#title Radiographie eines Regimes #author L. #SORTauthors A Corps Perdu #SORTtopics Regime, Sozialer Krieg, Konflikt, Militarisierung, Bürgerkrieg, #date Juli 2009 #source Entnommen am 22.12.2014 von [[http://acorpsperdu.wikidot.com/radiographie-eines-regimes][http://acorpsperdu.wikidot.com/radiographie-eines-regimes]] #lang de #pubdate 2014-12-22T21:06:00 #notes Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 2, November 2009. In dem Land, in dem wir geboren wurden, gibt es weder Befreites noch Freies. In Italien wie etwas überall, wohnen wir einer nie dagewesenen «autoritären Wende» bei, die sämtliche Aspekte unseres Lebens miteinschliessen wird. Wir stehen einem totalitären und totalisierenden Kontroll- und Propagandaapparat gegenüber, einem System das uns zerdrückt und lähmt. Resigniert und an die «Gefangenschaft» gewöhnt macht es uns taub und blind für unser Leiden und das von anderen. In dieser Tragödie wäre paradoxerweise noch etwas Trost zu finden, könnte man feststellen, dass der Zynismus die Oberhand gewonnen hat, doch die Wirklichkeit ist viel schlimmer: Was hier seinen Lauf nimmt, ist ein Prozess zur Entmenschlichung der Individuen, es ist das Vorzimmer der Barbarei. Als Produkte der Moderne weisen wir den Schmerz und die Ungerechtigkeiten nicht zurück, sie werden von uns als Norm einverleibt. Sie sind uns nichts fremdes, etwas weit entferntes oder zu überwindendes. Sie sind unabwendbar und ein Bestandteil von uns selbst, sie repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine Welt, die nicht anders sein kann. Wir sind die Gattinnen, die für diese Gesellschaft vorbestimmt wurden und als solche begeben wir uns fügsam zum Traualtar, unsere Pflicht erfüllend, ohne Liebe und ohne Hoffnung, einzig wissend, dass es nun mal so ist, dass uns nichts anderes übrigbleibt, dass unsere Mütter, unsere Grossmütter, alle dasselbe getan haben. Die Liebe und das Glück werden nicht in Betracht gezogen. Sie existieren nicht, weil wir sie nicht kennen, weil die Bedeutung dieser Worte leer ist, an die Rethorik abgeschoben, tot.
Der entmenschlichte Mensch ist das rechtmässige Kind der totalitären Gesellschaft. Er ist als Sklave nicht mitschuldig an der Autorität, er wird zur Autorität weil er Sklave ist. Der Slave hört auf ein solcher zu sein, wenn er sich seiner Ketten bewusst wird, in dem Moment, wo er sich ihrer zu entledigen versucht, in den Nächten, in denen er davon träumt, zu entfliehen: der entmenschlichte Mensch erkennt seine Ketten nicht mehr, er hat keine Träume, die seine Rolle durchbrechen, er denkt nicht daran, zu flüchten, da es ihm nicht gelingt, an ein Anderswo zu denken, an einen anderen Ort, an eine andere Welt. Dieser Prozess der Enteignung der Individuen ist die grösst mögliche Ausdehnung der Autorität, der Gipfel, auf welchem die Macht zu ihrer totalen Vollendung gelangt, es ist die nie vollständig erreichte Utopie eines jeden Regimes. Man könnte verfechten, dass der gemeinsame Nenner dieser Epoche in der Unfähigkeit liegt, sich selbst zu erkennen, sich als Individuen von der sozialen Entfremdung los zu lösen – und wäre es auch nur für einen Moment. Erstickt vom Alltag und begraben unter der Norm betäuben wir all unsere Fähigkeit zu fühlen, uns selbst genauso wie diejenigen, die uns umgeben. Es geht daher nicht schlicht um einen Mangel an Empathie, sondern um die totale Aufhebung des Ichs, des persönlichen Strebens nach Glück. Der Staat hat die Mittel und die Ausübung von Autorität schon immer den Bedürfnissen der Politik und der Ökonomie angepasst. Genauso wenig wie er