Originaltext: http://www.raumgegenzement.blogsport.de/2010/11/22/johann-most-der-narrenthurm-1888/. Nachbearbeitet für eine bessere Lesbarkeit (ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.
Johann Most
Der Narrenturm
»Du bist verrückt!« Es wird wenig Menschen geben, denen nicht diese Redensart schon hundert Mal an den Kopf geworfen wurde. Demnach sieht Einer den Anderen für einen Narren an, aber Jeder wird gewaltig protestieren, wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass die ganze Menschheit bisher mehr oder weniger im Irrsinn lebte. Und doch ist das eine Tatsache, welche sich beweisen lässt.
Als verrückt muss man einen Menschen ansehen, der unlogisch denkt, Dinge erstrebt oder ausführt, welche offenbar den gewollten Zweck nicht erfüllen können, der sich sinnlos gebärdet oder gar in eigentlichen Tollheiten sich ergeht.
Man hat in der ganzen sogenannten zivilisierten Welt zahlreiche Irrenhäuser oder Narrentürme errichtet und etliche Verrückte darin untergebracht. Die übrigen laufen frei umher, könnten auch gar nicht abgesondert werden, da hiezu ihre Zahl zu gross ist.
Wo wir aber immer vordringen mögen im Reiche der Geister – wirkliche Klarheit im Denken, Unbefangenheit im Handeln und unzweifelhafte Zweckmässigkeit im Gebahren der Einzelnen, verglichen mit dem Daseinszwecke der Gesammtheit, begegnen uns heutzutage fast ausschliesslich nur in jenen eng begrenzten Zirkeln, deren Repräsentanten, um dem Wahnsinn die Krone aufzusetzen, von dem eigentlichen Narrenpack für verrückt erklärt werden!
Rings um uns ist die Menschheit befangen in fixen Ideen, geleitet von Manieen, eingeengt durch unglaubliche Affheiten und nicht selten sogar förmlich besessen von heller Raserei.
Ich kann freilich auf sechszehn Druckseiten nicht alle Narreteien aufzählen, welche den Menschen anhaften, aber ich will hier wenigstens Andeutungen machen, die immerhin stark genug sein dürften, um das epidemische Auftreten der verschiedenartigsten Wahnsinnigkeiten innerhalb der bisherigen menschlichen Gesellschaft ausser allen Zweifel zu setzen.
Dieser Mensch leidet an einer fixen Idee! So spricht man von Manchem, hält aber Denjenigen, welchem eine solche Nachrede gezollt wird, immerhin für eine ausnahmsweise Erscheinung. In Wahrheit aber ist sicherlich eine überwiegende Mehrheit aller Menschen mit fixen Ideen behaftet, d.h. mit Anschauungen, welche, obgleich sie nicht logisch begründet werden können oder auch nur irgend einen wirklichen Zweck haben, so fest in den Schädeln der betreffenden Menschen haften, dass kein Argument der Wissenschaft, kein, wenn auch noch so kritischer Scharfsinn sie fortzuscheuchen vermag.
Obenan muss man unter dieser Rubrik all Dasjenige stellen, was irgend einen Zusammenhang mit dem Religionsunfug hat.
Jeder scharfsinnige Denker kann in allen bisher dagewesenen Religions-Systemen nicht etwa bloss einen raffiniert ersonnenen Schwindel erblicken, sondern muss, wenn er in diese Hirnverkleisterungs-Methoden tiefer eindringt, geradezu die absurdesten Kindereien als Basis derselben wahrnehmen. Trotz alledem sind in der Minorität aller existirenden Schädel derartige »Ideen« so stark fix geworden, dass jede Aufklärung über die vorliegende Einfaltspinselei, wenn es gut geht, nur einem idiotischen Lächeln, häufig genug aber sogar rasender Wut begegnet.
Man bedenke wohl, dass in Sachen der Religionen nicht etwa von einer Überzeugung, von Erfahrungs-Grundsätzen oder von logischen Folgerungen die Rede sein kann, da ja die ganze Religionsbrühe, wie sie seit undenklichen Zeiten bis herab zu den Tagen der »Salvation Army« eingerührt worden ist, nur aus zusammenhangslosen Fabel-Phrasen und »Moral«-Flausen bestand. Wer diese Sauce eingegossen bekommt, dem geht es eben ähnlich wie dem übermässigen Schnapssöffel, der auch die fixe Idee hat, dass rechts links und links rechts sei, oder dass er die Nüchternheit unter lauter Betrunkenen vorstelle; immerhin hat der Schnaps nur eine vorübergehende Misswirkung, während der Religionsfusel in der Regel die menschlichen Gehirne, welche einmal davon heimgesucht wurden, für immer unverständig gestaltet. Welches Urtheil die fixe Idee des Religions-Unsinns bisher in der Welt angestiftet hat, das ist mit ehernem Griffel eingetragen in den Annalen des menschlichen – Wahnsinns.
Wer religiös ist, leidet an fixen Ideen; wer von dieser Krankheit geplagt wird, ist ein Narr.
Viel bösartiger und gefährlicher, als der Religionsidiot, ist der Staatstrottel, doch hat Letzterer mit dem Ersteren das Eine gemein, dass auch sein armes Hirn von fixen Ideen ohne Sinn und Verstand durchseucht ist.
Der Staat, ursprünglich ein zufälliges Notinstitut, das der Krieg, welchen die einzelnen Menschheitshorden auf Grund einer anderen fixen Idee – des Stammes-, später Nationaldünkels – gegenseitig führten, geboren, ist, wie leicht erkannt werden kann, mit der Zeit in einen grossartigen Gewaltmechanismus umgeschlagen, den die besitzenden, weil stehlenden Klassen systematisch zu jener Ungeheuerlichkeit entwickelten, welche jeden Freund freiheitlicher Bestrebungen mit den ernstlichsten Befürchtungen für die Zukunft erfüllen muss. Mit anderen Worten: Der Staat ist die organisierte Peitsche, womit die Volksmassen zu Gunsten einer räuberischen und ausbeutenden Minorität in Schrecken versetzt und in Unterwürfigkeit erhalten werden.
Trotzdem betrachten die meisten »Kultur«-Menschen den Staat wie ein natürliches, unabänderliches Element, das nur in die richtige Fasson gebracht zu werden braucht, um zu einer Wunderquelle allgemeiner Wohlfahrt sich zu gestalten. Ausser den Anarchisten schreien daher Alle, die Etwas auf dem Herzen haben: Heiliger Staat hilf!
