Titel: Anarchie oder Basisdemokratie?
Untertitel: Die Unvereinbarkeit von Anarchie und Basisdemokratie
AutorIn: Bergstedt, Jörg
Datum: Dezember 2006

Thesen zu zwei Begriffen, die immer wieder gleichgesetzt werden, aber aus zwei unterschiedlichen Ideologien stammen: Einmal der Organisierung von Herrschaft (Demokratie) und einmal der Herrschaftsfreiheit (Anarchie). Eigentlich …

Basisdemokratie und Anarchie werden häufig zusammen genannt, für viele Menschen fühlen sie sich als dasselbe an, d.h. die Menschen hängen beidem an. So sind Entscheidungsmethoden der Basisdemokratie in anarchistischen Zusammenhängen weit verbreitet – und sie werden auch als Entscheidungsmethode „der“ Anarchie propagiert in vielen einschlägigen, sich anarchistisch nennenden Zeitungen, Gruppen und Strömungen, ebenso in Büchern und Broschüren. Doch kann das sein? Die in der Praxis oft nervig langen Plena, endlosen Debatten und formsteif ausgeführte Konsensabstimmungen sind geradezu das Markenzeichen einer gelebten Anarchie? Die Lustkurve geht zwar bei all dem regelmäßig nach unten, aber offenbar muss mensch leiden für das Gute. Eine kritische Reflexion über Basisdemokratie und Anarchie fehlt dagegen fast immer. So bleibt unentdeckt, was These dieses Papieres ist: Basisdemokratie und Anarchie passen überhaupt nicht zueinander. Verknüpft werden sie nur in der Ideologie vieler (leider dominierender) Kreise mit dem A-Label und von denen, die deren Propaganda einfach übernehmen, weil es sich so gut anfühlt und die AnleiterInnen in den ach so horizontalen Plena mit Konsensprinzip das so nett-kuschelig-wohlfühlorientiert darstellen …

Vorweg muss aber klargestellt werden: Anarchie ist die Abwesenheit von Einheitlichkeit und Objektivität. Daher kann es auch keine alleingültige Definition geben und es ist unmöglich, eine endgültige Position zum Verhältnis von Anarchie und Basisdemokratie zu verfassen. Daher bietet das folgende nur einen Beitrag zur Debatte – subjektiv, thesenhaft, unvollständig. Mehr geht aber auch nicht – jedenfalls in einem herrschaftsfreien Raum. Alles ist Beitrag zur Debatte, alles bleibt offen, alles entwickelt sich und niemand hat die Möglichkeit (und erst recht nicht das Recht – denn das wäre abgeschafft), die Wahrheit zu setzen.
Allerdings reichen die Ausführungen, um offensive Fragen zu stellen an die, die ständig (und ohne weitere Begründung) die Behauptung aufstellen, basisdemokratisches Entscheiden sei gelebte Anarchie. Sie machen damit ein Paradox auf: Sie behaupten, für eine herrschaftsfreie Welt sei das Verfahren prägend, wie kollektiv entschieden wird. Dabei wird in einer herrschaftsfreien Welt nicht kollektiv entschieden – oder es ist keine herrschaftsfreie Welt. Dass aber eine kollektiv-entscheidungsfreie Welt ausgerechnet daran zu erkennen sein soll, wie diese kollektive Entscheidung abläuft, ist absurd ..

