John Zerzan
Das Unbehagen der Zeit
Die Dimension der Zeit scheint gerade große Aufmerksamkeit zu erregen, wenn man sich die Zahl der jüngeren Filme, die sich damit beschäftigen, ansieht, so wie Zurück in die Zukunft, Terminator, Peggy Sue heiratet, usw. Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit (1989) war ein Bestseller und wurde, noch überraschender, als Verfilmung beliebt. Bemerkenswert sind neben der Zahl der Bücher, die sich mit Zeit beschäftigen, die große Zahl derer, die das nicht wirklich tun, die aber dennoch das Wort in ihrem Titel führen, so wie Virginia Spates Die Farbe der Zeit: Claude Monet (1992). Solche Referenzen, auch wenn sie nur indirekt bestehen, haben mit dem plötzlichen, panischen Bewusstsein für Zeit zu tun, dem angsteinflößenden Sinn dafür, dass wir an sie gefesselt sind. Zeit ist zunehmend eine Haupterscheinungsform der Entfremdung und Erniedrigung, die das moderne Dasein ausmachen. Sie beleuchtet die gesamte, entstellte Landschaft und wird das nur umso schriller tun, bis diese Landschaft und all die Kräfte, die sie formen, bis zur Unkenntlichkeit verändert sind.
Dieser Beitrag zu dem Thema hat nur wenig mit der Faszination für die Zeit von Filmemacher*innen oder TV-Produzent*innen zu tun und auch nicht mit dem derzeitigen akademischen Interesse an geologischen Konzeptionen von Zeit, der Geschichte von Uhrentechnologie und der Soziologie der Zeit und genausowenig mit persönlichen Beobachtungen und Ratschlägen hinsichtlich ihres Gebrauchs. Weder die Perspektiven der Zeit noch ihre Auswüchse verdienen so viel Aufmerksamkeit wie die innere Bedeutung und Logik der Zeit. Angesichts der Tatsache, dass der verblüffende Charakter der Zeit John Michons Einschätzung zufolge »beinahe zu einer intellektuellen Obsession« geworden ist, ist die Gesellschaft doch förmlich unfähig, mit ihr umzugehen.
Mit der Zeit widmen wir uns einem philosophischen Rätsel, einem psychologischen Mysterium und einem Geduldspiel der Logik. Es überrascht nicht, wenn man die enorme Verdinglichung, die hier im Spiel ist, bedenkt, dass manche ihre Existenz angezweifelt haben, seit die Menschheit damit begann »die Zeit selbst« von den sichtbaren und greifbaren Veränderungen auf der Welt zu unterscheiden. Wie Michael Ende (1984) sagte: »Es gibt auf der Welt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.«
Aber was genau ist »Zeit«? Spengler erklärte, dass es niemandem erlaubt sein sollte, danach zu fragen. Der Physiker Richard Feynman (1988) antwortete, »Fragen Sie nicht mich. Es ist einfach zu anstrengend darüber nachzudenken.« Empirisch ebenso wie in der Theorie stellt es sich als unmöglich heraus, das Dahinfließen der Zeit zu beweisen, da kein Instrument existiert, das ihr Verstreichen messen kann. Aber warum haben wir so ein starkes Gefühl, dass die Zeit vergeht, unvermeidlich und in eine bestimmte Richtung, wenn sie es eigentlich gar nicht tut? Warum hat diese »Illusion« eine so große Macht über uns? Wir könnten ebensogut fragen, warum die Entfremdung eine solche Macht über uns hat. Das Verstreichen der Zeit ist uns aufs engste vertraut, das Konzept der Zeit spöttisch schwer zu fassen; warum sollte uns das bizarr erscheinen in einer Welt, deren Fortbestehen auf der Mystifizierung ihrer grundlegendsten Kategorien basiert?
Wir sind der Manifestation der Zeit so sehr gefolgt, dass sie wie eine natürliche Gegebenheit wirkt, eine Macht, die für sich existiert. Dass der Sinn für Zeit – die Akzeptanz von Zeit – wächst, ist ein Anpassungsprozess an eine immer weiter verdinglichte Welt. Es ist eine konstruierte Dimension, der elementarste Aspekt von Kultur. Die unaufhaltsame Natur der Zeit bildet die ultimative Grundlage für Herrschaft.
Je tiefer wir in die Zeit eintauchen, desto schlimmer wird es. Wir leben Adorno zufolge in einem Zeitalter des Zerfalls der Erfahrung. Der Druck der Zeit, wie der ihres wesentlichen Erzeugers, der Arbeitsteilung, zersetzt und zerstreut alles, was davor war. Einförmigkeit, Gleichwertigkeit und Vereinzelung sind Nebenprodukte der scharfen Macht der Zeit. Die Schönheit und Bedeutsamkeit, die dem Fragment der Welt innewohnt, das noch-keine-Kultur ist, rückt unter einer einzigen kulturübergreifenden Uhr ihrer Auslöschung immer näher. Paul Ricœurs Versicherung, dass »wir nicht in der Lage dazu sind, ein Modell von Zeit zu erzeugen, das zugleich kosmologisch, biologisch, historisch und individuell ist«, scheitert daran zu bemerken, das diese alle auf das Gleiche hinauslaufen.
Hinsichtlich dieser »Fiktion«, die all die Formen der Gefangenschaft begleitet und aufrechterhält, »ist die Welt voller Propaganda, die ihre Existenz behauptet«, wie Bernard Aaronson (1972) es so treffend formuliert hat. »Jedes Bewusstsein«, schreibt die Dichterin Denise Levertov (1974), »ist ein Bewusstsein der Zeit« und zeigte damit nur, wie tiefgreifend wir durch die Zeit entfremdet sind. Wir sind unter ihrem Zepter straff reglementiert worden, ebenso wie die Zeit und die Entfremdung fortfahren, ihr Eindringen in und ihre Entwürdigung des täglichen Lebens zu vertiefen. »Bedeutet das«, wie David Carr (1988) fragt, »dass der ›Kampf‹ des Daseins darin besteht, die Zeit selbst zu überwinden?« Es könnte sein, dass genau dies der letzte Feind ist, der besiegt werden muss.
Um diesen allgegenwärtigen und doch gespenstischen Gegner anzupacken, ist es vielleicht einfacher, zu sagen, was Zeit nicht ist. Sie ist aus recht offensichtlichen Gründen nicht gleichbedeutend mit Veränderung. Weder ihre Sequenz noch ihre Anordnung der Abfolge. Pawlows Hund zum Beispiel musste lernen, dass auf das Klingeln der Glocke die Fütterung folgte; wie hätte er sonst konditioniert werden können, bei diesem Geräusch zu geifern? Aber Hunde besitzen kein Bewusstsein für Zeit, also kann vom Davor und dem Danach nicht gesagt werden, dass es die Zeit konstituiere.
Auf gewisse Art und Weise damit verbunden sind die Versuche unser beinahe unentrinnbares Zeitgefühl nachzuweisen. Der Neurologe Gooddy (1988) beschreibt dieses in der Tradition Kants, als eine unserer »unbewussten Annahmen über die Welt«. Einige haben es kaum hilfreicher als ein Produkt der Vorstellungskraft beschrieben und der Philosoph J. J. C. Smart (1980) entschied, dass es ein Gefühl sei, das aus »metaphysischer Verwirrung entsteht«. McTaggart (1908), F. H. Bradley (1930) und Dummett (1978) waren unter den Denker*innen des 20. Jahrhunderts, die sich wegen ihrer logisch-widersprüchlichen Eigenschaften gegen die Existenz der Zeit entschieden haben, aber es scheint relativ klar zu sein, dass die Existenz der Zeit viel tieferliegende Gründe hat als bloße mentale Verwirrung.
Es gibt nichts auch nur entfernt ähnliches zu Zeit. Sie ist ebenso unnatürlich und doch universell wie Entfremdung. Chacalos (1988) weist darauf hin, dass die Gegenwart eine Vorstellung ist, die ebenso rätselhaft und undurchdringlich wie die Zeit selbst ist. Was ist Gegenwart? Wir wissen, dass immer Jetzt ist, man ist auf eine weitreichende Art und Weise in ihr gefangen und kann keinen anderen »Abschnitt« der Zeit erleben. Wir sprechen dennoch selbstbewusst von anderen Abschnitten, die wir »Vergangenheit« und »Zukunft« nennen. Aber wohingegen Dinge, die im Raum anderswo als hier existieren, fortfahren zu existieren, esxistieren Dinge, die nicht jetzt existieren, wie Sklar (1992) beobachtet, eigentlich überhaupt nicht.
Die Zeit verstreicht notwendigerweise; ohne ihr Verstreichen gäbe es überhaupt kein Gefühl für Zeit. Was auch immer dahinströmt, verrinnt jedoch im Hinblick auf Zeit. Zeit verstreicht demnach in Relation zu sich selbst, was bedeutungslos ist, denn nichts kann in Relation zu sich selbst verstreichen. Es gibt kein Vokabular für die abstrakte Erläuterung von Zeit außer eines, in dem Zeit bereits vorausgesetzt wird. Was notwendig ist, ist alles Gegebene in Frage zu stellen. Metaphysik, der die Arbeitsteilung von Anfang an eine Begrenztheit auferlegt hat, ist zu begrenzt für eine solche Aufgabe.
Was verursacht, dass Zeit verstreicht, was bewegt sie in Richtung der Zukunft? Was auch immer es sein mag, es muss jenseits unserer Zeit liegen, tiefer und machtvoller sein. Es muss, wie Conly (1975) erkannt hat, »von elementaren Kräften, die kontinuierlich wirken« abhängen.
William Spanos (1987) hat bemerkt, dass bestimmte lateinische Worte für Kultur nicht nur Landwirtschaft oder Domestizierung bezeichnen, sondern auch Übersetzungen griechischer Ausdrücke für das räumliche Bild von Zeit sind. Wir sind nach Alfred Korzybskis Lexikon (1948) im Grunde »Zeit-Binder« ; die Spezies, die dieser Charakteristik zufolge eine symbolische Kategorie des Lebens schafft, eine künstliche Welt. Zeit-Binden äußert sich selbst in einer »enormen Zunahme der Kontrolle über die Natur«. Zeit wird real, weil sie Konsequenzen hat und diese Wirksamkeit war nie zuvor schmerzlicher wahrnehmbar.
