Katja Einsfeld

Vergiss nicht Solidarität und Skeptizismus.

Sind Spiritualität, das „Ich“ im „Jetzt“ und Verhaltensmodifikation Hindernisse auf den Wegen in eine herrschaftsarme Gesellschaft?

2016/10

    0 Vorbereitendes

        0.0.0 Überblick über den Artikel

      0.1 Motivation

      0.2 Herrschaftsarme Gesellschaft

      0.3 Definitionen

        0.3.0 Dogma

        0.3.1 Spiritualität

        0.3.2 Mystik

        0.3.3 Religion

        0.3.4 Esoterik

        0.3.5 Hedonismus

        0.3.6 Ethik

        0.3.7 Skeptizismus

        0.3.8 Wissenschaft

        0.3.9 Psychotherapie und Medizin

        0.3.10 Alternativmedizin

        0.3.11 Verhaltensmodifikation

      0.4 Was hat Verhaltensmodifikation mit Spiritualität zu tun?

    1 Wie Spiritualität wirkt

      1.0 Menschenbild

        1.0.0 Konsumierte Identität, Konsum- und Markenreligion

        1.0.1 Befriedung und Reproduktion von Arbeitskräften

        1.0.2 Entfremdung vom Menschsein 1 – Lebensfreude und Sinn

        1.0.3 Entfremdung vom Menschsein 2 – Ethisches Verhalten

        1.0.4 Pseudotherapien

        1.0.5 Gesundheitswahn und „Self-Care“

      1.1 Weltbild

        1.1.0 Selbst verantwortetes „Schicksal“

        1.1.1 Irrationalität, Parallelwelt, Realitätsverlust

        1.1.2 Gemeinsame Erkenntnisebene, Wissenschaft, Skeptizismus

        1.1.3 Konservative und Rechtsradikale

      1.2 Selbstbild

        1.2.0 Abgrenzung und elitäre Kreise

        1.2.1 Elite und Normen

        1.2.2 Elite und Arroganz

        1.2.3 Heiler, Gurus und Sendungsbewusstsein

        1.2.4 Egozentrismus

        1.2.5 Alternativlosigkeit - Der Eine Weg

        1.2.6 Das Schöne

      1.3 Interaktion mit anderen

        1.3.0 Überlebensstrategie

        1.3.1 Kritikfähigkeit

        1.3.2 Achtsamkeit

        1.3.3 Wettbewerb der Befindlichkeiten

      1.4 Verantwortung und Commitment

        1.4.0 Hedonismus

        1.4.1 Commitment

        1.4.2 Verantwortung

        1.4.3 Verantwortung für das eigene Handeln

        1.4.4 Verantwortung für sich selbst

    2 Zum Schluss

        2.0.0 Fragen an dich

0 Vorbereitendes

0.0.0 Überblick über den Artikel

Dieser Artikel beschäftigt sich mit den Gefahren von Spiritualität und anderen Verhaltensmodifikationen für das Individuum und herrschaftsarme Projekte. Da mir die Möglichkeit einer Transformation in einer herrschaftsarme Gesellschaft wichtig ist, betrachte ich auch den Einfluss von Spiritualität auf die bestehende Gesellschaft unter diesem Blickwinkel.

0.1 Motivation

Kritiker_innen des kapitalistischen Herrschaftssystems und Freund_innen herrschaftsfreier Gesellschaften kommen aus unterschiedlichsten Kontexten. Anti-Diskriminierung, Umweltbewegung, Friedensbewegung, Spiritualität, Gemeinschaften, Wissenschaft, Lebenskrise. Diese Vielfalt ist belebend und herausfordernd. Treffen Leute in Projekten aufeinander, wird aus anfänglich enthusiastischer Offenheit manchmal beim näheren Kennenlernen Frust und Unverständnis. Aus einem „alles ist möglich“ wird ein differenzierteres und Kommunikation erforderndes „warte, das Ausleben deiner Freiheit beschränkt gerade meine Freiheit und Freiheit ohne Solidarität ist Barbarei“.

In letzter Zeit sind mir viele Verhaltensweisen, Denkweisen, Sprechweisen und Einstellungen begegnet, die mich „warte“ sagen lassen, und die ich im Umfeld von Spiritualität, dem Leben im Jetzt und Verhaltensmodifikation sehe. Ich möchte in diesem Text, meine Bedenken und wahrgenommenen Gefahren äußern und zum Nachdenken anregen.

Der Text basiert auf meinen Erfahrungen und kann nicht völlig objektiv sein. Ich möchte keine Einzelpersonen verurteilen und unterstelle niemandem böse Absichten. Ich will kein binäres richtig/falsch Denken, keine absoluten Wahrheiten oder Dogmen, sondern einen kritischen Blick auf das „alles ist möglich“.

0.2 Herrschaftsarme Gesellschaft

Um besser erklären zu können, welche von Spiritualität und Co ausgehenden Gefahren ich für den Weg in eine herrschaftsarme Gesellschaft sehe, zunächst mein Verständnis von herrschaftsarmer Gesellschaft, oder Anarchie.

Eine herrschaftsarme Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der solidarisch gewirtschaftet und gelebt wird, in der Entscheidungen von denen getroffen werden, die davon betroffen sind, in der Herrschaftsmechanismen jeder Form skeptisch hinterfragt und abgebaut werden.

Anarchie ist Sozialismus und Freiheit in einem. Freiheit ohne Sozialismus besteht aus Privilegien und Sozialismus ohne Freiheit bedeutet Gewalt und Unterdrückung. (Bakunin)

I believe, as I always have, in freedom. The freedom which rests on the sense of responsibility. I consider discipline indispensible, but it must be inner discipline, motivated by a common purpose and a strong feeling of comradeship. (Durruti)

Anarchisten verstehen heute ihre Rolle im revolutionären Prozess daher kaum noch als Avantgarde. Diejenigen, die es immer noch tun, sind entweder bei einem halb verstandenen Bakunin stehen geblieben oder begeistern sich an den roten Mythen aus der Mottenkiste des Leninismus, die mit Anarchie nichts zu tun haben. Vielleicht nehmen sie sich auch nur ein bisschen zu wichtig. (Stowasser)

Anarchie ist das Streben nach Herrschaftsfreiheit. Genauso wichtig wie Freiheit und die Verantwortung für sich selbst ist dabei die Solidarität, das ist die soziale Verantwortung und gegenseitige Unterstützung, mit und für andere Menschen, denn es gibt keine Freiheit, wenn nicht auch die Freiheit und Chancengleichheit der anderen Menschen respektiert ist. Oder um es anders zu formulieren: Meine Freiheit ist nur dadurch gegeben, dass ich die Freiheit der anderen genauso schätze.

Denkweisen, die wie der Neoliberalismus nur die Freiheit und die Verantwortung des Individuums betonen und Solidarität vergessen, erzeugen Egozentrismus, Privilegien und Arroganz bei denen, die sich die Freiheit genommen haben, schneller als andere ein größeres Stück vom Kuchen zu nehmen. Denen, die nicht so viel abbekommen haben, wird gesagt, dass sie selbst für diesen Umstand verantwortlich seien, was nicht nur eine sehr verzerrte Sicht der Dinge ist, sondern auch für Isolation, Unsicherheiten, Wut und Barbarei sorgt oder - je nach Propaganda der Privilegierten - auch zu Führerkult führen kann.

Anarchie dagegen sieht Verantwortung nicht dogmatisch nur oder gar nicht beim Individuum, sondern sowohl beim Individuum als auch beim sozialen Umfeld. Anarchie ist Freiheit und Solidarität in einem. Durch diese Kombination wird es für das Individuum und die soziale Gemeinschaft planbar, wer wie viel vom Kuchen bekommt. Vertrauen und Verlässlichkeit können entstehen.

Auf dem Weg in eine herrschaftsarme Gesellschaft ist es wichtig, die Balance zwischen Freiheit und Solidarität zu halten, weder das eine noch das andere zu verlieren, Theorien oder Menschen, die das eine oder andere stark betonen oder in anderer Weise dogmatisch agieren, kritisch zu betrachten und fragend voran zu schreiten.

0.3 Definitionen

Um klarer zu bekommen, worüber ich eigentlich schreibe, was ich unter „Spiritualität“ und „Verhaltensmodifikation“ und all den anderen Wörtern verstehe, möchte ich in diesem Abschnitt kurze Definitionen versuchen. Wenn die Definitionen nicht von mir sondern anderen Quellen, wie z.B. Wikipedia sind, ist das markiert.

0.3.0 Dogma

Unter einem Dogma versteht man eine feststehende Definition oder eine grundlegende, normative Lehraussage, deren Wahrheitsanspruch als unumstößlich festgestellt wird. (Wikipedia)

Im Folgenden bezeichne ich Lehrsätze als Dogma, a) deren Gültigkeit nicht wissenschaftlich nachweisbar ist (im Gegensatz zu beispielsweise 2+2=4) und b) deren angenommene absolute Gültigkeit Auswirkungen auf das Zusammenleben hat.

0.3.1 Spiritualität

Spiritualität ist das geistliche Erleben und der bewusste Bezug zum jeweiligen Glauben im Gegensatz zur Dogmatik, die die festgesetzte Lehre einer Religion darstellt. (Wikipedia)

Während Religiosität die Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt und die Empfindung einer transzendenten Wirklichkeit meint, beinhaltet (religiöse) Spiritualität zudem die bewusste Hinwendung und aktive Praktizierung einer als richtig erkannten Religion oder Philosophie. (Wikipedia)

Spiritualität ist ein tiefes Gefühl von Sinn und Ziel des Lebens, verbunden mit einem Gefühl von Zugehörigkeit. (Die Seelenpfuscher: Pseudo-Therapien, die krank machen)

Ich definiere Spiritualität als eine Sehnsucht nach und das Leben in einer vermeintlich Klarheit bringenden Deutungsebene der Realität, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnismethoden beruht.

0.3.2 Mystik

Mystik bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche Erfahrung. (Wikipedia)

0.3.3 Religion

Religion ist Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der jeweilige Glaube an bestimmte transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte ist. Diese Kräfte sind nicht beweisbar im Sinne der Wissenschaftstheorie, sondern beruhen auf individueller intuitiver Erfahrung. Im Gegensatz zu den philosophischen Weltanschauungen, die ebenfalls auf Glaubenssätzen basieren, bezeichnet Religion soziale und kulturelle Phänomene, die menschliches Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen prägen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen. In diesem Zusammenhang kann Religion eine Reihe von ökonomischen, politischen und psychologischen Funktionen erfüllen. Diese weitreichenden gesellschaftlichen Verflechtungen bergen zwangsläufig ein großes Risiko der Bildung religiöser Ideologien. (Wikipedia)

Ich definiere Religion als eine von Institutionen vereinnahmte Form von Spiritualität. Durch diese Institutionen wird die Macht der Spiritualität verstärkt. Spirituelle oder religiöse Institutionen können leicht zum Herrschaftsinstrument werden, da sie Einfluss auf moralisches Denken und Schuldgefühle nehmen und ihren Weg oft als den einzig wahren darstellen.