These 1. Anarchie und Basisdemokratie passen nicht zueinander

Entgegengesetzt der meist formulierten Positionen und der gelebten Praxis halte ich Basisdemokratie für ein Herrschaftssystem. Sie ist, das gibt schon das Wort her, eine Form der Demokratie. Demokratie aber ist Volks-Herrschaft oder, auf kleineren Maßstab angewendet, die Herrschaft des Kollektivs als Ganzes. Das ist im großen Rahmen das „Volk“ (mit der Besonderheit, dass dieses erst frei erfunden wird), im kleineren „die Gruppe“, „das Camp“ oder was auch immer – aber immer als Kollektiv, d.h. als handelnde Einheit, gedacht. Damit tritt das Kollektiv konkurrierend den Einzelnen und deren Kooperationen gegenüber: Ressourcen an Aufmerksamkeit, Durchsetzungskraft usw. werden zwischen ihnen verteilt. Anarchie kann das nicht sein, den ein herrschaftsfreier Raum ist mit der Existenz eines über oder auch nur neben den Einzelnen und ihren Kooperationen stehenden Subjekts mit Handlungskompetenzen nicht vereinbar. Folglich kann Basisdemokratie nicht Teil der Anarchie sein, denn das eine stammt aus einer Welt der Macht und Herrschaftsmethoden, das andere ist eine Idee der Herrschaftsfreiheit.

These 2: Anarchie ist Abwesenheit kollektiver Entscheidungsfindung

Kollektive Entscheidungsfindung bedeutet, dass innerhalb einer nicht für einen konkreten Zweck entstandenen Runde von Menschen Entscheidungen getroffen werden, die für alle gelten – auch für die, die sie nicht gut finden, die sich an der Entscheidung nicht beteiligt haben, noch nicht da waren (später gekommen, geboren, ... ). Kollektive Entscheidungsfindung dienen der Konstruktion eines „Wir“ und einer für alle im konstruierten Kollektiv geltenden, d.h. genormten Verhaltensweise. Anarchie verträgt sich mit der Konstruktion eines „Wir“ nicht, weil dieses niemals die Vielfalt selbstbestimmter Menschen und ihrer Kooperationen, Gruppen usw. widerspiegeln kann. Daher kann Anarchie nur dort existieren, wo auf die Konstruktion des Kollektivs als Einheit und die dort hin führende kollektive Entscheidungsfindung verzichtet ist. Alles, was ist, ist die Entscheidung der Menschen und die Kooperation zwischen ihnen ohne Anspruch auf Vertretung anderer oder Schaffung eines überindividuellen „Wir“ als Kollektivsubjekt. Unter Abwesenheit von Herrschaft würden vielfältige, sich überlagernde offene Systeme (Räume, Netzwerke, Kommunikationsnetze, soziale Gruppen, ...) entstehen, die eine Entscheidungsfindung immer nur (wenn überhaupt) zu konkreten Fragen und in der dann dazu passenden Zusammensetzung von Menschen herbeiführen. Das aber wäre dann Entscheidung in der Kooperation, d.h. niemand ist gezwungen, sich dem zu unterwerfen – es gibt kein gedachtes Kollektiv.

3 Zur Kollektivität
These 3a: Die Basisdemokratie ist kollektive Entscheidungsfindungen

Demokratie ist ein System des Treffens von Entscheidungen. Dabei wird zwischen verschiedenen Formen der Demokratie entschieden, die sich hinsichtlich der Methode der Entscheidungsfindung unterscheiden, aber immer den Kern kollektiver Entscheidungsfindung aufweisen. D.h. es wird von einem Gremium oder in einem Abstimmungsgang eine Entscheidung gefällt mit dem Anspruch, dass diese für alle bzw. für die in der Abstimmung definierten Menschen zu gelten hat - ob die wollen oder nicht. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Menschen, auch der betroffenen, sind je nach Form der Demokratie (repräsentative, direkte, Basisdemokratie ...) verschieden, in allen aber besteht keine Möglichkeit; sich dem grundsätzlich zu entziehen. Demokratie steht immer für eine Totalität des Anspruchs auf Entscheidung. Ob demokratisch gewählte Regierung, Volksabstimmung der direkten Demokratie oder Plenumsbeschluss im Konsens - das Ergebnis gilt für alle, auch die, die sich nicht beteiligen. Zwar gibt es Abwandlungen, in denen unklar ist; ob tatsächlich der Anspruch auf Zuständigkeit für alle erhoben wird, dann aber wird nicht eine erweiterte Form der Demokratie betrieben, sondern keine mehr. Werden z.B. Entscheidungen aus den zentralen Gremien in kleinere Treffen verlagert; die dann aber auch nur noch für sich entscheiden, so wächst Autonomie - und die ist vom Prinzip her nicht mehr demokratisch. Demokratie ist die mehr oder weniger entfaltete Selbstbestimmung des Kollektivs als Kollektiv. Die Selbstbestimmung der Einzelnen für sich und in der Gestaltung der gesellschaftlichen Interaktion ist demgegenüber nicht mehr demokratisch.

