Titel: Anarchie
AutorIn: Most, Johann
Thema: Anarchie
Datum: 1888
Bemerkungen: Entnomme aus: Internationale Bibliothek, John Müller, Nr. 10, New York, Januar 1888.

Noch niemals war wohl eine Idee, für deren Verwirklichung eine so kleine Anzahl von Menschen eintrat, wie das augenblicklich noch hinsichtlich der Anarchie der Fall ist, so sehr in aller Munde, wie gegenwärtig gerade die Idee der so stark angefeindeten Anarchie Allein so viele Worte darüber verloren werden, nahezu so viel Unsinn kommt zum Vorschein. Und wenn man aus den unzähligen Zeitungsartikeln, Broschüren und Büchern, aus den Predigten und Vorträgen, welche diesem Gegenstand gewidmet sind, die Quintessenz herausdestillirt, kommen etwa folgende Raisonnements zum Vorschein:

Anarchie ist allgemeine Konfusion, wilder Durcheinander, welcher jeder Zivilisation Hohn spricht. Da dieser Zustand weder Regierung, noch Gesetze denkbar macht, so bedeutet er die Auflösung der menschlichen Gesellschaft in isolirte Individuen, von denen jedes die übrigen ungestraft schädigen und bekämpfen kann, so dass schliesslich die Schwachen den Starken unterliegen werden und eine Sklaverei, wie sie kaum noch jemals existirte, Platz greifen muss. So verwerflich und absurd dieses Ziel der Anarchisten ist, so schändlich sind die Mittel, welche dieselben zur Erreichung desselben anwenden, nämlich Raub, Mord, Brand und Zerstörung aller Art, Anarchie ist also ein Gemisch von Wahnsinn und Verbrechen. Die Gesellschaft muss sich hiegegen mit allen ihren Kräften wehren, gesetzlich, so weit das ausreicht, gewaltthäterisch, wenn es sein muss. Jedenfalls ist es Pflicht aller Ordnungs-Freunde, die Anarchie so rasch wie möglich im Keime zu ersticken, resp. die Anarchisten mit Stumpf und Stiel vom Erdboden hinweg zu tilgen.

So, wie gesagt, lautet die Aeusserung der »öffentlichen Meinung«, wie sie von den literarischen Werkzeugen der Träger unserer modernen Gesellschaft von einem Ende der Welt bis zum anderen verkündet und vom unwissenden Publikum bis weit in die Kreise der Arbeiterbewegung hinein geglaubt wird.

Würden die Menschen nur einen Augenblick über das Herkommen und den Zweck des bisher bestandenen Zustandes, welcher den Gegensatz zur Anarchie (Nichtherrschaft oder Freiheit) bildet, nachdenken, so könnten sie sofort herausfinden, dass die Anarchie nicht Konfusion bedeutet, sondern die Abwesenheit jener Konfusionen, wie sie das archistische Zeitalter der Menschheit gebracht hat.

Alle Archie – Herrschaft oder Regierung – ist aus dem bösen Willen der Starken entsprungen, die Schwachen zu unterjochen, und sie hat bis auf den heutigen Tag, unter welchen Formen sie sich immer zeigen mochte, keinen anderen Zweck gehabt.

Alle Archie lag stets und ständig in den Händen der Eigenthum besitzenden Klassen und kehrte ihre Spitze gegen die Besitzlosen. Je niedriger der jeweilige allgemeine Kulturzustand war, in welchem sich die Gesellschaft befand, desto roher und unverhüllter zeigte sich auch die Archie der Reichen; je höher sich die Kultur entwickelte, zu desto raffinirterer List griffen die Archisten, ihre Gewaltanmassung zu verdecken, ohne indessen das Wesen der Gewaltsherrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen im Mindesten abzuschwächen.

Es sind da im Wesentlichen nur drei Entwickelungsstufen der Archie hinsichtlich ihres massgebenden Faktors zu verzeichnen: Eigenthum an Menschen, Eigenthum an Grund und Boden, Eigenthum überhaupt.

Welche Uebelstände alle diese Phasen des Archismus in stetiger Zunahme zu Tage gefördert hat, und wie wenig Unterschied es ist, ob derselbe mit einer despotischen Spitze, im Gewände des Konstitutionalismus oder unter republikanischem Deckmantel auftritt, das wollen wir in dieser Schrift nicht des Weiteren erörtern. Wir verweisen in dieser Beziehung auf das in der »Eigenthumsbestie« Erörterte und gehen hier sofort auf den Kern der vorliegenden Abhandlung ein.

