Le Rétif
Unser Antisyndikalismus
Eingeleitet und kommentiert von Mitchell Abidor
Einleitung
Victor Serges Artikel „Unser Antisyndikalismus“ ist in vielerlei Hinsicht eine Zusammenfassung der Kerngedanken, die den französischen Individualanarchismus im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts antrieben, und drückt insbesondere viele derjenigen Gedanken aus, die zum Verständnis des damaligen Serge selbst wesentlich sind – eine Zeit, die er in seinen Erinnerungen summarisch und nicht immer freimütig behandelt. Eine genaue Lektüre dieses Artikels klärt in vielerlei Hinsicht auf über das Umfeld der Zeitung l'anarchie, dem Hauptsprachrohr des Individualismus, die im April 1905 von dem großartigen Albert Libertad gegründet und von Juli 1911 bis Januar 1912 von Serge redaktionell verantwortet wurde, bevor letzterer im Zuge der Verhaftung der Bonnot-Bande arretiert wurde.
Die Überschrift selbst ist beachtenswert: „Unser Antisyndikalismus". Von wem genau spricht Le Rétif („Der Widerspenstige“) in der ersten Person plural? So belanglos die Frage erscheinen mag, tatsächlich aber steht die bloße Vorstellung irgendeiner Form von „Wir" im Gegensatz zum anarchistischen Individualismus: Mit welchem Recht kann irgendein Einzelner für „uns“ sprechen? In gewissem Sinne steht das Pronomen „wir" daher für „mein“: eine anarchistische Verwendung des Pluralis Majestatis.
Andererseits spricht Le Rétif in der Tat für seine individualistischen Genossen. Denn wenn es ein Unterscheidungsmerkmal dieses anarchistischen Flügels vom kommunistischen, syndikalistischen oder einer sonstigen Art von kollektivistischem Anarchismus gibt, dann ist es des Ersteren Weigerung, die Effektivität der Massenaktivität anzuerkennen, ja letztere abzulehnen; dies gilt am meisten in Bezug auf die Gewerkschaften und damit den Syndikalismus, der ja auf die Gewerkschaften hin ausgerichtet ist, welche er als Grundlage für die zukünftige, revolutionierte Gesellschaft versteht.
Zu der Zeit, da Serge „Unser Antisyndikalismus“ schrieb (1910), war seine Zielscheibe klar und eindeutig: die Confédération Générale du Travail (CGT, „Allgemeine Konföderation der Arbeit“). Die CGT ist 1895 gegründet worden und zählte in den Reihen ihrer Führer und Sprecher viele wichtige Figuren aus der Welt des Anarchismus; Männer wie Fernand Pelloutier und Émile Pouget, der nach der Herausgabe des hitzigen und jargon-lastigen Père Peinard die CGT-Zeitung La Voix du Peuple („Die Volksstimme“) redaktionell verantworten sollte. Im Jahr 1906 gab die CGT ein revolutionäres Leitdokument heraus, die Charte d'Amiens. Diese Charta legte die Grundsätze für die Aktivitäten der CGT klar dar: Sie rief auf zur Beseitigung der Lohnsklaverei und des privaten Unternehmertums, anerkannte den Klassenkampf und verfolgte die „doppelte Aufgabe“ des Kampfes für unmittelbare Forderungen in der Gegenwart und sollte gleichzeitig das letztliche Ziel, die „Enteignung der Kapitalisten“ durch den Generalstreik, nicht aus den Augen verlieren.[1]
Aber neben Männern wie Pelloutier und Pouget gab es auch andere Anarchisten - inFrankreich wie außerhalb –, die dem Syndikalismus ablehnend gegenüberstanden. Auf dem Internationalen Anarchistischen Kongress 1907 in Amsterdam sprach sich kein Geringerer als Errico Malatesta gegen diese Bewegung aus und nannte sie „eine legalistische und konservative Bewegung“, die kein anderes Ziel erreichen könne als „die Verbesserung der Arbeitsbedingungen“ – damit verneinte er die Möglichkeit, Anarchist zu bleiben, wenn man als Gewerkschaftsfunktionär arbeitet.[2] (In späteren Jahren sollte er zwar weiterhin der Auffassung sein, dass der Syndikalismus seinem „Wesen nach reformistisch“ ist, dennoch würden sich Anarchisten zurecht an der Arbeiterbewegung beteiligen, um die Arbeiter zu bilden und die anarchistische Sache voranzubringen.[3]) Und in Frankreich selbst entwickelte, in den frühen Jahren der CGT, ein Kreis von Anarchisten um die Zeitschrift Le Libertaire - darunter auch Sébastien Faure – eine ausführliche Kritik des revolutionären Syndikalismus, bei der es sich um die Frage nach der Möglichkeit drehte, ob im Kapitalismus irgendwelche Verbesserungen erreicht werden könnten.[4]
Eine starke pro-syndikalistische Strömung sollte dieser anti-syndikalistischen Gruppe die Stirn bieten, insbesondere ebenfalls im Le Libertaire – in dem den Syndikalisten regelmäßig Platz eingeräumt wurde, um ihre Aktivitäten zu verteidigen und zu erklären.
Am grundsätzlichsten sollte der Kampf gegen den Syndikalismus von den Individualisten aufgenommen werden, sowohl in den Seiten des Libertaire wie auch später in ihrer eigenen Zeitung, l'anarchie.
Paraf-Javal schrieb im Libertaire: Eine Gewerkschaft, das „ist eine Gruppierung, in der sich die Idioten nach Berufen ordnen und versuchen, die Verhältnisse zwischen Chefs und Arbeitern weniger unerträglich zu gestalten. Nur eins von beiden ist möglich: Entweder bleiben sie erfolglos und die Gewerkschaftsarbeit ist also unnütz; oder sie haben Erfolg und die Gewerkschaftsarbeit ist daher schädlich, weil eine Gruppe von Menschen ihre Lage weniger unerträglich gestalten und in der Konsequenz die gegenwärtige Gesellschaft stabilisieren wird“.[5]
Eine tiefergehende Kritik jedoch, die auch Le Rétif bei der Abfassung seines Artikels „Unser Antisyndikalismus“ beeinflussen sollte, war in l‘anarchie zu finden. Die Gewerkschaftsfrage war für die Männer und Frauen im Umfeld dieser Zeitung eine absurde Frage: Es gibt keine Klassen, es gibt keine soziale Frage, es gibt nur den Einzelnen gegenüber und im Kampf mit der Gesellschaft.
Ganz klar, die Gegnerschaft zum Syndikalismus war nicht Anarchisten allein zu eigen. Der Marxismus und die sozialistischen Parteien hatten ihn lange bekämpft, obwohl die Sozialistische Partei in den USA stark innerhalb der revolutionär-syndikalistischen Industrial Workers of the World (IWW) engagiert war. Aber Lenin konnte 1921 – inmitten eines Kampfes gegen die Arbeiteropposition in der bolschewistischen Partei – durchaus zurecht sagen: „Gegen den Syndikalismus haben die Marxisten der ganzen Welt gekämpft.“[6]
Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Marxisten und Syndikalisten waren jedoch sehr viel kleiner als die zwischen Individualisten und Syndikalisten: Die beiden ersten glaubten letztendlich, dass die Massenaktivität zu einer neuen Gesellschaft führen würde, in der die Arbeiterklasse herrschen würde (gleichwohl im Fall der Bolschewisten vermittelt durch die Avantgarde-Partei). Die Kritik, die wir in „Unser Antisyndikalismus“ und unter den Individualisten im Allgemeinen finden, ist weit radikaler und verneint die Möglichkeit eines Wandels durch die Massen überhaupt.
Um zu verstehen, wie radikal sie war, müssen wir die Grundlagen und Annahmen der Schriften des jungen Victor Serge, alias Le Rétif untersuchen.
Victor Serge, am besten bekannt als Gegner des Stalinismus, der als Verbündeter Trotzkis in ein sowjetisches Gefangenenlager gesteckt wurde und dank einer Kampagne im Westen die Sowjetunion gen Frankreich verlassen konnte – wo er seinen Kampf gegen den sowjetischen Diktator fortsetzte. Weit weniger bekannt ist Serges anarchistische Phase, die in Keimform bereits 1906 in Belgien begann und bis zu seiner Abreise in die Sowjetunion im Jahre 1919 andauerte. Die Lektionen, die er als Anarchist gelernt hatte, und insbesondere die anarchistische Verteidigung der individuellen Freiheit, sollten in Serges Denken und Handeln nicht nur während seiner spezifisch anarchistischen Phase eine Schlüsselrolle spielen, sondern sollte auch seine bolschewistische Aktivität, zumindest seine Schriften beeinflussen. Diese Kontinuität seines Denkens, die Art, wie sich – frei nach Marx – der alte Maulwurf der individuellen Freiheit in verschiedenen Gewändern durch seine Schriften wühlte, impliziert, dass jeder Versuch einer Analyse von Serges Leben den Kern seines politischen Lebens verfehlt, wenn er dessen offen anarchistische Jahre außer Acht lässt.