vom Markt und den Finanzen getrennt ist, stellt er für diese ausschliesslich den bewaffneten Arm dar. Der Staat ist der Ökonomie inhärent und umgekehrt, daher macht es keinen Sinn, sie in unterschiedliche Verantwortlichkeitsgrade aufzuteilen. So spiegelten auch die ideologischen Formen, die sich die Regierungen im Verlauf der Geschichte geben mussten und wollten, zu einem Grossteil den Grad an möglicher oder tatsächlicher sozialer Konfliktualität wieder. Das heisst, Der Staat muss sich über die Prinzipien und politischen Ideen der Mächtigen hinaus, selbst schützen und das Funktionieren der staatlichen und ökonomischen Maschinerie bewahren, indem er sich zum Vermittler und Feuerwehrmann des sozialen Konfliktes macht. Seit jeher mussten die «Träume» der Macht und die von den Politikern auferlegten Ideologien an die Bedürfnisse der politischen Führung anpasst werden – und waren schon immer intrisisch verbunden: Sobald sich die Temperatur des sozialen Konfliktes zu erhitzen beginnt, zieht sich auch das Netz der Repression und der Kontrolle enger zusammen. Wenn man die Vergangenheit betrachtet, kann man ausserdem erkennen, wie die Ideologien selbst geschaffen und festgelegt wurden, wie sie sich aus der vorangehenden Konfliktualität heraus entwickelt haben. Man wird sich der eigentlichen Natur des Staates schnell bewusst, falls man dem, was auf rhetorische Weise Demokratie ganannt wird und dem Weg den sie einschlägt auf den Grund geht: die Regierungen wissen sehr wohl, dass sich die gegenwärtigen sozialen Zustände verschlimmern werden und sich gleichzeitig die Herde der Wut nur ausbreiten können. Es müssen also dringendst Präventivmassnahmen getroffen werden. Wir stehen vor einem schnellen Wandel des legislativen Systems und der Organisation des Zwangs, die nicht nur zur Unterdrückung dienen, sondern auch dazu, den Grad und die Kraft der sozialen Konfliktualität zu messen, die Toleranzgrenze der Bevölkerung abzuschätzen und diese an die Situation eines permanenten Ausnahmezustandes zu gewöhnen. Die gegenwärtige Krise wird für die untergeordneten Klassen kein Zuckerschlecken sein und die Angst und Verzweiflung, die sich entwickelt, wird unweigerlich zu einer Radikalisierung der Konflikte und einer diffusen und «chaotischen» Situation führen. In einem solchen Kontext bleibt gegenwärtig noch immer eine Unbekannte im Spiel: wir wissen nicht und können nicht wissen, ob die nahe Zukunft eine Zukunft des Bürgerkrieges oder des sozialen Krieges sein wird. Sicher ist nur, dass es zum Krieg kommen wird. Dessen Bewusst, und im Gegensatz zu ihren Untertanen, haben die Regierungen bereits Vorbereitungen eingeleitet. Aus den Rapporten der NATO geht deutlich eine Besorgnis und eine Perspektive bezüglich eines inneren Krieges hervor, oder, um genauer zu sein, bezüglich verschiedener Herde von Bürgerkriegen, die in den kommenden Jahren die europäischen Strassen entflammen werden. Die Politiker verspüren das Bedürfnis das Territorium zu militarisieren, um die Menschen an Kriegsbedingungen und an Repression zu gewöhnen: so ist Italien offiziel eines der Hauptgebiete geworden, von wo aus das Experiment begonnen hat. Es gibt daher nicht die geringste faschistische Dringlichkeit in diesem Land. Die immer erdrückenderen Gesetze und die Militarisierung der Stadtviertel, die rassistische Propaganda und die permanenten «Sicherheitsmassnahmen» sind nicht das Produkt der Köpfe einer handvoll populistischer Regierender Italiens. Es handelt sich hierbei um ein viel umfassenderes Projekt, dass im Mindesten alle Länder der