Anonym
Krieg
Die Situationen von Krieg, die sich um uns herum am entwickeln sind, und die wir in den letzten Jahrzehnten, namentlich im Bereich des Mittelmeerraumes, aufeinanderfolgen gesehen haben, lehren uns vor allem eins: der gewaltsame und bewaffnete Konflikt, innerhalb von einer Gesellschaft sowie nach aussen, ist, ungeachtet der pazifistischen Diskurse der heutigen Regierenden, nach wie vor die Grundlage, worauf diese Ordnung beruht. Der Krieg ist das endgültige Mittel, dem sich alle Regierenden bedienen, um ihre Interessen von ökonomischer Ausbeutung und territorialer Kontrolle zu verwalten. Er ist, wie es ein grosser Militärtheoretiker einst formulierte, nichts anderes als die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln.Aber etwas hat sich verändert. Die Kriege von heute sind anders als die “traditionellen” Kriege. Auch wenn die aktuelle internationale Situation irgendwie an jene von vor hundert Jahren, zu Anbeginn des Ersten Weltkriegs erinnern mag, wie es anlässlich dieses tristen Jubiläums angemerkt worden ist, der Vergleich hält nicht. Nicht nur, weil sich die globalen geopolitischen Gleichgewichte, mit den supranationalen Strukturen, die seit den Weltkriegen geschaffen wurden (EU, NATO,...), und im Allgemeinen mit dem Anwachsen der weltweiten ökonomischen Abhängigkeiten, bedeutend verändert haben, sondern auch, weil sich die Charakteristiken des Krieges selbst grundlegend verändert haben.
Das Ende der bipolaren Weltordnung
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis Anfang 90er hatte der “Kalte Krieg” die internationalen militärischen Gleichgewichte dominiert. Doch die massiven Bedingungen von Elend, mit denen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten seit den 80ern zu kämpfen hatten, und folglich die Notwendigkeit eines Anschlusses an die aufkommende globale, flexible Marktwirtschaft, bedingten eine partielle Abrüstung und eine politische Annäherung des sogenannten Ostblocks an den Westen. Mit dem Ende von diesem Konflikt, und somit von der Polarisierung der Weltordnung zwischen zwei ideologischen Herrschaftsmodellen, dem liberalen Kapitalismus und dem Staatskapitalismus (missverständlicherweise als “Kommunismus” ausgegeben), hat sich die globale geopolitische Situation auf bedeutende Weise verändert. Doch entgegen dem, was von den liberalistischen Fortschrittlern verkündet wurde, hat dies keineswegs zum Aufkommen einer endgültig befriedeten Welt unter der Hegemonie der demokratischen Marktwirtschaft, und somit zum “Ende der Geschichte” geführt. Jene wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die in vielen Ländern des ehemaligen Realsozialismus bis heute bestehen bleiben, und der Zerfall der “starken” Werte, die einst von der kommunistischen Ideologie geliefert wurden, während sie die Bevölkerung unsägliche Bedingungen von Elend hinnehmen liessen (der Zweck, schliesslich, von jeder Ideologie), förderte, vor allem in den Ländern des östlichen Mittelmeerraums, den sozialen Konflikt immer offener zutage.
In diesem äusserst zersetzten Kontext haben wir, in den letzten Jahrzehnten, ein starkes Wiederaufleben von Nationalismen, Ethnizismen und religiösen Integralismen gesehen, ausgiebig benutzt und geschürt von den jeweiligen Machtinteressen, um den sozialen Unmut, der sich unter den Bedingungen von Elend angestaut hatte, in kontrollierte Bahnen zu lenken. Denn, ungeachtet der Kontraste, die zwischen den verschiedenen herrschenden Klassen bestehen mögen, Kontraste, die sich hie und da auch in Kriegen äussern, vereint sie das gemeinsame Interesse, jene Gefahr abzuwenden, die sie alle bedroht: jene einer befreienden sozialen Revolution der ausgebeuteten Schichten, die sie ihren Privilegien von Macht und Reichtum berauben würde.So haben wir, von den Rändern der ehemaligen Sowjetunion über den Balkan bis in den Nahen Osten, von Algerien über Nordafrika bis nach Libyen, und, schliesslich, bis zu den Situationen in Syrien und in der Ukraine heute, immer wieder gesehen, wie der zugrundeliegende soziale Konflikt, der sich gelegentlich in befreienden Volksauflehnungen äusserte, von militarisierten Konflikten zwischen nationalistischen, ethnischen und religiösen Lagern verschlungen wurde. Der Krieg, egal in welches ideologische Gewand gekleidet, ist also, in diesem Sinne, heute wie gestern, in erster Linie ein Mittel, das von den herrschenden Klassen benutzt wird, um von jenem sozialen Krieg abzulenken, den sie alle konstant gegen die Bevölkerung führen. Und zwar, indem sie diese, mit alltäglichen Zwängen und, in letzter Konsequenz, mit blutiger Repression, Bedingungen von Ausbeutung und Kontrolle unterstellen. Es ist nur, wie weiter oben gesagt, dass sich die Art und Weise, wie das Mittel des Krieges verwendet wird, heute grundlegend verändert hat.