0.3.4 Esoterik

Esoterik ist in der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs eine philosophische Lehre, die nur für einen begrenzten „inneren“ Personenkreis zugänglich ist. Andere traditionelle Wortbedeutungen beziehen sich auf einen inneren, spirituellen Erkenntnisweg, etwa synonym mit Mystik, oder auf ein „höheres“, „absolutes“ und arkanes, althergebrachtes Wissen. (Wikipedia)

Auch wenn Esoterik heute zum Massenphänomen geworden ist, verstehe ich unter dem Begriff eine Spiritualität, die einen elitären, exklusiven oder geheimnisvoll verschwörerischen Charakter hat, und deren Mitglieder sich selbst als erhabener oder erleuchteter sehen als andere, von denen sie sich abgrenzen.

0.3.5 Hedonismus

Hedonismus bezeichnet zumeist eine philosophische bzw. ethische Strömung, deren Grundthese lautet, dass einzig Lust bzw. Freude und die Vermeidung von Schmerz bzw. Leid intrinsisch oder allgemein wertvoll sei(en). Im Gegensatz zu dem philosophischen Verständnis wird im alltagssprachlichen Gebrauch mit dem Begriff Hedonismus häufig eine nur an momentanen Genüssen orientierte egoistische Lebenseinstellung bezeichnet. (Wikipedia)

Das Motto der hedonistischen Internationale ist "Do what you want".

0.3.6 Ethik

Ethik ist jener Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen menschlichen Handelns und seiner Bewertung befasst. Im Zentrum der Ethik steht das spezifisch moralische Handeln, insbesondere hinsichtlich seiner Begründbarkeit und Reflexion. ... In seiner Tradition wird die Ethik auch als Moralphilosophie bezeichnet. (Wikipedia)

0.3.7 Skeptizismus

Skepticism (or scepticism) is the art of constantly questioning and doubting claims and assertions, and holding that the accumulation of evidence is of fundamental importance. It forms part of the scientific method, which requires relentless testing and reviewing of claimed facts and theories. (http://rationalwiki.org/)

Die Skeptikerbewegung ist ein internationales Netzwerk von Vereinigungen und Einzelpersonen mit dem Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung mit Pseudo- und Parawissenschaftlichen Themen, die unter anderem in den Bereich des Aberglaubens oder der Alternativmedizin fallen. Im Sinne einer sozialen Bewegung wird der Begriff auch als Eigenbezeichnung verwendet. Die Bewegung beruft sich auf wissenschaftliche Methodik und naturalistische Erklärungen. Anders als im klassischen Skeptizismus halten Mitglieder der Bewegung den Gewinn von zuverlässigen Erkenntnissen prinzipiell für möglich. (Wikipedia)

0.3.8 Wissenschaft

Die Wissenschaft ist der Inbegriff der Gesamtheit menschlichen Wissens der Erkenntnisse und Erfahrungen einer Zeitepoche, welches systematisch gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird. Die Wissenschaft ist ein System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, Technik, Gesellschaft und des Denkens, das in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird. In der Wissenschaft überleben nur Theorien, die sich an der Erfahrung bewähren. (Wikipedia)

Im Gegensatz zu Esoterik, sind alle Menschen eingeladen, zur Wissenschaft beizutragen. Im Gegensatz zu (z.B. spirituellen) Dogmen, lebt Wissenschaft vom kritischen Hinterfragen bestehender Thesen und empirischen Methoden zur Verifikation oder Falsifikation.

0.3.9 Psychotherapie und Medizin

Anerkannte Therapieverfahren und „klassische“ „Schul“medizin können nur nach langer, gründlicher Ausbildung durchgeführt werden. Neue Methoden werden nach festgelegten wissenschaftlichen Verfahren geprüft, bevor sie Anwendung finden.

0.3.10 Alternativmedizin

Alternativmedizin und Komplementärmedizin sind Sammelbezeichnungen für unterschiedliche Behandlungsmethoden und diagnostische Konzepte, die sich als Alternative oder Ergänzung zu wissenschaftlich begründeten Behandlungsmethoden verstehen, wie sie im Medizin- und Psychologiestudium gelehrt werden... Die Wirkungen vieler alternativmedizinischer Therapien, sofern nachweisbar, beruhen hauptsächlich auf psychologisch erklärlichen Placeboeffekten. (Wikipedia)

Wie Heike Dierbach in „Die Seelenpfuscher: Pseudo-Therapien, die krank machen“ ausführlich recherchiert hat, können viele dieser Verfahren schon nach einer kurzen Ausbildung durchgeführt werden (Wochenendseminare) und es gibt kein ausführliches wissenschaftliches Prüfen der Methoden.

0.3.11 Verhaltensmodifikation

In einigen linken Strukturen gibt es die Analyse, dass unsere Sozialisation im bestehenden System uns Werte und Verhaltensweisen aufgeprägt hat, die uns auf den Wegen in eine herrschaftsarme Gesellschaft bisweilen im Weg stehen (beispielsweise das Leistungs- und Wettbewerbsdenken). Daraus folgt in diesen Kontexten oft, dass, um das System zu verändern, wir uns zuerst selbst ändern müssen.

Unter Verhaltensmodifikation verstehe ich den Wunsch und den bewussten Versuch, die eigenen Werte und Anschauungen, das eigene Denken und Verhalten entsprechend der Vorstellungen einer herrschaftsfreien Gesellschaft zu ändern. Verhaltensmodifikation kann auch unbewusst erfolgen, wenn Menschen in engem Kontakt mit verhaltensmodifizierenden Menschen leben.

Auf der Basis dieser für mich nun etwas klareren Begrifflichkeiten, möchte ich mein Bedenken zu Verhaltensmodifikation und Spiritualität näher erläutern.

0.4 Was hat Verhaltensmodifikation mit Spiritualität zu tun?

Ich mag den Ansatz, durch das Verändern der eigenen Denkweise und das Erlernen neuer Fähigkeiten eine Kultur der Herrschaftsfreiheit zu entwickeln. Es erscheint mir realistischer, durch Verhaltensmodifikation und den Aufbau herrschaftsfreier Strukturen, auf eine Transformation in eine andere Gesellschaft hinzuwirken, als darauf zu hoffen, dass nach einer Revolution das Miteinander schlagartig herrschaftsärmer gelingen würde.

Verhaltensmodifikation umfasst viele Bereiche: Menschenbild: während das Menschenbild des Kapitalismus als egoistisch, opportunistisch und unersättlich beschrieben werden kann, basieren anarchistische Theorien darauf, dass der Mensch grundsätzlich wohlwollend und lernfähig ist und die Gesellschaft mit anderen sowie Kooperation schätzt. Daraus folgt, dass es wenig Sinn ergibt, Menschen zu bestrafen oder Konkurrenzverhalten anzufeuern. Sinn des Lebens: Werte wie Selbstentfaltung, Solidarität, Verbundenheit stellen sich vor Leistung und Gewinnmaximierung Fähigkeiten: Konsensprozess, Achtsamkeit (jede Person der Gruppe mit einbeziehen), Konfliktklärungsfähigkeit ohne Autoritäten, Organisation in Eigenverantwortung, Gewaltfreie Kommunikation Entwicklung einer eigenen Sprechweise, die beispielsweise Zuschreibungen, Schuldbegriffe und Pflichtbegriffe vermeidet

Sich in diese Richtung zu entwickeln, halte ich für einen guten Weg, wenn dies im Kontext einer Gruppe, als eine von vielen anderen wichtigen Tätigkeiten, vorsichtig abwägend und im bestehendem Kontakt zu Menschen außerhalb der Gruppe geschieht. Da die Bereiche der Verhaltensmodifikation jedoch so umfassend sind, besteht ähnlich wie bei Spiritualität, die Gefahr, dass sie zu extrem betrieben werden kann. Es kann sein, dass das Individuum sehr viel Zeit mit der eigenen Entwicklung verbringt und dabei den solidarischen Kontakt zum Umfeld verliert. Es kann sein, dass die erlernte Modifikation dogmatisch gelebt und anderen aufgedrückt wird. Es kann sein, dass durch die Modifikation eine, möglicherweise arrogante, Entfernung zu anderen Menschen und damit eine Parallelwelt entsteht. In dieser Form betrieben (Dogmen, Konzentration auf das Ich) steht Verhaltensmodifikation damit den Bedingungen für Anarchie, Freiheit und Solidarität, entgegen.

Ein weiterer Grund, Verhaltensmodifikation im gleichen Artikel wie Spiritualität zu behandeln, ist, dass beide Phänomene oft zusammen auftreten: Viele Menschen, die Verhaltensmodifikation extensiv betreiben, sind gleichzeitig an spiritueller Entwicklung interessiert. Vielleicht liegt das daran, dass Menschen auf der Suche nach einem „alternativen“ Leben einer Vielzahl von Angeboten begegnen und teilweise unkritisch vieles ausprobieren.

Im Folgenden konzentriere ich mich zunächst auf Spiritualität und erwähne nur an einigen Stellen, welche Gefahren auch von extremer Verhaltensmodifikation ausgehen, um dann in den Abschnitten Verantwortung und Commitment wieder beides zusammen zu bringen.

1 Wie Spiritualität wirkt

Nachdem ich begonnen hatte, mich mehr mit Esoterik und Spiritualität zu beschäftigen, um meine Bedenken besser fassen zu können, ist mir aufgefallen, in welchem Ausmaß Spiritualität nicht nur in meiner Interaktion mit meinem direkten Umfeld, sondern auch gesellschaftlich ein Problem ist.

Zum einen tragen die Wirkweisen von Spiritualität zur Stabilisierung des bestehenden Gesellschaftssystems bei. Projekte, die eine Transformation in eine andere Gesellschaft bewirken wollen, haben es auf dieser Grundlage nicht leicht. Zum anderen zeige ich an Beispielen, wie Spiritualität auch innerhalb von Projekten zur Transformation in eine herrschaftsarme Gesellschaft Schwierigkeiten bereitet.

1.0 Menschenbild

1.0.0 Konsumierte Identität, Konsum- und Markenreligion

Spiritualität hat innerhalb des Kapitalismus einen hohen und steigenden Marktanteil (Zahlen für Deutschland: 20 Milliarden Euro im Jahr gegenüber 8 Milliarden in der Brauwirtschaft (Quelle: New Cage. Esoterik 2.0)) und wird deshalb von Wirtschaftsakteuren aus Profitinteresse vorangetrieben. Doch nicht nur etablierte Religionen und Esoterik machen mit Spiritualität Geld. Firmen wie Apple oder Coca Cola versuchen mit Werbung einen gewissen Spirit um ihre Marke zu erzeugen, der zu einer Art Religion wird. Dies hat großen Erfolg, da viele Menschen nach Sinn, Identität und Zugehörigkeit suchen.