atlantischen Allianz miteinbezieht. Ausgehend von den spezifischen Umständen in Italien können wir die Hypothese formulieren, dass die Illusion über die Beteiligung der Untertanen an der Festsetzung der Macht endgültig enthüllt worden ist. Die Demokratie war ein «Ablenkungsmanöver», um die Politik der Trennung und der Ausgrenzung in einer befriedeten Situation zu verstärken. Nun da sich die Situation verändert hat und die demokratische Form ihre Grenzen aufzeigt, wird sie de facto schlicht durch andere, etwas offener autoritäre Formen ersetzt. Nur damit wir uns nicht falsch verstehen, wir wollen uns nicht über das Fehlen von Demokratie beklagen, nicht im Geringsten. Die Tatsache, dass der Staat sein wahres Gesicht deutlicher zeigt, ist auch zu unserem Vorteil. Gewiss wird die Demokratie weiterhin im Vokabular, in der politischen Sprache und in der Rethorik der Regierung angewandt werden. Es ist nicht denkbar, dass sich die Sprache der Macht fortwährend an ihre Praktiken anpasst, doch, wie uns die Geschichte lehrt, wurden die Worte der heutigen Welt ihrer eigentlichen Bedeutung entleert. Wir empfinden also nicht die geringste Nostalgie für die Demokratie, sie war nichts als eine Repräsentation der Autorität und eine Ursache der Unterdrückung und Ausbeutung wie jegliche andere Regierungsform auch. Ihre Funktion, das heisst das – wenn auch symbolische – Einbeziehen der Untertanen in die Entscheidungen der herrschenden Klassen, ist schlichtwegs überholt. Durch den Mechanismus der parlamentarischen Delegation gelang es der Macht ihre Stellung zu sichern, indem sie die Klassendialektik verwaltete. Nun, da eine solche Dialektik verschwunden ist, begraben unter den Modifikationen in der Produktion und den neuen Modellen der Ausbeutung, scheint es, dass das Bedürfnis nach Vertretung nicht mehr existiert. Die Tatsache, dass eine Person in den höchsten Rängen des Staates es sich leisten kann, öffentlich zu verkünden, dass «das Parlament nutzlos ist», ohne die geringste Reaktion zu auszulösen, verdeutlicht, dass die Zeit der politischen Gefechte und der «zwei Fronten» definitif überholt ist. Es zeigt vorallem auf, dass die sowohl ideologische als auch praktische Rolle der «Polizei des Proletariats», die die italienische Linke immer gespielt hat, nicht mehr benötigt wird. Mit dem, was immer mehr der inoffiziellen Abschaffung der Repräsentation gleicht, welche die Illusion verschaffte, irgendwo miteinbezogen zu sein, sind wir auf paradoxe Weise zu einer wirklichen Beteiligung an den Entscheidungen gelangt. Durch eben diese Tatsache, sich völlig der Macht auszuliefern und auf jegliche Dialektik zu verzichten, wird eine reelle und nicht symbolische Entscheidung getroffen: der «Volkswille» einer Diktatur. In einer Gesellschaft in der die Macht auf bestem Weg ist, die Utopie zu erreichen, in der die Untertanen ihrer Träume, ihrer Vernunft und ihrer Ideen beraubt sind, ist die Grundlage für eine Vertretung verschwunden und der Tatsache gewichen, sich völlig der Willkür der Autorität auszuliefern. Die gegenwärtige «Krise» in Italien, oder besser, der Todeskampf der Linken, muss unter diesen Voraussetzungen betrachtet werden. In dem Experiment, das seinen Lauf nimmt, hat der sozial-demoktatische Progressismus keinen Platz mehr. Er wurde von den Ereignissen überholt und hat seine Rolle als «Tribüne des Plebs» verloren. Der archaisch demokratische Skandal, das Italien kein pluralistisches Land mehr sei, da im Parlament keine Linke mehr vertreten ist, ändert daran nicht viel: die Realität ist, dass die Linke nichts mehr nützt, um diese Gesellschaft zu führen. Um genauer zu sein, die «linken» Positionen in Italien (gestützt auf den Sozialstaat, die Respektirung der Legalität, den Kampf gegen die Mafien) sind für die Entwicklung der heutigen Politik und Ökonomie schlicht nicht geeignet. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass der Disput der Macht sich zwischen verschiedenen Fraktionen abspielt, die im Wesentlichen dasselbe Programm haben, auch wenn ihre Wahlsprüche unterschiedlich sind. Einmal auf dieser Stufe angelangt, hat der Staat weder die Absicht noch die Möglichkeit zurück zu kehren. Wie in jeder Situation eines «Übergangs», einer «Krise», einer sozialen oder ökonomischen Umstrukturierung (wie man es auch immer nennen mag) hat die Macht alles Interesse daran, auf die Beschleunigung des Autoritarismus und der Militarisierung zu setzen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der ökonomische Zusammenbruch und der drastische Rückfall der Kaufkraft der untergeordneten Klassen nicht verhindert werden kann, weder durch «soziale Stossdämpfer» (was die offenen Fonds und der produktive Rückgang nicht erlauben), noch durch eine hemmungslose «décroissance»[1]. An diesem Punkt scheint es offensichtlich, dass sich selbst die «abenteuerlichste» Hypothese der Sozial-Demokratie nur am Horizont der Utopie abzeichnet. All dem bleibt die italienische Spezialität anzufügen, früher sowie heute, sowohl auf politischer als auf ökonomischer Ebene, eine klientelistische und mafiöse Verwaltung all dieser Strukturen zu haben. Im Grunde hat dieses Phänomen ein Ausmass angenommen, das verhindert, es einfach als «Korruption» zu behandeln, da dies die Existenz eines «gesunden» Teiles implizieren würde, der nicht existiert. Diese Entwicklung der Untergrundökonomie ist bloss eines der zahlreichen Mittel, denen sich der Kapitalismus bediente, um sich zu verfestigen und dies ist übrigens auch der Grund, wieso es völlig undenkbar ist, sie mit einem Schlag aus dem Weg zu räumen: Es handelt sich hier um ein System mit seinen Übergangsphasen und Veränderungen, dessen Restrukturierung und Modifizierung aufgrund von Anforderungen und nicht aufgrund von ideologischen Linien oder legalistischen Prinzipien passiert. Somit gibt es nirgends eine Demokratie, die wieder ausgegraben werden muss und genausowenig lauert ein Faschismus um die Ecke. Wir sind nicht einer banalen Diktatur unterworfen, einem autoritären Regime, das sein Joch ausschliesslich mit brutaler Gewalt aufzwingt: Wir stehen einer Form der Herrschaft gegenüber, die in der Geschichte nichts vergleichbares kennt. Wir stehen einer Gesellschaft gegenüber, die sich nach dem Abbild eines überproportionierten Konzentrationslagers errichtet hat, worin Menschen in grossem Masse entmenschlicht und eliminiert werden. Während den letzten Jahren haben wir dem langsamen Zerfall der alten Möglichkeiten für Brüche beigewohnt. Wir haben den Argwohn gegenüber Fremden zu Rassenhass werden sehen. Wir mussten eine Offensive des Staates über uns ergehen lassen, die alle Armen ohne Unterschied getroffen hat. Wir haben die Überbleibsel des Klassenkampfes sich in der Barbarei auflösen sehen. Gegenwärtig erleben wir einen Anfgriff gegen die untergeordneten Klassen, der von allen Seiten kommt, einen Angriff, dem sich bis anhin nur sehr wenige Menschen zu widersetzen versuchten, einen Angriff, an dem sich ein Teil der Ausgebeuteten auf masochistische Weise beteiligt. Wenn wir um uns schauen, entdecken wir im «besten» Fall sich auf die Demokratie berufendes Gewinsel, eine passive Empörung