unsere Aktionen gegen die neuen Gefängnisse hatte zweifellos dies zum Ziel und wir entblößten uns dem zugegebenermaßen. Wir dachten, es sei mit einer Kritik am Terrorismus abgetan, da wir nie eine Möglichkeit versäumten, um unsere Verachtung für Action Directe, Rote Armee Fraktion, Brigate Rosse, etc. auszudrücken, und weil wir uns weigerten, auf Bomben und Gewehre zurückzugreifen – „unsere Aktionsmittel sind die, die jeder beliebige Proletarier anwendet: Sabotage und Vandalismus“. Dies verfehlte jedoch die essentielle Frage: im Kontext von sozialer Regression kann eine Gruppe von Leuten, die ihre gewaltvolle Revolte durchsetzt und so heraussticht, einfach hervorgehoben, isoliert und auf feindliches Terrain – den Bullen in deinem Kopf – geschleppt werden. Unbewusst findet man sich darin wieder, sein eigenes Verhalten und die eigenen Gedanken nach ihnen zu formen und dies ist ihr erster Sieg.
Dieser Widerspruch präsentierte sich auch im weniger öffentlichen Teil unserer Aktivität, dem organisierten Diebstahl, „la reprise“ (das Wiederaneignen), wie es die anarchistischen Illegalisten im späten 19. Jahrhundert nannten. „Ne travaillez jamais“ [Arbeitet niemals]: wir erachteten diesen Ausdruck niemals nur als poetischen Slogan, sondern als unmittelbares Programm. Natürlich ist auch Diebstahl in vielen Belangen eine Art der Arbeit, deren Aufteilung, Organisation und Resultate jedoch dir selbst gehören. In einem permanenten Kampf zu leben, lässt dich einige wertvolle Fähigkeiten verfeinern und letzten Endes – nur wenn du erfolgreich warst – hast du die Freude, dich dem vorhergesagten Schicksal zu widersetzen. Außerdem, wie Woody Allen es in „Take the Money and Run“ ausdrückt, sind die Arbeitszeiten gut, man trifft interessante Menschen und die Bezahlung ist ordentlich. Natürlich war unser Ziel weder unsere Kohle für Sportautos, Paläste oder Champagner rauszuschmeißen (obwohl nichts falsch ist mit Luxusgütern!) noch Kapital für irgendeine Businessinvestition anzuhäufen. Auch wenn wir es kollektiv geschafft hatten, einen netten Betrag zu bunkern, die Frage nach der kollektiven Verwendung, die unseren sozialen Ambitionen entsprach, stellte sich noch immer. Auch weil wir mit dieser abstrakten radikalen Sprache brechen wollten, von der wir nie wussten, woher sie eigentlich gekommen war, denn wir wollten aus unserer eigenen konkreten Situation als Delinquenten in dieser Welt sprechen. In dieser Hinsicht fühlten wir, wie weit entfernt wir von den alten anarchistischen Illegalisten in Spanien und anderswo waren, die Teil von nachhaltigen Gemeinschaften waren und deren Diebstähle als untrennbare Bestandteile eines anhaltenden Kampfes betrachtet werden konnten. Durruti hatte sich beleidigt gefühlt, wenn die Presse ihn einen Bösewicht nannte; er war ein Arbeiter unter anderen Arbeitern, die ihn auch als solchen erkannten.[6] Natürlich sind die Dinge jetzt völlig anders, da nahezu alle kämpfenden Gemeinschaften und soziale Traditionen zerstört wurden. Das Geld, das wir uns nahmen, erlaubte natürlich ein größeres Maß an Solidarität und Großzügigkeit – ohne die die Erfahrung unserer Freundin Andrea nicht möglich gewesen wäre.[7] Dennoch, wer waren wir in dieser Hinsicht, wenn nicht eine isolierte Gruppe unter isolierten Individuen? Wir hatten viele Gespräche über eine dadaistische Verwendung des Geldes, über eine Vergesellschaftung und darüber, die allgemeine Notwendigkeit des Geldes anzufechten, was allerdings zu nichts führte. Nicht, dass die Idee falsch war – ich bin noch immer überzeugt davon, dass jeder Versuch, sich dem sozialen Zerfall zu widersetzen, sich der finanziellen Frage, in welcher Weise auch immer, stellen muss –, aber ihre Anwendung bedarf einer größeren Basis als einem Dutzend Irregulärer, die sich auf der Flucht befinden.