Noch bekannt unter seinem richtigen Namen Wiktor Kibaltschitsch, begann Victor Serge 1905 im Alter von nur 14 Jahren seine politische Tätigkeit in der Jungen Garde der Belgischen Arbeiterpartei (Parti Ouvrier Belge, POB) seiner Geburtsstadt Brüssel. Ein direkter Hinweis auf die Kontinuität zwischen dem Sozialismus seiner Jugendjahre und seinem späteren Anarchismus ist, dass zwei seiner engsten Freunde und Genossen – Raymond Callemin und Jean De Boë – wie Victor nach Paris ziehen und sich dort in denselben individualistischen Kreisen bewegen sollten; und beide sollten, wie Victor, 1913 im Prozess gegen die Bonnot-Bande angeklagt werden. Als aktives Mitglied der anarchistischen Räuberbande wurde Callemin zum Tode verurteilt und De Boë wurde in eine Strafkolonie deportiert; Victor, der Komplizenschaft für schuldig befunden, wurde zu fünf Jahren verurteilt.
Obgleich nominell Sozialisten, wurden Victor und seine Freunde aufgrund ihres Überschwangs innerhalb der Partei als „Anarchisten“ bezeichnet; und tatsächlich verbrachten sie einige Zeit in einer anarchistischen Kommune vor den Toren Brüssels, wo Victor nicht nur Gelegenheit hatte, eine Form von Anarchie in Aktion zu erleben, sondern auch das Druckerhandwerk zu erlernen, welches es ihm ermöglichen sollte, seine härtesten Zeiten durchzustehen – dort begann er auch seine Laufbahn als Journalist.
Der Radikalismus der Jungen Garde führte sie 1906 dazu, eine Sonderkonferenz der Arbeiterpartei zur Frage des Kongo zu verlassen, auf der die POB die Annexion des Kongo unterstützte, während die lautstark antiimperialistische Junge Garde diese ablehnte. Die Partei begann mit einer Kampagne gegen die Anarchisten in ihren Reihen; Victor und seine Freunde sollten die POB schließlich verlassen, sich als Revolutionäre Junge Garde Brüssels aufstellen und den Namen ihrer Zeitung von Le Communiste in Le Révolté – „Der Rebell" – abändern. Bereits 1908 identifizierte sich Victor als Anarchist – obwohl die anarchistische Gemeinschaft zusammenbrach, deren Teil er gewesen war – und verfochte in seinen Schriften den „Illegalismus“, die Befürwortung des Diebstahls als politische und ökonomische Taktik der Anarchisten. Obwohl er immer noch Artikel gegen den Imperialismus und zugunsten streikender Arbeiter in Italien schrieb,[7] sollte der Klassenkampfanarchismus bald ganz aus seinen Schriften verschwinden, da er zunehmend individualistisch wurde und an der Betätigung (in) der Arbeiterklasse zweifelte; in einem Artikel vom November 1908 bezeichnete er die belgische Arbeiterklasse als eine „elende Menschenhorde“.[8]
Jetzt sollte es für Victor kein Zurück mehr geben und er nahm immer stärker eine Position am äußersten Spektrum des Individualanarchismus ein. So verteidigte er in seinem Artikel „Anarchistes-Bandits“[9] die Londoner Illegalisten, die im Januar 1909 zwei Menschen getötet hatten (die Tat ging als Tottenham Outrage in die Geschichte ein), und lobpries sie als Beispiele des revolutionären Geistes, als Männer, die nach dem Motto lebten: „Anarchisten ergeben sich nicht!“
Zu seinen letzten Aktivitäten in Belgien zählte die Verteidigung des russischen Terroristen Hartenstein, der vor Gericht gestellt und für schuldig befunden wurde, zwei Polizisten getötet zu haben, die ihn wegen des Legens einer Bombe hatten verhaften wollen. Victor diente in Hartensteins Prozess als Leumundszeuge und schrieb in seinem Artikel „Ein Mensch“ begeistert über den Angeklagten.[10] Aber der Stillstand der Linken in Belgien, die von der reformistischen POB beherrscht wurde, sowie die Streitigkeiten mit anderen Anarchisten in Brüssel brachten Victor dazu – desillusioniert ob irgendeiner Möglichkeit zur Veränderung in Belgien –, ins Zentrum des Individualanarchismus zu ziehen: nach Paris. Dort begann er sogleich, für das Hauptorgan der Bewegung – l‘anarchie (die durchgängige Kleinschreibung bedeutet, dass kein Buchstabe wichtiger ist als ein anderer) – zu schreiben und wurde schließlich einer seiner Redakteure.
Als aktiver Journalist im Herzen des frankophonen Anarchismus befassten sich seine Schriften nur gelegentlich mit dem Tagesgeschehen, mit Ereignissen wie der Liabeuf-Affäre (der Verhaftung und Hinrichtung eines „Apachen“ wegen der Ermordung zweier Polizisten, die ihn hatten verhaften wollen), und dem frühen Werdegang der Bonnot-Bande. Stattdessen drehte sich sein Schreiben größtenteils um allgemeinere Motive, die den Individualanarchismus seit dem ersten Auftauchen der Bewegung um das Jahr 1890 in Frankreich begleiteten.
Diese Motive waren Revolutionsfeindlichkeit (anti-revolutionism), Verachtung für die Massen, die Pflicht der Individuen, ihre eigene Revolution sofort zu vollziehen, und der Illegalismus. Diese vier Motive sind miteinander verschränkt und gehen ganz natürlich ineinander über: Die vollkommen verachtenswerten Massen machen eine erfolgreiche Revolution unmöglich und es daher für die Individualisten notwendig, die Revolution jetzt zu vollziehen, gerade so wie sie können; dabei ist der Illegalismus die schonungsloseste und direkteste Art und Weise. Diese vier Motive waren nicht die einzigen geläufigen Themen in Victors individualistischem Milieu; vielmehr ist es aussagekräftig, dass er sich gerade für sie am meisten interessierte. Die Tatsache, dass er andere geläufige individualanarchistische Themen wie den Neomalthusianismus, die Ernährungs- und allgemeine Gesundheitsmode, die freie und offene Liebe sowie jenen extremen biologischen Determinismus ignorierte, die eine so wichtige Rolle in der Bewegung spielten: diese Tatsache spricht Bände. Die Strömung der Anhänger des letzteren war so stark, dass er später von einer Spaltung zwischen „Wissenschaftlichen“ und „Sentimentalen“ sprechen sollte – die einen gestanden Gefühlen eine Rolle in der menschlichen Tätigkeit und Entwicklung zu, während die anderen glaubten, dass quasi alles biologisch bestimmt sei. Victor war ein „Sentimentaler“, die Mitglieder der Bonnot-Bande, mit der er eine Zeit lang verbündet war, dagegen fast allesamt „Wissenschaftliche“. Hierin liegt ein Gutteil der ursprünglichen Spannung zwischen Victor und seinen Genossen, die sich in deren Prozess 1913 manifestieren sollte, als Serge sich von den Banditen trennte, mit denen er vor Gericht stand. Keine dieser Formen eines Lifestyle-Anarchismus war für Victor sonderlich attraktiv und er verwandte auf sie nicht viel Energie.
Auffällig bei der Lektüre seiner anarchistischen Schriften ist ein Aspekt, der ein wichtiger Teil der individualistischen Tradition ist: der Mangel an Bezügen auf Autoritäten. Während sich die Marxisten, und später die Leninisten, in Talmud-Streitigkeiten über Passagen in den Werken ihrer Meister verloren, vermieden Individualisten diese Praxis fast vollständig. Der gesamte Individualanarchismus erwuchs aus Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum, das in Frankreich erstmals 1890 veröffentlicht wurde; aber Stirners Name findet niemals Verwendung, um irgendeines von Victors Argumenten zu untermauern. Das hätte nicht nur die Verleugnung seiner eigenen Individualität bedeutet, sondern hätte Stirner auch zum Helden aufgeworfen – ein Gedanke, der in seinen Kreisen aufs Heftigste abgelehnt wurde. Noch in Belgien formulierte Victor in einem Artikel zum Todestag von Emile Henry – einem Mann, den er eindeutig bewunderte – folgende Einschränkung: „Man soll mir nicht vorwerfen, einen Menschen zu verherrlichen, ihn in eine Fahne zu verwandeln. Wir wollen weder Tribunen noch Märtyrer oder Propheten.“[11] Statt sich auf spezifische Passagen in Stirners Schriften zu stützen, ist es dessen Weltanschauung, die als Fundament für fast alle von Victors Positionen dient.
Ein Denker, der ebenfalls eindeutig von großer Bedeutung für den jungen Kibaltschitsch war, war Gustave Le Bon, dessen 1895 veröffentlichtes Werk Psychologie des foules („Psychologie der Massen“) demonstrierte, dass Massen den Einzelnen einordnen und die Identität der Individuen auslöschen; Gedanken, auf die Victor in seinen Artikeln manchmal mit namentlicher Nennung Le Bons verwies, oder die er andernfalls einfach frei wiedergab. So wichtig Stirner für Victor war, um das Primat des Einzelnen zu begründen, so brauchte er Le Bon zur Demonstration der Gefahren der Vielen.