Von Leben wird in seinen gröbsten Konturen von einer Reise durch die Zeit gesprochen; dass es eine Reise durch die Entfremdung ist, ist das offenste aller Geheimnisse. »Die Uhr schlägt keinem Glücklichen«, lautet ein deutsches Sprichwort. Einst bedeutungslos ist die verstreichende Zeit nun der unentrinnbare Herzschlag, der uns einschränkt und in Schranken hält, indem er blinde Autorität selbst widerspiegelt. Guyau (1890) bestimmte den Fluss der Zeit als »die Unterscheidung zwischen dem, was eine*r braucht und dem, was eine*r besitzt« und demnach »der Auslöser für Bedauern«. Carpe Diem [1] rät die Maxime, aber die Zivilisation zwingt uns, andauernd die Gegenwart an die Zukunft zu verpfänden.
Die Zeit zielt beständig auf eine größere Strenge der Regelmäßigkeit und Allgemeingültigkeit ab. Die technologische Welt des Kapitals, die ihren Fortschritt danach entwirft, kann ohne sie nicht existieren. »Die Bedeutung der Zeit«, schrieb Bertrand Russell (1929), liegt »vielmehr in der Beziehung zu unseren Sehnsüchten als in der Beziehung zur Wahrheit.« Es gibt eine Sehnsucht, die ebenso greifbar ist, wie es die Zeit geworden ist. Die Verleugnung des Verlangens kann nicht genauer geeicht werden als durch das enorme Konstrukt, das wir Zeit nennen.
Zeit ist ebenso wie Technologie niemals neutral; sie ist, wie Castoriadis (1991) richtigerweise urteilte, »immer mit Bedeutung versehen«. Alles, was Kommentator*innen wie Ellul über Technologie gesagt haben, lässt sich tatsächlich auch auf Zeit übertragen, sogar noch tiefgreifender. Beide Gegebenheiten sind durchdringend, allgegenwärtig, grundlegend und im Allgemeinen als gegeben betrachtet, wie Entfremdung selbst. Zeit ist wie die Technologie nicht nur eine determinierende Tatsache, sodern auch das umschließende Element, in dem sich die eingeteilte Gesellschaft entwickelt. Ähnlich fordert sie, dass ihre Subjekte fleißig, »realistisch«, ernsthaft und vor allem der Arbeit ergeben sind. Sie ist in ihrer Gesamterscheinung eigenständig wie die Technologie; sie schreitet bis in alle Ewigkeit voran in ihrem eigenen Takt.
Aber wie die Arbeitsteilung, die hinter der Zeit und der Technologie steht und diese in Gang setzt, ist sie schließlich ein sozial erlerntes Phänomen. Menschen und der Rest der Welt werden gemäß der Zeit und ihrer technischen Verkörperung synchronisiert, nicht umgekehrt. Für diese Dimension zentral – wie es zentral für Entfremdung im Allgemeinen ist – ist das Gefühl, ein*e hilflose*r Beobachter*in zu sein. Jede*r Rebell*in rebelliert demzufolge auch gegen die Zeit und ihre Unbarmherzigkeit. Befreiung muss als äußerst grundlegenden Bestandteil die Befreiung von Zeit beinhalten.
Zeit und die symbolische Welt
Zeit ist Epikur zufolge »die Katastrophe aller Katastrophen«. Bei näherer Betrachtung jedoch erscheint ihre Genese in einem weniger mysteriösen Licht. Vielen ist aufgefallen, dass Feststellungen wie »die Vergangenheit«, »die Gegenwart« und »die Zukunft« vielmehr linguistischer Natur sind als tatsächlicher oder physikalischer. Der Neo-freudianische Theoretiker Lacan beispielsweise entschied, dass die Zeiterfahrung essentiell ein Effekt der Sprache ist. Eine Person ohne Sprache würde dementsprechend vermutlich keinen Sinn für das Verstreichen von Zeit haben. R. A. Wilson (1980) kommt dem Ganzen noch näher, indem er vorschlägt, dass Sprache ursprünglich von dem Bedürfnis, symbolische Zeit auszudrücken, begründet wurde. Gosseth (1972) argumentierte, dass sich das Zeiten-System , das in den indoeuropäischen Sprachen vorhanden ist, zusammen mit dem Bewusstsein einer universellen oder abstrakten Zeit entwickelte. Zeit und Sprache seien deckungsgleich, entschied Derrida (1982): »In einem zu sein, bedeutet im anderen zu sein.« Zeit ist ein symbolisches Konstrukt, das, relativ gesprochen, all den anderen unmittelbar vorangeht und das die Sprache für ihre Verwirklichung benötigt.
Paul Valéry (1962) betrachtete den Fall der Spezies in die Fallgrube der Zeit als Signal der Entfremdung von der Natur; »durch eine Art von Missbrauch schuf der Mensch die Zeit«, schrieb er. In der zeitlosen Epoche vor diesem Fall, der die überwältigende Mehrheit unserer Existenz als Menschen begründete, hatte das Leben, wie es so oft gesagt worden ist, einen Rhythmus, aber keinen Fortschritt. Es war der Zustand, in dem der Geist »sich in seiner Gesamtheit erheben konnte«, um Rousseaus Worte zu gebrauchen, in der Abwesenheit temporaler Einschränkungen, »wo die Zeit dem Geist nichts bedeutet«. Die Tätigkeiten selbst, üblicherweise solche mit einem gemächlichen Charakter, waren die Referenzpunkte vor Zeit und Zivilisation; die Natur gab die notwendigen Signale, völlig unabhängig von »Zeit«. Die Menschheit muss sich Erinnerungen und Vorhaben bewusst gewesen sein, lange bevor irgendwelche expliziten Unterscheidungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gezogen wurden (Fraser 1988). Darüber hinaus zeigen nach Einschätzung von Linguist Whorf (1956) »vorschriftliche [›primitive‹] Gemeinschaften, die weit von Subrationalität entfernt sind, dass ihr menschliches Gehirn auf einer höheren und weitaus komplexeren Ebene der Rationalität funktionierte als das von zivilisierten Menschen.«
Der größtenteils verborgene Schlüssel zur symbolischen Welt ist die Zeit; tatsächlich steht sie am Anfang der menschlichen symbolischen Aktivität. Zeit ruft daher die erste Entfremdung hervor, den Pfad weg von der ursprünglichen Reichhaltigkeit und Ganzheit. »Aus der Gleichzeitigkeit der Erfahrungen heraus bedeutet das Ereignis der Sprache die Entstehung von linearer Zeit«, sagt Charles Simic (1971). Forscher*innen wie Zohar (1982) betrachten die Fähigkeit zur Telepathie und zur Vorausahnung als etwas, das zum Zwecke der Entwicklung des symbolischen Lebens geopfert wurde. Wem das weithergeholt scheint; der nüchterne Positivist Freud (1932) betrachtete es als durchaus möglich, dass Thelepathie »das ursprüngliche archaische Mittel, durch das Individuen einander verstehen«, war. Wenn die Wahrnehmung und die bewusste Wahrnehmung von Zeit zum Wesen des kulturellen Lebens beitragen (Gurevich 1976), repräsentiert das Aufkommen dieses Zeitgefühls und seine damit einhergehende Kultur eine Verarmung, ja sogar eine Entstellung durch die Zeit.
Die Konsequenzen dieser Einführung von Zeit durch die Sprache deuten darauf hin, dass letztere nicht unschuldiger, neutraler oder voraussetzungsfreier als erstere ist. Zeit ist nicht nur, wie Kant sagte, die Grundlage all unserer Repräsentationen, sondern aufgrund dessen auch die Grundlage für unsere Anpassung an eine qualitativ reduzierte, symbolische Welt. Unsere Erfahrung in dieser Welt steht unter einem alles durchdringenden Druck, Repräsentation zu sein, um beinahe unbewusst in Symbole und Maße herabgesetzt zu werden. »Zeit«, schrieb der deutsche Mystiker Meister Eckhart, »ist, was das Licht davon abhält, zu uns zu gelangen.«
Zeitbewusstsein ermöglicht es uns, mit unserer Umgebung symbolisch zu interagieren; jenseits dieser Entfremdung gibt es keine Zeit. Durch fortschrittliche Symbolisierung wird Zeit naturalisiert, wird zu einem Gegebenen, wird aus der Sphäre bewusster kultureller Produktion entfernt. »Zeit wird in dem Maße menschlich, in dem sie in Erzählungen verwirklicht wird«, ist eine andere Art das auszudrücken (Ricœur 1984). Der symbolische Zuwachs in diesem Prozess begründet eine ständige Drosselung des instinktiven Verlangens; Unterdrückung führt zur Entfaltung des Zeitgefühls. Die Unmittelbarkeit weicht den Vermittlungen, die die Vergangenheit möglich machen – allen voran die Sprache.
Man beginnt über Banalitäten wie »Zeit ist eine unbegreifliche Qualität der gegebenen Welt« (Sebba 1991) hinauszusehen. Zahl, Kunst und Religion treten in dieser »gegebenen« Welt auf den Plan, als geisterhafte Phänomene des verdinglichten Lebens. Diese aufkommenden Riten wiederum, vermutet Gurevitch (1964), führen zur »Produktion neuer symbolischer Inhalte, und spornen die Zeit dadurch an, voranzuschreiten«. Symbole, selbstverständlich inklusive der Zeit, haben nun ein Eigenleben in diesem sich steigernden, wechselwirkenden Fortschreiten. Ein erläuterndes Beispiel ist David Braines The Reality of Time and the Existence of God (1988). Darin argumentiert er, dass es eben die Realität der Zeit sei, die die Existenz Gottes beweise; die perfekte Logik der Zivilisation.