These 3b: Anarchie ist die Abwesenheit von Kollektivität

Ob Regierung, Parlament, Vorstand oder Plenum – immer beziehen sich diese Gremien auf eine Kollektivität, d.h. Eine Menge von Menschen, die als Ganzes entscheidet und Regeln und Normen festlegt, die dann auch für die Einzelnen gelten, die als Teil der Gesamtheit gedacht werden. Das macht von der Logik her nur Sinn, wenn auch erwartet wird, dass die aufgestellten Regeln und Normen eine Wirkung haben, d.h. befolgt werden oder im Zweifelsfall auch durchgesetzt werden können.

Beispiele zu 3:

  • Abstimmungsprozesse aller Art, die in Verbänden, auf Camps usw. Verhalten vereinheitlichen, z.B. Programmabläufe, Ernährungsformen, sog. Gemeinsame Aktionen und mehr.

  • Vertretung des Ganzen nach außen, d.h. Pressetexte, -erklärungen, -kontakte im Namen eines Verbandes, einer Gruppe oder eines Camps, Vertretung gegenüber Behörden, EigentümerInnen usw.

4 Zur Stellvertretung
These 4a: Rätemodelle sind immer Stellvertretung und meistens Steuerung von Informationen und Diskursen

Neben Basisdemokratie, zum Teil auch verbunden mit basisdemokratischen Elementen, werden Rätesysteme als Möglichkeit für herrschaftsfreies Entscheiden vorgeschlagen. In den Räten soll ein imperatives Mandat herrschen, d.h. die dort Handelnden sind an die Beschlüsse derer, die sie vertreten, gebunden. Ob das funktionieren kann, ist die eine Frage, denn der Rückfluss an Informationen aus dem Geschehen in den Räten entscheidet darüber, ob die Vertretenen ihre Vorgabe erfüllt sehen. Steuerung über Information ist aber ein Mittel der Herrschaft und wirkt der tatsächlichen Möglichkeit imperativer Mandatierung entgegen. Zum zweiten aber ist schon in der Logik auch des imperativen Mandat die Stellvertretung integriert. Auch das ständige Recht, die Person jederzeit abzuberufen, hebelt Stellvertretung nicht aus, sondern begrenzt sie nur in der zeitlichen Dimension. Die Privilegierung in der Phase, in der die Stellvertretung andauert, ist dennoch vorhanden und sichert sich selbst über die Steuerung der Informationsflüsse ab. Was über die Vorgänge in den Räten nach außen dringt, unterliegt der privilegierten Beeinflussung durch die Personen in diesen Räten. Noch bedeutender ist ihr Einfluss auf die Diskurse, d.h. über das, was allgemein als wahr angenommen wird: Welche Probleme liegen vor? Was sind die Ursachen? Wer ist schuld? Gibt es eine Krise und welche? All das sind Diskurse, die in einer Gesellschaft ständig wirken und deren Steuerung in den modern-medialen sozialen Systemen der wichtigste Machtfaktor darstellt. Bestehen hier Privilegien, ist Horizontalität weit weg. Räte schaffen solche Privilegien, weil die Aufmerksamkeit für deren Handlungen höher ist als für die anderer.