In dieser Hinsicht war Victor von einem weiteren, weit weniger bekannten Autor beeinflusst: dem schonungslos pessimistischen Individualisten Georges Palante. Palante postulierte nicht nur das Bedürfnis des Selbst, sich zu behaupten, sondern zeigte auch, dass es einen eindeutigen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft gibt, die ewige Feinde seien. Er schrieb: „der Individualismus ist das Empfinden einer tiefen, unauflöslichen Antinomie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. Individualist ist derjenige, der kraft seines Temperaments die Voraussetzungen hatte, auf besonders heftige Weise jene unvermeidlichen Unstimmigkeiten zwischen seinem privaten Sein und seinem gesellschaftlichen Milieu zu verspüren.“[12] Während die meisten Anarchisten, ja die meisten Revolutionäre sich damit begnügten, den Staat als den Feind zu betrachten – einen Feind, der geschlagen werden konnte, weil er eine spezifische Größe ist –, war für Palante die Gesellschaft selbst – ein weit größerer und nebulöserer Feind – der wahre Gegner, dessen Ziel es war, den Einzelnen zu zermürben und zu unterdrücken. Tatsächlich tauchte derselbe Pessimismus, den Victor oftmals in Hinsicht auf die Möglichkeiten und gar die Wünschbarkeit gesellschaftlichen Wandels zum Ausdruck brachte, auch in den Zeilen von Palante auf: „Namens seiner eigenen Erfahrung und seines persönlichen Lebensgefühls, glaubt sich der Individualist im Recht, jedes Ideal einer künftigen Gesellschaft, in der sich die gewünschte Harmonie zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft herstellt, in das Reich der Utopien zu verweisen. Weit davon entfernt, das Übel zu verringern, intensiviert es die Entwicklung der Zivilisation nur, indem sie das Leben des Einzelnen komplizierter, mühsamer und härter im Innern der tausend Rädchen eines zunehmend tyrannischen Gesellschaftsmechanismus macht.“[13]
Erwähnenswert ist, dass diese Auszüge aus Palantes Das individualistische Empfinden 1909 veröffentlicht wurden (im Kapitel „Anarchismus und Individualismus“) – dem Jahr, in dem Wiktor Kibaltschitsch in Paris ankam. Victor kannte diese Schriften sicherlich und zitierte Palante gelegentlich, auch in einem seiner letzten Artikel vor der Abreise nach Sowjetrussland im Jahre 1919. Palantes Einfluss ist sichtbar bis zum Ende von Victors Zeit als Redakteur der l‘anarchie. Eine Rede, die er am 28. Januar 1912 in der Vortragsreihe Causeries populaires hielt, trug den Titel „Der Einzelne gegen die Gesellschaft“ und sollte, wie seine Skriptnotizen zeigen, mit der folgenden Feststellung beginnen: „Eher das Gegenteil ist wahr. Die Gesellschaft ist der Feind jedweder Individualität.“[14]
Auch die Gestalt Friedrich Nietzsches schwebt über Victors Schriften. Victor rechnete mit dem Übermensch-Philosophen in einem unlängst entdeckten Aufsatz ab, den er 1917 schrieb als er in Barcelona lebte: „Kritischer Versuch über Nietzsche“.[15] Nietzsche war einer der Schirmherren des Individualanarchismus und Victor untersuchte Nietzsches Schriften um herauszufinden, in welcher Weise dieser mit den Anarchisten übereinstimmte oder aber gegen sie stand. Zarathustra'sche Untertöne finden sich in seinen gesamten Zeitungsartikeln, die dazu aufrufen, ein freies und volles Leben zu führen. Am alleroffenkundigsten ist dies in seinem Artikel „Durch Wagemut“, einem dithyrambischen Stück über den peruanischen Flieger Jorge Chávez, der 1910 bei dem Versuch starb, als erster Mensch über die Alpen zu fliegen. Victor schrieb: „als er diese Höhen erreicht' und über die verschneiten Alpen glitt, durchlebte er Minuten, die viele Leben wert sind“. In einer entschieden Nietzscheanischen Weise fuhr er fort: „Allein diejenigen, die in Schwindel erregenden Flügen alles zu riskieren bereit waren, die die Stärke hatten, das Vollbringen des Unmöglichen zu denken und zu begehren – die Denker, Apostel und Abenteurer –, waren die Zerstörer der alten Zivilisationen und die Erbauer eines neuen Lebens."[16]
All diese Einflüsse, ob genannt oder ungenannt, flössen in die Motive ein, die das Herzstück seiner anarchistischen Schriften bilden.
Die Verachtung für die Massen, für die „Herde“ quillt aus seinen Schriften der anarchie-Phase zwischen 1909 und 1912; und wenn es Rétifsche Adjektive gibt, die häufig in seinen Artikeln vorkommen, dann sind es „willenlos“ (veule) und „feige“ (lâche). Aber schon in Belgien, zur Zeit der Hartenstein-Affäre, beklagte er die Gewöhnlichkeit der Menschen: „Wie hässlich sie sind, wie kleinlich, böse und scheinheilig sie gegeneinander sind... Kann man das Leben heißen? Können diese erbärmlichen Wesen Menschen heißen?“
Alles was die Massen erfreut, ist Gegenstand seines Spotts. Seit Libertads Zeiten hatten die Individualisten Geringschätzung für Feierlichkeiten und Jubiläen an den Tag gelegt und, in Libertads Fußstapfen, sollte Victor schreiben: „Freude auf Befehl ist ungesund, grotesk und dumm, so wie jene, die sie genießen“, und die Festlichkeiten der Leute sind „die Vergöttlichung der Dummheit, der Unlogik und der Feigheit großer Menschenherden“. Der bloße Kontakt mit dieser feigen Masse ist Kibaltschitsch zuwider: „Die Menschen an meiner Seite tun mir in jedem Augenblick Unrecht. Ihre Kraftlosigkeit, ihre Gier, ihre Idiotie hindern mich zu leben.“[17]
Als sich Frankreich in Aufregung befand wegen des ersten Verbrechens der Bonnot-Bande – wegen des Überfalls auf einen Boten der Société Générale in der Rue Ordener –, verspürte Victor keine Sympathie, sondern vielmehr Verachtung und Befriedung ob dessen Schicksals: „Dieser arme Teufel war aufgrund seiner unterwürfigen Schwäche und seiner dummen Ehrlichkeit der Komplize von Verbrechern weit größeren Kalibers als diejenigen, die man nun jagt.“[18]
Trotz zahlloser ähnlicher Kommentare erklärte Victor, die Menschen nicht zu hassen: „Wir lieben euch, denn wir lieben die Menschen.“ Er hasste nicht „die Menschen“, sondern was sie aus der Möglichkeit zu einem hohen menschlichen Stand machten: „Zutiefst verabscheuen wir eure vegetative und tierische Existenz, euren erbärmlichen Mangel an Intelligenz.“[19]
Vielfältig sind die Quellen dieser Misanthropie und dieses Elitismus. Keiner von Victors Genossen entstammte der müßigen Klasse, keiner hatte eine Hochschulbildung und Victor hatte quasi überhaupt keine formelle Bildung genossen. In weitem Maße waren sie alle Autodidakten und aus den Schriften dieser Zeit geht ihre Überzeugung klar hervor, dass, wenn sie in der Lage waren, sich über den Kot ihrer Herkunft zu erheben, die anderen es ebenso tun könnten. Da der Einzelne nur wollen muss, um etwas zu verändern, sind die Menschen der Herde Komplizen in der Fortführung einer absurden Gesellschaft und verdienen den Spott, wenn nicht Schlimmeres.
Der nächste logische Schritt in diesem Gedankengang ist die Verleugnung der Möglichkeit einer erfolgreichen Revolution. Dieser Gedanke geht völlig überein mit dem vorhergehenden, und er ist sehr viel logischer als die revolutionären Hoffnungen in die Massen seitens des Syndikalisten und Sozialisten. All diese Strömungen räumten den heruntergekommenen Zustand des Arbeiters unter den Bedingungen des gegenwärtigen Gesellschaftssystems ein. Aber nur die Individualisten, und darunter in erster Linie Victor, stellten folgende Frage: Wie können wir von Menschen, die solch ein Schicksal akzeptieren, die Fähigkeit erwarten, eine Revolution zu machen, ein strahlendes Morgen aufzubauen?