So ist die Staatsauffassung zur fixen Idee geworden. Wer von derselben angekränkelt ist, hat einen Gehirnfehler; denn jene Gehirntheile, wo diese Staatsfanatismen sich eingebohrt haben, sind gegenüber antistaatlichen Argumenten reflektionsunfähig, sozusagen lahm, also ungesund. Kurzum: Der Staatsmensch ist ebenso verrückt, wie der Religionsnarr. Und was die Schandtaten anbetrifft, welche im Namen des Staates bisher begangen worden sind, so stehen dieselben weder an Massenhaftigkeit, noch an Brutalität denjenigen nach, welche Namens der verschiedenen Religions-Agenturen (Kirchen) zur Verübung gelangten.
Nach dem Hinweis auf diese beiden Massenwahnsinnigkeiten, deren epidemisches Auftreten allein schon die menschliche Gesellschaft förmlich als Narrenturm erscheinen lässt, wäre es Luxus, wollten wir ausserdem noch aus den Hunderttausenden spezielleren fixen Ideen, die den Menschenschädel verunzieren, etliche zur Illustration unserer Betrachtungen herausgreifen. Es genügt, wenn auf das Vorhandensein derselben überhaupt hingewiesen wird. Jeder findet zudem leicht heraus, dass und wieso Andere an fixen Ideen leiden; seine eigenen freilich erkennt er nicht, sondern hält dieselben für hochweise Resultate logischen Denkens.
Er – der Mensch nämlich – dreht sich rechts, er dreht sich links, der Zopf, der hängt ihm hinten –jawohl, der Zopf, dir fixe Idee, der Wahnsinn.
Wenn der Mensch einen unwiderstehlichen Drang empfindet, bestimmte Handlungen zu begehen oder einem gewissen Ziele zuzustreben, ohne dass hierzu zwingende materielle Gründe veranlassen oder ein augenscheinlicher idealer Zweck anspornt, so ist das eine Manie. Die Zahl der existirenden Manieen ist nicht geringer, als die der fixen Ideen; und es ist schwer zu sagen, welche von beiden Hauptgattungen des Wahnsinns die Menschheit bisher am meisten unglücklich gemacht hat. Dagegen dürfte feststehen, dass eine Manie existirt, die vielleicht als die Mutter sämtlicher sonstigen Narrheiten betrachtet werden kann. Das ist die Eigentums-Manie.
Da der Mensch sich im Laufe der Zeit eine Menge von solchen Bedürfnissen angewöhnte, welche nicht durch die Produkte der Natur, sondern nur durch die Resultate menschlicher Tätigkeit befriedigt werden können, so ist es nur ganz selbstverständlich, dass Jeder einen Hang empfindet, möglichst viele solche Dinge unter möglichst geringem Aufgebot eigener Arbeit zu erlangen – Eigentümer derselben zu werden.
Der Mensch lebt nicht bloss von heute auf morgen, sondern kann unter Umständen ein ziemlich hohes Alter erreichen; ausserdem fordern die unmittelbaren Nachkommen dazu heraus, dass sie mit Mitteln versehen werden, welche ihnen eine reguläre Befriedigung all‘ ihrer Bedürfnisse gestatten. Aus diesem Grunde sorgt Jeder dafür, für sich und die Seinigen Existenzmittel in Besitz zu bekommen. So weit wäre Alles natürlich und daher vernünftig.
Der Drang nach Sicherung der eigenen Existenz und derjenigen seiner Sprösslinge ist aber ausgeartet zum masslosesten Egoismus, zu einer Habgier, welche durch Nichts befriedigt werden und die zu ihrer Rechtfertigung keinen Grund aufweisen kann, der nach den Prinzipien von wirklicher Gerechtigkeit Stand halten würde.
Es werden Schätze und Reichtümer (Produkte menschlicher Arbeit) im Werte von Hunderten von Millionen durch Einzelne aufgehäuft. Da Solches aber nur geschehen kann, wenn zahllose andere Menschen um den grössten Teil des Ertrages ihrer Arbeit betrogen und beraubt werden, so geschieht diese wahnwitzige Güteraufhäufung nur aufgrund zahlloser Verbrechen und ist mithin gemeingefährlich.
Neun Zehnteile aller jetzt lebenden Menschen leiden unter den Folgen dieser kriminellen Narretei, unter den Konsequenzen der Eigentums-Manie. Nur Wenige haben dieses Übel in seiner ganzen Tiefe erkannt und dringen auf dessen Abstellung durch radikale Mittel. Die Mehrheit des Volkes hat sich an diesen Eigentums-Wahnsinn dermassen gewöhnt, dass sie dieselbe als eine natürliche, unvertilgbare menschliche Eigenschaft auffasst und Diejenigen für »verrückt« erklärt, welche es wagen, den oben gekennzeichneten Wahnsinn bei dessen richtigem Namen zu nennen.
Wenn ein Angehöriger der besitzenden Klasse einmal bei einer kleinen Spitzbüberei ertappt wird, so heisst es, er leide an Kleptomanie (Stehlsucht); es leuchtet aber Niemandem ein, dass alle Besitzenden heutzutage Kleptomanen sind, weil sie samt und sonders nicht nur schlechthin stehlen, sondern den Diebstahl mit Leidenschaft und in absolut massloser Weise betreiben, ohne dass sie anzugeben vermöchten, was sie denn eigentlich mit den immer höher sich häufenden Reichtümern anfangen wollen.
Sie haben geradezu das ganze heutige Gesellschafts-System auf organisierte Räuberei basirt, welche Seitens Derer, die bereits Alles im Überfluss besitzen, an Denjenigen verübt wird, die besitzlos sind und daher einzig und allein Grund hätten, nach Erwerb zu trachten. Alles, was die Letzteren über ihre notdürftigsten unmittelbaren Verbrauchsgegenstände hinaus erzeugen, wird ihnen von den Ersteren vor der Nase weggenommen.
Weshalb lassen sich denn die dummen Teufel das gefallen! Ja weshalb? Weil sie grösstenteils dermassen vernagelt sind, dass sie den Raub gar nicht bemerken. Weil ihre Gehirne bis zur Unzurechnungsfähigkeit durch Pfaffen, Schulmeister, Zeitungsschmierer und andere Schädelverpester systematisch gelähmt wurden, so dass sie nicht mehr die Fähigkeit besitzen, allen jenen Schlichen zu folgen, vermöge welchen ihnen die reichen Spitzbuben die Früchte ihrer Arbeit verschleppen.