Durch kapitalistischen Arbeitsdruck, Isolation im Wettbewerb und komplizierter werdende Alltagsorganisation ist ein Lebenssinn, der Wert des eigenen Lebens oder die wohlige Nähe zu ähnlich denkenden Menschen für manche Menschen schwer zu fassen. Spirituelle Angebote und Konsum von spirituell aufgeladenen Waren können diese Lücke gewinnbringend schließen. Es gibt Untersuchungen die zeigen, dass das Interesse an Religion und Spiritualität in Krisenzeiten steigt.

Der Kult um Stars, der Hype um Trends und Waren ist zu einer neuen Religion geworden. All das will uns einen Spirit oder eine bestimmte Lebenseinstellung nahe bringen und dabei gleichzeitig ordentlich Gewinn machen. Die Welt der Stars schafft eine Parallelwelt, in die mensch abtauchen kann. Mit dem Erwerb von Gütern einer Marke, kauft mensch sich Fröhlichkeit, Kraft, Stärke, Coolness, Ganzheitlichkeit, Naturverbundenheit und viele andere das Bedürfnis nach Sinn scheinbar befriedigende transzendentale Spirits. Als Beispiel hier die Aufschrift von einem Bioaufstrich „Listen to your heart. Edel Creme.“

Durch den Konsum solcher Waren, kann wieder ein Gefühl von Lebenssinn, Glück und Zugehörigkeit entstehen. Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, die die gleiche Musik, die gleiche Kleidung, die gleiche Nahrung oder die gleichen Elektronikgeräte gut finden und sich so als modern, hipp, trendy, nachhaltig oder was auch immer von anderen abgrenzen können. In dieser Welt der konsumierten vorgefertigten Identitäten, rückt der Blick auf die eigentlichen Gesellschaftsprobleme, auf die eigentlichen Ursachen von fehlendem Sinn in den Hintergrund. Spiritualität in diesen Formen hat einen normativen und stabilisierenden Einfluss auf die bestehende Gesellschaftsordnung.

1.0.1 Befriedung und Reproduktion von Arbeitskräften

Wie schon oben beschrieben, hat Spiritualität gerade in Krisenzeiten verstärkten Zuspruch. Zukunftsangst, Sinnkrisen oder Frustration über ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem lassen Menschen in Spiritualität „alternative“ Lösungen suchen. Das ist die gleiche gefährliche Angst, die auch politisch extrem rechte Gruppierungen und Parteien stärkt.

Wenn Menschen, die vom kapitalistischen Konkurrenzsystem ausgebrannt sind oder in einer Sinnkrise nach neuer Lebensfreude suchen, in spirituellen Angeboten Entspannung finden, dann reduziert das das Konfliktpotenzial im Kapitalismus. Religion ist das Opium des Volkes, sagte Karl Marx.

Ein weiterer Zweck, den Spiritualität im Kapitalismus erfüllt, ist die Reproduktion der Arbeitskräfte. Denn unter der Woche extrem hart arbeitende Menschen brauchen ihre Freizeit am Wochenende, um mit spirituellen Methoden wieder zu neuer Kraft zu kommen und wieder fit für die nächste Arbeitswoche zu sein. Esoterik, Spiritualität und Self-care (für sich selbst sorgen, „ganzheitlich“ gesunder Lebensstil) leisten damit einen Beitrag zur Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft. Ein Grund mehr spirituelle Angebote nicht unkritisch zu konsumieren, sondern stattdessen nach Gründen für ihre Notwendigkeit zu fragen und auf eine Gesellschaft hinzuarbeiten, in der die Flucht in spirituelle Welten nicht notwendig ist.

Neben der Kritik an Spiritualität für ihre krisenbesänftigenden, umsatzfördernden und (Herrschafts-)Kultur fördernden Aspekte („ich betreibe Spiritualität natürlich nicht in dieser Konsum- und Mainstreamorientieren Weise“, sagten mir „alternative“ Spirituelle in einem Gespräch), gibt es noch weitere Kritikpunkte, die das Menschenbild und die Integration des Menschen in die Gesellschaft betreffen. Davon sind auch die, die alternative Spiritualität ganz alternativ betreiben betroffen.

1.0.2 Entfremdung vom Menschsein 1 – Lebensfreude und Sinn

Für eine der größten Gefahren von Spiritualität in Bezug auf herrschaftsfreie Lebensentwürfe halte ich Entmündigung und Entfremdung vom Menschsein, von Lebensfreude, Spaß und ethischem, solidarischem Verhalten. Was ich damit meine? Viele spirituelle Strömungen werben damit, den Menschen Lebensfreude und Lebenssinn zu geben. So als sei es dem Menschen an sich, ohne die Welt der spirituellen Wunder, nicht möglich, Freude zu empfinden. Das ist ein sehr negatives und von Abhängigkeit geprägtes Menschenbild.

Nur eines von vielen Beispielen dafür ist das „Mindstyle“ Magazin und der Shop http://www.happinez.de/. Sie verknüpfen „Freude“ und „Gesundheit“ mit Spirituellem. Z.B. schmücken Buddha Figuren und Yoga Accessoires die Seite. Mal ganz davon abgesehen, dass es schade ist, dass Happiness nicht frei von Spiritualität und Konsum von Esoterikaccessoires gesehen werden kann, hören sich Titel wie „Eat, move, sleep“ (Happinez Sonderheft 2/2015) wie Anweisungen aus Brave New World an. Und hier hast du noch ein bisschen Soma, dann geht's schon wieder besser.

1.0.3 Entfremdung vom Menschsein 2 – Ethisches Verhalten

Das Gleiche gilt für ethisch-moralisches Verhalten. Viele Religionen meinen, dass Menschen sich ohne ihre Glaubenssätze und Gebote nicht ethisch verhalten würden. Auch dieses Menschenbild ist voll von Misstrauen gegen den Menschen und versucht Herrschaft durch religiöse Institutionen zu rechtfertigen. Es spricht dem Menschen an sich die Fähigkeit des Mitgefühls für seine Mitmenschen und des solidarischen Verhaltens ab.

Um zu zeigen, dass der Gedanke „Menschen ohne Religion handeln unethisch“ falsch ist, betonen die Atheisten in den USA immer wieder, dass der Anteil der Atheisten im Gefängnis signifikant unter dem Anteil der Atheisten in der Bevölkerung liegt (http://thehumanist.com). Unabhängig davon, ob dieser Gedanke richtig oder falsch ist, steht er meiner Meinung nach der Transformation in eine herrschaftsarme Gesellschaft im Weg. Werden Menschen im Umfeld solcher Menschenbilder sozialisiert, verinnerlichen sie diese Gedanken des „Nicht-zu-Freude-und-mitmenschlich-solidarischem-Verhalten-fähig-Seins“ und werden dementsprechend agieren. Die Verantwortung für ethisches Handeln an Institutionen abzugeben ist nicht nur schade für die Entwicklungsmöglichkeit der Menschen, sondern auch sehr gefährlich, da die Entitäten, die über Macht in den Institutionen verfügen, so die Möglichkeit haben, für alle ihnen untergebenen Menschen zu definieren, was ethisch gut ist und so im Extremfall „ethisch legitimierten“ Hass und Krieg zu initiieren.

Dagegen ist ein Menschenbild, das konform mit der Transformation in eine herrschaftsarme Gesellschaft ist, dadurch gekennzeichnet, dass absolute Wahrheiten und Institutionen skeptisch betrachtet werden und dass Lebensfreude, Lernfähigkeit, die Fähigkeit zu solidarischem und kooperativem Miteinander und Mitmenschlichkeit dem Menschen inhärent sind. Jeder einzelne Mensch und Gruppen von Menschen sind zu ethischem Verhalten fähig - und dies ohne irgendwelche spirituellen Zusätze, einfach von Geburt an.

1.0.4 Pseudotherapien

Menschen mit oben beschriebenen Leiden (Sinnkrisen, verletztes Ego) aber auch körperliche und psychische Leiden fühlen sich oft mit ihren Problemen im bestehenden System nicht unterstützt und stolpern dann bei ihrer Suche häufig in pseudowissenschaftliche, esoterische und spirituelle Praktiken. Heike Dierbach beschreibt in ihrem Buch „Die Seelen-Pfuscher – Pseudo-Therapien, die krank machen“ gründlich recherchiert die Unterschiede zwischen anerkannten Psychotherapien und Pseudotherapien und erklärt mit psychologischem Hintergrundwissen wie gefährlich Pseudotherapien sein können.

An traurigen aber realen Beispielen fehlt es dabei nicht. In harmloseren Fällen wird die „Schuld“ für schwierige Umstände auf die Ratsuchenden oder deren Umfeld geschoben oder die Ratsuchenden geben die eigene Verantwortung für Entscheidungen ab und lassen „spirituelle Gestalten“ bzw. die Anbieter_innen der Technik für sich Entscheidungen fällen oder Orakel sprechen. Dafür verdienen diese Anbieter_innen häufig viel Geld. In gravierenderen Fällen wird Menschen die Schuld an ihrer Krebserkrankung wegen „falscher Lebensführung“ zugesprochen oder eine in der Kindheit erlebte Vergewaltigung wird als selbst verantwortet dargestellt. Psychiater_innen und Psycholog_innen müssen häufig Menschen behandeln, denen es nach solchen Pseudotherapien schlechter geht als zuvor, die regelrecht zusammengebrochen sind. Anerkannte Psychotherapien sind langwierig und wissenschaftlich genügend darauf getestet, dass sie keine solchen Schäden verursachen.

1.0.5 Gesundheitswahn und „Self-Care“

Ein „bewusster“ gesunder Lebensstil ist zu einer Art gesamtgesellschaftlichen Religion, zu einem Gesundheitswahn geworden. Nahrungsmittel-, Körperpflege-, Sport-, Urlaubs- und Spiritualitätsindustrie werben damit. Yoga-, Meditations-, Ernährungs- und Guru-Werbung und Angebote durchziehen das Stadtbild und die Medien. Noch heiler, noch gesünder, noch „ganzer“ zu werden scheint zu einer Art Selbstzweck für viele Menschen geworden zu sein. Der Fokus auf Gesundheit hat nicht in allen Fällen mit Spiritualität zu tun, gemeinsam ist beiden jedoch, dass sie oft dazu führen, dass Menschen sich sehr intensiv mit sich selbst beschäftigen. Doch was genau ist eigentlich „Gesundheit“ und wer legt das fest? Wer sagt, dass ein schlanker Körper gesünder ist als ein weniger schlanker? Wer sagt, dass Entspannung und Gelassenheit für alle Menschen gut ist? Es gibt hier viele gesellschaftlich festgelegte Normen, die einen großen Druck auf das Individuum ausüben können. Diesen Druck gilt es kritisch zu hinterfragen, durch eine eigene Vorstellung von „Gesundheit“ zu ersetzen oder vielleicht in einigen Fällen sogar die Abweichung von der Gesundheitsnorm („Krankheit“) als eine gesunde Reaktion auf ein krankes System zu sehen.