Das war für Victor nicht Ausdruck seines subjektiven Blickwinkels, es handelte sich vielmehr um eine objektive, wissenschaftlich erwiesene Tatsache: „in jeder Beziehung beweist uns die unparteiische Wissenschaft die Unterlegenheit der Arbeiterklasse.“ Victor sah nichts Anderes vor sich als das: „Die Degenerierten, die Erbsklaven, diese erbärmlichen Proletenmengen, die wir aus eigener Anschauung kennen, sind physiologisch gesehen unfähig, in Harmonie zu leben.“ Die Arbeiterverehrer beantworten die Frage, ob die Arbeiter die Gesellschaft verändern können, mit „‚Ja‘, ... (ohne jedoch zu erklären warum).“ Angesichts des degenerierten Zustandes der Menschen, die die Arbeiterklasse bilden, war es für Victor „Zeit- und Energieverschwendung, die Arbeiterklasse mit Blick auf eine gesellschaftliche Umwandlung zu organisieren.“[20]
Le Rétif untermauerte seinen Standpunkt, indem er die heiligste Kuh der Arbeiterklasse angriff: die Pariser Kommune von 1871; tatsächlich tat er das in zwei Artikeln, die eine beißende Kritik an deren Torheit formulierten.
Der Aufstand, der am 18. März 1871 begann, war sinnlos, denn die „Massen sind wankelmütig, kindisch, gutgläubig. ... Sie sind zu Heldentaten fähig, sie können aber auch Ungeheuerlichkeiten begehen. Und in jedem Fall brauchen sie Herren.“[21] Nein, es gab keinen Grund, überhaupt die Macht zu ergreifen, denn „zu glauben, dass impulsive, debile, unwissende Massen mit der krankhaften Unlogik der kapitalistischen Gesellschaft Schluss machen werden, ist eine plumpe Täuschung.“[22] Obgleich auch die Niederlage der Kommune alle deren positiven Veränderungen ausgelöscht hat, tatsächlich hätte „ihr Sieg (...) sie vernichtet, denn sie hätte die Essenz des Systems sozialer Unterdrückung durch Privateigentum und Gesetz bewahrt.“[23] Nicht nur die Kommune ist gescheitert, sondern alle Revolutionen sind gescheitert: „Sie haben weder zerstört, was sie zerstören wollten, nicht irgendetwas besseres aufgebaut.“ Abermals kommt Victor auf die Grundursache dieses unvermeidlichen Scheiterns zurück: „In Ermangelung von Bildung, ans Denken nicht gewöhnt, nicht daran, auf sich selbst zu zählen... könnten es die Arbeiter von 1912 besser machen?“[24]
Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass ein Rebell untätig herumsitzen sollte, während die ordinäre Herde nichts tut oder törichterweise den Aufstand versucht. Es muss in dieser verdorbenen Welt Veränderung geben, welche die degenerierte Menschheit hervorgebracht hat, die Victor umgibt und behindert. Auf die Frage, auf wen man zählen könne, wenn die Massenbetätigung wertlos ist, schreibt er: „die Anarchisten werden mit der individuellen Revolte antworten“.[25]
Diese werde auf verschiedene Weise erfolgen, denn „von diesem Tage an befreien Anarchisten die Köpfe“. Selbst der einsame Anarchist (lone anarchist), der sein freies Leben lebt, entfaltet große revolutionäre Wirkungen, denn „alle Menschen profitieren vom Akt der Revolte eines Einzelnen“. Im Unterschied zu jenen, die glauben, die Massen wiesen den Weg – wie der Sozialist Jean Jaurès und dessen anarchistischer Rivale Jean Grave es tun –, erklärt uns Victor, „es gibt kein schlüssigeres Element des Fortschritts als die individuelle Initiative“[26] und: „In jeder sozialen Gruppierung wird der Individualist ein Rebell bleiben.“[27]
Der Anarchist ist, in den Augen des jungen Victor, welche die Nietzsche'sche Vorstellung der blonden Bestie widerspiegeln, „eine herausfordernde Person. ... In der dekadenten Zivilisation ist er der heilsame Barbar, der einzig noch in der Lage ist zu erschaffen, seine Individualität über die Übel zu erbauen.“[28]
In seinen Erinnerungen sollte Serge später schreiben, der „Anarchismus nahm uns ganz und gar gefangen, weil er alles von uns verlangte, weil er uns alles bot“;[29] und in seiner Jugend hatte er geschrieben, „den Anarchismus in erster Linie als eine Lebensart (façon de vivre) betrachten“ zu wollen.[30] Anarchisten sind Geschöpfe reinen Willens und in diesem Sinne abermals Schüler Nietzsches: „Anarchisten formulieren weder Wünsche noch Vorsätze: Sie wollen und handeln unmittelbar gemäß ihrem Willen“.[31]
Freiheit, individuelle Freiheit, ist das A und O des anarchistischen Individualismus; und selbst im unwahrscheinlichen Falle des Erfolgs einer Massenrevolution, würde dieser Erfolg dem freien Individuum nichts bringen: „Die Hypothese eines kollektivistischen Morgen kündet bereits von einem verbissenen Kampf zwischen dem Staat und den wenigen Individuen (quelques individualités), die ihre Autonomie zu bewahren begehren.“[32] Bemerkenswert ist die Verwendung des Wortes „wenige“: der im Satz implizite Elitismus, der ganz Rest werde sich ihm zufolge ganz damit zufriedengeben, das neue Joch der neuen Ordnung zu akzeptieren.
Victors individualistischer Anarchist ist nicht nur einer, der infrage stellt und herausfordert, er ist auch und hauptsächlich einer, der kämpft: „Nicht Widerstand leisten, heißt nicht existieren.“ (Ne pas résister c'est ne pas exister.)[33] Eine Verpflichtung ist nicht nur die Eroberung, sondern die Bewahrung des Bisschen Freiheit, die dem Einzelnen heute gelassen wird, und auf jede Infragestellung derselben ist energisch zu reagieren.
In Belgien ist Victor äußerst vernehmbar gewesen bei der Verteidigung des angeklagten anarchistischen Bombenlegers Hartenstein – er ließ ihm das höchste Lob angedeihen und nannte ihn „einen Menschen“, weil dieser die Polizisten niedergeschossen hatte, die ihn hatten verhaften wollen – und hatte über diesen nicht nur im Révolté geschrieben, sondern war in dessen Verfahren auch als Leumundszeuge aufgetreten. Er verteidigte auch die russischen Anarchisten, die nach der Tottenham Outrage kämpfend starben. „Der bloße Akt des Polizisten, seine Hand auf deine Schulter zu legen, ist – weil er einen Angriff auf die menschliche Persönlichkeit bedeutet – ein hinreichender Grund, um jede Form der Revolte zu rechtfertigen“, schrieb er in Verteidigung von Liabeuf.[34]
Für Victor und für die Individualisten im Allgemeinen sind es nicht nur politische Rebellen, die Unterstützung verdienen; was uns unweigerlich zu dem vertrackten Thema des Illegalismus führt, der – bevor Victor die Szenerie betrat – schon jahrelang ein Teil des Individualanarchismus gewesen war. Der Glauben, dass Anarchisten, die keine Gesetze anerkennen, selbstverständlich an keine Gesetze gebunden sind, fand seine Rechtfertigung im Gründungstext der Bewegung, in Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum; dort schreibt dieser: „Da der Staat die ,Herrschaft des Gesetzes', die Hierarchie desselben ist, so kann der Egoist in allen Fällen, wo sein Nutzen gegen den des Staates läuft, nur im Wege des Verbrechens sich befriedigen."[35] Die Illegalisten hatten zunächst eine besondere Vorliebe für das Geldfälschen, aber dann betrat eine neue Generation von Illegalisten die Bühne; eine Generation, die weit gewaltsamer war als jemals zuvor und deren Verkörperung als die Bonnot-Bande bekannt werden sollte.
Bei dem Prozess gegen die Bande im Jahr 1913 leugnete Victor, den Illegalismus jemals befürwortet zu haben; tatsächlich behauptete er, ihn abgelehnt zu haben. Es steht außer Frage, dass er ihn schließlich ablehnte, und dass zu der Zeit seines Verfahrens die damit einhergehende Verurteilung jener „Vergeudung“ von Menschen und Energien aufrichtig war. Schwierig festzumachen ist, wann er zum Gegner des Illegalismus wurde; denn keinem ernsthaften Leser seiner Artikel zum Thema in den Jahren 1908 bis 1912 konnte es gelingen, darin irgendeine Ablehnung dessen zu finden, was man als natürlichen Auswuchs des Beharrens auf dem Primat der Individuen und deren Willen begriff.
Bände spricht ein weiteres seiner bevorzugten Negativattribute: „anständig“ (honnête) – abschätzig verwendet für jene Anarchisten, die gegen den Illegalismus waren: diese „anständigen Männer“ –, ein Ausdruck, der allgemein Verwendung gegen jeden fand, der Rebellen verurteilte.[36] Paradoxerweise können auch Verbrecher mit diesem Titel geschmäht werden: „Die Apachen im Allgemeinen interessieren mich nicht. Sie unterscheiden sich zu wenig von anständigen Leuten.“[37] Die „Anständigen“ sind ganz einfach all jene – ob Syndikalisten, Verbrecher oder einfache Werktätige –, die ihr Leben nicht als Rebellion gegen die etablierte Ordnung leben.