Jedes Ritual ist ein Versuch durch Symbolismus zu einem zeitlosen Zustand zurückzukehren. Das Ritual ist eine Geste der Abstraktion von diesem Zustand, jedoch ein Schritt in die falsche Richtung, der nur weiter von ihm wegführt. Die »Zeitlosigkeit« der Zahl ist Teil dieser Verlaufskurve und trägt viel zu einem gefestigten Konzept von Zeit bei. Tatsächlich scheint Blumenberg (1983) weitestgehend richtigin der Analyse zu liegen , dass »Zeit nicht als etwas gemessen wird, das es immer gegeben hat, sondern als etwas, das das erste Mal durch Messung produziert wurde.« Um Zeit auszudrücken, müssen wir sie auf irgendeine Art und Weise quantifizieren; Die Zahl ist dafür essentiell. Selbst da, wo Zeit bereits aufgetreten ist, arbeitet eine schleichend eingeteiltere soziale Existenz nur durch das Mittel der Zahl auf ihre zunehmende Verdinglichung hin. Das Gefühl für das Verstreichen von Zeit ist bei Stammesvölkern, die diese beispielsweise nicht durch Kalender oder Uhren markieren, nicht besonders ausgeprägt.
Zeit: Eine ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Wortes dafür bedeutet Aufteilung. Wenn man der Zeit die Zahl hinzufügt, macht das die Aufteilung oder Abtrennung deutlich wirksamer. Die nicht-Zivilisierten haben es oft als »unheilbringend« betrachtet, lebende Wesen zu zählen und weigerten sich allgemein, diese Praxis zu übernehmen (z.B. Dobrizhoffer 1822). Das Gespür für Zahlen war alles andere als unwillkürlich und unvermeidbar, aber »bereits in frühen Zivilisationen«, berichtet Schimmel (1992), »spürt man, dass Zahlen eine Realität waren, als ob es ein magnetisches Kräftefeld um sie geben würde«. Es überrascht nicht, dass wir unter den altertümlichen Kulturen mit den stärksten Aufkommen eines Gefühls für Zeit – Ägypter, Babylonier, Maya – Zahlen mit rituellen Figuren und Gottheiten verbunden sehen; Tatsächlich hatten sowohl die Maya als auch die Babylonier Zahlgottheiten (Barrow 1992).
Viel später ermutigte die Uhr mit ihrem Ziffernblatt die Gesellschaft, die Erfahrung von Zeit noch weiter zu abstrahieren und zu quantifizieren. Jedes Mal, wenn man die Uhr liest, ist das eine Messung, die den*diejenigen, der*die auf die Uhr sieht, mit dem »Fluss der Zeit« synchronisiert. Und wir täuschen uns geistesabwesend darüber hinweg, dass wir wüssten, was Zeit ist, weil wir wissen, welche Zeit ist. Wenn wir Uhren abschaffen würden, erinnert uns Shallis (1982), dann würde die objektive Zeit ebenfalls verschwinden. Noch fundamentaler, wenn wir Spezialisierung und Technologie aufgeben würden, dann wäre die Entfremdung ebenfalls verbannt.
Die Mathematisierung der Natur war die Grundlage für die Geburt des modernen Rationalismus und der westlichen Wissenschaft. Das stammte von den Erfordernissen nach Zahlen und Messinstrumenten in Verbindung mit ähnlichen Lehren über die Zeit im Dienste eines handeltreibenden Kapitalismus. Die Kontinuitäten von Zahl und Zeit als eine geometrische Ortskurve waren grundlegend für die wissenschaftliche Revolution, die Galileos Diktum, alles zu messen, was messbar ist und alles, was nicht messbar ist, messbar zu machen, entwarf. Mathematisch einteilbare Zeit ist für die Unterwerfung der Natur notwendig und sogar für die Ansätze der modernen Technologie.
Von diesem Punkt an wurde die zahlenbasierte symbolische Zeit als abstrakte Konstruktion schrecklich real, die »von jeder inneren und äußeren menschlichen Wahrnehmung entfernt war und sich sogar widersprüchlich dazu verhielt« (Syzamosi 1986). Unter ihrem Druck sind Geld und Sprache, Waren und Informationen immer weniger unterscheidbar geworden und die Arbeitsteilung hat immer extremere Ausmaße angenommen.
Etwas zu symbolisieren bedeutete sein Zeitbewusstsein auszudrücken, da das Symbol die Struktur der Zeit verkörpert (Darby 1982) Noch klarer ist Meerloos Formulierung: »Ein Symbol und seine Entwicklung zu verstehen bedeutet die menschliche Geschichte in einem Wort zu begreifen.« Der Kontrast ist das Leben der nicht-Zivilisierten, das in einem umfassenden Präsens gelebt wird, das nicht auf einen einzigen Moment der mathematischen Gegenwart reduziert werden kann. Als das immerwährende Jetzt einem zunehmenden Verlass auf Systeme mit signifikanten Symbolen (Sprache, Zahl, Kunst, Ritual, Mythen) wich, die sich vom Jetzt entfernten, begann sich die weiterführende Abstraktion, die Geschichte, zu entwickeln. Historische Zeit wohnt der Realität nicht mehr inne, ist nicht weniger eine Auferlegung als die früheren, weniger abstrahierten Formen der Zeit.
In einem schleichend künstlicheren Kontext wird astronomische Beobachtung mit neuer Bedeutung eingesetzt. Einst um ihrer Selbst willen betrieben, liefert sie nun das Vehikel, um Rituale zu terminieren und die Aktivitäten der komplexen Gesellschaft zu koordinieren. Mit Hilfe der Sterne existiert das Jahr und seine Einteilungen als Instrumente einer organisatorischen Autorität (Leach 1954). Die Entstehung eines Kalenders ist grundlegend für die Entstehung einer Zivilisation. Der Kalender war das erste symbolische Artefakt, das das Sozialverhalten mithilfe der Nachverfolgung der Zeit regulierte. Und was da mit drinsteckt, ist nicht die Kontrolle der Zeit, sondern das Gegenteil: die Umzäunung einer Welt sehr realer Entfremdung durch die Zeit. Man erinnere sich, dass unser Wort [Kalender] von den lateinischen Kalenden stammt, dem ersten Tag des Monats, an dem die Geschäftskonten abgeschlossen sein mussten.
Zeit zu beten, Zeit zu arbeiten
»Keine Zeit ist vollständig gegenwärtig«, sagte der stoische Chrysipp und seitdem wurde das Konzept der Zeit von dem zugrundeliegenden jüdisch-christlichen Dogma eines linearen, irreversiblen Pfades von der Schöpfung zur Erlösung weiterentwickelt. Diese grundsätzlich historische Betrachtung von Zeit ist der Kern des Christentums; all die grundlegenden Begriffe einer messbaren, einwegigen Zeit können in St. Augustinus Schriften (aus dem 5. Jahrhundert) gefunden werden. Mit der Ausbreitung der neuen Religion wurde eine strikte Regulierung der Zeit auf einer praktischen Ebene notwendig, um die Disziplin des mönchischen Lebens aufrechtzuerhalten. Glocken, die die Mönche acht mal am Tag zum Gebet bestellten, waren weit über die Mauern der Klöster hinaus hörbar und dementsprechend wurde der Gesellschaft als Ganzes ein Instrument zur Zeitregulierung auferlegt. Die Bevölkerung zeigte Marc Bloch (1940) zufolge während der gesamten feudalen Ära »une vaste indifférence au temps« [2], aber es ist kein Zufall, dass die ersten öffentlichen Glocken die Kathedralen im Westen schmückten. Es ist wert diesbezüglich zu bemerken, dass der Ruf zu präzisen Gebetszeiten die Haupt-Externalisierung des mittelalterlichen muslimischen Glaubens wurde.
Die Erfindung der mechanischen Uhr war einer der bedeutendsten Wendepunkte in der Geschichte der Wissenschaft und Technologie; tatsächlich auch in der gesamten menschlichen Kunst und Kultur (Synge 1959). Die Verbesserungen der Genauigkeit boten den Autoritäten erweiterte Möglichkeiten der Unterdrückung. Ein früher Anhänger von ausgeklügelten mechanischen Uhren war der Herzog Gian Galeazzo Visconti, der diese 1381 als »einen gemächlichen, aber listigen Herrscher mit einer großen Liebe für Ordnung und Präzision« beschrieb (Fraser 1988). Wie Weizenbaum (1976) schrieb, begann die Uhr »buchstäblich eine neue Realität« zu erschaffen, »die eine armselige Version der alten war und geblieben ist«.
Eine qualitative Änderung war herbeigeführt worden. Selbst wenn nichts passierte, hörte die Zeit nicht auf, zu verstreichen. Seit dieser Ära werden die Ereignisse in diese homogene, objektiv gemessene, sich bewegende Hülle verpackt – und dieser unilineare Fortschritt befeuerte Widerstand. Die extremsten war die chiliastischen oder millenaristischen Bewegungen, die vom 14. bis ins 17. Jahhundert in verschiedenen Teilen Europas aufkamen. Diese nahmen generell die Form von Bauernaufständen an, die auf die Wiederherstellung des ursprünglichen egalitären Naturzustands abzielten und der historischen Zeit explizit feindlich gegenüberstanden. Diese utopischen Explosionen wurden bezwungen, aber die Überreste früherer Zeitvorstellungen lebten auf einer »niedrigeren« Ebene des Bevölkerungsbewusstseins in vielen Regionen weiter.
Während der Renaissance erreichte die Herrschaft durch die Zeit ein neues Niveau, als die öffentlichen Glocken nun zu jeder der 24 Stunden des Tages schlugen und neue Zeiger ergänzt wurden, die das Verstreichen der Sekunden markierten. Ein leidenschaftlicher Sinn für die alles verschlingende Präsenz der Zeit ist die große Entdeckung dieser Epoche und nichts veranschaulicht das bildlicher als die Figur von Father Time [3]. Die Kunst der Renaissance ließ den griechischen Gott Kronos mit dem römischen Gott Saturn verschmelzen, um die bekannte, düstere Gottheit zu erschaffen, die die Macht der Zeit repräsentiert, bewaffnet mit einer tödlichen Sense, die seine Verbindung mit der Landwirtschaft/Domestizierung symbolisiert. Der Totentanz und andere mittelalterliche memento mori [4] Artefakte gingen Father Time voraus, aber bei ihm geht es nun vielmehr um die Zeit als um den Tod.