Die Menschheit ist trotz allem Bildungsgefackel über ihre Vergangenheit im Grossen und Ganzen so unaufgeklärt, dass die Meisten gar keine Ahnung davon haben, wie das Kapital, welches heutzutage die Welt beherrscht, ursprünglich entstanden ist. Ebenso wenig kennt die grosse Masse des Volkes die ökonomischen Gesetze, resp. die Spitzbuben-Maximen, auf Grund welcher gegenwärtig neue Kapitalien auf alte Reichtümer getürmt werden. Und doch ist lediglich ein Fünkchen gesunder Menschenverstand nötig, um diese Dinge zu ergründen, ein Beweis, dass es an diesem Minimum von Vernunft weit und breit mangelt, was auf epidemischen Idiotismus schliessen lässt.
Es bedarf nicht des Studiums vieler Gelehrten-Werke, um abzufinden, wieso die heutige Welt sich als Räuberhöhle erweist; in wenigen Sätzen ist das innere Wesen der heutigen Gesellschafts-Monstrositäten aufgedeckt.
In unserer Prinzipienerklärung wird z.B. das Wichtigste folgendermassen dargelegt:
»Die heutige sogenannte »Ordnung« ist begründet auf Ausbeutung der Besitzlosen durch die Besitzenden.«
»Diese Ausbeutung besteht darin, dass die Besitzenden die Besitzlosen durchschnittlich um den Preis der blossen Existenz-Unkosten (Lohn) kaufen und Alles, was durch Anwendung derselben über diesen Betrag an Neuwerten (Produkten) geschaffen wird, für sich in Anspruch nehmen, d.h. stehlen.«
»Da die Besitzlosen wegen ihrer Armut gezwungen sind, ihre Arbeitskraft den Besitzenden zum Kauf anzubieten; und da die heutige Grossproduktion es mit sich bringt, dass die technische Entwickelung mit riesiger Geschwindigkeit von statten geht, so dass unter Anwendung von immer weniger menschlichen Arbeitskräften immer grössere Waarenmengen erzeugt werden, so nimmt das Angebot von
Arbeitskräften stetig zu, während die Nachfrage sich verringert. Das ist der Grund, weshalb die Arbeiter im Selbstverkauf immer stärker gegen einander konkurrieren, wodurch die Löhne fort und fort sinken, mindestens aber über jenen Betrag, der zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit absolut notwendig ist, durchschnittlich nicht hinaus gelangen«.
Während auf solche Weise den Besitzlosen jede Möglichkeit, in die Reihen der Besitzenden sich empor zu arbeiten, selbst der aufreibendsten Tätigkeit ungeachtet, vollkommen abgeschnitten ist, werden die Wohlhabenden vermöge der immer stärkeren Beraubung der arbeitenden Klasse in stetig zunehmendem Masse reicher, ohne dass sie irgendwie produktiv zu sein brauchen.«
»Mit der Zunahme des individuellen Vermögens steigt die Habgier der Besitzenden. Sie konkurrieren unter sich um den Raub an den Volksmassen mit allen Mitteln. In diesem Kampfe unterliegen durchschnittlich die mässig Begüterten, wohingegen die eigentlichen Grosskapitalisten ihre Reichtümer bis ins Ungeheuerliche anschwellen, ganze Produktionszweige nebst Handel und Verkehr in ihren wenigen Händen konzentrieren und zu Monopolisten sich entwickeln.«
»Die Vermehrung der Produkte bei gleichzeitiger Verringerung des Durchschnittseinkommens der arbeitenden Volksmassen führt von Zeit zu Zeit zu sogenannten Geschäfts- und Handelskrisen, welche das Elend der Besitzlosen auf die Spitze treiben. Die Statistik der Vereinigten Staaten von Nordamerika zeigt, dass nach Abzug des Rohmaterials, der Kapitalzinsen u. s. w., die besitzenden Klassen mehr als fünf Achtel aller Produkte für sich in Anspruch nehmen und höchstens drei Achtel derselben den Arbeitern überlassen. Da nun aber die besitzende Klasse nur sehr wenig zahlreich ist, so vermag sie ihren »Profit« durchaus nicht zu verbrauchen, und da die Arbeiter nicht mehr konsumieren können, als sie erhalten, so tritt von Zeit zu Zeit sogenannte »Überproduktion« ein.«
»Ausserdem bringt es die zunehmende Ausmerzung von Arbeitskräften aus dem Produktionsprozesse mit sich, dass ein jährlich steigender Prozentsatz der besitzlosen Bevölkerung total verarmt und dem » Verbrechern, der Vagabundage, der Prostitution, dem Selbstmord, dem Hungertode und der mannigfaltigsten Verkommenheit in die Anne getrieben wird.«
»Dieses System ist ungerecht, wahnwitzig und raubmörderisch. Deshalb ist dessen gänzliche Zerstörung mit allen Mitteln und grösster Energie seitens eines jeden Menschen, der darunter leidet und durch seine Untätigkeit wider dasselbe nicht für dessen Fortbestand mitverantwortlich sein will, anzustreben.«
Hierin liegt augenscheinlich keine »Aufhetzerei« und kein Phantasiegewebe, sondern nur eine Logik der Tatsachen, wie sie sich jedem gesunden Menschenhirn ganz von selber Angesichts der Erscheinungen des sozialen Lebens förmlich mit zwingender Gewalt einprägt. Jedem gesunden Menschenhirn – da liegt der Haase im Pfeffer. Die meisten Gehirne sind krank; der grösste Teil der Menschheit ist verrückt und daher begriffsstutzig.
Man sagt in wissenschaftlichen Kreisen: »Der Mensch ist, was er isst.« Das heisst, normale Leibesgestaltung setzt eine naturgemässe Lebensweise voraus; das Gehirn gehört aber auch zum Leibe, mithin kann ein mangelhaft ernährter Mensch auch nicht viel Verstand haben. Manchmal wirkt aber ein verdorbener Magen, wenn auch nicht nachhaltig und sehr unregulär, auf das Gehirn ein. Vielleicht bringt demgemäss doch noch der Hunger die Menschen zu Verstand. Und wenn derselbe nur so lange anhält, als nötig ist, den bestehenden menschlichen Narrenturm einzureissen, so würde das genügen, weil nachträglich, insbesondere nach Beseitigung der Eigentumsmanie, jeder leicht in eine Lage sich versetzen könnte, die es ihm ermöglicht, so zu leben, dass sein Körper inklusive Hirn zu gesunden vermag, was einem Aufhören aller Verrücktheit gleichkäme.