In einigen Fällen griff er zu kleinen Kniffen, um seine Unterstützung des Illegalismus zu bemänteln. Noch in Belgien, erklärte er: „Jede Revolte ist ihre Wesen nach anarchistisch. Und wir haben solidarisch zu sein mit dem ökonomischen Befehlsverweigerer (wenn er Bewusstsein hat, selbstverständlich) genauso wie mit dem politischen, antimilitaristischen oder propagandistischen Befehlsverweigerer (refractaire),“[38] Alle Befehlsverweigerer, alle Rebellen sind also gleich. Er erkannte aber an, dass die Illegalisten „weit entfernt von uns [sind], fern unserer Träume und Wünsche. Aber was zählt das?!“ Wenn Existenz Widerstand bedeutet und Verbrechen eine Form der Revolte ist, dann gibt es nun einmal Illegalisten, die „‚außerhalb der Herde‘ stehen“. Die Logik ihrer Akte ist offensichtlich. „Es ist tatsächlich logisch, dass der Anarchist – als intellektueller und moralischer Aufständischer – nicht fürchtet, ein jedes Mal, da die Umstände ihm günstig erscheinen, zum ökonomischen Aufständischen zu werden.“[39]
Unmittelbar nach den ersten Taten der Bonnot-Verbrechenswelle pries er die Banditen für ihren „Wagemut“, was eine von Victors bevorzugten positiven Eigenschaften war. Und wenn er auch das Verbrechen nicht als anarchistische Tat verfochten hat, so sagte er doch: „Ich bin mit den Banditen. Ich finde, ihre Rolle ist eine schöne Rolle. Bisweilen sehe ich in ihnen Menschen“; wobei das letzte Wort hier im Retifschen Wortschatz eines der Lobpreisung ist.[40]
Einer offenen Verteidigung von Verbrechen kam er vielleicht in seinem Artikel „Gegen den Hunger“ am nächsten; einem Artikel, den man als so wichtig erachtete, dass er fast unmittelbar nach seinem Erscheinen in l'anarchie als Flugblatt herausgegeben wurde. Darin erklärt er, die „individuelle Wiederaneignung – Diebstahl – ist das logische Gegenstück der Monopolisierung des Reichtums, ganz so wie die individuelle Revolte ganz natürlich der Willkür des Rechts und seiner Agenten entgegensteht“.[41]
Wir sollten auch nicht glauben, dass Kibaltschitsch Illegalismus und Illegalisten nur in seinen Schriften verteidigte. In den Notizen für sein Abschlussreferat in den Causeries Populaires sagt er vom Verbrechen: „Wir denken, es ist logisch, unvermeidlich, notwendig.“ Er endet seinen Vortrag mit diesen Worten über die illegalistischen Anarchisten: „Mit uns sind sie die einzigen Menschen, die es wagen, das Leben einzufordern.“[42]
* * *
Wir können also erkennen, dass es in Victor Serges anarchistischen Schriften einen natürlichen und folgerichtigen Fluss gab, dass die Verbindungen zwischen den vier Motiven logisch, unvermeidlich und notwendig sind. Richard Parry kommt in seinem ausgezeichneten und wichtigen Buch über die Bonnot-Bande zu dem irrigen Schluss, dass Victor den Illegalismus so lautstark lobte, weil „er sich einfach nur einen Namen als der ‚kämpferischste‘ Schriftsteller im Milieu machen wollte.“[43] Wie wir gesehen haben, war dies bei weitem nicht der Fall: Völlig aufrichtig und vollkommen widerspruchsfrei verteidigte Victor den Illegalismus im Allgemeinen und die Bonnot-Bande im Besonderen. Seine spätere Verurteilung des Illegalismus war der erste Schritt auf dem Weg zum Bruch, auf dem er schließlich den Anarchismus aufgeben, dessen Essenz aber bewahren sollte – aber dieser Prozess war, im Gegensatz zu dem Bild, das er in seinen Erinnerungen zeichnet, ein äußerst langsamer.
Der Prozess dieses Bruches scheint in seinem ersten Gefängnisjahr begonnen zu haben: von seiner Verhaftung am 31. Januar 1912 bis zum Verfahren gegen die überlebenden Mitglieder der Bonnot-Bande. Seine Überlegungen zur Dummheit des Illegalismus mündeten in seiner Weigerung, die Verantwortung für die Taten der „Tragischen Banditen“ zu übernehmen, die sich ihrerseits vor Gericht als nicht schuldig bekannten. Er war aufrichtig als er vor Gericht erklärte, er unterstütze den Illegalismus nicht, denn zu diesem Zeitpunkt scheint er ihn schon zu verurteilen; er ging jedoch mit der Behauptung zu weit, er habe ihn immer abgelehnt.
Vier weitere Jahre verbrachte er im Gefängnis, saß volle fünf Jahre ab und begann in dieser Zeit, ernsthaft über sein gesamtes bisheriges Glaubenssystem nachzudenken. So schrieb er im Februar 1917, unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, an Emile Armand: „Ich glaube nicht mehr, dass das anarchistische Ideal in eine einzige Formel passt, viel weniger Gewicht messe ich den Worten als den Taten bei, weniger den Gedanken als den Bestrebungen, weniger den Formeln als den Gefühlen und Gesten des Lebens. Ich bin also bereit mit all jenen zusammenzuarbeiten, deren guter Wille mir brüderlich gesonnen ist, ohne den zweitrangigen Ideenverschiedenheiten große Bedeutung beizumessen.“ Im selben Ton fuhr er einen Monat später fort, abermals in einem Brief an Armand: „Ich habe die sektiererische Unnachgiebigkeit von früher verloren“, und weiter: „Ich fühle mich fähig, mit all jenen zu arbeiten, die – beseelt von derselben Begierde nach einem besseren, klareren, geistreicheren Leben – ihrer Zukunft entgegengehen, selbst wenn sie andere Wege gehen als ich, und selbst wenn sie unserem in Wirklichkeit gemeinsamen Ziel Namen geben, die ich nicht kenne“.[44]
In seinem Exil in Barcelona arbeitete er mit Syndikalisten zusammen und beteiligte sich an einem (gescheiterten) Massenaufstand. In seiner ausführlichen Abrechnung mit Nietzsche, seinem „Kritischen Versuch über Nietzsche“, aber unterstreicht er die Ähnlichkeiten von Nietzsches Gedanken mit den reaktionärsten der damals geläufigen Ideen und spricht abschätzig über Nietzsches Wirkung auf die Anarchisten. Er sagt, wenn ein Anarchist Nietzsche liest, dann ergreift „eine Art kindischen Stolzes (...) Besitz von unserem Genossen und isoliert ihn in einem unfruchtbaren und beschränkten ‚Kult des Selbst‘.“ Einem Selbstkult, der bis dato die Grundlage für Victors gesamte Aktivität gewesen war.