These 4b: Anarchie ist die Abwesenheit von Stellvertretung

Herrschaftsfreiheit besteht nur dort, wo gar keine Stellvertretung besteht, d.h. alle Menschen nur für sich reden und direkte Vereinbarungen schließen. Das schließt komplexe Absprachevorgänge nicht aus – jedoch handeln auch in komplexen bzw. überregionalen Kooperationen die Tätigen nie im Namen anderer, sondern für sich. Im günstigsten Fall stellen sie ständig Transparenz her, so dass andere, die betroffen sind,sich wiederum direkt einmischen können. Sie können dabei Einzelne ansprechen, sie als Kontaktpersonen nutzen, aber niemals werden diese zu ihren VertreterInnen.


Beispiele zu 4:

  • Auf verschiedenen sog. Delegiertentreffen in sozialen Bewegungen (z.B. Deli-Strukturen in der Anti-Atom-Bewegung) sind Kriterien für den Delegiertenstatus gar nicht festgelegt. Dennoch wird mit der Zuweisung dieses Status über die Anwesendheitsberechtigung von Menschen entschieden.

  • Gleichzeitig werden Informationen aus den Treffen gefiltert nach außen abgegeben, d.h. eine unabhängige Kontrolle der Tätigkeit von Delegierten ist für die von ihnen Vertretenen gar nicht möglich. Die Macht der Informationshierarchie wirkt.

These 5: Basisdemokratie braucht Innen und Außen

Jede demokratische Abstimmung braucht eine Definition darüber, wer mitstimmen darf oder nicht. Die Übergänge können zwar fließend sein, aber nicht gänzlich verschwinden, weil jede Versammlung, die als Kollektivsubjekt handelt, zumindest hinsichtlich der Frage, wer davon informiert bzw. eingeladen wird und somit auch nur mitstimmen kann, einer Festlegung bedarf. Damit entsteht immer ein „Innen“ und „Außen“, also die Dazugehörenden und die nicht Dazugehörenden. In der Praxis basisdemokratischer Bewegungen wird zwar oft intern die Gleichberechtigung erhöht, aber es entsteht regelmäßig eine sehr deutliche Konstruktion von Innen und Außen. Es gibt nicht nur eine bestimmte Logik der Einladung zur Versammlung, sondern ständig sogar die konkrete Ausgrenzung von als nicht zugehörig definierten Personen – also über das Privileg des Eingeladenseins hinaus.


Beispiele zu 5:

  • Auf einem Camp beschwerte sich ein Anwohner über die Lautstärke. Er war dafür (basisdemokratisch betrachtet völlig korrekt) zum Plenum gekommen und trug sein Anliegen vor. Er wurde aber als nicht zum Camp dazugehörend definiert und sein Anliegen übergangen. So zeigte sich ein deutliches Innen und Außen – und wer wann wie entschieden hatte, wer dazugehört und nicht, war zudem unklar.

  • Auf einem anderen Camp wurden Nazis ausgeschlossen. Doch kollektive Entscheidung kann die Auslegung und Definition im Einzelfall nicht Ersetzen, sondern legitimiert „nur“ machtförmiges Handeln. Als Folge des Beschlusses zur Ausgrenzung von Menschen entwickelte sich eine zum Teil abenteuerliche Praxis am Kontrollpunkt (!) am Eingang, wer als Nazi definiert wurde und wer nicht. Das Aussehen spielte dabei die wichtigste Rolle.

