Wolfi Landstreicher
Die Gesellschaft
Die egoistische Enzyklopädie:
Die Gesellschaft
Ungefähr vor zwanzig Jahren bin ich in der Publikation Demolition Derby auf ein Essay gestossen, das „Was ist die Gesellschaft“ hiess. Ein guter theoretischer Text, er stellte ein paar interessante Fragen die einige meiner eigenen Untersuchungen inspiriert haben. Aber das Essay hatte ein grosses Problem, ein Problem das einige meiner Untersuchungen für mehrere Jahre quälte. Der Schreiber des Essays hat einen zentralen Punkt vergessen: Es gibt so etwas wie die Gesellschaft gar nicht.
So ein Statement kann absurd wirken, aber ich würde jeden herausfordern mir das Ding namens Gesellschaft zu zeigen. Sie würden Scheitern. Es ist nicht da. Es könnte einer sagen dass es viele Dinge gibt die nicht gesehen werden können aber trotzdem da sind. Der Wind zum Beispiel. Ich kann sagen dass er da ist, wegen seinen Effekten. Ich kann diese Effekte sehen, hören, riechen oder fühlen. Du könntest mir sagen dass dasselbe auf die Gesellschaft zutrifft. Aber bei jedem Effekt den du der Gesellschaft zuschreiben würdest, kann ich zeigen dass er von spezifischen Aktivitäten von spezifischen Individuen in spezifischen Situationen verursacht wurde. Ist das spezifisch genug für dich? Es ist die spezifische Natur dieser Interaktionen, Handlungen und Situationen die das Wort Gesellschaft brauchbar machen.
Fassen wir z.B. eine sehr gewöhnliche Aktivität die alle von uns ab und zu erleben. Ich werde sie in der ersten Person beschreiben. Nachdem ich durch Gänge von Regalen mit unzähligen Objekten drauf gewandert bin, nehme ich ein beliebiges dieser Objekte und stecke sie in den Korb den ich trage. Dann stehe ich in eine Schlange von Leuten die sich langsam zur Kasse bewegen. Wenn ich zur Kasse komme nehme ich meine Dinge aus dem Korb und stelle sie auf die Kasse hinter der eine andere Person steht. Vielleicht begrüsse ich diese Person mit einem „Wie geht's?“ und sie antwortet „Gut, danke“ oder sowas ähnliches. Sie scannt die Artikel die ich vorher hingestellt hab damit ein ein Computer den Preis für die Kasse registrieren kann. Und wenn sie das mit allen Artikeln gemacht hat, wird sie mir sagen „Das macht __ CHF.“ Ich nehme ein Papier, mit diesem Wert (oder mehr) bedruckt, aus meinem Portemonnaie und gebe es ihr. Sie legt es in die Kasse, steckt meine Artikel in einen Sack und sagt „Danke. Schönen Tag noch.“ Vielleicht antworte ich freundlich. Es ist eine gewöhnliche, rituelle Interaktion, und es ist lediglich ein kleiner Teil von weiteren festen und formalisierten Interaktionen und Aktivitäten, einschliesslich der Produktion der Artikel, ihr Transport zum Laden in dem ich sie finde, die Produktion des Geldes das ich benutze, die Methode mit der ich an's Geld komme, etc. Jede einzelne dieser Aktivitäten und Interaktionen wird von Individuen in Beziehung mit anderen Individuen ausgeführt. Aber der Komplex in den diese Interaktionen und Aktivitäten eingewoben sind, und die Art und weise in der sie in Rollen und institutionalisierte Rahmen formalisiert sind, machen sie uns fremd. Wenn ich durch die Gänge dieses Ladens laufe oder an der Kasse bezahle, ist nur ein sehr kleiner Teil von mir selbst anwesend. Selbst wenn also diese Aktivitäten Vereinigungen beinhalten, macht es die entfremdete Natur dieser Vereinigungen einfach, sie als etwas anderes als unserer eigenen Aktivitäten zu sehen, als etwas das selber handelt. Die Gesellschaft ist die nützliche Fiktion, die Abkürzung, mit der wir auf das Netzwerk der institutionalisierten und entfremdeten Beziehungen verweisen können. Aber es ist essentiell sich daran zu erinnern das es eine Fiktion ist.
Gesellschaft ist kein genau bestimmter Term. Als eine Fiktion, scheint sie die Natur der gewöhnlichen und institutionellen Beziehungen die wir jeden Tag erleben, eher zu verschleiern als aufzudecken. Der Term soziale Ordnung ist viel deutlicher, weil er impliziert dass die Vereinigungen zwischen Individuen in Rollen, Identitäten, verschiedene Kategorien geordnet sind, um die Reproduktion dieser Ordnung zu garantieren. Aber selbst dieses Ordnen – obgleich es durch solche Institutionen wie der Staat, das Gesetz, die Polizei, die Armee, die Ökonomie, etc. gestützt wird – findet durch die Aktivitäten die jeder von uns gewohnheitsmässig, „weil es halt so ist“ und ohne nachzudenken ausführt, statt.
Aber wichtiger ist es, von meiner egoistischen Perspektive aus, zu untersuchen was das konkret für das Projekt die gegenwärtige soziale Realität umzustürzen bedeutet. Anarchisten mögen es davon zu sprechen die Gesellschaft zu transformieren oder sie zu zerstören. Aber, seit Gesellschaft lediglich eine Fiktion ist, die wir als Abkürzung für das Netzwerk von verflochtenen Aktivitäten und Interaktionen – die sich in unserem alltäglichen Leben institutionalisiert haben – benutzen, heisst Transformation das Experimentieren mit flüssigen Vereinigungen in welchen die involvierten Individuen sich der Institutionalisierung und Formalisierung verweigern. Und die Zerstörung wäre die Zerstörung der institutionellen Strukturen die unsere Vereinigungen - und folglich unsere Leben - formalisieren und entfremden. Dies deutet auf ein Potential für eine subversive Praxis, die im alltäglichen Leben jedes Individuums, das diesen Strukturen entkommen will, angewendet werden kann. Dies beinhaltet eine aktive Verweigerung sich anzupassen und eine Bereitschaft die gewöhnlichen und institutionellen Strukturen der Beziehungen in denen wir leben, zu attackieren. Diese Praxis fordert ein Experimentieren mit einer Flüssigkeit in der Art wie ein Individuum gegen Gesellschaft kämpft und sein eigenes Leben kreiert, eine Fähigkeit sich frei zu bewegen, leicht davonzutanzen, sich zu verstecken, zu verschwinden und wieder aus dem Nichts aufzutauchen. Die gleiche Flüssigkeit ist die Basis für freie Vereinigung. Sie formt eine Praxis in welcher die Zerstörung der Fiktion der Gesellschaft und des institutionellen Rahmens, der ihre Realität ist, die Kreation einer neuen Art des Lebens ist, die nicht mehr beschränkt werden kann.