In Spanien schrieb er für die anarchistische Zeitung Tierra y Libertad; und obwohl er später in seinen Erinnerungen behauptete, dass er vom Enthusiasmus für die russische Revolution unmittelbar ergriffen worden wäre, belegen das seine damaligen Schriften nicht. In der Ausgabe vom 4. April 1917 sagte er immer noch, „von politischen Revolutionen darf man keine großen Ergebnisse erwarten. ... Und also hat sich die wahre politische Macht kaum verändert.“[45]
Nach dem Scheitern des Juli-Aufstands von 1917 in Barcelona ging er in dem Bestreben nach Frankreich, sich der russischen Armee anzuschließen und in das Heimatland seiner Eltern geschickt zu werden. Im Oktober 1917 wegen Verstoßes gegen seine Ausweisungsorder verhaftet, verbrachte er mehr als ein Jahr in französischen Gefangenenlagern und war dennoch in der Lage, gelegentlich für die anarchistische Presse zu schreiben, wo seine Lobpreisung der russischen Revolution noch nicht vernehmbar war. Aber in eben dieser Zeit suchten sein Anarchismus und Individualismus ihre Erfüllung in der Massentätigkeit, die allein es ermöglichen würde, dass diese aufblühen. Wie er in seinem letzten Artikel vor der Abreise in dem anarchistischen Blatt La Melée schrieb: Anarchisten müssen „sich mit aller Macht engagieren im gesellschaftlichen Leben, das uns umgibt und das es uns letztlich erlauben wird, uns selbst großzügiger, menschlicher zu verwirklichen.“[46]
Daher ist klar, dass die Ideen des Syndikalismus dem Individualisten Le Rétif nichts bedeuten konnten; eines Syndikalismus, über den Félicien Challaye, einer der Führer und Theoretiker der Bewegung, sagen konnte: „nur die Gewerkschaft erlaubt den Arbeitern, ihre Lage zu verbessern“, wo die hierarchischen Strukturen dieser damaligen Gewerkschaften „Genossen desselben Berufes in der Gewerkschaft [umfassen]. Die Gewerkschaften verschiedener Berufe derselben Stadt [gruppieren sich] in Arbeitsbörsen. Die Gewerkschaften eines Berufes in einer Region [gruppieren sich] in einer Regionalföderation“, usw., bis hin zur Confédération Générale du Travail, wo „in dieser Umgebung intelligenter und leidenschaftlicher Arbeiter eine neue Gesellschaftsphilosophie ausgearbeitet wird“.[47] Wie Victor in „Unser Antisyndikalismus“ schrieb, die Organisation der Syndikalisten legt „die ganze parlamentarische Farce noch einmal neu auf“ und ihre Hauptkraft, die CGT, ist ein „Monument an Widersprüchlichkeit“.[48]
Von der Arbeiterklasse irgendetwas zu erwarten, ist waghalsig, denn: „Die Arbeiterklasse hat eine ganze Urgeschichte der Knechtung und Ausbeutung hinter sich“, so Serge. Auch verlieh er seinem Scientizismus Ausdruck, der generell unter Individualanarchisten so hervorstechend war und verurteilte die Tätigkeit (in) der Arbeiterklasse auf Grundlage der Naturgesetze: „Unter allen Gesichtspunkten ist sie [die Arbeiterklasse] die schwächere der beiden Klassen (...) Es liegt in der Logik der Natur, dass die Stärkeren die Schwächeren beherrschen.“[49]
Auch wenn die Sabotage – eine Aktionsform, die nur anziehend wirken konnte auf kompromisslose Rebellen wie die Individualanarchisten – ein wichtiges Element der syndikalistischen Tätigkeit war,[50] hatte sie doch aufgrund ihrer Bezugs zur Massentätigkeit, aufgrund ihres Wesens als Waffe im Arsenal der Arbeiterklasse keine Attraktivität für Le Rétif und dessen Genossen – womit letztere Albert Libertad die Treue hielten, der zahlreiche Artikel gegen den Syndikalismus geschrieben und diesen als „der heutigen Gesellschaft im Wesentlichen angepasst“ bezeichnet hatte.[51]
Es ist eine der vielen Ironien in Serges Leben, dass sein Nachdenken über die Schwachstellen des Individualismus im Nachgang der Bonnot-Affäre ihn trotz seiner scharfen Angriffe auf den revolutionären Syndikalismus – einer Kritik, die er in „Unser Antisyndikalismus“ überzeugend formulierte und die alle Gedanken aufnimmt, die für den Individualanarchismus zentral sind –, dass dieses Nachdenken ihn dazu führte, an der syndikalistischen Tätigkeit in Barcelona teilzunehmen, welche ihn wiederum dazu brachte, seine Ablehnung der Arbeiterklasse zu überdenken und sich schließlich für den Bolschewismus einzusetzen. Ihm war wohl kaum klar, dass sich seine jugendliche Vision – Massentätigkeit als ausweglose Sackgasse, die nur zur Vernichtung des Einzelnen führen würde –, durch seine eigenen späteren Aktivitäten als richtig erweisen sollte.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andreas Förster
Le Rétif (d.i. Victor Serge) - Unser Antisyndikalismus[52]
Bereits heute sind die Anarchisten, mit Blick auf die nächste antiparlamentarische Kampagne[53], in zwei Lager gespalten zwischen denen eine Aussöhnung unmöglich erscheint: die Syndikalisten und die Antisyndikalisten.
Die Genossen der Gegenseite haben in einer kurzen Erklärung (der Anerkennung gebührt für das doppelte Verdienst der Klarheit und der Offenheit) ausgesprochen, was sie wollen und was sie sind. Ihre antiparlamentarische Kampagne soll als Grundlage für eine revolutionär-syndikalistische Agitation dienen.
Auf diesem Felde also werden wir mit ihnen zusammentreffen. Nachdem Lorulot[54] unseren Antiparlamentarismus genau erklärt hat, ist es nach meinem Dafürhalten an der Zeit genauer zu erklären, was unser Antisyndikalismus sein muss.
Dieses Thema ist bei uns schon tausendmal diskutiert und neu diskutiert worden; und man muss einräumen, dass die von der einen wie der anderen Seite ausgetauschten Argumente oftmals von verstörender Albernheit sind. Habe ich nicht vor einer Woche erst gehört, wie einige Freunde den Gewerkschaften vorwerfen, feste Beiträge zu erheben, und diese mit Steuern vergleichen? Und andere verteidigen das damit, dass man in so einem Berufsverband Bildungsveranstaltungen organisieren würde! Gewöhnlicherweise sind es solche Banalitäten, mit denen man die Gewerkschaftsbewegung angreift und verteidigt. Oder aber man räsoniert bis zum Geht-nicht-mehr über Nebenschauplätze der Thematik, wie etwa das Beamtentum der C.G.T.[55], den Karrierismus der Führer, den Autoritarismus der revolutionären Methode…
Das sind Einzelheiten, die ohne jeden Zweifel interessant zu wissen und der Kritik wert sind. Aber unser Antisyndikalismus gründet sich, so glaube ich, auf ernsthafteren, tiefgehenderen Argumenten, und es ist wichtig, dass wir in der nächsten antiparlamentarischen Schlacht den Theoretikern der Arbeiteraktion etwas anderes als diese Klischees entgegenzusetzen haben.
Es geht uns nicht darum, gegen die Demagogen der Rue de la Granges-aux-Belles anzuschreiben[56]; nicht darum, noch weiter endlos zu diskutieren, ob es von Vorteil ist oder nicht, Teil einer berufsständischen Vereinigung zu sein; und auch nicht darum, die Frage zu klären, ob man dort anarchistische Propaganda machen kann. Ja, vielleicht macht es Sinn, Teil eines Berufsverbands zu sein; ja, man kann dort bisweilen gute anarchistische Arbeit leisten. Genauso wie es gegenwärtig Sinn macht, ein guter Soldat und ein guter Arbeiter zu sein. Genauso wie es bisweilen möglich ist, in der Kaserne Gedanken zu verbreiten. Aber all das ist kein Beweis, weder für noch gegen die Gewerkschaftsbewegung[57]. Man muss das Prinzip selbst der Gewerkschaftsbewegung angreifen, um ihre Sinnlosigkeit und ihre gefährlichen Folgen aufzuzeigen.
*
Betrachten wir zunächst die gewerkschaftliche Theorie und deren Grundlage. Man kann sie so zusammenfassen:
Es gibt zwei feindliche Gesellschaftsklassen, die einander gegenüberstehen: die müßigen Eigentümer und die nicht-besitzenden Arbeiter; letztere sehr viel zahlreicher.
Alles gesellschaftliche Übel rührt daher, dass es das Eigentum an den Produktionsmitteln der bürgerlich genannten Minderheit erlaubt, die proletarisch genannte Mehrheit zu bedrängen und auszubeuten. Gegen diesen Zustand gibt es nur ein Mittel: dass sich die Proletarier untereinander in berufsständischen Vereinigungen zusammenschließen, die sich in einer riesigen Konföderation – einer Klassenvereinigung – vereinen und dafür kämpfen, der feindlichen Kaste tagtäglich einige kleine Vorteile zu entreißen, bis sie, hinreichend zahlreich und kühn geworden, einen Krieg oder eine Wirtschaftskrise ausnutzen, um den aufständischen Generalstreik zu dekretieren und sich die Produktionsmittel anzueignen. Ist das geschafft, organisieren die Gewerkschaften die Arbeit. Endlich die Soziale Republik. Sind die grundlegenden „Ursachen“ des menschlichen Leidens erst verschwunden, wird sich die Menschheit entwickeln, in Frieden, Freude und Glück... Hier bleibt das Feld offen für die Vorstellungskraft eines jeden, so dass man sich gemächlich Bilder der universellen Glückseligkeit ausmalen kann, die selbstverständlich immer nur weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben können! So lautet, mit nur wenigen Variationen, das Märchen, das die Gewerkschafter jeder Couleur und jeden Schlags den anständigen Wählern erzählen (und zwar im Übrigen mit großer Überzeugung und Aufrichtigkeit). Wir haben das gänzlich zu widerlegen, Punkt für Punkt, ohne eine Auslassung. Und ich sage, das ist sehr wohl machbar.
Das zu lösende Problem ist folgendes: Wie transformiert man die widerliche Umwelt, um schließlich eine soziale Umwelt einzurichten, die jedem Individuum ein Höchstmaß an Glück garantiert. Das, im Grunde, ist unser Ziel als Reformer und auch das der Gewerkschafter.
Stellen wir die Frage also so herum: Ist es logisch, dieses Ziel vorausgesetzt, für diese Arbeit der Zerstörung und des Aufbaus auf die Arbeiterklasse zu zählen?
Kann man sie vernünftigerweise für fähig halten, ein solches Unternehmen glücklich zu Ende zu bringen?
„Ja“, sagen die Arbeiterverehrer (ouvriéristes) (ohne jedoch zu erklären warum). Nein, so erwidern wir, und wir führen den Beweis:
Die Arbeiterklasse hat eine ganze Urgeschichte der Knechtung und Ausbeutung hinter sich. Unter allen Gesichtspunkten ist sie die schwächere der beiden Klassen; vor allem ist sie die weniger intelligente, und darin allein liegt die Ursache ihres unterworfenen Zustandes. Es liegt in der Logik der Natur, dass die Stärkeren die Schwächeren beherrschen. Kraft dieses Gesetzes sind der unbewusste und feige Plebs, die idiotischen, leichtgläubigen und ängstlichen Massen immer geplündert worden von intelligenteren, gesünderen, kühneren Minderheiten.