Auch innerhalb der Linken Szene gibt es eine Bewegung für Self-care, dafür verstärkt auf sich selbst zu achten, die mitunter dogmatische Züge annimmt, wenn die Pflege des eigenen Ichs in jedem Fall vor allem anderen steht und so Gruppeninteressen und Solidarität weit hinten anstehen. So habe ich erlebt, dass Menschen Konflikte unter denen beide Parteien gelitten haben, ohne Rücksprache mit den anderen mit „ich muss erst mal für mich selbst sorgen“ verlassen haben, so dass die anderen am Konflikt Beteiligten ohne Möglichkeit zur Mitsprache mit dem Konflikt und ihren Gefühlen dazu zurück gelassen wurden.

1.1 Weltbild

1.1.0 Selbst verantwortetes „Schicksal“

In vielen spirituellen Ansätzen und Verhaltensmodifikationstheorien spielt Verantwortung eine große Rolle. In einigen „alternativen“ Therapieansätzen wird dem Mensch sein Leiden als selbst verantwortetes Schicksal erklärt. Krebs kann beispielsweise durch ein schwieriges Familienumfeld (Familienaufstellung) oder eigene negative Energien ausgelöst worden sein. „Vielleicht will dir der Hautausschlag um den Mund irgendetwas sagen - vielleicht, dass du noch nicht alles ausgesprochen hast“, sagte mir eine Person aus einem linken Projekt. Das steht nicht nur oft quer zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern lastet der Person, die wegen eines Leidens um Hilfe gebeten hat, ein zusätzliches „du bist selbst die Ursache deines Leidens“ und damit verbundene Aufgaben zur eigenen „Besserung“ auf. Das passt übrigens prima zum kapitalistischen Dogma „jeder ist seines Glückes Schmied“ und zur Verschiebung von Problemen (Armut, Arbeitslosigkeit, körperliche oder psychische Leiden) in die Privatsphäre. Damit wird vertuscht, dass viele dieser Probleme gesellschaftlich verursacht sind und die Menschen werden mit ihren nun privaten Problemen voneinander isoliert.

„Schicksal“ gibt es nicht. Dinge geschehen mit einer gewissen Wahrscheinllichkeit, einige kann mensch beeinflussen, andere nicht. Nichts wird von Göttern oder dem Universum verursacht und nichts geschieht um jemanden zu belehrern.

1.1.1 Irrationalität, Parallelwelt, Realitätsverlust

Ähnlich wie bei extremen Formen der Verhaltensmodifikation kann das intensive Leben von Spiritualität dazu führen, dass Menschen mehr und mehr in einer Parallelwelt leben, in anderen „Seins-Dimensionen“. Dadurch wird die Kommunikation mit dem Umfeld immer schwerer, der Realitätsverlust und die Empfänglichkeit für Argumente, Warnungen und Kritik immer geringer. Das kann, muss aber nicht zu einem Teufelskreis führen, bei dem Menschen schließlich jeden Kontakt zu Menschen außerhalb der Parallelwelt abbrechen und dieser Fantasiewelt schließlich sektenartig ausgeliefert sind. Parallelwelten haben für mich zusätzlich einen elitären Beigeschmack, da sich Menschen, die sich in diese Welten begeben als näher an der Wahrheit als andere wähnen.

Ein Beispiel in dem das Leben in einer Parallelwelt als Problemlösung und Freiheit propagiert wird: Byron Katie, die die Pseudotherapie „The Work“ lehrt, sagt „I discovered that when I believed my thoughts, I suffered, but that when I didn’t believe them, I didn’t suffer, and that this is true for every human being. Freedom is as simple as that. I found that suffering is optional.“

Wenn du denkst „Parallelwelt“, „sektenartig“, das ist aber zu extrem, das passiert doch in den wenigsten Fällen, dann lies doch mal dieses Beispiel aus meinem Hausprojekt. In einer Diskussion um einen formalen Konsensprozess versuchten wir als vorläufigen Mimimalkonsens zu dem Thema, die „Stopp-Regel“ einzuführen, die sich bereits vorher unter den Kindern im Projekt etabliert hatte: Wenn es einer Person zu viel wird, sagt sie „Stopp“ und die an dieser Situation Beteiligten hören daraufhin mit dem auf, was sie gerade mit der Person, die „Stopp“ gesagt hat, gemacht haben. Dadurch können alle halbwegs sicher davon ausgehen, dass ihre Grenzen respektiert werden. In das Plenum der Erwachsenen wurde der Wunsch nach dieser Vereinbarung eingebracht, da eine Person nicht mehr sicher war, ob ihre Grenzen respektiert werden. Wir konnten diese Vereinbarung jedoch nicht für das ganze Plenum treffen, da eine Person dies mit folgender Aussage abgelehnt hat: „ich kann mich da gerade nicht darauf einlassen, da ich dann im Alltag ständig Stopp sagen müsste“.

Daran lassen sich meiner Meinung nach zwei der bereits genannten Gefahren erkennen. Zum einen steht das eigene Wohlbefinden, der eigene Alltag weit vor dem Wohlbefinden anderer, selbst wenn diese mit der Angst um die eigenen Grenzen starkes Unwohlsein geäußert haben. Das Pendel zwischen dem „für sich selbst sorgen“ einerseits und dem solidarischen Gruppenbewusstsein ist stark in eine Richtung ausgeschlagen, was negative Auswirkungen auf das Zusammenleben hat. Zum anderen ist meiner Meinung nach an dem „dann müsste ich ständig Stopp sagen“ eine große Entfernung von der Realität zu sehen. Die Person scheint den Wunsch nach einem Leben in einer gefilterten Parallelwelt zu haben, in der sich die Gemeinschaft strikt nach den ihrer Vorstellung entsprechenden Werten verhält und bestimmte genormte Sprechweisen pflegt. In unserem Hausprojekt kommen unterschiedliche Menschen zusammen, die sich jedoch grob einem herrschaftsarmen Selbstverständnis verbunden fühlen. Wir leben also bereits in einer subkulturellen Blase im Vergleich zu der uns umgebenden Gesellschaft. Wenn selbst diese Blase des Hausprojekts mit all ihrer erfrischenden Diversität ein Umfeld ist, in dem die Person ständig „Stopp“ sagen müsste, dann hat sie sich eine sehr hohe Empfindsamkeit zu eigen gemacht, mit der sie nur noch in sehr homogenen und dogmatischen Parallelwelten entspannt leben kann.

1.1.2 Gemeinsame Erkenntnisebene, Wissenschaft, Skeptizismus

Einige Leute meinen, dass Wissenschaft auch nur eine weitere Theorie zur Erklärung der Welt sei. Eine Theorie neben vielen anderen, die zusätzlich von elitären Kreisen vertreten würde. Es mag sein, dass einige Wissenschaftskreise in Universitäten, Forschungsinstituten oder Konferenzen elitär sind. Jedoch ist es gerade in Zeiten von Internet und Wikipedia ohne große Hürden möglich, zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung beizutragen, denn diese ist jedem Menschen offen, der die entsprechenden Belege anbringt.

Der große Unterschied zwischen Wissenschaft und anderen Theorien ist, dass Wissenschaft skeptische und kritische Blicke auf bestehende Theorien willkommen heißt und die Theorien bei neuen Erkenntnissen anpasst, während andere, beispielsweise spirituelle Theorien, an teilweise tausende Jahre alten Theorien festklammern, einem skeptischen, nach Beweisen fordernden Blick nicht standhalten können, oder diesen Blick gar als ketzerisch ablehnen.

Zunächst mag es nicht wichtig erscheinen, ob Menschen, die in einem Projekt zusammen leben oder tätig sind, auf die ähnliche Weise zu Erkenntnissen oder Entscheidungen gelangen. Jedoch kann dies mindestens zu Irritationen führen, wenn Leute davon ausgehen, dass ihnen das Universum etwas mitteilt oder eine Situation so ist wie sie ist, weil sie etwas daran lernen sollen.

Bei der Klärung von Konflikten können Unterschiede in der Art und Weise, wie Erkenntnisse gewonnen werden es erschweren, eine gemeinsame Grundlage für eine Klärung, eine gemeinsame Geschichte, zu finden. So meint einer meiner Mitbewohner, dass es wenig Sinn macht, über Geschehenes zu reden, da die Wahrnehmungen wegen unterschiedlicher Sozialisation und persönlicher Geschichte extrem unterschiedlich sind. Wichtig sei nur, was „im Jetzt“ an Gefühlen zu vergangenen Ereignissen „lebendig ist“. „Es gibt kein das war so“, sagt dieser Mitbewohner.

Diese Einstellung finde ich aus vielen Gründen gefährlich. Nehmen wir eine vergangene Situation an, in der Person A etwas getan hat, womit Person B sich nicht wohl gefühlt hat. Die „Es gibt kein das war so“-Einstellung nimmt Person B die Möglichkeit, in der Schilderung ihrer Erfahrung ernst genommen zu werden, da die Erfahrung als vollkommen subjektiv und irrelevant für das „Jetzt“ abgetan wird. Gleichzeitig gibt diese Einstellung Person A, die Möglichkeit, sich nicht mit dieser vergangenen Situation auseinander setzen zu müssen und keine Verantwortung für vergangenes Handeln übernehmen zu müssen. Ich sehe auch nicht, wie Person B sich mit ihrem Kummer über die vergangene Situation von Person A verstanden und ernst genommen fühlen kann, wenn Person A nur die im Jetzt lebendigen Gefühle hören will und eine komplett andere Sicht auf die vergangene Situation hat.

Beobachtungen objektiv zu schildern ist eine wichtige Grundlage in der Kommunikation (auch in der gewaltfreien Kommunikation). Beobachtungen sind subjektiv und von vergangenen Erfahrungen geprägt, doch durch den Austausch mit anderen Menschen, die in der Situation anwesend waren oder denen mensch die Situation schildert, ermöglicht es, den eigenen Blickwinkel zu korrigieren und ein gemeinsames „das war so“ zu entwickeln.

Auch mit Blick auf die deutsche Geschichte, kann ich eine „Es gibt kein das war so“-Einstellung kaum ertragen.

1.1.3 Konservative und Rechtsradikale

Sicherlich ist nicht jede Person mit spirituellem Interesse offen für rechtes Gedankengut. Da dies jedoch in spirituellen und esoterischen Inhalten oft vorkommt, möchte ich es hier als eine weitere Gefahr erwähnen.