These 6: Basisdemokratie braucht und schafft vereinheitlichte Fragestellungen

Analyse von Herrschaft muss genau analysieren. Dann fällt auf, dass nicht nur mit der Abstimmung als Kollektiv massive Strukturierungsprozesse in einer (eigentlich) vielfältigen Menge an Menschen ablaufen, sondern das alles schon zu einer Vereinheitlichung zwingt hinsichtlich der Fragestellung. Abstimmen kann mensch nur über etwas, was abstimmungskonform formuliert wird. Soziale Fragen werden damit auf Abstimmungsfähigkeit reduziert, wobei Komplexität und auch die unterschiedlichen Sichtweisen der vielen Einzelpersonen auf das Thema verloren gehen. Wenn über etwas abgestimmt werden soll, muss es halt um „Ja“ oder „Nein“ gehen – auch wenn der Abstimmungsprozess so organisiert sein sollte, dass diese beiden Positionen im Diskussionsverlauf änderbar sind. Es bleibt der Druck, die Lösung von Fragen immer im Rahmen der Abstimmungsfähigkeit zu halten – und nicht als offenes System, ungeklärt, dynamisch, unterschiedlich interpretiert. Die Vereinheitlichung der Fragestellung verschärft die Tendenz von Einheit und Kollektiv, sie schafft Identität, Gruppe, Geborgenheit.
Die Wichtigkeit der Formulierung einer Frage in kollektiven Entscheidungsprozessen birgt noch eine andere Gefahr: Hier werden Machtkämpfe ausgetragen. Wer sich dabei durchsetzt, wie eine zur Abstimmung stehende Frage formuliert wird, hat entscheidenden Einfluss auf das Geschehen genommen. In den ganzen Erklärungen zur Basisdemokratie kommt dieser Punkt jedoch regelmäßig gar nicht vor. Das ist entweder ein Defizit an kritischem oder Taktik, weil sich diejenigen, die wissen, wie wichtig die Fragestellung ist, einen Durchsetzungsvorsprung vor denen behalten, die das nicht klar haben und deshalb entscheidende Phasen der Abstimmung nicht aufpassen ...

7 Zu offenen Räumen
These 7a: Basisdemokratie schafft soziale Räume mit definierten Aufenthaltsberechtigungen

Der Sinn basisdemokratischer Entscheidung ist, soziale Räume (Orte, Netzwerke, virtuelle Räume, Aktionen, Veranstaltungen, ...) mit vereinheitlichten Regeln zu schaffen. Diese können nur Einzelpunkte betreffen und grundsätzliche Verhaltensnormen. Sinn der Entscheidungsfindung ist die daraus entstehende Erwartungshaltung, dass die Menschendsn für die konkret zusammen Handelnden gilt. Plena, Regierungen, Koordinierungskreise, Vorstände usw. Entscheiden aber regelmäßig nicht nur für sich, d.h. die Anwesenden, sondern für alle, das Kollektiv aller Menschen, in deren Struktur das Gremium agiert.

These 7b: Anarchie ist dort, wo Schranken und Grenzen fehlen, wo alles offene Systeme sind

Das Festlegen von Bedingungen für den Aufenthalt von Menschen in einem sozialen Raum ist ein Akt der Herrschaft. Es muss dafür privilegierte Kreise oder Gremien geben, die das „Recht“ haben, diese Bedingungen festzulegen und auch durchzusetzen. Anarchistisch ist nur der offene Raum, d.h. das Treffen, das Gebäude, der Prozess oder das Projekt, in das alle Menschen frei eintreten können und über Konflikte kommunikative Prozesse ohne jegliche Vorbedingungen ausgetragen werden. Das bedeutet nicht die Abwesenheit von Veränderungsprozessen, sie werden aber immer zwischen Menschen in einem horizontalen Verhältnis miteinander ausgehandelt, nie über Gremien oder aus privilegierten Positionen heraus. Räume, Netzwerke, Kommunikationsnetze und vieles mehr sind offene Systeme, in denen es keine vereinheitlichten Regeln gibt, sondern im Fall von Krisen, Unbefriedigung und als Reaktion auf alltägliche Übergriffe, Einschüchterungen, Diskriminierungen oder Zugangsbeschränkungen die kommunikative Reaktion, die direkte Intervention und die offene Debatte – aber ohne kollektive Entscheidung.

8 Über die Medien
These 8a: Basisdemokratie bedeutet Regeln und Entscheidungen in Medien

Am Beispiel von Medien ist der Unterschied gut erkennbar. Basisdemokratie sind Zeitungen, Internetplattformen u.ä., bei denen die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung usw. von den Beteiligten am Projekt entschieden werden. Basisdemokratie ist dabei der Verzicht auf Obrigkeit und Mehrheitsabstimmung. Konsens und gleichberechtigte Beteiligung aller Projektmitglieder an den Entscheidungen prägen das Geschehen.

