Klarname
"Lebenshilfe" und Tötungshilfe
Die „Lebenshilfe“ wurde 1958 von Eltern behinderter Kinder und von Fachleuten gegründet und hat heute weit über 100.000 Mitglieder. Ein zentrales Motiv der Eltern war der Wunsch nach familiärer Entlastung; dieser Wunsch forcierte den Aufbau aussondernder Institutionen wie Sonderschulen und Werkstätten für Behinderte. Der Wunsch nach Entlastung war aber auch immer gepaart mit dem Verlangen nach Teilhabe am Mittelklassentraum der Adenauer-Ära; mit Vorstellungen von einem heilen Familienglück, die mit dem Umstand der Behinderung ihrer Kinder kollidieren und zu oberflächlichen Konfliktlösungen führen mussten. Die vermiedene Auseinandersetzung mit der Behinderung ließ es zu, sich mit den Tätern aus der nationalsozialistischen Zeit in Wohltätigkeit zu ergehen und gleichzeitig mittels Zwangssterilisation den pflegeleichten Behinderten anzustreben sowie die „saubere“ Selektion der Humangenetik zu forcieren. Dazu später mehr. Zunächst liegt der Verdacht nahe, dass die „Lebenshilfe“ ein Zusammenschluss von Eltern ist, die die Behinderung ihrer Kinder nicht verkraftet haben.
Gründungsväter der „Lebenshilfe“ waren die Kinder- und Jugendpsychiater Werner Villinger und Hermann Stutte. Beide hatten 1949 in einem richtungsweisenden Aufsatz die Bedeutung ihres Wirkens mit der „sozialbiologischen Unterwertigkeit des von ihr betreuten Menschenmaterials“ begründet. Diese erschreckende Wortwahl drückt allerdings nur das Bewusstsein der Praktiker aus: Ab 1933 ließ Villinger die Mehrheit der Anstaltsinsassen in Bethel sterilisieren, saß nach 1933 am Erbgesundheitsgericht und nahm an den „Euthanasie“-Aktionen als Gutachter teil. Die „Lebenshilfe“ hat es bis heute nicht nötig gehalten, sich mit Villinger zu befassen oder etwa über ihn ein Symposium zu veranstalten. Hermann Stutte blieb der „Lebenshilfe“ bis vor einigen Jahren erhalten mit Gedanken, die ihn 1949 eine „Stufenleiter sozialer Brauchbarkeit“ entwerfen ließen, die sich ausspannt zwischen dem geordneten Beamten und dem „arbeitsscheuen Gelegenheitsarbeiter“, der Mutter im geordneten Haushalt und der Prostituierten, der nicht bestraften kleinen Amtsperson und dem „polytropen Rückfallverbrecher oder querulierenden Wohlfahrtsparasiten“. Solche Denkmuster sind es, die Stutte, gut 25 Jahre später, 1972, im Name des wissenschaftlichen Beirats der „Lebenshilfe“ vorschlagen lassen, doch gleich alle „geschäftsunfähigen Personen“ sterilisieren zu lassen – ein Vorschlag, der ganz direkt aus dem Arsenal der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik entliehen ist. Zu Ehren dieses Mannes nennt die „Lebenshilfe“ ihr Tagungsgebäude Hermann-Stutte-Haus – das Haus, in dem ab morgen über die Verhinderung von Erbkrankheiten, über „Euthanasie“ und Eugenik debattiert werden sollte. Ein Skandal für sich. Die Instrumente der Bevölkerungspolitik greifen zuerst bei geistig behinderten Menschen, um dann andere Personen, Bevölkerungsteile ins Visier zu nehmen. Wie reagiert die „Lebenshilfe“ auf solche Entwicklungen? Sie veranstaltet Kongresse, Symposien, Fachtagungen; sie tut ratlos und lässt diskutieren, was ernsthaft nicht zu diskutieren ist: das Recht auf Fortpflanzung, das Recht auf die Unverletzlichkeit des Körpers, das Lebensrecht.
1969 eröffnet der „Lebenshilfe“- Vorsitzende Mittermaier die Tagung „Der behinderte Mensch und die Eugenik“. Aus medizinischer, juristischer, ethischer Sicht wurden die sich ankündigenden „Segnungen“ der Humangenetik mit Pro- und Contra- Beiträgen beleuchtet. Schon drei Jahre später wurde in Marburg die erste genetische Beratungsstelle eröffnet, übrigens vom späteren „Lebenshilfe“-Vorsitzenden Manger-König. Heute wird die vorgeburtliche Selektion flächendeckend praktiziert und sie ist weitgehend akzeptiert. „Kinder mit einem Down-Syndrom braucht es nicht mehr zu geben“, sagen die Genetiker und die „Lebenshilfe“ lädt mal wieder zum Disput. 1987 veranstaltet die „Lebenshilfe“ aufgrund des von außen erzeugten Druckes – die „Lebenshilfe“ hat gedeckt und gefördert, dass jährlich mindestens 1000 Menschen ohne Einwilligung zwangssterilisiert werden – eine Fachtagung zum Thema. GegnerInnen und BefürworterInnen kamen zu Wort. Nur 2 Jahre später stützt sich der Gesetzesentwurf der Bundesregierung auf das Votum der „Lebenshilfe“: Die Unfruchtbarmachung soll auch ohne Zustimmung der Betroffenen möglich und legalisiert werden. Das Recht auf Fortpflanzung, das Recht auf körperliche Unverletzbarkeit hat die „Lebenshilfe“ nicht verteidigt. Jetzt greift sie das Thema „Euthanasie“ – sozusagen tabubrechend- auf und wollte „Euthanasie“-Propagandisten ein Forum und Gehör verschaffen. Durch unser Handeln wurde die „Lebenshilfe“ zur Absage des Symposiums gebracht: „Alles nur ein großes Missverständnis“, heißt es jetzt verlogen aus der Bundeszentrale. Denn sie wussten, was sie taten: Das Existenzrecht behinderter Neugeborener, Kinder und Erwachsener wurde zur strategischen Frage erklärt nach dem Motto: Wir reden mal mit denen, die den Aufruf zum Mord an Behinderten verbreiten, um sie zu widerlegen. Wer nicht merkt, dass die Aufwertung solcher Tötungsideen durch Gesprächsbereitschaft in einem honorigen Kreis geschieht, hat aus der Geschichte nichts gelernt und steht auf der Seite der künftigen Täter. Auch die ersten „Lebensunwert“- Propagandisten in der Weimarer Republik galten als Experten, mit denen die staatliche und private Fürsorge in die Diskussion trat und keine eindeutigen Absagen zustande brachte – so lange, bis die Anstaltstötungen die angeregten Debatten ablösten.
Die „Lebenshilfe“ hat das Symposium nicht abgesagt, weil sie Fehler eingesehen hat, sondern weil ihr der oder die Star-„Euthanasie“-Propagandisten abhanden gekommen sind. Das ist die erschreckende Tatsache, aus der sich die „Lebenshilfe“ nicht herausmogeln kann, für die sie sich zu verantworten hat.