Unsere Prinzipienerklärung reklamirt die Ordnung der Vernunft und sagt von derselben:
»Diese kann nur dann hergestellt werden, wenn alle Arbeitsinstrumente, Grund und Boden und sonstige Bedingnisse der Produktion in gesellschaftliches Eigentum verwandelt werden. Denn nur unter dieser Vorbedingung ist jede Möglichkeit zu weiterer Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschnitten. Nur vermittelst gemeinsamen unzerteilbaren Kapitals können Alle in den Stand gesetzt werden, die Früchte gemeinsamer Tätigkeit voll und ganz zu geniessen. Nur bei der Unmöglichkeit, individuell (privatem) Kapital zu erwerben, ist jeder Arbeitsfähige gezwungen zu arbeiten, wenn er einen Anspruch auf’s Leben erheben will.«
»Weder Herrschaft noch Knechtschaft sollen künftighin in der menschlichen Gesellschaft existiren.«
»Diese Ordnung der Dinge bringt es auch mit sich, dass je nach dem Bedarfe der Gesamtheit produziert wird, und dass Keiner mehr als etliche Stunden des Tages zu arbeiten braucht, Alle aber dennoch in reichlichstem Masse alle ihre Bedürfnisse zu befriedigen vermögen. Damit ist auch Zeit und Gelegenheit gegeben, die denkbar höchste Bildungsmöglichkeit dem ganzen Volke zu erschliessen, d.h. mit den Privilegien des Vermögens und der Geburt auch die Vorrechte höheren Wissens auszumerzen.«
Ich bin hier absichtlich etwas von meinem eigentlichen Thema abgewichen, denn es handelt sich für mich nicht nur darum, die schändlichste Verrücktheit – die Eigentums-Manie – kritisch zu beleuchten, sondern auch darum, zu zeigen, wie man dieselbe kurieren kann.
Man schaffe das Privateigentum ab und lebe kommunistisch. Der Kommunismus macht die Raubsucht oder Eigentumsmanie nicht bloss hinfällig, sondern sogar undenkbar.
Die Skizzirungen anderer Manien, obgleich es deren noch eine Unzahl gibt, erspare ich mir, weil sie alle zusammen genommen nicht so gemeingefährlich sind, wie die Eigentumsmanie.
Eine ganze Reihe anderer menschlicher Wahnsinnigkeiten möchte ich als Affheiten bezeichnen.
Unsere Urvettern, die Affen, zeichnen sich unter Anderem durch die Sucht aus, Alles nachzuahmen, was ihnen vorgemacht wird. Wir Menschen, die wir ja nach Darwin und allen sonstigen fortgeschritteneren Naturforschern mit den Affen einen gemeinsamen Urahnen hatten, treiben es im Allgemeinen, nicht viel besser, gerade als wollten wir so die Richtigkeit der Darwinschen Theorie bestätigen.
Es kommt deshalb viel darauf an, wer in der Lage ist, den Übrigen Etwas vormachen zu können, um nachgeahmt zu werden. In dieser Situation befinden sich gegenwärtig die besitzenden und herrschenden Klassen.
Dieselben haben nebst allen anderen gewerblichen Unternehmungen auch die Presse in ihrem Kontrollbereiche und benützen daher dieselbe zu ihren Zwecken. Davon merkt aber das Volk nichts. Es lässt sich nicht bloss die verrücktesten Schuftereien in den Zeitungen auftischen, sondern wiederkäut dieselben sogar. Das eigene Hirn wird solchermassen nur zu einem Schwamme, durch welchen fremde Gedanken sickern. Das Affenmässig-Unsinnige eines solchen Treibens liegt auf der Hand, bildet aber den Schlüssel Zur Ergründung der Tatsache, dass der Mensch ein konservatives Tier ist, das nur in wenigen Exemplaren es sich in den Sinn kommen lässt, irgend Etwas zu tun, was ihm nicht vorgemacht wurde. Auf dem Gebiete der Moral finden wir die Affheit ganz besonders krass entwickelt. Jahrhunderte lang werden Dinge als moralisch angesehen, die zuvor oder hernach als höchst unmoralisch gelten, oder umgekehrt. Fast kein Mensch gibt sich während der betreffenden Periode die Mühe, die Einzelerscheinungen auf dem Moralgebiete sachlich zu prüfen und demgemäss von Fall zu Fall über das Moralische oder Unmoralische bestimmter Handlungen zu entscheiden. Es genügt nahezu Jedem, wenn er seinen Nebenmann betrachtet und gleich diesem wohlwollend lächelt, die Stirne runzelt, lobt oder schimpft, und keiner dieser geistigen Wiederkäuer begreift, dass er solchermassen sich nur als Zubehör zu einem Affenhaufen entpuppt.
Der Vater beansprucht das Recht, seine Kinder nach seinem Geschmacke, d.h. nach dem Muster seines Ich zu erziehen, weshalb es kein Wunder ist, dass ein alter Esel nur einen jungen zu Stande bringt. Erst wird so die Affheit von Geschlecht zu Geschlecht fortgezüchtet und hernach macht sich der Orangutismus ganz von selbst in jeder Hinsicht geltend. Endlich sieht Einer den Anderen an, jammert über »schlechte Zeiten« und weiss sich mit nichts Anderem zu trösten, als mit dem Seufzer, dass es »immer so gewesen« sei, wobei es ihm aber immer noch nicht auffällt, dass diese Unveränderlichkeit seinem Affentum wesentlich geschuldet ist.
Auf solche Art wird alles Moralisiren zu einer Selbstverspottung; und die Moral selbst – was ist sie im Grunde genommer? Ein durch Nachäfferei geheiligtes mysteriöses inneres Göttchen, dessen Wesen vor jeder ernsthaften Kritik hinschmilzt wie Talg auf dem Feuer.
Jeder hat ja eine Extra-Moral für sich, der Zar und der Nihilist, der Papst und der Atheist, der Sultan und der Cölibatist, der Wassersimpel und der Zechbruder, »Gott« und der »Teufel«. Die Moral schlängelt sich durch die Geschichte hin, wie eine Boa Construktor mit schillernden Farben und aufgesperrtem Rachen – von Ferne besehen, sehr einladend, genauer betrachtet, allvernichtend. Alles, was die Menschen nach und nach für moralisch erklärten, wurde jedesmal – wenn sich erst etwa zehn Generationen damit gegenseitig narrten – zuletzt für unmoralisch aufgefasst. Summa-Summarum kann man sagen, dass die jeweilige Moral den Inbegriff aller fixen Ideen, Manien, Affheiten und sonstigen Narreteien der Menschen, welche in einer bestimmten Periode lebten, vorstellte.