Dass Esoterik Anknüpfungspunkte für rechtes Gedankengut bietet und in rechten Kreisen vorangetrieben wurde und wird, verwundert mich nicht, da das Elitedenken beides verbindet. Auch darüber gibt es zahlreiche Studien und Bücher, wie zum Beispiel „Über alles in der Welt - Esoterik und Leitkultur. Eine Einführung in die Kritik irrationaler Welterklärungen“ von Claudia Barth. Daraus einige Beispiele: Die Familientherapie nach Hellinger vermittelt ein Familienbild mit Rangordnungen, in dem Frauen für Reproduktionsaufgaben zuständig sind. Dieter Duhm, spiritus rector des Zentrums für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung (ZEGG) sagt Menschen seien psychisch auf Autorität und Führertum fixiert. Im tantrischen Buddhismus wird die Frau als gleichberechtigte und autonome Partnerin abgelehnt; das Prinzip des Yin-Yang weist der Frau eine starre, gottgewollte Rolle zu. Die Nationalsozialisten unternahmen „rassekundliche Forschungsreisen“ nach Tibet und der Dalai Lama traf sich in den 90ern mit Berger, einem Arzt aus Auschwitz.

1.2 Selbstbild

1.2.0 Abgrenzung und elitäre Kreise

Egal wie stark das Leben in der Parallelwelt ausgeprägt ist, ist damit oft eine Art von Elitedenken verbunden. Die Person meint, „weiter“ zu sein als andere. Das kann im Kleinen so aussehen, dass eine Person häufig, ohne dass eine Notwendigkeit dazu bestünde, ihre Fähigkeiten hervorhebt. Ein Beispiel dazu: „Habe ich dir damit weitergeholfen?“ als Schlusswort zu einem Beitrag in einer gleichberechtigt angelegten Diskussion. Ich hatte nicht um Hilfe gebeten, danke.

Je nachdem wie dogmatisch (spirituell oder anders motivierte) Verhaltens- und Wertemodifikation stattfindet und je nachdem wie viel Bereitschaft die modifizierten Menschen haben, sich mit anders modifizierten zu unterhalten, kann dies zu Schwierigkeiten in der Kommunikation führen. Ein Grund dafür ist, dass die Modifizierten ihre eigene Szene-Sprache entwickelt haben, und dem anders sprechenden Gegenüber klar machen, dass sie es so sprechend schwer verstehen können. So sagte mir ein Mitbewohner, nachdem ich länger erklärt hatte, was mich an unserem Gemeinschaftsleben stört und dies von anderen verstanden wurde, dass er es noch nicht verstanden hätte und er sich deshalb nicht an der Lösungssuche beteiligen könne.

Wenn das Zusammenleben nur noch mit extrem Gleichgesinnten möglich ist, ist das ein elitärer oder esoterischer Kreis. Ich habe damit nicht nur Probleme weil ich Elite für weder freiheits- noch solidaritätsfördernd halte, sondern auch, weil ich den Kontakt zu beliebigen Leuten außerhalb des Projekts für wichtig halte, um Netzwerke zu bilden und auch andere Menschen für die Idee der Transformation zu begeistern.

1.2.1 Elite und Normen

Um zur Elite, zur Ingroup dazu zu gehören, kann sich ein gewisser Normierungsdruck ergeben. Ein Beispiel dafür sind die Sprechweisen verhaltensmodifizierter elitärer Kreise. Menschen, die die etablierte Sprechweise nicht pflegen wollen oder können, werden möglicherweise seltsam angeschaut, ausgegrenzt oder einfach nicht verstanden.

Eine weit verbreitete Haltung zu Sprechweisen in der Verhaltensmodifikationsszene ist die Gewaltfreie Kommunikation (GfK). Sie enthält meiner Meinung nach viele gute Ansätze zur Kommunikation und einer weniger verurteilenden Haltung. Jedoch, habe ich einige Menschen erlebt, deren extreme Auslegung der GfK, normativen Druck und elitäre Arroganz auf das Umfeld ausübte.

So empfiehlt die GfK „zunächst bei sich selbst zu bleiben, sich selbst Einfühlung zu geben“, also die eigenen Gefühle zu ergründen, die eine Situation auslöst und einen Umgang damit zu finden. In extremer Auslegung kann dies zu einem meditativ spirituell angehauchten Fokus auf den eigenen Gefühlen führen, der dogmatisch ein „ich weiß nicht wie es mir gerade geht“ als „die Person ist noch nicht so weit“ kategorisiert. So entsteht ein Normierungsdruck zur einheitichen Kommunikation nach vorgegebenen Mustern.

1.2.2 Elite und Arroganz

Ein anderer Grund für erschwerte Kommunikation mit verhaltensmodifizierten Menschen ist, dass die Modifizierten oft nach den Mühen ihres Modifizierungslernprozesses (der vielleicht durch Workshops, Übungsgruppen oder intensive Lektüre gegangen wurde) eine gewisse Arroganz an den Tag legen. Einige Zitate, in denen ich Überheblichkeit gehört habe: „so viel Geduld habe ich dafür nicht mehr. Das habe ich alles schon durch gemacht“, „ich lese halt viel“, „was ist eigentlich euer Problem?“, (mit paternalistischem Tonfall) „das hatten wir anders besprochen, mein Lieber!“

Noch ein Beispiel für die „du bist noch nicht so weit“-Arroganz aus meinem Alltag. In einer Unterhaltung über „spirituelle Erfahrungen“ beschreibe ich ein nicht spirituelles Gefühl, das meiner Meinung nach alle Eigenschaften von dem erfüllt, was von der Vorrednerin als „spirituelles“ Erlebnis beschrieben wird. Ich beschreibe, wie viel Spaß mir mein Lieblingssport macht, wie ich mich dabei und danach manchmal fühle. Als Antwort darauf erhalte ich prompt: „das ist nicht das was ich meine, dann hast du das noch nicht gefühlt“.

1.2.3 Heiler, Gurus und Sendungsbewusstsein

Gerade für Menschen, die durch eine Lebens- oder Sinnkrise gegangen sind oder noch gehen, die stark unter den sinnbefreiten und unmenschlichen Bedingungen der real existierenden Konkurrenz- und Kapitalmaschinerie leiden, die sich klein und unwichtig fühlen und voller Unsicherheiten bezüglich ihrer Identität und ihrer Fähigkeiten sind, ist das oft mit Spiritualität verbundene Elitedenken etwas, das ihnen zunächst Erleichterung zu verschaffen scheint. Es tut ihnen gut, nun auf dem „richtigen“ Weg und „erleuchtet“ zu sein, sich um sich selbst zu drehen, persönlich geheilt zu werden oder durch neu erworbene Fähigkeiten (ein paar Wochenendkurse) selbst „Heiler“ werden zu können. Das lässt das Ego stark anschwellen. Guruhaftes Verhalten kann zwar Befriedigung für den Guru bringen und ihn oder sie von den eigenen Wunden ablenken, jedoch steht es einem Realitätsbewusstsein und der Fähigkeit, sich ab und an auch mal bescheiden und selbstkritisch zurückzunehmen, die im gleichberechtigten Umgang mit anderen Menschen wichtig ist, im Wege.

Zum Thema Arroganz und Guru Gebaren: Die „Rainbows“ (Menschen, die zu Rainbow Gatherings fahren, hierarchiearm organisierte Hippies mit starkem Hang zu Esoterik) haben sich ihren Namen nach einer Legende des Hopi-Stammes gegeben. Diese Legende besagt, dass sich ein neuer Stamm aus Menschen aller Erdteile zusammenfinden wird, deren Farben so verschieden sind wie die des Regenbogens. Nach einer Epoche der Ausbeutung und des Krieges wird es dieser Stamm sein, so die Legende, der Mensch und Natur wieder versöhnt und die Erde heilt. (Zitat aus wikipedia). Auch wenn die „Rainbows“ sich dem Pazifismus verschreiben, ist dieses Sendungsbewusstsein zur Errettung der Welt gefährlich. Sendungsbewusstsein führt zu elitärem Verhalten, Abwertung von anderen Menschen und verminderter Kritikfähigkeit. In geballter Form können Sendungsbewusstsein und Fanatismus Kriege verursachen.

1.2.4 Egozentrismus

Auch in weniger extremen Formen tendieren spirituell denkende Menschen meiner Beobachtung nach dazu, sich um sich selbst zu drehen, also eigene Entwicklung und Wohlbefinden als wesentlich wichtiger als das anderer einzuordnen - Solidarität und Gemeinschaftsdenken stehen hinten an. Dies trägt, neben Parallelwelten und Elitedenken, zur eigenen Isolation bei.

Ein Beispiel für egozentristisches Denken, ist die Annahme, dass Zufälle nicht Zufälle sind, sondern durch Anbetung des Universums oder anderer Entitäten herbeigeführt wurden. Oder die Annahme, dass bestimmte Dinge in ihrem Leben zu einem bestimmten Zweck geschehen, etwa um ihnen eine Lehre zu erteilen.

1.2.5 Alternativlosigkeit - Der Eine Weg

Meine Schwierigkeiten im Umgang mit spirituell denkenden Menschen hängen auch mit deren Sprechweisen zusammen: der richtige, der wahre Gott, Energien, bewusst, authentisch, im Prozess, noch tiefer, höhere Bewusstseinsebene, weiter kommen, im Jetzt, im Moment, echte Gemeinschaft, tiefer Kontakt, ganzheitlich, befreiend, präsent sein, im Kontakt sein mit sich und dem Umfeld, das Wesentliche, Ganzheitlichkeit. In diesen Worten höre ich einerseits eine sehr abstrakte Offenheit, andererseits einen Hauch elitärer „es gibt-nur-einen-Weg“-Arroganz, zu wissen, was „echt“, „ganz“, „präsent“, „bewusst“, „gesund“, „weiter“, „tiefer“ oder „wesentlich“ ist.

Der Glaube, auf dem „richtigen“ Weg zu sein und keine Alternativen zu sehen oder zuzulassen und keine gleichberechtigte Auseinandersetzung mit Menschen anderer Meinung darüber zu führen ist gefährlich. Ich habe erlebt, wie ein Mitbewohner immer wieder versucht hat, mich mit den Worten „ich hätte es noch nicht verstanden“ von etwas zu überzeugen. Nachdem ich immer wieder gesagt habe, dass ich anderer Meinung sei, wurde er sehr traurig, weil er es nicht geschafft habe, mir seine Ansicht verständlich zu machen. Dass er verstanden wurde, aber jemand seine Ansicht nicht teilt, konnte er sich nicht vorstellen.

Ein weiteres Zitat von einem Mitbewohner: „Ich bin genau richtig in diesem Projekt. Ich bin dankbar für die Widerstände, die mir das Projekt entgegen bringt, da ich daran lernen kann. Ich tue dem Projekt gut, da ich durch mein Handeln Widerstände auslöse und sich so etwas bewegt.“ Eine Einzelperson, die für andere und das Projekt meint entscheiden zu können, was für ein Projekt gut sei und dabei Heilerallüren zeigt.