These 8b: Anarchie in den Medien bedeutet offene Plattformen das ExpertInnentum von allen in ihrer Kommunikation

Anarchie bedeutet Herrschaftsfreiheit. In Medien müsste das bedeuten, dass Medien als offene Plattformen organisiert werden. Die NutzerInnen des Mediums werden zu gleichberechtigten GestalterInnen. Einige wenig Beispiele aus dem Internet zeigen, wie das in der Wirklichkeit aussehen könnte, z.B. Wikis und Indymedia. Printmedien, freie Radios u.ä. könnten durchaus solche Elemente verwirklichen. Sie tun es aber fast überall nicht – ein Zeichen dafür, dass es anarchistische Zeitungen gar nicht gibt, auch wenn sich einige so nennen.


Beispiele zu 8:

  • Dieser Text (ältere Fassung) wurde in zwei sich anarchistisch nennenden, tatsächlich aber basisdemokratischen (wenn überhaupt) Zeitungen zensiert. DA und GWR begründeten das auch offensiv damit, dass sie kein Interesse hätten, Texte mit abweichenden Positionen zu ihren Ideologien zu veröffentlichen. Solche Zeitungen sind – wie die meisten linken Medien – Sprachrohre kleiner elitärer oder beauftragter/repräsentierender Kreise. Wegen der Basisdemokratie reicht bereits ein Veto um den Text zu stoppen und eine solche Ablehnung als Meinung des Kollektivs nach außen zu vertreten.

  • Das Projekt „Indymedia“ ist (von den noch vorhandenen Zensurstrukturen abgesehen ein solches Medium, bei denen MacherInnen und NutzerInnen ähnliche Gestaltungsmöglichkeiten haben. Die sogenannten „Wikis“ im Netz sind Seiten, die von den BetrachterInnen ebenso verändert oder erweitert werden können wie von denen, die eine Internetseiten anlegen. Beide Projekte sind tatsächlich hoch umkämpfte Räume, weil die GegnerInnen offener Systeme (in linken Bewegungen wie erst recht im Rest der Gesellschaft klar dominierend) selbige immer wieder bekämpfen oder dann, wenn das nicht geht, erhebliche Ressourcen einsetzen, um diese dann wenigstens zu dominieren (z.B. werden bei Wikipedia fast alle Seiten zu führenden PolitikerInnen von deren MitarbeiterInnenstab ständig kontrolliert und Kritisches entfernt). Dass sie aber solche Kapazitäten investieren müssen, zeigt dass der Raum grundsätzlich offener ist als andere. Würde sich die Zahl offener Systeme vergrößern, wäre diese Strategie schnell am Ende.

9 Über (Fremd-)Orientierung
These 9a: Basisdemokratie schafft ein „Wir“, erzeugt Einheit und Geborgenheit – das macht sie erfolgreich

Die Zurichtung im Leben eines Menschen (Erziehung, Bildung, soziales Umfeld, Medien ...) bringt fast alle Menschen dazu, sich selbst lieber als Rädchen im System zu begreifen statt eines selbstbewussten, selbst handelnden Individuums, dass sich soziales Umfeld und Kooperationsebenen selbst wählt. So enden fast alle in vorgegebenen Rollen (Haushalt, Kindererziehung, Job, Jobsuche, Ausbildung, ...). Da sie Selbstständigkeit nicht gelernt haben, fühlen sie sich in Räumen mit vorgegebenen Orientierungen wohl. Entsprechend erfolgreich ist die Basisdemokratie als Strategie von Entscheidungsfindung in politischen Bewegungen. Mensch will was anderes als „die da oben“, aber es darf eben keine ungewohnten Lebensverhältnisse schaffen. Basisdemokratie schafft Einheit, Geborgenheit und ein kollektives „Wir“. Damit kommt sie den erzeugten Bedürfnissen der unter den realen Verhältnissen aufgewachsenen Menschen entgegen. Auch „Linke“ suchen Orientierung von außen statt dem offenen Prozess, in dem sie immer wieder ihre eigene Position finden oder klären müssten.