gegenüber dem raschen Zunehmen von organisierten Gruppen von Rechtsextremen und deren Überfälle (unterstützt von der Regierung und den Ordnungskräften), oder einen heuchlerischen und wirren Skandal über die mafieuse Politik, die sämtliche Ressourcen plündert. Der Grossteil der Bürger schweigt oder applaudiert zur Arbeit der Regierung, die mageren Widerstände neigen dazu, sich in der Sphäre des Symbolischen einzuschiessen und sind nicht fähig die Separationen zu verlassen, die verhindern, die Komplexität der Unterdrückung wahrzunehmen. Die wenigen Kämpfe, die in Italien stattfinden, versanden daher auch in einer partiellen Kritik und bleiben auf spezifische Themen beschränkt. Eine solche Herangehensweise, die in einem Kontext von Pazifikation oder Zurückweichen sicherlich nützlich ist, wird kontra-produktiv zu einer Zeit, wo gerade eine neue Form des Regimes dabei ist, sich mit aller Kraft zu verfestigen. Die Dringlichkeit der Situation verleitet die wenigen kämpfenden Individuen allzu oft dazu, ihre eigenen Positionen – und die Praktiken die sich daraus ergeben – negativ in Bezug auf Projekte des Feindes zu definieren, anstatt ihre eigenen Projekte zu entwickeln und zu verbreiten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Wiederausgrabung des antifaschistischen Kadavers, des Banners, worunter sich die lebenden Toten der Linken im Namen einer demokratischen Dringlichkeit wiedervereinigen. Jegliche Kritik aus dem Weg räumend, die behauptet das die rassistische Hetze und selbst die Ideologie des Faschismus nichts anderes waren und sind, als eine der zahlreichen Formen mit denen sich der Kapitalismus in bestimmten Momenten ausrüstet, um mit seinen eigenen Anforderungen und seiner eigenen Verteidigung fertig zu werden. Die Tatsache, dass das neofaschistische Phämomen der Demokratie völlig untergeordnet, ihr ein nützlicher Verbündeter ist und dass die neue Form des Totalitarismus weit über das Problem der rassistischen Hetze hinausgeht, ist etwas, das die sterbende Linke kaum zu kümmern scheint. Ausserdem ist die Dringlichkeit des Faschismus für die Enkelsöhne von Lenin und Togliatti [historischer Führer der Kommunistischen Partei Italiens] das einzige Argument, das ihnen noch eine Sichtbarkeit und eine Rolle verleiht – wenn auch nur eine symbolische. Dass die Linke ihre letzte Karte darauf setzt, zu existieren und – wie sie es schon seit jeher getan hat – eine Separierung der Kritik und Unterteilung der Kämpfe betreibt, ist bei weitem nichts Neues. Dennoch muss man sich dann fragen: warum sollten Anarchisten und Libertäre ihnen bei dieser Aufgabe behilflich sein? Sicherlich, wir sind « Antifaschisten », in dem Sinne, dass wir Feinde des Faschismus sind, aber wir sind auch Feinde der Demokratie und jeder anderen Form von Regierung und Staat. Das mag banal klingen, doch in einer Zeit, in der Anti und Nein zu eine politische Ideologie und Praxis wurde, ist es vielleicht besser noch einmal daran zu erinnern. Die Revoulitonäre sollten viel mehr ein Projekt entwickeln, das die Herrschaft in ihrer Gesamtheit angreift und sich nicht auf eine Kritik ihrer nebensächlichen und utilitaristischen Aspekte beschränkt. Ein solches Projekt impliziert natürlich, dass die theoretische und praktische Kritik ebenso den Faschismus und den Rassismus angreift. Sie darf uns jedoch nicht das Ziel einer allgemeinen Subversion der Gesellschaft aus den Augen verlieren lassen. Dies wird vieleicht schwieriger sein, angesichts der Tatsache, dass es viel umständlicher ist, den Weg ausserhalb von der Rethorik und der