1.2.6 Das Schöne

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass spirituell denkende Menschen, an das eine „Wahre“, universell „Gute“ und „Schöne“ glauben. In meinem Hausprojekt bin ich zwei Menschen begegnet, die immer wieder den Drang hatten, Dinge „schön“ zu gestalten und sich schwer vorstellen konnten, dass ihre Gestaltungsideen für andere nicht „schön“ sind. Sie gingen davon aus, dass es nicht mal notwendig sei, andere, von der Gestaltung betroffene vorher zu fragen, ob sie mit der geplanten Veränderung leben können, da es in ihrer Welt unvorstellbar erschien, dass irgendjemand das „schön“ Gestalten nicht schön finden könnte. Mit Kritik an ihrer Gestaltung konfrontiert habe ich Reaktionen wie Fassungslosigkeit, weinendes Davonlaufen oder ein trotziges „puh, wenn ich so viel Kritik höre, muss ich mir immer wieder selbst sagen, dass es gut war, dass ich das gemacht habe und dass es schön ist“ erlebt.

1.3 Interaktion mit anderen

1.3.0 Überlebensstrategie

Eine Erklärung für das Anwachsen spiritueller Tendenzen ist, dass es eine Überlebensstrategie für die Menschen ist. Es ist ihr Weg, mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, dem wirtschaftlichen Druck, sozialer Isolation und Sinnsuche umzugehen. Jedoch ist es meiner Meinung nach wichtig, die Auswirkungen dieser Überlebensstrategie auf das Umfeld, auf die Interaktion mit anderen, im Blick zu behalten, auch wenn die Person lediglich aus Selbsterhaltungstrieb und nicht aus „bösen Absichten“ handelt.

1.3.1 Kritikfähigkeit

Wenn das Selbstbild aus spirituellen Gründen oder einem Hintergrund der Selbstmodifikation Ideen von Elite und dem einen richtigen Weg vermittelt, dann leidet oft die Kritikfähigkeit, die in der Interaktion mit anderen in gemeinsamen Projekten sehr wichtig ist. Bei mangelnder Kritikfähigkeit, ist es schwierig, sich gemeinsam weiter zu entwickeln und Konflikte zu klären.

In meinem Hausprojekt habe ich erlebt, dass Menschen nicht damit umgehen konnten, im Plenum kritisiert zu werden. Ich habe erlebt, dass Menschen mit der Antwort „Das ist deine Wahrnehmung“ jede Art von Kritik an sich abprallen lassen und sich nach dem „es gibt kein das war so“-Ansatz auf keine Art von Problemanalyse einlassen. Ich habe erlebt, dass erwachsene Menschen ähnlich wie kleine Kinder schnell weinerlich bis trotzig und mit Übertreibungen auf Kritik reagieren: „ich kann hier ja sowieso gar nichts mit entscheiden“. Und ich habe erlebt, dass Menschen Kritik mit Selbstbestärkung abblocken und sich selbst immer wieder sagen „Ich habe das richtig gemacht“ oder „ich bin ein netter Mensch“.

1.3.2 Achtsamkeit

Achtsamkeit ist ein Schlagwort, das regelmäßig in Kontexten der Selbstmodifikation und Spiritualität genannt wird. Die Vipassana-Praxis des Buddhismus, auch Achtsamkeitsmeditation genannt, taucht dabei immer wieder auf. Während ich ursprünglich davon ausging, dass mit Achtsamkeit, der mitfühlende, solidarische Blick auf das Umfeld gemeint ist, habe ich nach dem Kontakt mit einigen Menschen, die von „Achtsamkeit“ reden und der Lektüre einiger Texte nun den Eindruck, dass es mehr um eine egozentrische Achtsamkeit auf den eigenen Körper, die eigenen Gefühle und den eigenen „Geist“ geht.

Einer meiner Mitbewohner (ich habe langsam den Eindruck als sei das der Beginn einer schlechten Witzserie ;) ), der sich viel sprituell mit sich selbst beschäftigt, hat auf einem Plenum, in dem ich geschildert habe, warum es mir gerade mit unserer Gemeinschaft nicht gut geht und ein anderer Mitbewohner einen konstruktiven Lösungsvorschlag gemacht hat, mit Lachen und einem nicht ernst gemeinten Lösungsvorschlag reagiert. Für mich ist es beinahe absurd zu sehen, wie Leute, die für sich in Anspruch nehmen, sich viel mit sich selbst zu beschäftigen und auch Konflikte in Gruppen schlichten zu können, so wenig achtsam auf Menschen reagieren, denen es nicht gut geht.

Noah Levine, der aus einem Punk Kontext kommt, und nun als Lehrer und Buchautor buddhistische Achtsamkeit vermittelt, hat sogar eindeutig elitäre Ansichten. So schreibt er zum Schluss des Buchs „The Heart of the Revolution“: „The true Buddhist path is rare and difficult. … Along the way you will meet many other spiritual revolutionaries. Some will become lifelong friends on the path; many will fall by the wayside, drawn back into the matrix of greed and hatred. Those of us who commit and stay the course are the 1%ers of dharma, the forgiving few, the dharma ninja assassins, the real revolutionaries who can change the world.“

Achtsamkeit kann in spirituellen Kontexten also sowohl zu Egozentrismus als auch zu Elitarismus werden – beides ist mit anarchistischen Projekten nicht vereinbar.

1.3.3 Wettbewerb der Befindlichkeiten

Einige Male habe ich auch schon erlebt, dass durch die Verhaltens- und Wertemodifikation einerseits eine sehr hohe Empfindlichkeit oder Empfindsamkeit entsteht. Es wird den Leuten schnell zu viel, sie nehmen vieles als unfreundlich oder gar gewaltvoll wahr oder wollen im Alltag möglichst nicht ohne vorheriges Nachfragen auf tendenziell konfliktbehaftete Themen angesprochen werden. Andererseits steht diese hohe Empfindlichkeit nicht immer im Einklang mit dem Handeln und Sprechen dieser Personen. So ist es in meinem Hausprojekt schon mehrfach vorgekommen, dass dieselben Menschen, die eine hohe Empfindlichkeit zeigen, (wenn es ihnen nicht gut geht) mit krassen Aussagen das Plenum verlassen ohne eine Möglichkeit zur Reaktion zu geben, oder E-Mails oder Briefe schreiben, die die Leser_innen erschreckt, betroffen und wütend zurück lassen. Das lässt mich nicht nur an der „höheren Empfindsamkeit“ dieser Personen zweifeln, sondern stellt mich in der Praxis oft vor das Problem, dass ich auf Aussagen, Briefe oder ähnliches gerne z.B. in Form eines Klärungsgesprächs reagieren möchte, da ich mich davon betroffen fühle, dies jedoch schwer möglich ist, da der Konflikt mit einer einseitig abgebrochenen Kommunikation begann und die Person mit der hohen Empfindlichkeit nur unter bestimmten von ihr festgelegten Bedingungen (z.B. Termin in einem Monat, nur mit externer Begleitung) zu einem Gespräch bereit ist.

Mein Eindruck ist, dass durch die Betonung der Wichtigkeit der „Gefühle im Jetzt“ und der teilweisen Ablehnung von Fakten, Argumenten und Beobachtungen aus der Vergangenheit, den Gefühlen und Befindlichkeiten ein extrem hoher Wert zukommt. Das hat meiner Erfahrung nach dazu geführt, dass in Auseinandersetzungen das wortgewandte oder dramatisch dargestellte Ausdrücken von Befindlichkeiten mehr Gehör findet und einem mehr Einfluss verleiht als sachliche Argumentation und dass manche Menschen dies für ihre Zwecke nutzen. So kann ein weinerlich wütendes „Ich kann hier sowieso nicht mitreden“, wenn die eigene Meinung nicht Konsens in der Gruppe ist, oder ein „ich fühle Zwänge und Ketten“ eine Gruppe dazu verleiten, viel mehr Fokus auf die Person mit den extrem dargestellten Gefühlen, als auf andere, ruhiger kommunizierende Menschen zu legen. Dieser potentielle Einfluss von dramatisch dargestellten Gefühlen, hat in unserem Projekt zeitweise zu einem Wettbewerb der Befindlichkeiten gefühlt, in dem Menschen mit immer dramatischer dargestelltem Unwohlsein versucht haben, sich wieder in den Vordergrund zu rücken. In diesem Wettbewerb der verletzten Egos, kann es sowohl für die Egos als auch den Rest des Projekts schwer werden, das Projekt selbst und die solidarische Gemeinschaft im Blick zu behalten. Zugleich fördert die Strategie der Argumentation durch Befindlichkeiten des Unwohlseins eine gedrückte Stimmung im Projekt.

1.4 Verantwortung und Commitment

1.4.0 Hedonismus

Hedonistische Lebensweise ist beliebt in Teilen der linken Szene (z.B. Hedonistische Internationale), da sie mit dem Leistungsdruck, angeblicher Ressourcenknappheit und Normen zu brechen scheint. Sich Zeit zu lassen, zu entschleunigen, zu genießen, zu feiern und tanzen oder vielleicht mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig zu führen oder Drogen zu konsumieren kann befreiend wirken und auch auf das Umfeld einen inspirierend befreienden Eindruck machen. Hedonistische Lebensweise verbinde ich nicht zwingend mit Spiritualität. Wie bei anderen in diesem Text diskutierten eher spirituellen Tendenzen, habe ich jedoch auch hier die Befürchtung, dass die Balance zwischen Freiheit und Solidarität, die für anarchistische Projekte existenziell ist, zugunsten der persönlichen Freiheit verloren geht. Bedenklich finde ich dabei nicht nur unkritischen Konsum und Ressourcenverbrauch, sondern auch einen eher egoistischen Blick auf das eigene Wohlbefinden.

Einige Beispiele aus meiner Erfahrung in linken Projekten: In meinem Hausprojekt habe ich Leute erlebt, die sich an Schnäppchen erfreuen, stolz erzählen, welch günstige Flüge sie gebucht haben, mehrfach das gleiche Produkt in unterschiedlichen Ausführungen bei Amazon bestellen oder immer wieder Fundstücke von Flohmärkten oder ähnlichem mitbringen. Diese warengebundene Konsumlust, wird so auch Kindern vermittelt, obwohl gerade ein Hausprojekt meiner Meinung nach ein guter Ort ist, ressourcenschonend zu genießen und sich gemeinsam neue Formen von reflektiertem Genuss anzueignen.

Im egozentrischen Spektrum der Verhaltensmodifikation habe ich in Bezug auf Hedonismus Menschen erlebt, die es ablehnen, irgendetwas zu tun, das ihnen keine Freude bereitet. So gibt es in meinem Hausprojekt mehrere Mitbewohner_innen, die sich nicht oder nur sehr eingeschränkt am Putzen beteiligen. Das Verhaltensmodifikationsdogma eines anderen Mitbewohners lautet „tue nur das, was sich wirklich freiwillig anfühlt“. Das mag in unverbindlichen Zusammenhängen oder beim Alleine Wohnen funktionieren, jedoch halte ich diese Einstellung für absurd und unsolidarisch, wenn mensch mit Kindern zusammen lebt oder Teil eines Projekts ist, das wertvolle Ressourcen wie beispielsweise Häuser verwaltet, deren Erhaltung durch zuverlässig und regelmäßig durchgeführte Maßnahmen sichergestellt werden muss.