Gegenwärtig, nach neunzehn Jahrhunderten der Unterdrückung, hat sich der Unterschied zwischen den beiden Klassen beträchtlich ausgeprägt. Wiederholen wir einmal mehr, in jeder Beziehung beweist uns die unparteiische Wissenschaft die Unterlegenheit der Arbeiterklasse.
So ist es denn völlig verrückt, sie der Organisation einer rationellen, vernünftigen Gesellschaft für fähig zu halten. Die Degenerierten, die Erbsklaven, diese erbärmlichen Proletenmengen, die wir aus eigener Anschauung kennen, sind physiologisch gesehen unfähig, in Harmonie zu leben.
Daraus folgt: Es ist Zeit- und Energieverschwendung, die Arbeiterklasse mit Blick auf eine gesellschaftliche Umwandlung zu organisieren.
Daraus folgt: Falsch sind alle theoretischen Behauptungen, die sich aus diesem Prinzip ableiten, wonach die Arbeiterklasse das gesellschaftliche Regime verändern kann und muss.
Daraus folgt: Die einzig dringende, nützliche, unabdingbare Arbeit – jene, die Schritt für Schritt, indem sie Individuen schafft, die des Titels Mensch endlich würdig sind, die Umwelt, das Milieu verbessert, – ist die anarchistische Arbeit der Erziehung und des Kampfes.
*
Da nun mittels streng wissenschaftlicher Argumente und mittels einer einwandfreien Logik erwiesen ist, dass das Prinzip der Gewerkschaftsbewegung (syndicalisme) selbst falsch ist, wenden wir uns der kritischen Untersuchung der gewerkschaftlichen Bewegung zu und schauen, ob sie unsere Ableitungen bestätigt. Sie bestätigt sie vollständig.
Benennen wir zu Beginn einen hervorstechenden Widerspruch. Mit dem Ziel, eine Klasse gegen eine andere zu organisieren, fordert man die Arbeiter auf, sich in Berufsverbänden zusammenzuschließen. Dabei stehen die Interessen der verschiedenen Berufsstände einander oftmals entgegen, was den Klassenzusammenhalt, zumindest auf dieser Grundlage, ökonomisch unmöglich macht. Damit landet man in einem echten Schlamassel…
Betrachten wir nun die Gewerkschaften. Nur ein bisschen unter die Lupe genommen, zeigt sich, dass sie in verschiedenem Maße die Fehler und Plagen der bürgerlichen Gesellschaft reproduzieren, deren Zerstörung dem Anschein nach ihr Auftrag ist. Eine Gewerkschaft ist eine Miniatur der alten Gesellschaft. Dumme und sinnlos komplizierte verwaltungstechnische Räderwerke, die restriktive Regulierung der individuellen Initiative, Unterdrückung der Minderheiten durch die willenlosen Mehrheiten, Triumph der Mittelmäßigen, sofern diese denn mit einem Mundwerk und mit Verschlagenheit gesegnet sind, alles findet sich dort wieder – bis hin zu den Parasiten…
Betrachten wir die Taktik. Weit davon entfernt, die etablierte Gesellschaftsordnung zu bekämpfen, scheinen es sich die Gewerkschaften zum Ziel gesetzt zu haben, sie bestätigen zu wollen. Diese angeblichen Staatsfeinde kämpfen unablässig für dieses oder jenes Gesetz – ein solches zu fordern heißt, das Wesen des Gesetzes und damit auch das Wesen des Staates anzuerkennen. Sie unterzeichnen vorschriftsmäßig legalisierte Verträge und fordern, diese Antiparlamentarier, dass dieses verabschiedet und jenes abgelehnt werde…
In ihrer Organisation legen sie die ganze parlamentarische Farce noch einmal neu auf. Selbst an Clowns fehlt es nicht. Delegierung von Macht, Abstimmungen, Beschlüsse mit Gesetzeskraft – und auch die kaum mehr redlichen Machenschaften, die persönlichen Rivalitäten, der Familienzank; man findet in der C.G.T. ein genaues, wenn auch verkleinertes Abbild der parlamentarischen Scheußlichkeiten wieder.
Was die in diesem Geschreibsel unvermeidlichen Ungereimtheiten angeht, die gehen in einer Reihe sehr amüsant zu beobachtender Abstufungen vom Tragischen ins Komische über. So der durchschlagende – nicht wahr, Clemenceau? – Sieg der Postbeamten, der sich einige Tage später verwandelte in... nun, suchen Sie sich selbst einen diplomatischen Ausdruck dafür.[58] So der tapfere Berufsverband des Baugewerbes, der sich vor einigen Monaten unbedarft durch einen Kollektivvertrag knebeln ließ, was gibt es... Gewitzteres! So die C.G.T., die sich zur Schutzherrin der Bankenjungens aufwirft, gerade so als ob die Diener der Finanziers nicht letztlich ebenso abstoßend wären wie der Finanzier selbst. Mit diesem Thema ließen sich ganze Seiten füllen.
Schauen wir uns die Ergebnisse an. Die C.G.T. ist heute kämpferisch – mehr in Worten als in Taten, aber doch kämpferisch. Hiervon ausgehend versprechen uns enthusiastische Genossen, dass deren Kraft in der Zukunft wachsen werde, um ihr schließlich das vollständige Obsiegen ihrer Forderungen zu bescheren. Wir sahen oben die Gründe, die uns ein bisschen – wir wollen bescheiden bleiben! – daran zu zweifeln erlauben. Ein Blick auf die Nachbarländer wird uns hier lehrreich sein.
In ihren Anfängen sind alle Parteien, alle Gruppierungen (ja alle Individuen) kämpferisch. Dann kommt das Alter, und mit ihm die Leibesfülle und die Weisheit. Das ist die Geschichte vieler Männer, die zu bewundern uns heute erlaubt ist, die an die Spitze der Gesellschaftsmaschine gehievt wurden; und die Geschichte der gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Parteien.[59] Sehr revolutionär in ihrer glücklichen Jugend, wurden die englischen Trade-Unions zu dem, als was wir sie kennen. Das gleiche widerfuhr vielen deutschen Gewerkschaften; es widerfährt im Augenblick der belgischen Arbeiterbewegung, die in dem Maße, wie sie wächst, alle Energie verliert. An gewissen Orten in den Vereinigten Staaten, in Australien, Neuseeland und England, wo die Gewerkschaften ihren Höhepunkt erreicht haben, ist es ihnen lediglich gelungen, eine wahre Kaste privilegierter, konservativer Arbeiter zu schaffen, die unter der schützenden Schirmherrschaft des Staates versammelt und kaum mehr wert sind als die offizielleren Bourgeois.
Betrachtet man die Entwicklung der französischen Gewerkschaften, die Ungereimtheiten der C.G.T., dann halte ich es für unmöglich, ihr ein anderes Schicksal vorherzusagen.
*
An Argumenten wird es uns in den nächsten Diskussionen also nicht fehlen. Denn jede dieser Kritikpunkte führt zu interessanten Entwicklungen, muss sich dabei aber auf Belege aus der Gewerkschaftstätigkeit selbst stützen – Belege, die sich lastwagenweise finden lassen.
Unser kritisches Werk also verstanden, bleibt noch der positive, affirmative Teil unserer Propaganda zu definieren. Der ist klar und braucht keine langen Ausführungen: Anarchisten hervorbringen.
Neben diesem Gefüge von Ungereimtheiten namens Gewerkschaftsbewegung und diesem Monument an Widersprüchlichkeit namens Gewerkschaft zeigen wir, wie sich durch die Verwandlung der Menschen die Gesellschaft verwandelt; wie in dem Maße, da die Menschen gesünder, schöner, vernünftiger, gebildeter werden, die Luft sauberer wird und das Leben bewundernswert erscheint…
„Das Heil liegt in uns selbst“! Zeigen wir, dass das Heil der Menschen in ihnen selbst liegt, dass der Weg zum Licht ihnen ganz geebnet ist, wenn sie sich einen Ruck geben, um sich von den alten Lügen freizumachen... Demonstrieren wir, wie sie in ihrer fruchtbaren Unnachgiebigkeit sein muss, die anarchistische Tat!
Ich weiß nicht besser zu schließen als mit Lorulots letzten Worten:
„Und nun... an die Arbeit!“
Aus dem Französischen von Andreas Förster
[1] Charta von Amiens (1906), in: Émile Pouget: Die Revolution ist Alltagssache. Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Michael Halfbrodt. Lich: Edition AV, 2014. S.291-292. Hier: S.291.
[2] Errico Malatesta: Redebeitrag auf dem Internationalen anarchistischen Kongress in Amsterdam (1907), in: ders.: Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften (1892-1931). Münster: Unrast Verlag, 2014. S.84-94. Hier: S.87f.
[3] Errico Malatesta: Syndikalismus und Anarchismus (1922), in: ders.: Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften (1892-1931). Münster: Unrast Verlag, 2014. S.150-161. Hier: S.154.