These 9b:Offene Systeme geben keine Orientierung – das macht sie unbeliebt

Was für die Basisdemokratie Vorteile schafft angesichts der auf Unselbständigkeit zugerichteten Menschen, ist für die Anarchie zu Zeit immer schnell das Ende. Offene Systeme, in denen die Menschen selbst agieren, für sich entscheiden, sich positionieren, selbst handeln und intervenieren (z.B. bei Krisen oder Übergriffen) müssen, sind fremd, bereiten Angst, erzeugen Unsicherheit. Wer aber Welt verändern und bisherige Normalität brechen will, kommt darum nicht herum. Statt nun den Rückzug in eine neue Geborgenheit und Kollektivität zu organisieren, wäre es an der Zeit, den gewollten Bruch mit dem bisher Üblichen und (Fremd-)Orientierung Gebenden auch offensiv zu organisieren – von Methoden der Kooperationsanbahnung und Organisierung über offene Räume und offenen Zugang zu allen Ressourcen bis zu Refelxion, Seminaren und mehr, deren Ziel das Hinterfragen der Normalität, das Entwickeln von Utopien und das Aneignen von Know-How im selbstorganisierten Leben ist.

Fazit

Basisdemokratie und Anarchie unterscheiden sich in mehreren grundlegenden Punkten. Herrschaftsfrei ist nur die Abwesenheit, kollektiver Identität, Einheitlichkeit und daher der Verzicht auf kollektive Entscheidungsfindung. Basisdemokratie ist eine Methode, die Entscheidungsfindung aller für alle gleichberechtigter zu organisieren. Sie schafft Kollektivität und kollektive Entscheidung aber nicht ab. Jenseits der Kritik auch im Detail an Konsens, Vetorecht, der Einteilung an „Innen“ und „Außen“ usw. ist dieser Unterschied zwischen Abwesenheit des Kollektiven (Anarchie) und anderer Organisierung des Kollektivs (Basisdemokratie) zentral. Basisdemokratie schafft tendenziell eine Vereinheitlichung. Das immer angeführte Argument, das Vetorecht würde gerade die abweichenden Meinungen stärken, wirkt sich anders aus als meist behauptet. Tatsächlich zwingt das zu Annäherungen der Unterschiedlichkeit und Kompromissen. Die Dynamik von Streit und Vielfalt wird verringert – stärker sogar als in der Mehrheitsdemokratie, wo es Abstimmungsschlachten zwar ebenfalls Einheitlichkeit nach außen schaffen und krasse Dominanzen fördern, aber die Minderheiten bleiben erkennbar – auch für sich selbst als interne Opposition. Basisdemokratie hat die Tendenz, die Unterschiedlichkeit zu verschleiern und das „Wir“ zu stärken.
Eine anarchistische Gesellschaft wird nur entstehen, wen Stück für Stück kollektive Entscheidungsfindung und ihre Durchsetzung aus der Gesellschaft verdrängt werden. Horizontalität aller Menschen, d.h. gleiche Handlungsmöglichkeiten und die Steuerung von Prozessen über freie Vereinbarung statt Entscheidungsfindung wären das Ziel. Konkrete Projekte wie Medien, alternative Lebensprojekte, Betriebe oder Lernorte von unten haben die Chance, Experimentierflächen zu sein für den Verzicht auf kollektive Regeln, Vorbedingungen oder Entscheidungsfindung. Dann wäre Anarchie nicht nur eine Werbephrase, eben eine Mogelpackung für Basisdemokratie, sondern zumindest als Ziel der Versuch eines Ausgangs auch der „Linken“ aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, sprich: Der Unterwerfung unter das Kollektive.