Ideologie des Widerstands zu beschreiten, als die gängigen Klischees auszunutzen. Doch die Macht beginnt gerade zum ersten Mal ihre Maske abzulegen und in diesem Moment sollten wir nicht die Gelegenheit verpassen, die partielle Kritik in eine revolutionäre Kritik umzuwandeln. Umso mehr, da wir die Vereinigung mit Feinden der Freiheit, um andere Feinde anzugreifen, nicht nur als «fragwürdige» Wahl betrachten, sondern auch, weil uns eine solche im Verlauf der Geschichte noch nie «Glück gebracht» hat. Stellen wir uns vor unter dem Regime von Stalin oder Hitler gelebt zu haben: hätten wir gegen den Antisemitismus gekämpft? Selbstverständlich. Aber hätten wir einzig gegen den Antisemitismus gekämpft, hätten wir dies zu unserem Leitspruch gemacht? Sicherlich nicht. Unsere Kritik und unsere Aktionen hätten sich bestimmt – wie auch bei unseren damaligen Gefährten – gegen die Gesamtheit der durch das Regime auferlegten Verhältnisse und gegen das Regime selbst gerichtet (wovon die Judenverfolgung nur einen Aspekt darstellte). Sogar die kleine Minderheit der libertären Bewegung, in denen die Gewohnheit den Kampf zu unterteilen am solidesten war, hatten unter solchen Umständen (als es für das Kapital und den Staat notwendig wurde, sich mit besonders autoritären Regierungssystemen auszustatten) begriffen, dass nun nicht mehr die Zeit der Partialität war, dass eine Kritik auf die Beine gestellt werden musste, die jegliche Struktur der Herrschaft mit einbezog, und das Fundament einer zukünftigen Befreiung gelegt werden musste – wenn auch zum Preis, anfangs alleine da zu stehen. Wenn diese Argumentation auf die Diktaturen der Vergangenheit zutrifft, dann wird sie im Bezug auf den heutigen (immer «globalisierteren») Totalitarismus und auf das, was uns in der naher Zukunft erwartet, noch mehr zutreffen. Die tief verankerte anarchistische Gewohnheit, sich ausschliesslich über das «nagative» festzulegen, sprich sich diesem oder jenem Projekt der Herrschaft entgegenzustellen, und im besten Falle der Herrschaft selbst, war sehr lobenswert. Es ist diese Spannung, die (zumindest einen Teil der Bewegung) vor dem Risiko bewahrte in die Scheisse der Politik zu fallen und die eine «gesund destruktive» Spannung entwickelte. Diese Argumente galten insbesondere in Zeiten des Zurückweichens, wie wir es in den letzten 20/25 Jahre erlebt haben. Doch im heutigen Kontext, dessen Voraussetzungen uns ein ziemlich deutliches Ausbreiten des Bürgerkrieges erkennen lassen, wird es umso wichtiger das Risiko der Entwicklung einer Projektualität, die erneut das Negative als einzige Kritik übersteigt, zu wagen. Ein Risiko, weil die Projektualität und die Perspektiven zuerst erfunden werden müssen. Weil die politischen und ökonomischen Veränderungen, und mit ihnen die der sozialen Verhältnisse, leider so beträchtlich waren, dass es ziemlich schwierig ist, etwas aus der Vergangenheit, aus «unserer» Vergangenheit, zu entnehmen. Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, als umherzuziehen, uns darauf vorzubereiten zu versuchen, den heutigen und den kommenden Situationen zu trotzen, indem wir uns bewusst werden, dass wir in jedem Fall einzig die beiden Möglichkeiten zur Auswahl haben: Den Bürgerkrieg über uns ergehen zu lassen oder beizutragen «den Schwerpunkt zu verlegen» und Protagonisten des sozialen Krieges werden. In Zeiten der «Krise» oder der Umstrukturierung haben die Staaten das Elend schon immer selbst entfesselt: autoritäre und populistische Regime, Kriege, rassistische Propaganda, Terror. In jenen Situationen haben sich die