Tatsächlich bewältigten wir nie wirklich unsere subjektiven Sehnsüchte: neben unserem Willen, irgendwie zu einer neuen Welle von sozialem Dissens beizutragen – d.h. ein Ziel auf lange Sicht, gekoppelt mit einem sorgfältigen Bedenken für die angemessene Vermittlungen – gab es auch diesen groben Impuls für unmittelbare Rache, der an uns nagte. Am allerwenigsten möchte ich mich dagegen aussprechen, Rache zu nehmen mit Handlungen von spektakulärem Draufgängertum und ohne über mögliche Konsequenzen nachzudenken – dies ist ein menschliches Handeln, das keine weitere Erklärung braucht und immer große Bewunderung im Untergrund hervorruft.[8] Was die Aktionen gegen das Gefängnis angeht, brachte uns der Anblick dieser Architekten, die sorgfältig Käfige für Menschen planen, der kleinen Unternehmer, die sich die Hände reiben in der Vorstellung des Profits, den sie damit erzielen werden, und der Lakaien des Staates, die alles kaltherzig beaufsichtigen, oft in Versuchung zu weniger symbolischen Reaktionen. Es schien jedoch, dass wir entgegen aller Erwartungen noch nicht verzweifelt genug dafür waren.[9]
Sicherlich ließ das Leben im Alltag der 1980er Jahre in Frankreich (und Europa) wenig Platz für Optimismus, aber wir nahmen uns der Situation mit einem völligen Fatalismus an, der uns wiederum zu einem verschärften Voluntarismus ermutigte, soweit es unseren eigenen Kampf anging. Deshalb ist es bezeichnend, dass, obwohl wir uns niemals als Anti-Gefängnis Aktivisten sahen, sich alle unsere Aktionen trotzdem gegen das Gefängnis richteten, als ob jede Perspektive mittlerweile genauso starr war wie eine Gefängnismauer. Ich glaube nicht, dass wir die einzigen waren, die sich bloß über die Ebbe nach der revolutionären Flut der Sechziger und Siebziger beklagten, ohne übermäßig zu hinterfragen, ob die „radikalen“ Konzepte und Praktiken, die wir immer noch mittrugen, nicht auch für diese Situation verantwortlich gemacht werden könnten.
Insbesondere, da ich hier an Englisch sprechende Leser schreibe, weiß ich, dass diese Anmerkungen leicht von einigen Leuten als Bestätigung für ihre alte individualistische Haltung interpretiert werden können, welche a priori jede Art von kollektivem Versuch als einen „Brutplatz für hierarchische Macht“, als „Entfremdung des Individuums durch die Gruppe“, etc. abtut. Ich glaube dennoch, dass diese Art von Kritik irrelevant ist. Wohl wahr, sobald Menschen sich für ein langfristiges Ziel zusammentun, besteht das Risiko, dass Machtkämpfe ausbrechen, sich spezialisierte Rollen entwickeln oder emotionale Gefühle hinter dem Schleier der „Objektivität“ unterdrückt werden – und Os Cangaceiros war davon überhaupt nicht ausgenommen. Dies ist jedoch kein Grund, sich zurück zu lehnen und darauf zu warten, dass „die Revolution“ auf magische Art und Weise all diese Probleme löst: sie existieren ohnehin und sind deshalb Teil eines durch kollektive Aktivität ermöglichten Experiments, von dem man viel Nützliches lernen kann. Die eigentliche Frage ist eher, ein ausreichendes Niveau an Austausch zwischen der Gruppe und ihrem sozialen Umfeld zu erreichen bzw. zu halten; durch Scheitern neigt die Gruppe dazu, einer anderen Logik zu folgen und wird so zu ihrer eigenen Bestimmtheit – eine Art von Autismus, der wiederum zwischenmenschliche Konflikte verschärft.
In all diesen Jahren waren wir sehr zwanghaft mit der Idee beschäftigt, einen großen Skandal zu verursachen, etwas in der dadaistisch-surrealistischsituationistischen Tradition; eine punktuelle und spektakuläre Tat, die den latenten Negativisimus ausdrückt, der die Gesellschaft untergräbt – und irgendwie war das Resultat von „13.000 Ausbrüche“ so etwas. Jedoch erfuhren wir auch die Grenzen dieser Idee. Der hauptsächliche Fehler der meisten radikalen Post-68 Agitationen war ihre Unfähigkeit, bleibende Brüche in der Kohärenz der Gesellschaft zu verursachen, der geduldige Aufbau von sozialen Bünden durch verschiedenste Vermittlungen und Initiativen. Diese „radikale“ Einstellung reduzierte sich selbst zu oft auf die bloße Brandmarkung der Gesellschaft in all ihren spezifischen und begrenzten Aktivitäten, anstatt zu versuchen, in innovativer Weise innerhalb eines festgelegten Terrains zu agieren. Es waren die gewöhnlichen Kommentare von außen zu stattfindenden Kämpfen (oft mit einer „wir wissen eh schon wie’s ausgehen wird“ Haltung), oder, etwas weniger passiv, die „Hit-and-Run“ Aktionen, welche unfähig waren, einen bleibenden dynamischen Impuls zu haben. Diese wären vielleicht zu Zeiten einer möglichen revolutionären Situation relevant („keine Zeit zu verlieren, Mai ‘68 oder rein gar nichts“), dies ist jedoch nicht länger der Fall. Und da die Cangaceiros nach den Grenzen solch eines Konzeptes strebten, es als totale Herausforderung lebten, fühlten wir mit einer besonderen Schärfe, dass es uns bloß in eine radikale Sackgasse geführt hatte: einsame Seefahrer auf der wilden See.