Kommen einmal die Menschen zu Verstand, so werden sie sich auch durch so verschwommene, Nichts und Alles zugleich deckende Begriffe, wie Moral u. dgl., ebensowenig leithammeln oder äffen lassen, wie durch Gott, Gesetz und Autorität. Vernünftige Menschen werden nicht moralisch sein, sondern edelsinnig. Ökonomisch, politisch und logisch frei, werden sie die gleiche Freiheit, welche sie selber in Anspruch nehmen, auch bei Anderen respektieren. Nicht ein »moralischer« oder greifbarer Knüppel wird Jeden antreiben, in jedem Mitmenschen gleichsam ein zweites Ich zu erblicken und sich demgemäss demselben gegenüber zu verhalten, sondern jene höhere Einsicht und Bildung, welche erst erlangt werden kann, wenn mit dem Hinschwinden des Privat-Eigentums auch der Ich-Wahnsinn sein Ende gefunden hat.
Bisher haben wir übrigens nur solche Arten des menschlichen Wahnsinns betrachtet, welche bei allen schauderhaften Folgen derselben harmlos erscheinen, wenn man sie mit jenen Verrücktheiten vergleicht, die ich als Rasereien bezeichnen möchte.
Wenn man die sogenannte Weltgeschichte liest, so glaubt man die Annalen der Tobsucht vor sich zu haben. In äusseren und inneren Kriegen wurden Hunderttausende hingewürgt und der ganze Zweck des Kampfes war in der Regel ein geradezu absurder, ein dem Despotenwahnsinn, der Religionspinselei oder der Eigentumsbestialität entsprungener.
Ferner zieht sich, wie ein blutiger Strick, durch diese ganze Geschichte ein wilder, hartnäckiger, scheusslicher Verfolgungszug, gerichtet gegen jede neue Idee, gegen jeden Kulturfortschritt, insbesondere gegen alle Bestrebungen, die auf eine Humanisirung der menschlichen Gesellschaft, auf Herstellung brüderlicher Verhältnisse und harmonischer Zustände hinausliefen. Wenn es galt, die Träger und Verfechter der letztgedachten Ideen, also der geklärten Menschenvernunft, zu attackieren, scheinen sich alle niedrigen Triebe tierischer Ungeheuer, verschärft durch künstliche Waffen, in dem Menschen zu einer einzigen Monstrosität konzentriert und gegen die Repräsentanten einer edleren Denkweise zugespitzt zu haben.
Heute ist das noch nicht besser geworden. Leset die Tiraden in den Zeitungen gegen die Anarchisten und sonstigen Sozialisten; vernehmet die politischen Ankläger und schamlosen Richter in den »Gerechtigkeits«-Hallen gegen Jeden, der es wagt, für die arbeitenden Volksmassen das zu reklamiren, was von denselben geschaffen wurde, und was ihnen mithin gehört; höret die barbarischen Urteilssprüche, welche die Pionire einer besseren Zukunft über sich ergehen lassen müssen; blicket empor zu den Schaffoten, wo die besten Geister unserer Zeit verbluten müssen; sehet die Anwälte einer geknechteten Menschheit in den Zuchthäusern aller Länder dahinsiechen, und Ihr werdet gestehen müssen, dass die Tobsucht der Schlechten gegen die Guten noch in vollem Gange ist.
Ihr werdet vielleicht sagen, dies Alles beweise, dass die Menschheit unheilbar wahnsinnig sei, dass man also die Hoffnung aufgeben müsse, sie jemals zur Vernunft zu bringen, und dass die ausnahmsweise geistig Gesunden am klügsten täten, wenn sie sich mit sich selbst begnügten und in pessimistischer Philosophie allen Weltschmerz aus der Brust verbannten.
Ein solches Raisonnement hätte Sinn, wenn die menschliche Verrücktheit etwas von Natur aus Gegebenes wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Wäre dem so, dann müsste man doch auch annehmen, dass die ganze tierische Welt, und nicht nur eine einzelne Spezies derselben (das höchst entwickelte Säugetier, der Mensch) dem Wahnsinn verfallen sei. Hievon ist indessen nichts zu vermerken.
Der Durchschnitts-Mensch in seiner Anmassung und Überschätzung spricht zwar den übrigen Tieren die Vernunft ab und nennt deren Aktions-Motoren verächtlich »Instinkt«. Tatsache aber ist es, dass das Leben der Tiere im Allgemeinen, verglichen mit dem der Menschen, äusserst vernünftig erscheint. Das Tier in seinem Naturdasein begeht keine Handlungen, welche nicht seinen Lebenszwecken entsprechen; und nur solche Tiere, welche der Mensch unterjochte, leiden zuweilen an gestörten Gehirnen – werden »toll« etc. –, als ob sie der menschliche Wahnsinn ansteckte.
Wir gehen daher gewiss nicht fehl, wenn wir annehmen, dass, jener unsinnige Zustand, welchen man unter der Bezeichnung »Kultur« kennt, den Menschen geistig auf, resp. unter den Hund gebracht hat.
Aber, ruft man mir zu, soll denn die ganze Zivilisation wieder aufgehoben werden? Sollen wir wieder Wilde werden! Keineswegs, sage ich. Die Zivilisation hat Manches zu Tage gefördert, was bei weiser Benützung die Menschheit glücklich machen könnte; bisher aber waren die Errungenschaften auf dem Gebiete der Kultur so falsch plaziert, dass jede Erweiterung derselben nur ein neues Mittel bildete, die Menschen elender und ihre sozialen Verhältnisse verrückter zu gestalten.
Wenn es allerdings ein unabwendbares Geschick gäbe, vermöge welchem die Menschheit verdammt wäre, ewig unter einer solch‘ konfusen Entwicklung der Zivilisation in stetig zunehmendem Grade zu leiden, dann wäre Unsereiner freilich geneigt, auszurufen: Nieder mit der Kultur, welche uns verrückt und elend machte!
So steht es aber nicht. Unser Wahnsinn ist heilbar; unser Elend kann behoben werden; man kann der Zivilisation eine Wendung geben, welche leibliches Wohlsein, geistige Gesundheit, Glück und Frieden für Alle herbeizuführen geeignet ist.