Der nächste Abschnitt behandelt die Schwierigkeit der Organisation langfristiger Projekte mit eher lustorientierten Menschen noch detaillierter.

1.4.1 Commitment

Commitment kann übersetzt werden mit Hingabe, Verpflichtung, Engagement, Verbindlichkeit, Leistungsbereitschaft, Zusage (bindend), Bemühen oder Selbstverpflichtung (Quelle: dict.cc). Ich benutze diesen Begriff gerne, da er Lust, Freiheit und Selbstverpflichtung zusammen bringt.

Für langfristige Projekte (Hausprojekte, Kollektive, Verankerung im Kiez, Co-Parenting) ist ein langfristiges Commitment nötig. Dazu gehört Zuverlässigkeit, Kontinuität, Verantwortung, Planbarkeit und daraus entstehend Vertrauen. Vertrauen ist notwendig, um gemeinsame Ressourcen aufbauen und verwalten zu können. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht nur, Aufgaben zu übernehmen und diese zu erledigen, sondern auch einen Blick dafür zu haben, was im Projekt gerade schief läuft und einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Verantwortung bedeutet zudem, hinter dem eigenen Handeln zu stehen und wenn eine Person sich mit diesem Handeln nicht wohl fühlt, sich der Konfliktklärung mit dieser Person zu stellen.

Hier einige Beispiele aus meinem Alltag im Hausprojekt, in denen mir diese Zuverlässigkeit gefehlt hat: „Wer weiß, was ich morgen möchte?“ als Antwort auf eine Frage nach möglichen Verabredungen. „Ich hätte gerade Lust, mit X Musik zu machen“ als Erklärung zu dem doch nicht so viel Lust auf einen vereinbarten Termin zur Finanzverwaltung zu haben. „Ich mag keine Termine/Verabredungen.“ „Nein, wir haben keinen Ort und keine Zeit ausgemacht, aber du kannst gerne dazu kommen“ als Antwort auf die Frage, wann etwas mit einer Person besprochen werden könnte. „Kann sein, dass ich das gesagt habe“, als Reaktion auf eine von einer anderen Person in einem Konfliktklärungsgespräch geäußerte Beobachtung.

Fehlendes Commitment und Verlässlichkeit hängt meiner Meinung auch mit der spirituell inspirierten Idee des „Leben im Jetzt“ zusammen. Ich habe erlebt, dass Mitbewohner_innen sich aus einer Laune oder mangelndem Interesse am Gemeinschaftsleben, nicht an gemeinsam Vereinbartes halten oder Vereinbarungen schon vier Wochen später wieder in Frage stellen. Ein Mitbewohner meint, dass aufgeschriebene Vereinbarungen sowieso nicht viel Bedeutung haben, da sie bei näherer Betrachtung unpräzise, hinterfragbar, relativierbar, unklar würden und sich die Menschen und die Situation sowieso ständig verändern würden. Er meint, es gäbe letztendlich keinen Halt, nichts, worauf mensch sich verlassen könne. Wichtig sei nur, was im Moment in den Menschen lebendig ist.

Es ist schwer Vertrauen aufzubauen, wenn nicht klar ist, wie eine Person morgen handeln wird oder ob sie zu ihrem gestrigen Handeln stehen und für dessen Auswirkungen Verantwortung übernehmen wird. Es ist schwer langfristige Projekte zu planen werden, wenn Personen wesentlich mehr auf sich selbst achten, als auf das Projekt und die Menschen im Projekt.

Beim Aufbau langfristiger Projekt ist es notwendig, neben den eigenen Bedürfnissen auch die Notwendigkeiten im Projekt zu sehen – die Belange von Individuum und Projekt müssen beide Raum finden. Dazu ist es erforderlich, an beiden kontinuierlich dran zu bleiben und das Beitragen zum Projekt und zum eigenen Wohlbefinden im Gleichgewicht zu halten. Wenn der Anteil der Menschen in einem Projekt, die sich immer wieder „zur Selbstfürsorge“ oder „zu eigenen Prozessen“ über längere Zeiträume und ohne Vorankündigung zurückziehen, überhand nimmt, dann wird dies für die anderen Leute im Projekt schwer aufzufangen. Das betrifft regelmäßige Tätigkeiten, die zuverlässig ausgeführt werden müssen, die Verwaltung von gemeinsamen Ressourcen (sowohl materieller Dinge einschließlich Gebäuden als auch dem Bild des Projekts in der Öffentlichkeit) und die Owlvision (Eulensicht, das im Blick behalten und Integrieren von allen in der Gruppe).

Ich habe von eher lustorientierten Leuten immer wieder gesagt bekommen, dass es wichtig sei, Dinge nur dann zu tun, wenn es sich wirklich freiwillig und gut anfühlt. Das ist beinahe schmerzhaft zu hören, wenn ich gerade 40 Stunden an Steuererklärungen gearbeitet habe. Sich aus „Selbstschutz“ oder anderen egoistischen Motiven aus der Gruppe und Gruppenaktivitäten zurückzuziehen ist etwas, was einen großen Einfluss auf die Gruppe hat. Es beeinflusst die Stimmung in der Gruppe, die Verteilung der Tätigkeiten, die Gruppendynamik, die Wirksamkeit von Plena und Entscheidungen. So zu tun, als würde die Entscheidung, sich zurückzuziehen nur eine „private“, nur eine sich selbst betreffende Entscheidung sein, ist in einem gemeinsamen Projekt absurd, zeugt von Egoismus und mangelnder Solidarität.

Es ist wichtig, dass Menschen, die kontinuierlich und planbar an einem Projekt arbeiten, erkennen, wann Menschen, die vornehmlich auf sich selbst achten, das Projekt zu stark belasten und aktiv werden.

1.4.2 Verantwortung

Verantwortung ist ein in der linken Theorie wichtiger Begriff. Wenn es keinen Chef gibt, wird selbstverwaltet und selbstverantwortlich organisiert. Dabei gilt es, zum einen Verantwortung für das eigene Handeln und zum anderen Verantwortung für das eigene Wohlbefinden zu übernehmen. Fehlt die Verantwortung für das eigene Handeln, wird der solidarische Umgang mit anderen Menschen schwierig. Fehlt die Verantwortung für sich selbst, wird es schwierig, sich konstruktiv an Entscheidungen zu beteiligen. Umgekehrt führen dogmatische Ausmaße der Selbstverantwortung zu Egozentrismus und Isolation.

Die beiden folgenden Abschnitte gehen näher auf beide Verantwortungsbereiche ein.

1.4.3 Verantwortung für das eigene Handeln

Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen bedeutet, aktiv zu werden, wenn es notwendig ist und nicht nur zuzuschauen. Es bedeutet sich selbstkritisch zu betrachten, das eigene Verhalten zu reflektieren, mit Kritik von anderen umgehen zu können. Dazu ist ein Umfeld, das auf freundliche Weise Feedback gibt von Vorteil. Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen bedeutet auch, zu erkennen, wann mensch gerade nicht in der Lage ist, verantwortungsvoll zu handeln und sich dann zurückzunehmen und um Unterstützung durch andere zu bitten.

Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen beinhaltet auch, im Rahmen einer durchschnittlichen emotionalen Intelligenz Verantwortung dafür zu übernehmen, wie das eigene Handeln oder Sprechen bei dem Gegenüber ankommt. Das bedeutet, dass ich dafür mitverantwortlich bin, wenn es dem Gegenüber nicht gut geht, nachdem ich es angeschrien, beschimpft oder sogar körperlich verletzt habe. Wenn ich jedoch jemanden über den Rücken streichele, ohne zu wissen, dass diese Person, möglicherweise wegen in ihrer Vergangenheit erlebter Traumata oder anderer mir nicht bekannter Gründe, das nicht gut aushalten kann, so kann das kaum in meiner Verantwortung liegen. Ich habe diese Person versehentlich verletzt.

In beiden Fällen, egal ob versehentlich oder durch eine Handlung, die ich in Selbstreflexion oder durch Feedback als nicht gut erkannt habe, ist es wichtig, Mitverantwortung für das, was durch die eigene Handlung beim Gegenüber ausgelöst wurde, zu übernehmen. Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass dem Gegenüber zugehört wird, bis es sich verstanden fühlt, das eigene Handeln bedauert wird und mit dem Gegenüber überlegt wird, was getan werden könnte, dass dieses sich wieder besser fühlt.

Ähnliches wird manchmal „um Entschuldigung bitten“ genannt. Da Konzepte wie „Schuld“ in der Verhaltensmodifikationsszene kritisch betrachtet werden, was ich unterstütze, habe ich hier ein Verhalten beschrieben, dass statt dem Entschuldigen stattfinden sollte. Denn „Schuld“ abzulehnen kann meiner Meinung nach nicht bedeuten, Verantwortung für das eigene Handeln und dessen Konsequenzen abzulehnen.

In vorangegangenen Abschnitten habe ich schon beschrieben, dass es Menschen in spirituellen Kontexten manchmal schwer fällt, mit Kritik umzugehen und Verantwortung zu übernehmen, da sie einen elitären Habitus pflegen und sich gedanklich in Parallelwelten befinden. So reagierte ein Mitbewohner von mir auf im Rahmen einer Mediation vorgetragene Kritik mit einem Brief, in dem er die Gruppe beschuldigte, ihm (metaphorische) Fesseln anlegen zu wollen.

Menschen, denen es schwer fällt, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, versuchen die Verantwortung in brenzligen Situationen gerne anderen überzustülpen. Nehmen wir noch einmal das Beispiel aus einem vorherigen Abschnitt: eine vergangene Situation, in der Person A etwas getan hat, womit Person B sich nicht wohlgefühlt hat. Lehnt Person A Verantwortung für ihr Handeln und dessen Auswirkungen ab, wird sie möglicherweise so etwas sagen wie „Person B ist dafür verantwortlich, wie das bei ihr ankommt“.

Eine extreme Deutung der Gewaltfreien Kommunikation kann diesen Ansatz rechtfertigen: Laut GfK bin ich dafür verantwortlich, wie das Gesagte bei mir ankommt. Dies kann bei dogmatischer Auslegung Person A einen großen, die Freiheiten von Person B einschränkenden, Handlungsraum geben, ohne dass Person A Verantwortung für das eigene Handeln übernimmt. Denn die GfK sagt außerdem „jeder Mensch handelt in jeder Situation so, wie es ihr am besten erscheint“. Dieser Gedanke kann Person A dazu bringen sich keine Zeit zur Reflexion ihres Handeln zu nehmen und ihr Handeln B gegenüber nicht zu bedauern. Gleichzeitig wird Person B mit der angeblich ausschließlichen Verantwortung für sich selbst alleine gelassen.