Das siebzehnte Jahrhundert war das erste, in dem die Menschen sich selbst als Bevölkerung eines bestimmten Jahrhunderts begriffen. Man musste sich nun innerhalb der Zeit orientieren. Francis Bacons The Masculine Birth of Time (1603) und A Discourse Concerning a New Planet (1605) begrüßten die sich vertiefende Dimension und enthüllten, wie das anwachsende Bewusstsein für Zeit dem neuen wissenschaftlichen Geist dienen könne. »Die Zeit zu erwählen bedeutet Zeit zu sparen«, schrieb er und, »Wahrheit ist die Tochter der Zeit.« Es folgte Descartes, der die Vorstellung von Zeit als grenzenlos einführte. Er war einer der ersten Verfechter*innen der modernen Vorstellung von Fortschritt, der eng mit der der unbeschränkten linearen Zeit verbunden ist und sich selbst charakteristisch in seiner berühmten Aufforderung ausdrückte, dass wir die »Herren und Besitzer der Natur« werden sollten.
Newtons Uhrwerk-Universum war die krönende Errungenschaft der wissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts und lag in seiner Vorstellung von einer »absoluten, wahren und mathematischen Zeit an und für sich, die unabhängig von irgendeiner Beziehung zu irgendetwas Immerwährendem gleichmäßig dahinfließt«. Zeit ist nun die große Herrscherin, die auf niemanden folgt und von nichts beeinflusst wird, vollständig unabhängig von ihrer Umwelt: das Modell unanfechtbarer Herrschaft und der ideale Garant für beständige Entfremdung. Die klassische newtonsche Physik bleibt tatsächlich, ungeachtet der Veränderungen in der Wissenschaft, die dominante alltägliche Vorstellung von Zeit.
Das Aufkommen einer unabhängigen, abstrakten Zeit fand parallel zum Aufkommen einer wachsenden, formal freien Arbeiterklasse statt, die gezwungen war, ihre Arbeitskraft als eine abstrakte Ware auf dem Markt zu verkaufen. Vor der Entstehung des Fabriksystems, aber bereits Subjekt der disziplinierenden Macht der Zeit, war diese Arbeitskraft das Gegenteil von der der monarchistischen Zeit: nur auf dem Papier frei und unabhängig. Foucault urteilt, dass der Westen ab diesem Zeitpunkt zu einer »Gefängnis-Gesellschaft« geworden ist. Etwas direkter in dieser Hinsicht ist vielleicht das balkanische Sprichwort: »Eine Uhr ist ein Schloss.«
1749 warf Rousseau seine Uhr in einer symbolischen Zurückweisung der modernen Wissenschaft und Zivilisation weg. Etwas mehr dem dominanten Geist der Epoche verhaftet war jedoch das Geschenk der 51 Uhren an Marie Antoinette zu ihrer Verlobung. Das [englische] Wort watch für Uhr ist sicherlich angebracht, da die Menschen die Zeit mehr und mehr »beobachten« [watch] mussten; Uhren wurden schnell zu einem der ersten dauerhaften Konsumgüter der industriellen Ära.
Sowohl William Blake als auch Goethe griffen Newton, das Symbol der neuen Zeit und Wissenschaft, dafür an, das Leben von den Sinnen entfernt zu haben, sowie für seine Reduzierung des Natürlichen auf das Messbare. Der kapitalistische Ideologe Adam Smith auf der anderen Seite spiegelte Newton wider und erweiterte sein Denken, indem er nach einer größeren Rationalisierung und Routinisierung rief. Smith, ebenso wie Newton, arbeiteten unter dem Bann einer zunehmend mächtigeren und unbarmherzigeren Zeit daran, eine weitere Arbeitsteilung als objektiven und absoluten Fortschritt zu bewerben.
Die Puritaner*innen riefen die Verschwendung von Zeit als erste und im Grunde tödlichste aller Sünden aus (Weber 1921); das wurde etwa ein Jahrhundert später zu Benjamin Franklins »Zeit ist Geld«. Das Fabriksystem wurde von den Uhrmachern begründet und die Uhr war sein Symbol und der Ursprung seiner zur Erschaffung eines industriellen Proletariats notwendigen Ordnung, Disziplin und Repression.
Hegels eindrucksvolles System zu Beginn des 19. Jahrhunderts pries den »Vorstoß der Zeit«, der der Impuls der Geschichte ist; Zeit sei unsere »Bestimmung und Notwendigkeit«, erklärte er. Postone (1993) bemerkte, dass das »Fortschreiten« von abstrakter Zeit eng mit dem »Fortschreiten« des Kapitalismus als Lebensart verschränkt ist. Wellen des Industrialismus ertränkten den Widerstand der Ludditen; Lyotard (1988) bewertete diese Periode in ihrer Gesamtheit und kam zu dem Ergebnis, dass »die Krankheit der Zeit nun unheilbar geworden ist.«
Eine zunehmend komplexere Klassengesellschaft erfordert eine immer größere Bandbreite an Zeitsignalen. Kämpfe gegen die Zeit, wie Thompson (1967) und Hohn (1984) betont haben, wichen Kämpfen um Zeit; Widerstand gegen die Unterjochung durch die Zeit und die ihr innewohnenden Anforderungen wurde durchgängig niedergeschlagen und typischerweise durch Dispute über die faire Festlegung von Zeitplänen oder die Länge des Arbeitstages ersetzt. (In einer Rede vor der ersten Internationale (am 28. Juli 1868) befürwortete Karl Marx übrigens ein Alter von neun Jahren, ab dem mit der Arbeit begonnen werden sollte.)
Die Uhr stieg von der Kathedrale hinab in die Gerichte und die Gerichtsgebäude, neben die Banken und Bahnhöfe und schließlich an das Armgelenk und in die Taschen eines*r jeden anständigen Bürgers*in. Die Zeit musste »demokratischer« werden, um die Subjektivität wirklich kolonisieren zu können. Die Unterwerfung der äußeren Natur ist, wie Adorno und andere verstanden haben, nur in dem Maße erfolgreich, in dem auch die innere Natur erobert wird. Die Entfesselung der Produktivkräfte basierte auf dem Sieg der Zeit in einem lange währenden Krieg gegen das freiere Bewusstsein, um es in anderen Worten auszudrücken. Der Industrialismus brachte eine umfassendere Kommodifizierung der Zeit mit sich, Zeit in ihrer bisher räuberischsten Form. Giddens (1981) sah darin »den Schlüssel zu der tiefgreifendsten aller Transformationen des alltäglichen Soziallebens, die durch das Aufkommen des Kapitalismus eingeläutet worden ist«.
»Die Uhren drehen sich weiter«, sagt man in einer Welt, die zunehmend mehr von der Zeit, einer zunehmend vereinheitlichteren Zeit, abhängt. Eine einzige gigantische Uhr hängt über der gesamten Welt und herrscht über sie. Sie durchdringt alles; in ihrem Gericht gibt es keinen Widerruf. Die Standardisierung der Weltzeit markiert einen Sieg für die effiziente Maschinen-Gesellschaft, einen Universalismus, der alle Eigenarten mit ebenso großer Sicherheit beseitigt, wie Computer zu einer Homogenisierung des Denkens führen.
Paul Virilio (1986) ging soweit vorauszusehen, dass der »Verlust materiellen Raumes zu der Herrschaft von nichts anderem als der Zeit führen wird«. Eine noch provokantere Vorstellung postuliert eine Umkehrung der Geburt der Geschichte aus der reifenden Zeit. Virilio (1991) ist tatsächlich der Ansicht, dass wir innerhalb eines Systems technologischer Temporalität leben, in der die Geschichte in den Hintergrund gerückt wurde. »[…] die bedeutendste Frage wird zunehmend weniger die der Beziehungen zur Geschichte sein, sondern vielmehr die der Beziehungen zur Zeit.«
Aber lassen wir solche theoretischen Exkurse außen vor, so gibt es reichlich Beweise und Zeugnisse für die zentrale Rolle der Zeit in der Gesellschaft. In dem Artikel »Time – The Next Source of Competitive Advantage« [5] (Juli-August 1988 Harvard Business Review) diskutiert George Stark Jr. Zeit als ausschlaggebend für die Aufstellung des Kapitals: »Als eine strategische Waffe ist Zeit das Äquivalent von Geld, Produktivität, Qualität und sogar Innovation.« Die Verwaltung von Zeit ist sicherlich nicht auf die Unternehmen beschränkt; Levines Studie über öffentlich zugängliche Uhren in sechs Ländern von 1985 zeigte, dass ihre Genauigkeit ein exaktes Maß der relativen Industrialisierung des nationalen Lebens war. Paul Adlers Darbietung »Time-and-Motion Regained« [6] im Harvard Business Review von Januar-Februar 1993 tritt unverblümt für die neo-tayloristische Standardisierung und Reglementierung der Arbeit ein: Hinter der wohl gepflegten Schaufensterdekoration der »Demokratie am Arbeitsplatz« einiger Fabriken bleiben die »Disziplin der Arbeitsabläufe und formale bürokratische Strukturen bestehen, die für Effizienz und Qualität von Routinevorgängen unerlässlich sind.«
Zeit in der Literatur
Es ist klar, dass das Aufkommen von Schrift die Verankerung von Zeitkonzepten und den Beginn der Geschichte begünstigte. Aber wie der Anthropologe Goody (1991) hervorhebt, waren »orale Kulturen oft nur allzu bereit, diese Innovationen zu akzeptieren.« Sie waren schließlich durch Sprache selbst bereits konditioniert. McLuhan (1962) beschäftigte sich damit, wie das Aufkommen des gedruckten Buches und die Massenalphabetisierung die Logik der linearen Zeit verstärkten.
Das Leben war beständig gezwungen, sich anzupassen. »Schon hat die Zeit mir ihre nummerierte Uhr aufgezwungen«, schrieb Shakespeare in Richard II. »Zeit« ebenso wie »reich« war eines der Lieblingswörter des Barden, eine zeitgeplagte Figur. Hundert Jahre später reflektierte Defoe in Robinson Crusoe darüber, wie wenig eine Flucht vor der Zeit möglich schien. Auf einer einsamen Insel von der Außenwelt abgeschnitten, ist Crusoe zutiefst um das Verstreichen der Zeit besorgt; In einer solchen Situation genaue Aufzeichnungen über seine Angelegenheiten zu führen, bedeutete vor allem die Zeit nachzuverfolgen, besonders solange seine Feder und Tintenvorräte hielten.