Ich will hier keine Verbitterung aufkommen lassen. Dies war ein Abenteuer in einer Epoche, in der Abenteuer eher selten waren. Glücklicherweise endete es nicht wie das Schicksal der meisten illegalen Gruppen in einer tragischen Niederlage – und was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Weil es aber nur ein Abenteuer war, ging es nicht über den Willen seiner Protagonisten hinaus. Letztendlich war das einzige, in dem die Cangaceiros übereinstimmten, dass eine solche Vereinigung nicht weiter wünschenswert war, so dass jeder seinen eigenen Weg ging und versuchte, was auch immer er aus dieser Geschichte gelernt hatte, in die Praxis umzusetzen. Deswegen werde ich die Frage offen lassen, ob diese Erfahrung nur eine verspätete Erscheinung des Post-68 Radikalismus war oder den Weg für etwas neues ebnete.
Léopold Roc
Mai 1995
[1] Dieser Text gibt meine persönliche Sicht zu diesem Thema wieder und obwohl ein Teil davon aus einer kollektiven Reflexion entsprungen ist, würden wohl einige der früheren Protagonisten meiner Ansicht nicht zustimmen. L.R.
[2] Obwohl wir dies natürlich als Teil des anhaltenden Kampfes gegen das Gefängnis betrachteten, hatte sich die Situation seit 1985 – dank einer Anzahl von Individuen und Gruppen – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Mauern verändert. Über die sporadisch ausbrechenden Unruhen hinaus, begann sich damals eine Bewegung zu organisieren, die sich z.B. in landesweiten Streiks der Gefangenen, Komitees von kämpfenden Gefangenen und öffentlicher Unterstützung, wenn Insassen wegen Rebellion vor dem Richter erscheinen mussten, manifestierte. Brillante kritische Texte wurden in Untergrundmagazinen der Gefangenen veröffentlicht. Diese Bewegung scheint heute ausgestorben zu sein.
[3] Einem der Minenarbeiter aus Yorkshire zufolge hatten die engagiertesten von ihnen dieselbe Erfahrung während der Streiks von 1984 bis 1985 gemacht: sie waren so vertieft in die tägliche Organisation von Streikposten und Blitzaktionen, dass sie keine Zeit mehr hatten, um über die allgemeine, auf dem Spiel stehende Perspektive zu diskutieren (in der Armee ist es nur den Generälen erlaubt, über Strategien zu sprechen). Jedoch hatten ihre Frauen in den Küchen Zeit und Bereitschaft für tiefgründigere Reflektionen.
[4] Ein gutes Beispiel dafür sind jene Hacker, die geheime Daten im Internet veröffentlichen, diese dadurch Millionen potenziellen Benutzern zugänglich machen und somit eine Nachrichtensperre unmöglich machen.
[5] Laut Behauptungen in Le Figaro im November 1990, an denen wirklich etwas dran sein konnte. Bereits 1983 schrieb ein gewisser X. Raufer ein Buch „über soziale Gewalt“, in dem er uns als eine Gruppe von verbitterten Halbintellektuellen bezeichnete, die begierig waren, Öl in jedes bestehende Feuer zu gießen! Zu jener Zeit, als die Polizeioperationen gegen uns begannen, war Raufer persönlicher Berater für Sicherheitsfragen von Pasqua, dem Minister für Inneres, der einmal versprochen hatte, die Subversiven mit Subversion zu bekämpfen.
[6] Für „tragische Banditen“, wie die Bonnot-Bande, die sich der Gesellschaft mit einer „live fast die young“ Haltung widersetzten, sah die Sache anders aus; was verständlich war in Anbetracht des Gemetzels, das nur kurze Zeit später mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges eintrat.
[7] Andrea war eine Kameradin der Cangaceiros, deren Kampf gegen Krebs im Endstadium in der von Os Cangaceiros veröffentlichten Broschüre „N’dréa“ (Februar 1992) beschrieben wird. Der englische Titel der Broschüre lautet „N‘Drea: One Woman‘s Fight to Die Her Own Way“.
[8] Das beste Beispiel dafür in Frankreich ist immer noch Jacques Mesrine.
[9] Im Oktober 1994 erwähnte ein französisches Magazin in Zusammenhang mit der Berichterstattung über zwei junge Anarchisten, die angeblich einige Polizisten und einen Taxifahrer in Paris erschossen hatten, Os Cangaceiros als weiteres Beispiel für „drohenden anarchistischen Nihilismus“.