Die GfK meint auch, dass egal was und wie das Gegenüber spricht oder agiert, ich in Giraffensprache (GfK-Sprache) reagieren kann. In extremer Auslegung kann dies in eine spirituell-offen-gleichgültige Haltung von „egal was du mit mir machst, ich behalte die Kontrolle und reagiere gelassen“ münden. Auch hierbei wird Verantwortung dafür, wie das Handeln beim Gegenüber ankommt abgelehnt. Zudem wird für Person B eine Technik des sich Schützens und Abgrenzens von den Handlungen anderer angepriesen, die auf Unbeteiligte wie desinteressierte Arroganz wirken kann und sich zu aufgestauten Emotionen und passiver Aggressivität entwickeln kann.

Diese Auslegung von Verantwortung für das eigene Handeln ist meiner Meinung nach nicht mit einer für anarchistische Ansätze notwendigen solidarischen Haltung vereinbar.

1.4.4 Verantwortung für sich selbst

Ein Mitbewohner erklärte mir, dass er, als Person B, der es mit der Handlung von Person A nicht gut ging, in der Regel nicht die Auseinandersetzung mit Person A sucht, sondern nur mit sich selbst klärt, warum diese Situation etwas bei ihm ausgelöst hat. Nur in Fällen, in denen er gar nicht mit der Situation leben konnte, würde er eine Klärung mit Person A suchen. Diesen Ansatz finde ich bedenklich, da Person B sich nur um sich selbst dreht, Person A nicht die Möglichkeit hat etwas zu lernen und die Verantwortung für die Verarbeitung der Situation einseitig bei Person B liegt.

Wird dieses Schema der Selbstverantwortung alles Erlebten, egal was es sei, auf Menschen angewandt, die sich schon in einer Krise befinden, kann dies zu ihrem Zusammenbruch führen. Doch auch ohne diese Extreme ist es gefährlich. Eine Mitbewohnerin von mir sagt, egal wie andere mit ihr umgehen, meist „Das was da bei mir ausgelöst wird, hat nur mit mir zu tun. Das liegt alles an mir, ich muss sehen wie ich damit klar komme“. Sie zieht sich dann über Wochen verletzt zurück, statt den Konflikt mit der Person, die ihn ausgelöst hat, anzusprechen und zu klären. Sie schluckt jede Menge provokantes Verhalten eines anderen Mitbewohners und lässt es über sich ergehen. Dies führt im Alltag zu großen Spannungen und passiver Aggressivität.

Auch hier hat die provozierende Person zu wenig Feedback bekommen, die Mitbewohnerin hat alles auf sich genommen und sich mit dieser dogmatischen und verqueren Auslegung von Verantwortung möglicherweise noch mehr psychische Narben zugezogen.

In der gewaltfreien Kommunikation spielt die Verantwortung für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse eine große Rolle. Der Gedanke ist einfach. Wenn wir im Konsens gleichberechtigt Entscheidungen treffen wollen, ist es wichtig, dass jede Person Verantwortung für ihre eigenen Bedürfnisse übernimmt und diese äußert.

Wird dieses Selbstverantwortungsdenken jedoch zum Dogma, dann steht es herrschaftsfreiem Zusammenleben eher im Weg: Nicht jeder Mensch schafft es zu jedem Zeitpunkt gut Verantwortung für sich zu übernehmen. Das kann daran liegen, dass diese Person das aufgrund ihrer Sozialisation noch wenig geübt hat, daran, dass die Person gerade in einer depressiven Krise ist oder daran dass sie gerade voller Begeisterung an etwas ganz anderes denkt.

Ein „du musst immer Verantwortung für dich selbst übernehmen“ kann dann überfordernd sein. Nicht nur überfordernd. Auch Isolation spielt dabei eine Rolle. Dem Menschen, dem es gerade nicht gut geht, wird gesagt, er möge doch besser auf sich achten, für sich sorgen und für sich selbst Verantwortung für seine Bedürfnisse übernehmen. Das erinnert nicht nur an das kapitalistische „du bist für deinen Erfolg, deinen Lebensweg selbst verantwortlich, jeder Kummer, jedes Versagen ist dein Privatproblem und deine Schuld“, sondern steht auch der Idee eines sich gegenseitig unterstützenden solidarischen Miteinanders entgegen. Mehr noch: dogmatisches Selbst-Verantwortungsdenken lässt nicht nur die Person, der es mit einer Situation nicht gut geht, mit der Bewältigung alleine, sondern gibt den Auslösern der Situation zusätzlich weitgehende Narrenfreiheit, sich unreflektiert so zu verhalten wie sie es wollen. Denn nach dieser Denkweise ist nicht deren Handeln das Problem, sondern die Art und Weise, wie die andere Person dieses Handeln wahrgenommen hat und wie sie mit dem Wahrgenommenen umgegangen ist.

Extreme Beispiele für dogmatisches Selbstverantwortungsdenken hatten wir weiter oben schon: Eine Person, der in einer Pseudotherapiesitzung die Verantwortung für eine erfahrene Vergewaltigung zugeschoben wird. Hier noch zwei Beispiele aus meinem Projekt: Auf eine von mir geschilderte Beobachtung einer vergangenen Situation, die von mehreren Leuten so geteilt wurde, bekomme ich als Antwort „das hast du gehört“. Auf meinen Hinweis, dass die Redeweise einer Person auf mich gerade belehrend wirkt, antwortet diese „das kommt bei dir so an“.

Verquerer Umgang mit Verantwortung ist vor allem dann gefährlich, wenn sich Leute als Gurus aufspielen oder sonstige moralische Institutionen mit Macht entstehen, die Einfluss auf andere ausüben. Dann ist es möglich, dass diese systematisch dazu tendieren, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln abzustreiten und dafür anderen die Selbstverantwortung für den Umgang mit deren Handlungen aufzulasten. Beispiele gibt es von den vertuschten Kindesmissbrauchsfällen in der katholischen Kirche bis zu gezielten Provokationen auf Plena in linken Projekten im Namen einer „ich tue dem Projekt gut“-Mission einer Einzelperson.

Es ist wichtig, Relativierung und Verschiebung der Verantwortung von Handelnden zu den Empfängern von Handlungen zu erkennen, Menschen die unter einer Handlung leiden und denen zusätzlich Verantwortung dafür zugeschoben wird, zu unterstützen, und sich nicht den Mut nehmen lassen, Verhaltensweisen zu kritisieren. Verantwortung für das eigene Handeln und vergangenes Handeln ist in herrschaftsarmen Projekten wichtig. Ohne dies wird das Selbstverantwortungsdogma zum Herrschaftsinstrument.

2 Zum Schluss

In diesem Text habe ich einige Gefahren von elitären oder dogmatischen Formen von Spiritualität und Verhaltensmodifikation beschrieben. Spiritualität kann uns von unserem Menschsein entfremden, in dem sie uns menschliches und sinnerfülltes Miteinander ohne Spiritualität nicht zutraut. Spiritualität stabilisiert das kapitalistische System und andere, nicht auf kritischem Denken basierende Lebensweisen. Spiritualität regt das Leben in Parallelwelten an, was zu schwer klärbaren Konflikten mit Mitmenschen führt. Spiritualität fördert egozentrisches Denken und Eliten. Spiritualität schadet der Kritikfähigkeit. Spiritualität kann in einigen „freiheitlichen“ Ausprägungen Verantwortung für die Auswirkungen des eigenen Handelns ablehnen und Menschen in Isolation treiben.

Für herrschaftsarme Projekte ist es wichtig, dass sowohl Freiheit als auch Solidarität hoch gehalten werden und beide in einem Gleichgewicht stehen. Dies gilt vor allem für langfristige Projekte mit anarchistischem Selbstverständnis, deren Perspektive es ist, ein kleiner Teil einer Transformation in eine herrschaftsarme Gesellschaft zu sein. Solidarisches Verhalten kann ein revolutionärer Akt sein.

Anarchie ist Sozialismus und Freiheit in einem. Freiheit ohne Sozialismus besteht aus Privilegien und Sozialismus ohne Freiheit bedeutet Gewalt und Unterdrückung. (Bakunin)

Egozentrismus, Elite, mangelnde Kritikfähigkeit, Verneinung der Verantwortung für die Auswirkungen des eigenen Handelns stehen dem entgegen. Diese Verhaltensweisen schränken die Freiheit der anderen ein und sind unsolidarisch. Vielfalt zuzulassen ist gut und wichtig. Wenn Menschen in ihrem Verhalten jedoch die Freiheit anderer oder solidarischen Zusammenhalt außer Acht lassen, dann gilt es, dem entschieden entgegenzutreten. Wer unsolidarisch leben möchte, kann das gerne tun, aber bitte in anderen Projekten, in denen diese Art des Umgangs miteinander Konsens ist.

Spiritualität und Nationalstolz haben schon viele Konflikte und Kriege verursacht und tun dies auch aktuell noch. Das liegt daran, dass eine Gruppe von Menschen von sich selbst denkt, besser als andere, weiter entwickelt oder auf einer von Gott oder Schicksal gewollten Mission zu sein. Daraus folgt arrogantes und elitäres Verhalten und Diskriminierung, Hass und Gewalt gegen andere Menschengruppen.

Wir leben in einer Zeit mit vielen Konflikten, Krisen, Hunger und Armut wegen ungerechter Ressourcen Verteilung und perspektivisch möglicherweise lebensbedrohlicher Klimaveränderung wegen Umweltverschmutzung. Um da raus zu kommen, um ohne Eliten in Solidarität miteinander leben zu können und den drohenden Umweltkollaps zu verhindern braucht es keine elitären spirituellen Parallelwelten sondern Bodenständigkeit, kritisches Denken, gemeinsame wissenschaftliche Forschung, gegenseitige Unterstützung und, in einer Kommunikation die niemanden ausschließt, die Entwicklung von Zielen für die wir leben wollen.

2.0.0 Fragen an dich

Was bedeutet Spiritualität für dich? Versuchst du dein Verhalten zu modifizieren? Was treibt dein Handeln und Leben an? Wie triffst du Entscheidungen? Mit welchem Menschenbild betrachtest du deine Mitmenschen? Wie verhältst du dich gegenüber Menschen, die einen anderen spirituellen oder Verhaltensmodifikationsweg gehen als du, aber auch eine herrschaftsarme Gesellschaft anstreben? Wie viel Raum nehmen Spiritualität und Verhaltensmodifikation in deinem Leben ein? Wenn du Teil eines langfristigen Projekts bist, kannst du kontinuierlich, planbar, zuverlässig und verantwortungsvoll dazu beitragen oder gibst du eigenen Prozessen in jedem Fall Vorrang?

Ich hoffe, dass dieser Artikel Diskussionen anregt und dass er ermutigt, öfter „nein“ zu sagen, wenn überwiegend egozentrisches, spirituelles und auf eigene Prozesse konzentriertes Verhalten, langfristige Projekte belastet.



Entnommen am 23.12.2016 von http://transform.social/texte/eso/ dort finden sich im Text noch Videos, die hier entfernt wurden.