Northrop Frye (1950) betrachtete die »Verbindung von Zeit und der westlichen Menschheit« als ausschlaggebendes Charakteristikum des Romans. Ian Watts Der Aufstieg des Romans (1957) beschäftigte sich ebenfalls mit der neuen Bedeutung der Zeit, die das Aufkommen des Romans im 18. Jahrhundert stimulierte. Jonathan Swifts Protagonist in Gullivers Reisen (1726) tat nichts, ohne auf seine Uhr zu blicken. »Er nannte sie sein Orakel und sagte, sie hätte die Zeit für all die Handlungen seines Lebens bestimmt.« Die Liliputaner folgerten, dass die Uhr Gullivers Gott sei. Sternes Tristram Shandy (1760), geschrieben am Vorabend der industriellen Revolution, beginnt damit, dass Tristrams Mutter seinen Vater im Augenblick ihres monatlichen Coitus unterbricht: »›Sag, mein Liebster‹, sprach meine Mutter, ›hast du auch nicht vergessen die Uhr aufzuziehen?‹«
Im neunzehnten Jahrhundert persiflierte Poe die Autorität der Uhren, indem er diese mit der bourgeoisen Oberflächlichkeit und Obsession für Herrschaft verknüpfte. Zeit ist Hauser (1956) zufolge das eigentliche Thema von Flauberts Romanen, ebenso wie Walter Pater (1901) in der Literatur den »gänzlich greifbaren Moment« suchte, der »die Vergangenheit und Zukunft in einem intensiven Bewusstsein für die Gegenwart absorbieren« würde, ganz ähnlich Joyces Feier der »Epiphanien«. In Marius der Epikureer schildert Pater Marius‘ plötzliche Erkenntnis »der Möglichkeit einer realen Welt jenseits der Zeit«. Unterdessen suchte Swinburn nach einer Ruhepause jenseits der »zeitgeplagten Lande« und Baudelaire drückte seine Angst vor und seinen Hass auf die chronologische Zeit aus, den gefräßigen Erzfeind.
Die Desorientierung einer von der Zeit geplagten Ära, die der Beschleunigung der Geschichte unterworfen ist, brachte moderne Autor*innen dazu, sich mit Zeit aus neuen, extremen Perspektiven zu beschäftigen. Proust skizzierte Wechselbeziehungen zwischen Ereignissen, die die gewöhnliche zeitliche Reihenfolge überschritten und verstieß so gegen die newtonsche Vorstellung von Kausalität. Sein dreizehnteiliges A la Recherche du Temps Perdu (1925), das auf Englisch meist mit Erinnerung an vergangene Dinge [im Deutschen mit Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Anm. d. Übers.] widergegeben wird, ist mit »Suche nach der verlorenen Zeit« wörtlicher und genauer übersetzt. Darin kommt er zu der Einschätzung, dass »eine Minute, die von der Ordnung der Zeit befreit wurde, in uns […] das von der Ordnung der Zeit befreite Individuum wiedererschaffen hat«, und erkennt, dass »die einzige Umgebung, in der man leben und das Wesen der Dinge genießen könne, außerhalb der Zeit liegen müsse«.
Die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist größtenteils mit Zeit beschäftigt gewesen. Man betrachte nur die fehlgeleiteten Versuche, eine authentische Zeit zu bestimmen, die von Denker*innen, die so verschieden wie Bergson und Heidegger sind, angestellt wurden, oder die buchstäbliche Vergötterung der Zeit durch letzteren. A. A. Mendilows Zeit und der Roman (1952) enthüllt, wie das gleiche intensive Interesse die Romane des Jahrhunderts geprägt hat, besonders die von Joyce, Woolf, Conrad, James, Gide, Mann und natürlich Proust. Andere Studien, wie Zeit und Realität (1962) von Church haben diese Liste an Romanautoren unter anderem um Kafka, Sartre, Faulkner und Vonnegut erweitert.
Und natürlich kann die mit Zeit beschäftigte Literatur nicht auf Romane beschränkt werden. T.S. Eliots Dichtung drückte oft eine Sehnsucht danach aus, der zeitgebundenen, zeitgetriebenen Konventionalität zu entfliehen. „Burnt Norton“ (1941) ist ein gutes Beispiel mit folgenden Zeilen:
Time past and time future
Allow but a little consciousness.
To be conscious is not to be in time.
Vergangene Zeit und zukünftige Zeit
Erlauben nur geringfügiges Bewusstsein.
Bei Bewusstsein zu sein, bedeutet nicht in der Zeit zu sein.
Samuel Beckett schrieb zu Beginn seiner Karriere (1931) treffend von »der giftigen Raffinesse der Zeit in der Lehre des Leids«. Das Stück Warten auf Godot (1955) ist ein offensichtliches Beispiel in dieser Hinsicht, ebenso wie sein Murphy (1957), in dem Zeit im Verstand des Hauptcharakters reversibel wird. Wenn die Uhr sich in beide Richtungen zu drehen vermag, verblasst auch unser Zeitgefühl und die Zeit selbst.
Die Psychologie der Zeit
Wenn wir uns dem zuwenden, was man allgemein Pyschologie nennt, stoßen wir erneut auf eine der grundlegendsten Fragen: Gibt es wirklich ein Phänomen der Zeit, das unabhängig von irgendeinem Individuum existiert oder weilt diese nur in ihrer eigenen Wahrnehmung? Husserl beispielsweise scheiterte daran zu zeigen, warum Bewusstsein in der modernen Welt sich so unvermeidbar in der Zeit zu konstituieren scheint. Wie wissen, dass Erfahrungen ebenso wie Ereignisse jeder anderen Art an sich weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft sind.
Während es bis zu den 1970ern nur ein geringes soziologisches Interesse an der Zeit gab, hat sich die Zahl der Studien über Zeit in der psychologischen Literatur seit 1930 rapide erhöht (Lauer 1988). Zeit ist vielleicht »psychologisch« am allerschwersten zu definieren. Was ist Zeit? Was ist die Erfahrung der Zeit? Was ist Entfremdung? Was ist die Erfahrung von Entfremdung? Wenn letzteres Thema nicht so vernachlässigt worden wäre, wären die offensichtlichen Wechselbeziehungen klar geworden.
Davies (1977) nannte das Verstreichen der Zeit »ein psychologisches Phänomen rätselhaften Ursprungs« und folgerte (1983), »das Geheimnis des Verstandes wird nur dann gelüftet werden, wenn wir das Geheimnis der Zeit verstehen«. Hält man sich die künstliche Trennung des Individuums von der Gesellschaft vor Augen, die ihr Feld ausmacht, ist es unvermeidbar, dass solche Psycholog*innen und Psychoanalytiker*innen wie Eissler (1955), Loewald (1962), Nammum (1972) und Morris (1983) »große Schwierigkeiten« dabei hatten, die Zeit zu studieren!
Dennoch wurden schließlich wenige, partielle Einblicke gewonnen. Hartcollis (1983) beispielsweise stellte fest, dass die Zeit nicht nur eine Abstraktion ist, sondern auch ein Gefühl, während Korzybski (1948) das in seiner Beobachtung, dass »Zeit ein Gefühl ist, das von den Bedingungen dieses Welt produziert wird […]« bereits weiter gebracht hatte. Arlow (1986) zufolge, der glaubte, dass unsere Erfahrung der Zeit aus unerfüllten emotionalen Bedürfnissen entstünde, warten wir unser ganzes Leben lang »auf Godot«. Ähnlich bezeichnete Reichenbach (1956) anti-zeitliche Philosophien wie Religion als »Zeugnisse emotionaler Unzufriedenheit«. In Freuds Worten betrachteten Bergler und Roheim (1946) das Verstreichen der Zeit als Symbol für frühkindliche Trennungsperioden. »Der Kalender ist die ultimative Verwirklichung der Verlustangst.« Wenn sie um ein kritisches Interesse an ihrem sozialen und historischen Kontext angereichert werden, können die Implikationen dieser unentwickelten Punkte zu ernsthaften Beiträgen werden. Auf die Psychologie beschränkt bleiben sie jedoch eingeschränkt und sogar irreführend.
In der Welt der Entfremdung kann kein Erwachsener die Freiheit von Zeit erdenken oder bestimmen, die das Kind ständig genießt – und die ihm weggenommen werden muss. Die Lehre der Zeit, die Essenz des Schulsystems, ist für die Gesellschaft von größter Wichtigkeit. Diese Lehre »beinhaltet in geradezu paradigmatischer Form die Eigenschaften des Zivilisationsprozesses«, legt Fraser (1984) sehr überzeugend dar. Eine Patientin von Joost Meerlo (1966) »drückte das sarkastisch aus: ›Zeit ist Zivilisation‹, womit sie meinte, dass Zeitpläne und peinliche Genauigkeit die großen Waffen seien, die von Erwachsenen genutzt würden, um die Kinder zu Gehorsam und Unterwürfigkeit zu zwingen.« Piagets Studien (1946, 1952) konnten keinen angeborenen Sinn für Zeit ausmachen. Vielmehr ist die abstrakte Feststellung von »Zeit« von beachtlicher Schwierigkeit für Kinder. Sie ist nicht etwas, das sie automatisch lernen; es gibt keine spontane Hinwendung zur Zeit (Hermelin und O’Connor 1971, Voyat 1977).
Time [Zeit] und Tidy [ordentlich] sind ethymologisch verwandt und unsere newtonsche Vorstellung von Zeit repräsentiert eine perfekte und universelle Ordnung. Das zunehmende Gewicht dieses immer durchdringenderen Drucks zeigt sich in der zunehmenden Anzahl an Patient*innen mit Zeit-Dysphorie-Symptomen (Lawson 1990). Dooley (1941) bezog sich auf »die beobachtete Tatsache, dass die Menschen, die einen obsessiven Charakter haben, unabhängig von der Art ihrer Neurose, diejenigen sind, die den exzessivsten Gebrauch vom Zeitgefühl machen […].« Petits »Analität und Zeit« (1969) argumentierte überzeugend für die enge Verbindung von beiden, während Meerloo (1966) den Charakter und die Leistungen von Mussolini und Eichmann zitierte und »eine definitive Verbindung zwischen Zeitdruck und faschistischer Aggression« fand.