[4] Vgl. Jean Maitron: Le Mouvement anarchiste en France. Band 1. Paris: Maspero, 1975. S.275.
[5] Zitiert nach Jean Maitron: Le Mouvement anarchiste en France. Band 1. Paris: Maspero, 1975. S.276.
[6] Lenin: Referat über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften in der Sitzung der Kommunistischen Fraktion des Verbandstages (23.1.1921), in: ders.: Werke. Band 32. Berlin: Dietz Verlag, 1982. S.39-49. Hier: S.47.
[7] Siehe zum Beispiel A propos du Congo, in: Le Révolté ( 1. Mai 1908) und La grève des paysans de Parme, in: Le Communiste (11. Juli 1908).
[8] Anarchistes!, in: Le Révolté (28. November 1908). [Hier übersetzt aus dem Amerikanischen; so wie im Übrigen alle Zitate aus Texten, die nicht in die folgende Anthologie von Serge-Texten aufgenommen wurden: Victor Serge: Le Rétif. Articles parus dans „ l'anarchie" 1909-1912. Paris: Monnier, 1989. Herausgegeben von Yves Pagès; A.d.Ü.]
[9] Anarchistes-Bandits, in: Le Révolté (6. Februar 1909).
[10] Un Homme, in: Le Révolté (13. März 1909).
[11] Émile Henry, in: Le Communiste (13. Mai 1908).
[12] Georges Palante: La Sensibilité Individualiste. Paris: Alcan, 1909. S. 105. (URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k749016)
[13] Georges Palante: La Sensibilité Individualiste. Paris: Alcan, 1909. S. 105f. (URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k749016)
[14] Zitiert nach Jean Maitron: De Kibalchiche à Victor Serge. Le Rétif (1909-1919), in: Le Mouvement Social. Nummer 47 (1964). S.49 (URL: http://gallica.bnf.fr/ark: / 12148/bpt6k6125457q/f47. image, lang-FR).
[15] Vgl. Victor Serge: A Critical Essay on Nietzsche (1917), in: ders.: Anarchists Never Surrender: Essays, Polemics, and Correspondence on Anarchism, 1908-1938. Oakland: PM Press, 2015. S. 135-157. Herausgegeben und übersetzt von Mitchell Abidor.
[16] Par l'Audace, in: l'anarchie (6. Oktober 1910).
[17] La Haine, in: l'anarchie (9. September 1909).
[18] Les Hauts-Criminels, in: l'anarchie (25. Januar 1912).
[19] Par l'Audace, in: l'anarchie (6. Oktober 1910).
[20] Unser Antisyndikalismus (1910), in diesem Band, S.144, S.143, S. 144.
[21] Une Expérience Révolutionnaire, in: l'anarchie (30. März 1911).
[22] L'Illusion Révolutionnaire, in: l'anarchie (28. April 1910).
[23] Une Expérience Révolutionnaire, in: l'anarchie (30. März 1911).
[24] Les Fédérés, in: l'anarchie (28. März 1912).
[25] Une Expérience Révolutionnaire, in: l'anarchie (30. März 1911).
[26] L'Individualisme facteur du Progrès, in: Par delà la Melée. Nummer 16 (1917).
[27] L'Individualiste et la Société, in: l'anarchie (15. Juni 1911).
[28] Je Nie, in: l'anarchie (17. Februar 1910).
[29] Victor Serge: Beruf: Revolutionär. Erinnerungen, 1901-1917-1941 (1951). Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1967. Übersetzt von Ca-jetan Freund. S.26.
[30] Révolutionnaires? Oui, Mais Comment?, in: l'anarchie (14. Dezember 1911).
[31] Victor Serge: The Festival of Lies and Weakness (30. Dezember 1909), in: ders.: Anarchists Never Surrender: Essays, Polemics, and Correspondence on Anarchism, 1908-1938. Herausgegeben von Mitchell Abidor. Oakland: PM Press, 2015. S.36-37. Hier: S.37.
[32] L'Individualiste et la Société, in: l'anarchie (15. Juni 1911).
[33] Deux Russes, in: l'anarchie (29. Dezember 1910).
[34] Une Tete va Tomber, in: l'anarchie (12. Mai 1910).
[35] Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1844). Ausführlich kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben von Bernd Kast. Freiburg: Verlag Karl Alber, 2009. S.243.
[36] Un Honnête Monsieur, in: l'anarchie (15. Juni 1911).
[37] Le Bon Example, in: l'anarchie (27. Januar 1910).
[38] Les Illégaux, in: Le Communiste (20. Juni 1908).
[39] Anarchistes et malfaiteurs, in: l'anarchie (1. Februar 1912).
[40] Les Bandits, in: l'anarchie (21. Januar 1912).
[41] Contre la Faim, in: l'anarchie (21. September 1911).
[43] Zitiert nach Richard Party: Die Bonnot-Bande (1987). Wien: bahoe books, 2013. S.251. Übersetzt von Osama Gobara [Für den Herbst 2016 ist das Erscheinen einer überarbeiteten 2. deutschen Auflage dieses Buches geplant. A.d.Ü.].
[44] Zitiert nach Jean Maitron: De Kibalchiche à Victor Serge. Le Rétif (1909-1919), in: Le Mouvement Social Nummer 47 (1964). S.57 und S.72 (URL: http://gaUica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6125457q/f47.image.langFR).
[45] Un Zar Cae, in: Tierra y Libertad (4. April 1917) (URL: http://www.cedall.org/Documentacio/Premsa%20Llibertaria/tierra%20y%20libertad/1910-1919/00346.pdf).
[46] Lettre d'un Emmuré, in: La Mêlée (1. Februar 1919).
[47] Félicien Challaye: Le syndicalisme révolutionnaire, in: Revue de métaphysique et morale, Supplément à la Revue de Métaphysique. Nummer 6 (November 1907). S. 102.
[48] „Unser Antisyndikalismus" (1910), in diesem Band, S. 145 und S. 147.
[49] „Unser Antisyndikalismus" (1910), in diesem Band, S. 144.
[50] Siehe Emile Pouget:Die Sabotage (o. J., vermutl. 1910), in: ders.: Die Revolution ist Alltagssache. Schriften zur Theorie und Praxis des revolutionären Syndikalismus. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Michael Halfbrodt. Lieh: Edition AV, 2014. S.211-257.
[51] Les associations corporatives, in: l'anarchie (30. Mai 1907).
[52] Notre Antisyndicalisme, in: l'anarchie (Paris). Nummer 255 (24. Februar 1910).
[53] In Reaktion auf die Parlamentswahlen von 1910 stieß die anarchistische Bewegung eine große antiparlamentarische Bewegung an, die sich in Versammlungen, Artikeln und Plakaten ausdrückte.
[54] André Lorulot (1885-1963): Geboren als André Roulot, war Lorulot eine zentrale Figur des individualistischen Anarchismus und der französischen Freidenker. Haftstrafe aufgrund seiner antimilitarischen Aktivitäten, Herausgeber von l'anarchie. Serge wird Lorulot später – während des Prozesses der Bonnot-Bande – heftig attackieren.
[55] 1895 gegründet, war die Confédération Générale du Travail lange Zeit die radikalste der französischen Gewerkschaften. Im Jahr 1906 verabschiedete sie ihre Charta, die Charta von Amiens, welche den Klassenkampf ins Zentrum ihrer Betätigung rückte, gleichzeitig strebte sie immer noch unmittelbare Errungenschaften für die Arbeiterklasse an. Die Zeitung der Gewerkschaft, La Vie ouvrière, die damals von dem revolutionären Syndikalisten Pierre Monatte verantwortet wurde, erklärte, die Gewerkschaft sei „revolutionär-syndikalistisch und antiparlamentarisch" .
[56] In der Rue de la Granges-aux-Belles hatte die CGT in Paris zu jener Zeit ihren Sitz.
[57] „Syndicalisme" ist allgemein mit Gewerkschaftsbewegung zu übersetzen, obgleich Serge hier natürlich insbesondere auch den damals in den Gewerkschaften sehr präsenten „syndicalisme révolutionnaire" adressiert, der hierzulande als Syndikalismus bekannt ist. (A.d.Ü.)
[58] Georges Clemenceau (1841-1929), eine epische Figur der französischen Politik und Premierminister von 1917 bis 1920, übernahm dieses Amt in einem Augenblick, da das Vertrauen der Öffentlichkeit in die französischen Kriegsanstrengungen, denen er zum Sieg verhelfen sollte, am niedrigsten war. Die Arbeiter der französischen Post streikten vom 12. bis 23. März; als Minister schien Clemenceau ihnen die Erfüllung ihrer Forderungen versprochen zu haben. Als die Einlösung des Versprechens ausblieb, kam es im Mai zu einem zweiten Streik, der in einer schmerzlichen Niederlage endete – Clemenceau setzte die Armee im Postdienst ein, um die streikenden Arbeiter zu ersetzen.
[59] Parteien, die die Gewerkschaftsbewegung unterstützten, insbesondere die von Jean Jaurès gefahrte SFIO.