Die erste Vorbedingung für die Genesung Wahnsinniger besteht darin, dass dieselben sich bewusst werden, verrückt zu sein, ihn solches Bewusstsein kann aber selbstverständlich nur bei einem kleinen Bruchteil der irrsinnigen Menschheit erweckt werden; es muss daher die Hoffnung aufgegeben werden, dass man die Mehrheit des Volkes zur Selbsterkenntnis bringen könne, womit, nebenbei bemerkt, auch alle jene Reformereien, welche durch allgemeine Abstimmungen herbeigeführt werden sollen, in das Bereich der Illusionen verwiesen werden. Allein, weil man es im Allgemeinen mit unzurechnungsfähigen Narren zu thun hat, darum genügt es auch, wenn die wenigen Weisen zunächst die nur in geringem Grade Verrückten aufsuchen und zur Selbstkritik herausfordern.
Eine solche Bewegung ist gegenwärtig rings um die Erde im Gange. Es gibt allenthalben scharfsinnige Denker, welche als solche den naturgemässen Beruf in sich fühlen, den Übrigen gegenüber sozusagen als Irrenärzte zu figurieren.
Deren Tätigkeit besteht in erster Linie darin, dass sie die bestehenden sozialen, politischen, religiösen etc. Verhältnisse in wahrheitsgemässen Bildern vor aller Welt entrollen und mit den entsprechenden Kommentaren versehen. Darob werden Diejenigen, welche nicht ganz unheilbar wahnsinnig sind, aus ihrem Indifferentismus hinsichtlich öffentlicher Angelegenheiten aufgescheucht.
Es finden Gruppierungen derselben statt. Je nach dem rascheren oder langsameren Fortschreiten der Erkenntnis; je nach den Charakter-Eigenschaften der geistig Genesenden bilden dieselben Organisationen zu mehr oder minder radikalen Zwecken, die aber samt und sonders die Untergrabung und den schliesslichen Zusammensturz des in dieser Abhandlung geschilderten Narrenturms in sich schliessen.
Je zahlreicher diese Träger des wiedererwachten gesunden Menschenverstandes sind, eine desto grössere Anziehungskraft üben sie nach dem Gesetze der Schwere auf Andere aus, d.h. ihre Menge vergrössert sich progressiv und findet nur an der Sphäre des unheilbaren Wahnsinns eine Grenze.
Für längere Zeit wirkt sogar eine der oben gekennzeichneten Wahnsinnigkeiten – die Afferei – als ein Beförderungsmittel bei diesem Agitations- und Organisationswerke. Die nämlichen Menschen, welche zuvor irgend welchen Pfaffen, Literaten oder politischen Demagogen gedankenlos zugejauchtzt hatten, schaaren sich um neue Leitsterne, deren Licht ihnen imponiert, obgleich sie es nicht immer begreifen.
Diese neue Leithammelei ist nicht nur möglich, sondern fast gar nicht zu umgehen, weil die langsam erwachenden Geister Anfangs nur einem dunklen Drange – der Sympathie zur Person – Folge leisten. Damit ist leider eine starke Möglichkeit zum Rückfall in die alte Gedankenlosigkeit, wenigstens ein Hemmnis wider die Durcharbeitung zur vollkommenen Selbstständigkeit im Denken gegeben. Und im Falle die als Leithammel in der neuen Bewegung Fungierenden nicht ganz charakterfest sind und entweder im Streben nach vorwärts erlahmen oder gar korrupt werden, ist diese blinde Nachläuferei natürlich ungemein störend.
Man kann dieses Unwesen daher gewiss nur bedauerlich finden, kann dagegen nicht die neue Geistesrichtung damit belasten, sondern hat darin einen Rückstand des Althergebrachten zu erkennen.
Die ganze Menge der durch die normal, d.h. durchweg logisch Denkenden zu geistiger Besserung Hingerissenen bleibt übrigens keineswegs bei der blossen Nachäfferei im guten Sinne stehen; Viele gelangen auch nach und nach zur Fähigkeit, ohne jegliche Gehirnkrücken sich vorwärts zu bewegen, vermöge des eigenen Verstandes das Gegebene korrekt zu beurteilen und daraus für die Zukunft die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.
So krystallisiert sich um den eigentlichen Verstandesmagnet der Menschheit eine aus immer zahlreicheren Gehirnen bestehende Denkmaschinerie, die in ihrer fortgesetzten und stetig anregenderen Betätigung eine immer grössere Schaar von Sympathisierern anzieht und aus denselben in weiterer Folge, wie schon angedeutet, neuen Zuwachs erlangt.
Es wäre überschwenglich, zu glauben, dass diese rein geistige Regeneration der Menschheit einen systematischen Fortgang nehmen könne bis endlich alle Verrücktheit hingeschwunden ist, woraus sich dann alles Weitere, nämlich die vernunftgemässe Gestaltung aller gesellschaftlichen und überhaupt Zivilisationverhältnisse ergeben werde.
Da, wie gezeigt wurde, aller Menschenwahnsinn einem verkehrten Entwicklungsgange der Kultur geschuldet ist, so kann nicht angenommen werden, dass im Grossen und Ganzen die Wirkungen eines solchen Grundfehlers aufhören, so lange die Ursachen unangetastet bleiben. Es können zunächst nur die einem wirklichen Idealismus fähigen Ausnahms-Naturen sich den Einwirkungen ihrer Umgebung entziehen. An diesen ist es sodann, das Bestehende gründlich zu kritisieren und hinsichtlich der Zukunfts-Gesellschaft erst theoretisch die dafür ins Auge zu fassenden Prinzipien zu propagieren, hernach aber praktisch solche Massregeln zu ergreifen, welche geeignet sind, rasch und gründlich mit dem Bestehenden aufzuräumen und für die Neugestaltung der Dinge die Bahnen zu ebnen.
Hieraus ergibt sich, dass jene vermöge ihrer qualifizierten Verstandeseigenschaften zur Weltregeneration berufenen Pioniere der Menschheit einen Doppel-Charakter in sich vereinigen müssen, der anscheinend aus Gegensätzen besteht, tatsächlich aber ganz und gar zweckentsprechend ist. Diese Leute sind Idealisten und haben dennoch Durchweg mit realen Dingen zu rechnen, wenn sie ihre Ziele erreichen wollen. Sie erstreben den allgemeinen Frieden und rüsten zum Kriege. Aus Liebe zur Menschheit müssen sie fähig sein, grimmig zu hassen.
Von solcher Art sind die Sozialisten, auf deren linken Flügel wiederum die Anarchisten stehen. Man kann nicht sagen, dass dieselben an der Spitze der Zivilisation marschieren – sie eilen derselben voraus, d.h. sie bereiten der künftigen Kultur die Wege.