Wenn die Archie in allen ihren Formen der Menschheit nur Missstände bescheert hat, so muss daraus gefolgert werden, dass nur in ihrer Beseitigung das Heil zu suchen ist. Aufhebung der Archie bedeutet aber Anarchie. Demgemäss ist dieselbe das naturgemässe Ziel der nach Befreiung strebenden Menschheit. Wer immer in dieser Richtung thätig ist, arbeitet an der Einführung der Anarchie. Und der Umstand, dass es unter den in diesem Sinne Wirkenden noch unendlich Viele gibt, welche nichts von Anarchie (deren Sinn sie falsch auffassen) wissen wollen, ändert daran nichts. So mannigfaltig die Seitensprünge sind, welche solche Leute noch im Kampf um’s allgemeine Menschenrecht zu machen pflegen – sie Alle schreiten, wenn auch unbewusst und auf Umwegen der Anarchie entgegen.

Es kann dies auch gar nicht anders sein. Denn entweder erkennt man die Archie an und darf sie dann nicht bekämpfen, oder man bekämpft sie, d.h. wirkt auf ihre Zerstörung hin und fordert demgemäss ihren Gegensatz, die Anarchie. Ein Zwischending ist gar nicht denkbar.

Die gegentheilige Annahme hätte auch niemals in irgend welchen Köpfen auftauchen können, wenn nicht die Menschen – konservativ, wie sie mehr noch in ihrer Ausdrucksweise, als in ihrem gesellschaftlichen Verhalten sind – stets geneigt gewesen wären, zur Bezeichnung neuer Begriffe alte Worte zu wählen.

Man spricht z.B. oft von Volksherrschaft, was eine Absurdität ist. Wenn das Volk wirklich herrscht, wer soll denn da beherrscht werden? Sobald das Volk keine Herrschalt mehr über sich duldet, ist es eben frei; es herrscht nicht und wird nicht beherrscht; jede Archie ist abwesend, und das, was man unter Volksherrschaft sich vorstellt, ist in Wirklichkeit die Anarchie oder Nichtherrschaft. Die Bezeichnung »rothe Republik«, »Volksstaat«, »sozialer Staat« u. dgl. sind nur Umschreibungen des Begriffes Volksherrschaft, denn der Staat ist ja nur die äussere Form, in deren Rahmen die Herrschaft zur Geltung kommt; wenn man aber vom Herrschen absieht, so ist dem Staat jede Wesenheit benommen, es bliebe der blosse Name zurück, was derselbe deckte, wäre wiederum nichts Anderes, als die Anarchie.

Weil dem so ist, hätten wir allerdings diese Ausführungen uns ersparen können, da es ja auf die Wesenheit der Dinge und nicht auf die Worte ankommt, mit denen man dieselben bezeichnet; indessen ist gerade um diese Bezeichnungen eine heftige Diskussion zwischen den bewussten und unbewussten Anarchisten im Gange, und demgemäss war eine Feststellung, wie wir sie soeben gegeben haben, wohl am Platze.

Wir haben schon angedeutet, dass die Archie (Herrschaft in jeder Form) nur ein politisches Mittel zu einem sozialen Zwecke ist, nämlich, dass sie errichtet wurde, um die ökonomische Ungleichheit, die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, aufrecht erhalten zu können. Nicht minder ist die Aufhebung der Archie und die Errichtung der Anarchie nur ein Mittel zu einem höheren Zwecke, indem diese Transaktion die Vorbedingung zur Etablirung der sozialen Gleichheit bildet.

Diese Hauptsache übersehen die Widersacher der Anarchie geflissentlich, und, indem sie auf den von ihnen erzeugten Unverstand der Massen spekuliren, argumentiren sie mit hundert Kleinigkeiten zu Gunsten der Archie. Den Angelpunkt dabei bildet die Betonung des Verbrecherwesens. Wenn, sagen sie, keine Regierung und kein Gesetz mehr existirt, so kann auch kein Verbrechen mehr bestraft werden, Gut und Leben werden sich in stetiger Gefahr befinden und die allgemeinste Unordnung wird das Dasein äusserst unangenehm gestalten.

Diese Hexenmeister! Ganz munter praktiziren sie da die Auswüchse bestimmter Verhältnisse ihrer Gesellschaft in die Anarchie hinein, deren Basis gerade die Abwesenheit jener Zustände bildet.