Menschen oft dort aufgestellt, wo man es ihnen sagte und kämpften an verschiedenen Fronten, jedoch stets unter dem Banner der Erfordernissen des Staates und des Marktes. Für uns hat es immer nur zwei «Fronten» gegeben: jene, die zur Autorität tendiert und jene, die zur Freiheit tendiert. Lasst uns auf unsere Seite der Barrikade weiter kämpfen, für die Befreiung. Der nicht-reformierbare Charakter des Bestehenden ist offensichtlich. Wenn man sich nicht dazu entschliesst, alles fallen zu lassen bis zur endgültigen Vernichtung, tritt die revolutionäre Hypothese unweigerlich wieder ins Rampenlicht. Es geht nicht mehr darum, die untergeordneten Klassen auf die verschiedenen Qualen dieser Welt zu sensibilisieren, sondern damit zu beginnen, aufständische Möglichkeiten umzusetzen und zu kreieren. Wenn der Angriff von allen Seiten kommt und von allen Seiten erwidert werden muss, dann ist dies der Punkt, dies die Art der Selbstverteidigung, von der aus wir einerseits damit beginnen müssen, die Selbstorganisation zu leben und andererseits, eine Ethik innerhalb des Bruchs auszuarbeiten. Wenn es wahr ist, dass es innerhalb der totalitären Gesellschaft keine befreiten Räume und Verhältnisse mehr gibt, dann ist die Möglichkeit, diese Räume und Verhältnisse durch Aufstände zu erobern, ebenso wahr. In letzter Zeit haben wir wiederholt gesehen, wie sich in verschiedenen Städten Europas und der ganzen Welt immer öfters Aufstände ereigneten, doch wir haben auch die objektiven Grenzen der Ausweitung des «Bruches» und des Aufreichterhaltens eines «dauerhaften Konfliktes» gesehen. Der Frage «wie erreichen wir eine Revolte?», muss hinzugefügt werden «wie handeln, um dafür zu sorgen, dass sich die Revolte ausbreitet und nicht zum Stillstand kommt?», und vorallem «wie ist es möglich ein Gebiet zu halten, wenn es einmal befreit ist? Wie verschaffen wir uns Zeit, jene Zeit die nötig ist, damit die Subversion der Verhältnisse unumkehrbar wird?». Und Schliesslich, «wie erreichen wir, dass die Inhalte die Formen überflügeln und dass sich die Ethik gegen die Politik durchsetzt?». Der Moment ist gekommen um das Antike revolutionäre Dilemma wieder auf den Tisch zu bringen: wohin wollen wir? Und wir sehen, wie dieser Horizont näher kommt. Ohne dem Optimismus verfallen zu wollen, vorallem da das Risiko für einen Bürgerkrieg äusserst präsent ist, hat uns die Gewohnheit inmitten von sozialer Pazifikation zu leben so verwirrt, dass wir Mühe haben, an die «revolutionäre Hypothese» zu denken, oder sie wird diskreditiert, als wäre sie etwas abstraktes oder avantgardistisches. Jetzt wo uns die Geschichte und der kapitalistische Wahn (mit der Dualität von Bürgerkrieg/sozialer Krieg) die Möglichkeit «offeriert», mit dem Aufstand zu experimentieren, bezahlen die revolutionären Bewegungen den Preis für die jahrelange Verkalkung durch das Warten und dessen Ideologie. Es wird hier keine, im Namen der Dringlichkeit lancierte Hypothese zu finden sein, sondern einzig die Dringlichkeit Hypothesen zu formulieren. So sollte die Praxis eines jeden von uns, der sie formuliert, mit der Hoffnung und der Entschlossenheit sein, «den Zug nicht noch einmal zu verpassen»; mit der wiedergefundenen – innigen und nicht ideologischen – Überzeugung, dass alles möglich ist, weil wir alles können. [1] «Wachstumsrücknahme»: Ein Konzept zur Sekung des Konsum- und Produktionswachstums, um einem politisch, sozial und ökonomisch schädlichem Wirtschaftswachstum zu entgegnen. Um den Begriff «décroissance» hat sich in Frankreich eine konsumkritische Bewegung entwickelt.