Capek (1961) nannte Zeit »eine gigantische und chronische Halluzination des menschlichen Verstandes«; es gibt in der Tat wenige Erfahrungen, von denen man sagen kann, dass sie zeitlos sind. Orgasmus, LSD, das »Vorüberziehen des Lebens vor den eigenen Augen« im Augenblick einer extremen Gefahr … das sind einige der wenigen, flüchtigen Situationen, die intensiv genug sind, um der Beharrlichkeit der Zeit zu entfliehen.
Zeitlosigkeit sei das Ideal des Vergnügens, schrieb Marcuse (1955). Das Verstreichen der Zeit auf der anderen Seite fördere das Vergessen davon, was war und was sein kann. Es ist der Feind des Eros und treuer Verbündeter der Ordnung der Verdrängung. Die mentalen Prozesse des Unbewussten sind tatsächlich zeitlos, entschied Freud (1920). »Zeit verändert diese auf keine Weise und die Vorstellung von Zeit kann auf sie nicht angewendet werden.« Folglich ist Verlangen bereits außerhalb der Zeit. Wie Freud 1932 sagte: »Es gibt nichts im Es, das der Vorstellung von Zeit entspricht; es gibt dort keine Wahrnehmung für das Verstreichen von Zeit.«
Marie Bonaparte (1939) argumentierte, dass die Zeit insofern umso plastischer und dem Lustprinzip umso untergeordneter wird, als dass wir die Fesseln der vollständigen Ich-Kontrolle lösen. Träume sind eine Form des Denkens unter nicht-zivilisierten Völkern (Kracke 1987); diese Fähigkeit muss uns einst viel zugänglicher gewesen sein. Die Surrealist*innen glaubten, dass die Realität viel umfassender verstanden werden könnte, wenn es uns gelänge, eine Verbindung zu unseren instinktiven, unterbewussten Erfahrungen herzustellen; Breton (1924) beispielsweise proklamierte das radikale Ziel einer Auflösung von geträumter und bewusster Realität.
Wenn wir träumen, ist das Gefühl von Zeit buchstäblich nicht existent, es wird ersetzt durch die Wahrnehmung einer Gegenwärtigkeit. Es sollte nicht überraschen, dass Träume, die die Regeln der Zeit ignorieren, die Aufmerksamkeit derer auf sich ziehen, die nach Anhaltspunkten für Befreiung suchen, oder dass das Unbewusste mit seinen »Impulsstürmen« (Stern 1977) diejenigen, die Anteilan der Neurose haben, die wir Zivilisation nennen, abschreckt. Norman O. Brown (1959) sah das Gefühl von Zeit oder Geschichte als eine Funktion der Unterdrückung; wenn Unterdrückung abgeschafft würde, folgerte er, wären wir von Zeit befreit. Ähnlich erkannte Coleridge (1801) im Mann der »methodologischen Industrie« den Ursprung und Schöpfer der Zeit.
In seiner Kritik der zynischen Vernunft (1987) rief Peter Sloterdijk nach der »radikalen Anerkennung des Es ohne jede Vorbehalte«, einer narzisstischen Selbstbestätigung, die der griesgrämigen Gesellschaft ins Gesicht lachen würde. Narzissmus wurde traditionell selbstverständlich als schlecht typisiert, als die »Ketzerei der Selbstliebe«. In Wahrheit bedeutete das, dass er der herrschenden Klasse vorbehalten war, während all die anderen (Arbeiter, Frauen, Sklaven) Unterwerfung und Zurückhaltung praktizieren mussten (Fine 1986). Die narzisstischen Symptome sind Gefühle der Leere, Unwirklichkeit, Entfremdung, des Lebens als nichts weiter als eine Aufeinanderfolge von Momenten, begleitet von einem Streben nach machtvoller Autonomie und Selbstachtung (Alford 1988, Grunberger 1979). Angesichts der Angemessenheit dieser »Symptome« und Sehnsüchte ist es kaum verwunderlich, dass Narzissmus als eine potentiell emanzipatorische Kraft gesehen wird (Zweig 1980). Seine Forderung nach totaler Zufriedenheit ist offensichtlich mindestens ein subversiver Individualismus.
Der*die Narzisst*in »hasst Zeit, verweigert Zeit« (Brief an den Autor, Alford 1993) und das provoziert, wie immer, eine schwerwiegende Reaktion von den Verteidiger*innen der Zeit und der Autorität. Der Psychiater E. Mark Stern (1977) beispielsweise meint: »Da die Zeit jenseits der eigenen Kontrolle beginnt, muss man sich ihren Anforderungen fügen […] Mut ist die Antithese zum Narzissmus.« Dieser Zustand, der mit Sicherheit negative Aspekte umfassen mag, enthält den Keim eines anderen Realitätsprinzips, der auf die nicht-Zeit der Perfektion abzielt, worin Sein und Werden eins sind und implizit ein Ende der Zeit beinhalten.
Zeit in der Wissenschaft
Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich weiß, dass alle Dinge in der Unendlichkeit beginnen und enden.
Der Mann, der auf die Erde gefallen ist, Walter Tevis
Die Wissenschaft beschäftigt sich mit Zeit und Entfremdung nicht ansatzweise so direkt wie, sagen wir, die Psychologie, zumindest nicht in einem Sinne, der für unsere Zwecke dienlich wäre. Aber die Wissenschaft kann wegen den zahlreichen Parallelen zwischen der wissenschaftlichen Theorie und den menschlichen Angelegenheiten neu ausgelegt werden, um Licht auf unser Thema zu werfen.
»Zeit«, entschied N. A. Kozyrev (1971), »ist das wichtigste und msyteriöseste Phänomen der Natur. Ihre Feststellung liegt jenseits der der Vorstellungskraft.« Eineige Wissenschaftler*innen haben tatsächlich gespürt (z.B. Dingle 1966), dass »all die realen Probleme, die mit der Feststellung von Zeit verbunden sind, von der Physik unabhängig sind.« Die Wissenschaft, und die Physik im Speziellen, mögen in der Tat nicht das letzte Wort haben; sie ist dennoch eine andere Quelle der Erläuterung, auch wenn sie selbst entfremdet und allgemein indirekt ist.
Ist »physikalische Zeit« die gleiche Zeit wie die, die wir empfinden; und wenn nicht, inwiefern unterscheidet sie sich von ihr? In der Physik scheint die Zeit eine undefinierte, grundlegende Dimension zu sein, die ebensosehr für gegeben gehalten wird wie außerhalb der Gefilde der Wissenschaft. Das ist eine Gelegenheit uns selbst daran zu erinnern, dass wissenschaftliche Vorstellungen, ebenso wie jede andere Form des Denkens, außerhalb ihres kulturellen Kontextes bedeutungslos sind. Sie sind Symptome von und Symbole für die Lebensweisen, die ihrer Entstehung vorausgehen. Gemäß Nietzsche ist jedes Schreiben notwenigerweise metaphorisch, auch wenn die Wissenschaft nur selten auf diese Art und Weise betrachtet wird. Die Wissenschaft hat sich durch die Skizzierung einer zunehmend schärferen Trennung zwischen inneren und äußeren Welten entwickelt, zwischen Traum und »Realität«. Das wurde von der Mathematisierung der Natur begleitet, die vor allem bedeutete, dass die*der Wissenschaftler*in nach einer Methode verfährt, die sie*ihn aus dem größeren Kontext ausschließt, inklusive von den Ursprüngen und der Bedeutung seines*ihres Projektes. Nichtsdestotrotz »reflektieren die Kosmologien, die die Menschheit zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten erschaffen haben, die physikalischen und intellektuellen Umgebungen, inklusive vor allem die Interessen und die Kultur der entsprechenden Gesellschaft«, wie H. P. Robinson (1964) konstatiert.
Subjektive Zeit »besitzt«, wie P. C. W. Davies hervorhebt (1981), »offensichtliche Qualitäten, die vor der ›äußeren‹ Welt verborgen bleiben und die grundlegend für unsere Vorstellung von Realität« – also im Grunde das »Verstreichen« von Zeit – »sind«. Unser Gefühl der Trennung von der Welt ist größtenteils dieser Diskrepanz geschuldet. Wir existieren in der Zeit (und der Entfremdung), aber die Zeit kann in der physikalischen Welt nicht wiedergefunden werden. Auch wenn die Zeitvariable für die Wissenschaft hilfreich ist, ist sie bloß ein theoretisches Konstrukt. »Die Gesetze der Wissenschaft«, erklärte Stephen Hawking (1988), »unterscheiden nicht zwischen Vergangenheit und Zukunft«. Einstein war etwa 30 Jahre zuvor noch weiter gegangen; in einem seiner letzten Briefe schrieb er, dass »Menschen wie wir, die an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine hartnäckige anhaltende Illusion ist.« Aber die Wissenschaft nimmt an der Gesellschaft auf andere Arten teil, was die Zeit betrifft, und zwar sehr tiefgreifend. Je »rationaler« sie wird, desto mehr Abweichungen von der Zeit werden verdrängt. Die theoretische Physik geometrisiert die Zeit, indem sie sie beispielsweise als gerade Linie betrachtet. Die Wissenschaft ist nicht unabhängig von der kulturellen Geschichte der Zeit.