Dieses mag Manchem wie Anmassung klingen; ich sage aber dem Betreffenden ganz einfach, dass er offenbar von diesen Dingen nichts versteht.
Sozialist – nicht etwa blosser Anhänger oder Sympathisirer des Sozialismus– kann Niemand sein, der nicht diejenigen Wissenschaften vollkommen bemeistert, welche Bezug auf die Natur, die Stellung des Menschen gegenüber derselben und hinsichtlich seiner Beziehungen zur Gesellschaft und auf die wirtschaltlichen Verhältnisse der Vergangenheit und Gegenwart haben. Der Sozialist muss ein völlig durchgebildeter Geschichtskenner, Soziologe, Naturwissenschaftler und Philosoph sein. Und da, wie gesagt, der Anarchismus nur die äusserste Konsequenz der sozialistischen Lehre bildet, so versteht es sich von selbst, dass für einen Anarchisten erst recht eine solche universelle Bildung unerlässlich ist.
Nichts ist daher verrückter, als wenn, wie alltäglich geschieht, die Anarchisten als Bildungsfeinde hingestellt werden. In Wirklichkeit sind dieselben nicht nur keine Feinde der Wissenschaft, sondern sie sind gerade deshalb auf ihrem Standpunkte angelangt, weil sie aus allen Wissenschaften die äussersten Konsequenzen gezogen haben.
Die moderne Philosophie hat der Theologie den Garaus gemacht; die Ergebnisse der neuesten naturwissenschaftlichen Forschungen haben Himmel und Hölle, Götter und Teufel systematisch in Nichts aufgelöst; Philosophie und Naturwissenschaft haben mithin die Urquelle des Autoritätsprinzips zerstört und damit einfach die Anarchie im Weltall proklamiert. Wir Anarchisten haben nicht den geringsten Grund, hiergegen zu opponieren, sondern freuen uns, in unserem Kampfe gegen den Gottes aber glauben, Kirchenunfug und Pfaffenbetrug auf einer so unerschütterlichen, wissenschaftlichen Grundlage fussen zu können.
Die Geschichtsbücher mögen gut oder schlecht, liberal oder konservativ, unparteiisch oder gefälscht sein, – sie lassen alle über das Eine keinen Zweifel obwalten, dass die menschliche Gesellschaft seit undenklichen Zeiten in einem Kampfe sich befindet, bei welchem die Einen um Macht und Gewalt über die Volksmassen, die Anderen um allgemeine Freiheit, also um den Gegensatz einer solchen Herrschbegier gerungen haben.
Archisten und Anarchisten reiben sich demnach schon während der ganzen historischen Epoche. Und die Anarchisten – Jene, welche Freiheit für Alle erstreben – wären wohl schon längst bei ihrem Ziele angekommen, wenn sich nicht immer und immer wieder Gelegenheiten geboten hätten, aus dem Schiffbruche einer gestürzten Herrschaftskaste oder Aristokratie eine neue zu retten.
Die Geschichte zeigt uns auch, wieso derartige Gelegenheiten sich ergaben und wem dieser Tanz um die Misere insbesondere zu verdanken ist.
Diese Gelegenheit, aus den Trümmern alter Herrlichkeiten neue Gewalten hervorzuzaubern, hat sich stets in dem kritischen Augenblicke ergeben, wo das Volk alle Ketten und Banden zerbrochen hatte und dabei vor seiner eigenen Freiheit verrückter Weise erschrak und deshalb geneigt war, Denjenigen ein offenes Ohr zu leihen, welche von der Notwendigkeit der Errichtung einer neuen – versteht sich »guten« – Regierung faselten.
Diese Kurzsichtigkeit erklärt sich durch die den betreffenden Kämpfen vorangegangene langwierige und totale Versklavung der Volksmassen, womit auch die Unmöglichkeit gegeben war, dass eben diese Sklaven-Mengen, oder auch nur beträchtlichere Teile derselben, ein bestimmtes antiautoritäres und unerschütterliches Prinzip von vornherein haben konnten. Immerhin ist das Volk, wie die Geschichte zeigt, selbst niemals auf den Einfall gekommen, neue Regierungen und Machtinstitutionen an die Stelle der gestürzten zu setzen; immer waren es solche Leute, welche hoffen durften, an der neuen Herrschaft teilnehmen zu können. Die Masse hatte sich einfach von diesen Schuften betören lassen oder wurde bei der ganzen Transaktion überhaupt gar nicht in Betracht gezogen und nahm die fertigen Bescheerungen wie Selbstverständlichkeiten hin.
Wenn dies Alles die Geschichte, weil sie eben bisher nur von Parteigängern der regierenden Klassen geschrieben wurde, nicht ausdrücklich in oben angedeuteter Weise hervorhebt, so genügen doch die in ihren Blättern verzeichneten Tatsachen an und für sich schon, solche Konsequenzen daraus zu ziehen,
Indem wir Anarchisten aus den historischen Ereignissen die richtigen Schlüsse folgern, verleihen wir der Geschichte erst jenes Moment, welches ihr bisher fehlte, um sie als eine wirkliche Wissenschaft erscheinen zu lassen. Gleichzeitig aber schöpfen wir so aus der Geschichte die mächtigsten Argumente für den Anarchismus und gegen den Staat.
Wenn die Geschichte lehrt, dass alle bisherigen Revolutionen in dem Augenblicke wesentlich in sich zusammenbrechen, wo neue Regierungen, resp. Staatsgewalten sich daraus erheben, so ist nichts logischer, als der Schluss, dass demgemäss die nächste Revolution ebenfalls fruchtlos für das Volk bliebe, wenn es neuerdings sich eine Regierung, einen Staat, kurz eine Gewalts-Organisation (Autorität) aufhalsen liesse. Mit dieser Logik operieren die Anarchisten, mithin wenden sie gegen den Staat die Lehre der Geschichte ebenso wissenschaftlich an, wie sie wider die Kirche die Lehren der Philosophie und Naturwissenschaft ausspielen.
Was die Nationalökonomie anbetrifft, so ist dieselbe zwar ein wahres Chaos vermischter Gedankenspähne – von der metzenhaftesten Kapitalisten-Anbeterei bis zum pessimistischen Weltenfluch, – allein im Ganzen zeigt sie eben, wenn auch noch so widerstrebsam, doch, dass der Kapitalismus ein infames Ungeheuer mit goldenem Kopf und papierenen Beinen ist, das schliesslich vor Schreck über seine eigenen Zahlen (Worte kennt er ja überhaupt nicht) vollständig das Gleichgewicht verlieren muss.