Veränderungen des Krieges
Der klassische Krieg zwischen Staaten, der durch gewisse formelle Prozesse offizialisiert wurde (die Kriegserklärung, die Ersetzung des Zivilrechts durch das Kriegsrecht, etc.), scheint heute immer deutlicher überholt zu sein. Die Idee des “gerechten Krieges”, oder des von der “Staatsräson” diktierten Krieges, in deren Namen einst ganze Nationen mobilisiert wurden, hat an Fundament verloren – ohne damit zu sagen, dass sie nicht bei Gelegenheit wieder ausgegraben werden kann. Aber im Grossen und Ganzen hüllen sich heute praktisch alle Staaten in einen pazifistischen Diskurs, in Appelle an die Toleranz, an die Gewaltlosigkeit, an den Weltfrieden...Es ist offensichtlich, dass dieser Diskurs bis zum Himmel stinkt. Wie will man damit, zum Beispiel, die Kriegswaffenproduktion rechtfertigen, die stetig am anwachsen ist, und deren Export, hier in der Schweiz, gerade vor ein paar Monaten per Gesetz gelockert wurde? Die ständigen Investitionen in den militärischen Sektor? Die Kreierung von neuen Bataillonen, in den NATO-Ländern sowie auch hier in der Schweiz, um “innere Konflikte” zu verwalten? Oder auch das Wiederanwachsen des wohl ältesten schmutzigen Geschäfts der Welt, des Söldnertums? Tatsächlich ist es, hinter dem heuchlerischen Geschwätz der demokratischen Regierungen, keineswegs so, dass der Krieg an sich an Stellenwert verloren hat, im Gegenteil. Es ist schlicht so, dass seine Charakteristiken den veränderten Bedingungen angepasst wurden, in einen Bereich übertragen, in dem die Grenzen zwischen Krieg und Nicht-Krieg immer mehr zu verschwimmen scheinen.
So nehmen die Konflikte in jenem, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell stark zersetzten Kontext, der oben beschrieben wurde, im Allgemeinen vielmehr die Charakteristiken von dem an, was für Gewöhnlich in dem Konzept von Bürgerkrieg zusammengefasst wird. Und in der Tat ist es diese Art von Krieg, worauf sich die NATO, seit dem Zerfall der Gefahr des Warschauer Paktes, am fokussieren ist, und die sie für die Zukunft immer häufiger vorsieht: latente bewaffnete Konflikte, oft ohne deutlichen Anfang oder Schluss, in denen sich die zivilen und militärischen Aspekte vermischen. Kriege, die sich weniger nach einer frontalen Konfrontation zwischen Nationen und ihren regulären Heeren, sondern vielmehr nach einer “asymmetrischen” Konfrontation mit bewaffneten Fraktionen oder aufständischen Bewegungen im städtischen Raum ausrichten. Die Interessen der Staa-ten, in solche Konflikte zu intervenieren, um die Stabilität zugunsten der einen oder der anderen Partei zu sichern, sind offensichtlich nicht die friedensstiftenden und humanitären Sorgen, welche die NATO gerne voranstellt (man erinnere sich an die “humanitäre Intervention” im Kosovo, die ganze Städte zerbombte, oder an die “friedenserzwingende Operation” in Afghanistan). Unnötig, zu sagen, dass es meist wirtschaftliche Sorgen sind, die in die jeweiligen Situationen verwickelt sind (Öl, Gas und andere Ressourcen, nicht zuletzt die Eindämmung der Migrationsströme, oder auch schlicht die Tatsache, dass in-stabile oder stark autoritäre Regime den neuen Anforderungen einer flexiblen, globalen Wirtschaft schlecht entsprechen). Vor allem aber geht es um die Gefahr, die für alle herrschenden Klassen von unkontrollierten Konflikten mit befreienden Bestrebungen ausgeht. Potenzielle Aufstände und Revolutionen, deren Ansteckungspotenzial uns seit dem Arabischen Frühling einmal mehr bewiesen wurde, und die, aufgrund der immer stärkeren internationalen Verflechtung, schnell auch hier ihre wirtschaftlichen und sozialen Rückwirkungen haben könnten.