Wie bereits oben erwähnt, beinhaltet die Physik jedoch nicht die Vorstellung einer vorhandenen Unmittelbarkeit der Zeit, die verstreicht (Park 1972). Vielmehr sind die fundamentalen Gesetze nicht nur vollständig reversibel hinsichtlich des »Zeitpfeils«, wie Hawking feststellt, sondern »irreversible Phänomene erscheinen als das Ergebnis der eigenartigen Natur unserer menschlichen Wahrnehmung«, laut Watanabe (1953). Wieder einmal spielt die menschliche Erfahrung eine ausschlaggebende Rolle, selbst in diesem »objektivsten« Gefilde. Zee (1992) drückte das folgendermaßen aus: »Zeit ist das eine Konzept in der Physik, über das wir nicht sprechen können, ohne auf irgendeine Art Bewusstsein ins Spiel zu bringen.«
Selbst in scheinbar unkomplizierten Bereichen existieren Uneindeutigkeiten, wenn die Zeit beteiligt ist. Auch wenn sich beispielsweise die Komplexität der komplexesten Spezies erhöhen mag, werden nicht alle Spezies komplexer, was J. M. Smith (1972) dazu drängt, zu folgern, dass es »schwierig zu sagen ist, ob die Evolution als Ganzes eine Richtung besitzt.«
Im Hinblick auf das Weltall wird argumentiert, dass der »Zeitpfeil« automatisch von der Tatsache vorgegeben wird, dass die Galaxien voreinander fliehen. Aber es scheint so gut wie Einstimmigkeit darüber zu herrschen, dass, so weit es die Grundlagen der Physik betrifft, der »Fluss« der Zeit irrelevant ist und keinen Sinn ergibt; Fundamentale physikalische Gesetze sind vollkommen neutral im Hinblick der Richtung der Zeit (Mehlberg 1961, 1971, Landsberg 1982, Squires 1986, Watanabe 1953, 1956, Swinburne 1986, Morris 1984, Mallove 1987, D’Espagnant 1989, usw.). Die moderne Physik liefert sogar Szenarien, in denen die Zeit aufhört zu existieren und umgekehrt zu existieren beginnt. Also warum ist unsere Welt zeitlich asymmetrisch? Warum kann sie nicht ebensogut rückwärts wie vorwärts verlaufen? Das ist insofern ein Paradox, als dass die individuellen molekularen Dynamiken alle reversibel sind. Der hauptsächliche Punkt, auf den ich später zurückkommen werde, ist, dass sich der Zeitpfeil als Komplexität enthüllt, die sich in auffallender Parallelität zur sozialen Welt entwickelt.
Das Verstreichen von Zeit manifestiert sich selbst im Kontext der Zukunft und der Vergangenheit und diese basieren wiederum auf einem Referenzpunkt, der als Jetzt bekannt ist. Mit Einstein und der Relativität ist klar, dass es keine universelle Gegenwart gibt: Wir können nicht sagen, dass es überall im Universum »Jetzt« ist. Es gibt nicht einmal ein festes Intervall, das unabhängig von dem System ist, auf das es sich bezieht, ebenso wie die Entfremdung von ihrem Kontext abhängig ist.
Zeit ist demnach ihrer Autonomie und Objektivität, die es in der newtonschen Welt besaß, beraubt. Sie istin Einsteins Offenbarungen definitiv individueller skizziertals als der absolute und universelle Monarch, der sie gewesen ist. Zeit ist relativ zu bestimmten Bedingungen und variiert entsprechend solcher Faktoren wie Geschwindigkeit und Schwerkraft. Aber wenn die Zeit »dezentralisierter« geworden ist, hat sich auch die Subjektivität stärker kolonisiert als je zuvor. Da Zeit und Entfremdung überall auf der Welt vorherrschen, gibt es nur wenig Trost, zu wissen, dass sie von variierenden Umständen abhängen. Die Erlösung liegt darin, gemäß diesem Verständnis zu handeln; Es ist die Invarianz der Entfremdung, die das newtonsche Modell einer unabhängig dahinfließenden Zeit ihren Einfluss über uns ausüben lässt, noch lange nachdem seine theoretischen Grundlagen durch die Relativität eliminiert worden sind.
Die Quantentheorie, die sich mit den kleinsten Bestandteilen des Universums beschäftigt, ist als grundlegende Theorie der Materie bekannt. Der Kern der Quantentheorie folgt anderen fundamentalen physikalischen Theorien wie der Relativität darin, keine Unterscheidung hinsichtlich der Richtung der Zeit zu machen (Coveny und Highfield 1990). Eine grundlegende Voraussetzung ist ein Indeterminismus, in dem die Bewegung der Partikel auf dieser Ebene eine Frage von Wahrscheinlichkeiten ist. Zusammen mit solchen Elementen wie Positronen, die als Elektronen, die sich durch die Zeit zurück bewegen, betrachtet werden können, und Tachyonen, Partikeln, die sich schneller als Licht bewegen und dadurch Effekte und Kontexte erzeugen, die die zeitliche Ordnung umkehren (Gribbin 1979, Lindley 1993), hat die Quantenphysik fundamentale Fragen zu Zeit und Kausalität aufgeworfen. In der Quanten-Mikrowelt wurden weitverbreitete akausale Beziehungen entdeckt, die die Zeit überschreiten und letztlich die schiere Vorstellung von der Anordnung von Ereignissen entlang der Zeit in Frage stellen. Dort kann es »Verknüpfungen und Korrelationen zwischen sehr entfernten Ereignissen in Abwesenheit irgendeiner vermittelnden Kraft oder Signals« geben, die verzögerungsfrei eintreten (Zohar 1982, Aspect 1982). Der angesehene amerikanische Physiker John Wheeler (1977, 1980, 1986) hat die Aufmerksamkeit auf Phänomene gerichtet, in denen Ereignisse, die Jetzt eintreten, den Verlauf von Ereignissen, die bereits geschehen sind, beeinflussen.
Gleick (1992) fasste die Situation wie folgt zusammen: »Mit dem Verschwinden von Simultanität und schwindender Sequentialität geriet die Kausalität unter Druck und die Wissenschaftler*innen fühlten sich frei, sich zeitliche Möglichkeiten auszudenken, die noch eine Generation zuvor als weit hergeholt gegolten hätten.« Zumindest ein Ansatz der Quantenphysik hat versucht, die Vorstellung von Zeit insgesamt zu verwerfen (J.G. Taylor 1972); D. Park (1972) beispielsweise sagte, »Ich bevorzuge die atemporale Repräsentation gegenüber der temporalen.«
Die verwirrende Situation in der Wissenschaft findet ihr Gegenbild in der Extremität der sozialen Welt. Entfremdung, wie Zeit, erzeugt immer größere Kuriositäten und Druck: Die grundlegendsten Fragen werden schließlich beinahe notwendigerweise in beiden Fällen aufgeworfen.
Die Beschwerde von St. Augustinus im fünften Jahrhundert bestand darin, dass er nicht verstand, worin die Messung der Zeit tatsächlich bestand. Einstein, indem er die Unzulänglichkeit seines Kommentars einräumte, definierte Zeit oft als »was eine Uhr misst«. Die Quantenphysik ihrerseits postuliert die Untrennbarkeit vom Messenden und dem, was gemessen wird. Durch einen Prozess, von dem die Physiker*innen nicht behaupten, ihn vollständig zu verstehen, enthüllt der Akt der Beobachtung oder Messung nicht nur den Zustand eines Partikels, sondern legt ihn tatsächlich fest (Pagels 1983). Das brachte Wheeler (1984) dazu zu fragen: »Ist alles – inklusive der Zeit – durch Akte der beobachtenden Teilnahme aus dem Nichts erschaffen?« Wieder eine auffallende Parallele zur Entfremdung, die auf jeder Ebene und von Beginn an genau so eine Teilnahme erfordert, quasi als eine Definitionssache.
Der Zeitpfeil – unwiderruflich, nur in eine Richtung verlaufende Zeit – ist das Monster, das sich selbst als furchterregender als jedes physikalische Projektil entlarvt hat. Ungerichtete Zeit ist überhaupt keine Zeit und Chambel (1993) identifiziert die Gerichtetheit der Zeit als »eine primäre Charakteristik komplexer Systeme«. Das zeitreversible Verhalten atomarer Partikel ist »allgemein in das Verhalten des Systems eingependelt, das irreversibel ist«, folgerte Schlegel (1961). Wenn sie nicht in der Mikrowelt begründet liegt, woher stammt die Zeit stattdessen? Woher kommt unsere zeitgebundene Welt? Hier begegnen wir einer provokanten Analogie. Die Miniaturwelt, die von den Physiker*innen beschrieben wird, mit ihrer mysteriösen Verwandlung in die Makrowelt komplexer Systeme, ist analog zu der »primitiven« sozialen Welt und den Ursprüngen der Arbeitsteilung, die zu einer komplexen in Klassen geteilten Gesellschaft mit ihrem anscheinend irreversiblen »Fortschritt« führte.
Ein allgemein vertretenes Dogma der physikalischen Theorie ist, dass der Zeitpfeil abhängig vom zweiten Satz der Thermodynamik sei (z.B. Reichenbach 1956), der versichert, dass alle Systeme zu größerer Unordnung bzw. Entropie tendieren. Die Vergangenheit sei demnach geordneter als die Zukunft. Einige Verfechter*innen des zweiten Satzes (z.B. Boltzmann 1866) haben in dem entropischen Zuwachs die Bedeutung der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft gesehen.
Dieses allgemeine Prinzip der Irreversibilität wurde in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt, beginnend mit Carnot im Jahr 1824, als der industrielle Kapitalismus selbst seinen scheinbar unumkehrbaren Punkt erreichte. Wenn die Evolution die optimistische Anwendung von irreversibler Zeit dieses Jahrhunderts war, war der zweite Satz der Thermodynamik die pessimistische. In seiner ursprünglichen Fassung zeichnete er ein Universum als eine gigantische Wärmekraftmaschine, die heruntergewirtschaftet wurde, in der Arbeit zunehmend ineffizienter wurde und in einem Durcheinander stattfand. Aber die Natur ist, wie Toda (1978) bemerkte, kein Motor, funktioniert nicht durch und interessiert sich nicht für »Ordnung« und »Chaos«. Der kulturelle Aspekt dieser Theorie – nämlich die Angst des Kapitalismus um seine Zukunft – lässt sich kaum übersehen.
150 Jahre später realisieren theoretische Physiker*innen, dass der zweite Satz und seine vermeintliche Erklärung des Zeitpfeils nicht als gelöstes Problem betrachtet werden können (Neman 1982). Viele Verfechter*innen einer reversiblen Zeit in der Natur betrachten den zweiten Satz als zu oberflächlich, als sekundäres Gesetz, nicht als primäres (z.B. Haken 1988, Penrose 1989). Andere (z.B. Sklar 1985) empfinden das ganze Konzept der Entropie als schlecht definiert und problematisch, und hinsichtlich des Vorwurfs der Oberflächlichkeit wird argumentiert, dass das Phänomen, das vom zweiten Satz beschrieben wird, auf bestimmte ursprüngliche Zustände zurückgeführt werden kann und nicht die Funktionsweise eines allgemeinen Prinzips beschreibt (Davies 1981, Barrow 1991). Weiter noch, nicht jedes Paar von Ereignissen, die die »Nachher«-Relation zwischen dem einen und dem anderen erfüllen, weise auch eine entropische Differenz auf. Die Komplexitätswissenschaft (mit einem größerem Anwendungsbereich als die Chaostheorie) hat entdeckt, dass nicht alle Systeme zum Chaos neigen (Lewin 1992), auch entgegen dem zweiten Satz. Weiterhin zeigen isolierte Systeme, in denen kein Austausch mit der Umgebung erlaubt ist, den irreversiblen Trend des zweiten Satzes; selbst das Universum könnte kein solches geschlossenes System sein. Sklar (1974) weist darauf hin, dass wir nicht wissen, ob die Gesamtentropie des Universums zunimmt, abnimmt oder konstant bleibt.