Nationalökonomische Schönfärber mögen die Risse und Spalten am ökonomischen Körper, wie sie die periodischen Börsen- und anderen Krachereien hervorzubringen pflegen, mit philanthropischen Vorschlägen oder sophistischen Redensarten zu verhüllen suchen, sie können trotz alledem nicht über das Faktum hinweggaukeln, dass die Menschheit desto armseliger sich in ihrer Durchschnittssituation gestaltet, je reicher die Welt an Gütern wird und je rascher solche hervorgebracht werden können. Direkt oder hinter zaudernden Phrasen versteckt, findet sich in der Nationalökonomie die grausame Wahrheit vor, dass der Kulturfortschritt, welchen bisher die Menschen gemacht, für die meisten derselben nur von sehr problematischer Natur ist, und dass gerade das kapitalistische Zeitalter, weit entfernt, in dieser Hinsicht eine Wendung zum Bessern herbeizuführen, diesen Übelstand krasser, als irgend ein früheres System zur Anschauung gebracht hat.
Die Nationalökonomie und mehr noch die dazu gehörige Eigentums- und Einkommensstatistik hat die Unhaltbarkeit des Privateigentums festgestellt und damit die Notwendigkeit des Kommunismus für die künftige Gesellschaft zugegeben.
Die Wissenschaft, welche ursprünglich den Zweck haben sollte, dem Kapitalismus Weihrauch zu streuen, hat denselben durch ihre Untersuchungen theoretisch untergraben. Wir Anarchisten, die wir den historischen Beruf in uns fühlen, dem Kapitalismus praktisch den Todesstoss zu versetzen, wüssten nicht, wie wir dazu kämen, den Nationalökonomen für diese ihre Liebesdienste nicht dankbar zu sein.
Was fehlt noch? Die Kriegswissenschaft. Nun, wir haben dieselbe längst ins Revolutionäre übersetzt und suchen sie in dieser neuen Gestalt des Weiteren zu entwickeln.
Der Anarchismus ist also nicht nur kein Feind der Wissenschaft, sondern geradezu die rationell kombinierte Wissenschaftlichkeit. Realisiert, wird er eine Gesellschaft wissender Menschen bedeuten.
Indem die Anarchisten die scharfsinnigsten Darlegungen, welche die wissenschaftlichsten, (weisesten) Köpfe zu Tage gefördert haben, zur Richtschnur ihres Tun und Lassens machen, sind sie davor gefeit, von der unter der Masse der Durchschnittsmenschen grassierenden Verrücktheit angesteckt zu werden.
Die anarchistische Weltanschauung ist frei von aller Utopisterei, rein realistisch, und birgt selbst hinsichtlich der anzustrebenden Zukunftsgesellschaft keinen im voraus ausgeklügelten Idealismus in sich, indem sie nur solche Gestaltungen im Auge hat, wie sie auf Grund der bisher gemachten historischen Erfahrung und materiellen Entwickelung der Dinge gefolgert werden können, ohne dass dabei vorausgesetzt würde, dass damit das Ende aller Dinge erreicht wäre, weil der Anarchismus nicht ein Ziel der menschheitlichen Kulturentwickelung ist und sein kann, sondern nur ein Zustand, unter dessen Vorhandensein ein stetiger, ungestörter Fortgang der zivilisatorischen Vervollkommnung denkbar ist, deren Konsequenzen natürlich unmöglich vorausgesehen werden können.
Mancher Leser wird bei Betonung der Wissenschaftlichkeit des Anarchismus und insbesondere bei Aufzählung der Fachwissenschaften, aus denen der Anarchismus seine Nahrung zieht, und welche demgemäss von den Verfechtern dieser Weltanschauung eigentlich studiert werden sollten, einen gelinden Schreck empfunden haben und, indem er seine eigenen geistigen Fähigkeiten prüfte, zu der Meinung gelangt sein, dass es ihm unmöglich sei, jene Höhen zu erklimmen, die sich da vor seinen Augen türmen. Wir werden aber gleich sehen, dass solche Schwierigkeiten nicht existieren.
Die Wissenschaften unserer Tage sind für das Volk nur deshalb ein Buch mit sieben Siegeln, weil die meisten Gelehrten sich durchschnittlich darin gefallen, ihre Darlegungen in Formen zu kleiden, welche von einem Menschen mit blosser Elementarbildung schwer oder gar nicht verstanden werden können. Es ist dies eine Manier, welche vielleicht auf jene Grundsätze zurückzuführen ist, die in den älteren Zeiten zu dem ausgesprochenen Zwecke praktiziert wurden, die Volksmassen von der Wissenschaft fernzuhalten und dieselbe als Privilegium eines eng begrenzten Zirkels – der Gelehrtenkaste – zu behaupten und so das geistige Übergewicht der Wissenden über die ununterrichtete Menge zu sichern und damit gleichzeitig deren Autorität als Herrschaftsmoment zu verewigen.
An und für sich hat die Wissenschaft nichts Geheimnissvolles aufzuweisen. Ihre Wahrheiten sind, wenn popularisiert, ganz einfach und keineswegs so massenhaft, dass nicht schliesslich Jeder sie begreifen könnte, dem sie ohne alle Überschwänglichkeiten logisch vorgetragen werden. Alles, was nötig ist, das Volk dafür empfänglich zu machen, ist die Ertötung jener Verrücktheiten, an denen, wie gezeigt wurde, im Grossen und Ganzen die Menschheit krankt, und die Wiederherstellung des von Natur aus gegebenen »gesunden Menschenverstandes«, des unverdorbenen Denkvermögens der menschlichen Gehirne.
Aus diesem Grunde beginnen die wahren Lehrer des Volkes, die Anarchisten und sonstigen Sozialisten, in Ausübung ihrer emanzipatorischen Mission stets mit der rücksichtslosesten und systematischen Kritik aller jener Missverhältnisse, aus denen der menschliche Wahnsinn entspringt. Wer daher nicht unheilbar verrückt ist und in Gehörweite dieser Pioniere der gesunden Vernunft kommt, wird sicherlich früher oder später von seinen Vorurteilen etc. genugsam kuriert werden, um für populärwissenschaftliche Lehren empfänglich zu sein.
Darum lautet die Parole der Anarchisten in dieser Hinsicht: Krieg dem Wahnsinn in jeder Gestalt und Bahn frei für den gesunden Menschenverstand!