In diesem Sinne betrifft diese Neuorientierung der Kriegsführung innerhalb der NATO keineswegs nur die sogenannten “Out-of-Area”-Einsätze, sondern, wie aus deren Dokument “Urban Operations in the Year 2020” hervorgeht, immer mehr auch die westlichen Metropolen. Die Bekämpfung von Krawallen, wie wir sie in den letzten Jahren wiederholt ausbrechen sahen, und mit deren Häufung die NATO bis 2020 rechnet, Krawalle, die aus den ökonomischen und kulturellen Ghettos hervorbrechen, welche unsere demokratischen Gesellschaften unausbleiblich produzieren, indem sie einen beträchtlichen Teil von Ausgeschlossenen zum Elend und zu einer sinnentleerten Existenz verdammen, soll in Zukunft, auch hier in der Schweiz, immer mehr eine Mischung zwischen zivilen, polizeilichen und militärischen Aufgaben sein.
Gegen den Krieg, gegen den “Frieden”, für die soziale Revolution
Unsere Position als Anarchisten gegenüber dem Krieg kann gewiss nicht der Pazifismus sein, welcher uns die Hände bindet und der unterdrückenden Gewalt freien Lauf lässt. Ausserdem sind es gerade die pazifistischen Proteste, welche regelmässig die “Ausbrüche” von Kriegen begleiten, die eben jene Illusion nähren, die uns die Macht verkaufen will, nämlich, dass es eine Periode des Friedens gibt, die dem Krieg vorangegangen sei, und zu der es zurückzukehren gilt. Wir sind aber nicht nur gegen den Krieg, sondern auch gegen den “Frieden” des Kapitals, der nichts anderes ist als ein mehr oder weniger verdeckter sozialer Krieg, der gegen die ausgebeutete Bevölkerung geführt wird.
Unsere Position kann aber auch nicht das eine oder andere Lager in einem militarisierten Konflikt sein, sondern ist und bleibt das Lager der sozialen Revolution, welche von eben dieser Militarisierung erstickt wird. Für uns gibt es nicht ein geringeres Übel, dem es sich anzuschliessen gilt, mit der Argumentation, dass danach die Bedingungen zur Revolution günstiger wären. Diese Argumentation rührt von der fortschrittlerischen Vision, die in der Vergangenheit viele Revolutionäre verinnerlicht hatten und, leider, noch immer haben, dieselbe, welche vor hundert Jahren mit dem “Manifest der Sechzehn” einige Anarchisten soweit brachte, ihre antimilitaristischen Prinzipien über Bord zu werfen und sich für den Krieg gegen Deutschland zu erklären, in dessen Sieg sie eine grössere Gefahr für die Befreiungshoffnungen der Menschheit gesehen hätten.
Doch es scheint offenbar nicht, dass sich irgendein automatischer Mechanismus ausmachen lässt, der in der Geschichte wirkt, und der uns auf lineare Weise weg von der “Barbarei” in Richtung von mehr Freiheit führt. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, in denen wir, von Vernichtungslagern bis zu Staatsmassakern, all das sahen, was man als weit in der Vergangenheit begraben glauben machen wollte, müsste diese fortschrittlerische Illusion ein für alle Male widerlegt haben. Die gegenwärtigen und künftigen Konflikte stehen in alle Richtungen offen – in jene einer Wiederbekräftigung von stark autoritären Regimen, in jene einer Ausweitung des demokratischen Herrschaftsmodells, oder auch in jene einer allmählichen Zersetzung von jeglichem Staatsmodell und einer möglichen Entwicklung in Richtung einer freien, selbstverwalteten Gesellschaft, ohne Klassentrennung und Ausbeutung. Aber diese Richtung hängt von unseren Entscheidungen, von unserem Handeln ab. Es hängt davon ab, ob es uns gelingt, dort sowie hier, die Initiative zu ergreifen, gegen die Verantwortlichen des Krieges zum Angriff überzugehen, und ein revolutionäres Projekt aufzubauen, das darauf abzielt, seine Grundlagen, das blutrünstige Monster des Staates und die unerbittliche Logik der Ausbeutung, und somit die Institutionen der Autorität und des Eigentums, endlich an den Wurzeln auszureissen.