Ungeachtet solcher Aporien und Einwände gibt es eine Entwicklung in Richtung einer »irreversiblen Physik« basierend auf dem zweiten Satz mit recht interessanten Implikationen. Der 1977 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Ilya Prigogine scheint der unermüdlichste öffentliche Verfechter der Ansicht zu sein, dass es eine angeborene unidirektionale Zeit auf allen Ebenen der Existenz gäbe. Während die Grundlagen jeder größeren wissenschaftlichen Theorie, wie bereits bemerkt, neutral gegenüber der Zeit sind, räumt Prigogine der Zeit eine besondere Bedeutung im Universum ein. Irreversibilität ist für ihn und seine Gesinnungsgenossen ein übergeordnetes Hauptaxiom. In der angeblich unparteiischen Wissenschaft war die Frage der Zeit zu einer eindeutig politischen Angelegenheit geworden.
Prigogine (1985) sagte in einem von Honda finanzierten Symposium, das Projekte wie künstliche Intelligenz förderte: »Fragen wie die nach dem Ursprung des Lebens, dem Ursprung des Universums oder dem Ursprung der Materie können nicht länger ohne Bezugnahme auf die Irreversibilität diskutiert werden.« Es ist kein Zufall, dass der Nicht-Wissenschaftler Alvin Toffler, Amerikas führender Befürworter einer Hightech-Welt, ein enthusiastisches Vorwort für einen der grundlegenden Texte der Pro-Zeit-Kampagne verfasst hat, für Prigogines und Stengers Order Out of Chaos (1984). Der Prigogine-Anhänger Ervin Laszlo fragt, in dem Versuch das Dogma der universellen irreversiblen Zeit zu legitimieren und zu erweitern, ob die Naturgesetze auf die menschliche Welt anwendbar seien. Er antwortet gleich selbst auf seine hinterlistige Frage (1985): »Die allgemeine Irreversibilität der technologischen Innovation überschreibt die Unbestimmtheit individueller Verzweigungspunkte und treibt den Prozess der Geschichte in der beobachteten Richtung von primitiven Stämmen hin zu modernen techno-industriellen Staaten voran.« Wie »wissenschaftlich«! Diese Übertragung der »Naturgesetze« auf die soziale Welt kann schwerlich mithilfe einer Beschreibung von Zeit, Arbeitsteilung und der Megamaschine, die die Autonomie oder »Reversibilität« der menschlichen Entscheidungen zerstört, aufgebessert werden. Leggett (1987) drückte dies perfekt aus: »Folglich würde es scheinen, dass der Zeitpfeil, der dem offensichtlich unpersönlichen Thema der Thermodynamik entstammt, aufs engste mit dem verbunden ist, was wir als menschliche Agent*innen tun können und was nicht.«
Es ist die Befreiung vom »Chaos«, die Prigogine und andere dem herrschenden System anbieten, indem sie das Modell einer irreversiblen Zeit verwenden. Das Kapital hat immer in Angst vor Entropie und Chaos regiert. Widerstand, besonders Widerstand gegen Arbeit, ist die eigentliche Entropie, die Zeit, Geschichte und Fortschritt beständig zu vertreiben sucht. Prigogine und Stenger (1984) schrieben: »Irreversibilität ist entweder auf allen Ebenen wahr oder auf keiner.« Alles oder nichts, immer mit den größtmöglichen Spieleinsätzen.
Seit die Zivilisation die Menschheit bezwang, müssen wir mit der melancholischen Vorstellung leben, dass unsere höchsten Erwartungen in einer Welt der beständig fortschreitenden Zeit vielleicht unmöglich sind. Je mehr Vergnügen und Erkenntnis zurückgestellt und aus unserer Reichweite gerückt werden – und das ist das Wesen der Zivilisation –, desto greifbarer wird die Dimension der Zeit. Nostalgie nach der Vergangenheit, Faszination für die Vorstellung von Zeitreisen und die aufgeheizte Suche nach größerer Lebensdauer sind einige der Symptome der Zeitkrankheit und es scheint für sie keine Heilung zu geben. »Was mit der Zeit nicht abläuft, ist der Ablauf der Zeit selbst«, wie Merleau-Ponty (1945) erkannte.
Zusätzlich zu der allgemeinen Antipathie im Ganzen jedoch ist es möglich auf einige jüngere Besonderheiten des Widerstands hinzuweisen. Die Gesellschaft für die Bremsung der Zeit wurde 1990 gegründet und hat wenige hundert Mitglieder in vier europäischen Staaten. Weniger skurril als es klingen mag, sind ihre Mitglieder der Umkehrung der gegenwärtigen Beschleunigung der Zeit im alltäglichen Leben verschrieben, mit dem Ziel in der Lage zu sein, zufriedenstellendere Leben zu führen. Michael Theunissens Negative Theologie der Zeit erschien 1991 und zielte explizit auf das, was sie für den ultimativen Feind des Menschen hält. Diese Arbeit hat wegen ihrer Forderung nach einer negativen Neubetrachtung der Zeit eine sehr lebhafte Debatte in philosophischen Kreisen (Penta 1993) ausgelöst. [7]
»Zeit ist die eine einzige Bewegung, die sich selbst in all ihren Teilen angemessen ist«, schrieb Merleau-Ponty (1962). Hier sehen wir die Fülle der Entfremdung in der geteilten Welt des Kapitals. Die Zeit wird von uns vor ihren Teilen gedacht; daher enthüllt sie ihre Totalität. Die Krise der Zeit ist die Krise des Ganzen. Ihr Triumph, scheinbar wohletabliert, war doch nie vollständig, solange irgendjemand die ersten Prämissen ihrer Existenz hinterfragen konnte.
Über dem See Silviplana fand Nietzsche die Inspiration für Also sprach Zarathustra. »Sechstausend Fuß über den Menschen und der Zeit«, schrieb er in sein Tagebuch. Aber die Zeit kann nicht durch eine erhabene Verachtung gegenüber der Menschheit überschritten werden, da das Überwinden der Entfremdung, die sie generiert, kein solitäres Projekt ist. In diesem Sinne ziehe ich Rexroths (1968) Formulierung vor: »das einzig Absolute ist die Gemeinschaft der Liebe, mit der die Zeit endet.«
Können wir der Zeit ein Ende setzen? Ihre Bewegung kann als Herrscher und Maß einer sozialen Existenz betrachtet werden, die zunehmend leerer und technologisierter geworden ist. Abneigung gegen all das ist spontan und unmittelbar und die Zeit enthüllt mehr und mehr ihre Verbindung mit Entfremdung. Der Umfang unseres Projekts der Erneuerung muss die gesamte Spanne dieser beiderseitigen Herrschaft umfassen. Das geteilte Leben wird von der Möglichkeit, vollständig und gänzlich – zeitlos – zu leben, nur dann ersetzt werden, wenn wir die primären Ursachen für diese Teilung beseitigen.
[1] dt. »Pflücke den Tag« oder etwas weniger wörtlich so etwas wie »Nutze den Tag« oder »Genieße den Tag« (Anm. d. Übers.).
[2] dt. etwa »eine große Gleichgültigkeit gegenüber der Zeit« (Anm. d. Übers.).
[3] dt. etwa Vater Zeit. Eine Personifizierung der Zeit als in der Regel alter Mann mit grauem langem Bart, der eine Sense und eine Sanduhr trägt. In der hiesigen mythologischen Überlieferung vielleicht vergleichbar mit dem Sensenmann (Anm. d. Übers.).
[4] Memento Mori bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie »Sei dir der Sterblichkeit bewusst« und bezeichnet hier einen Teil der mittelalterlichen Lithurgie, der für Vergänglichkeit steht (Anm. d. Übers.).
[5] dt. »Zeit – die nächste Quelle für Wettbewerbsvorteile« (Anm. d. Übers.)
[6] dt. »Zurückgewonnene ›Arbeitsabläufe‹« (Anm. d. Übers.)
[7] Ein wenig seltsam erscheint mir dieser Verweis Zerzans auf die »jüngeren Besonderheiten des Widerstands« zu sein, frage ich mich doch, welche Perspektive er damit aufzeigen will. Eine »philosophische« Debatte um eine »negative Neubetrachtung der Zeit«, was vermag sie zu einer anarchistischen Rebellion gegen die Zivilisation im Allgemeinen und die Zeit im Speziellen beizutragen? Sicher erfordert eine erfolgreiche Rebellion immer einer tiefgehenden Analyse, aber wann trug jemals die Philosophie oder irgendeine andere Wissenschaft ernsthaft zu einer solch brauchbaren Analyse bei? Sind (selbst die kritischen) Analysen von Philosophie und Wissenschaft nicht vielmehr zentral darin, die herrschenden Auffassungen gegen Angriffe jedweder Art abzusichern und ein kritisches Hinterfragen vielmehr in bestimmte Bahnen zu kanalisieren, die letztlich in einer Verfeinerung der Mechanismen der Herrschaft münden, anstatt in der Rebellion gegen sie? Und sicher bedient sich auch die anarchistische Analyse häufig der Erkenntnisse der Wissenschaft, aber macht es nicht eine spezifisch anarchistische Analyse in der Regel aus, diese Erkenntnisse vom Balast der Wissenschaft zu befreien? Ob Zerzan hier seiner eigenen Methodik der Argumentation erliegt, die sich teilweise so exzessiv der Aussagen von Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen bedient, dass diese beinahe zu Autoritäten werden? Ich weiß es nicht. Jedenfalls bin ich mehr als skeptisch, ob ich einen kritischen Diskurs über die Zeit innerhalb der Gefilde des Philosophischen als eine ernstzunehmende Form des »Widerstands« würdigen kann. (Anm. d. Übers.)