Alle Verbrechen – allenfalls abgesehen von den Handlungen Unzurechnungsfähiger, also von krankhaften Erscheinungen – sind ja notorisch die Kinder des Privateigenthums-Systems, dessenthalben die Archie ihr Dasein führt. Dieses System bedingt einen wilden Kampf um’s Dasein Aller gegen Alle. Herrschsucht und Habgier entwickeln sich da ganz naturgemäss auf der Seite der Besitzenden und spornen dieselben zum Verbrechen an, das allerdings in der Regel ohne Sühne bleibt, weil die Archie die Schärfe ihrer Gesetze wesentlich gegen eine andere Sorte von Verbrechen kehrt, nämlich gegen jene Thaten, die aus Noth und Rohheit zur Verübung kommen.

Freiheit und Gleichheit, d.h. die Zustände der Anarchie, heben aber diesen wüsten Kampf um’s Dasein auf; Habgier und Herrschsucht sind da unmöglich; Noth, Elend und Verwahrlosung kommen in Wegfall, so bald Jedem ein normales Dasein ermöglicht, sowie Zeit und Gelegenheit zur Entwickelung seiner geistigen Fähigkeiten gegeben ist. Mit der Mutter des Verbrechens verschwindet aber dieses selbst und die ganze Kriminalgesetzgebung wird überflüssig.

Man blättere im Uebrigen in dem sogenannten Zivilrecht. Auch da ist lediglich von Mein und Dein die Rede – eine ganz natürliche Sache in einer Gesellschaft, welche aus lauter Individuen besteht, die sich gegenseitig so viel wie möglich über’s Ohr zu hauen suchen, weil dies die einzige Möglichkeit ist, zu Reichthum und Macht zu gelangen, indem ja die jetzige Gesellschaft geradezu einen solchen Wettkampf zum normalen Verhältniss stempelt.

Wo Gleichheit und Freiheit (Anarchie) den Ton angibt, hört auch dieser Streit auf. Es bedarf keiner Gesetze mehr, denselben gleichsam schiedsrichterlich zu regeln.

Wenn mithin die Anarchie errichtet würde, ohne dass die Begründer derselben formell die Gesetzgebung nebst dazu gehöriger Exekutive abschafften, so kämen dieselben doch in Wegfall, weil sie nicht mehr angerufen und mithin alsbald für gänzlich zwecklos befunden würden. An eine solche Eventualität scheint auch Engels gedacht zu haben, als er schrieb, man brauche den Staat gar nicht ausdrücklich abzuschaffen, er schlafe unter dem Dasein einer wirklich freien Gesellschaft einfach ein.

Was des Weiteren über Gesetz und Regierung (Autorität) zu sagen ist, ergab sich bereits aus der in No. 8 der »Internationalen Bibliothek« veröffentlichten Abhandlung von Krapotkin über diesen Gegenstand.

Die in dieser Hinsicht geäusserten Bedenken halten also keinerlei logische Kritik aus.

Scheinbar viel gewichtiger sind die Argumente, welche gegen die Anarchie von einer Seite ins Treffen geführt werden, die dazu am wenigsten Ursache haben sollte. Alle unbewussten Anarchisten, nämlich die wie immer sonst benamsten Sozialisten, verwenden unglaublich viel Zeit und Kraft auf Bekämpfung der Anarchie, obgleich ihre Bestrebungen eigentlich auch auf völlige Freiheit und Gleichheit (Anarchie) abzielen, weil sie, wie wir bereits angedeutet haben, ihre Ideale mit falschen, altherkömmlichen Namen belegen, oder aber Wege wandeln, auf denen sie ihre Ziele nicht erreichen können.

Diese Leute behaupten vor Allem, die Anarchie bedeute das Gegentheil von Sozialismus, während in Wahrheit die Anarchie nichts weiter ist, als die denkbar vollendetste Form des Sozialismus.

Weil die Anarchisten die volle Freiheit der Einzelnen – das höchste Menschenglück–erstreben, behaupten die übrigen Sozialisten, ein solches Streben sei gegen die von ihnen befürwortete Verbrüderung der Gesammtheit. Als ob nicht die Letztere gerade die Unabhängigkeit der Individuen voraussetzte, da ohne diese an einen freiwilligen Zusammenschluss nicht zu denken ist, eine Zwangsbrüderlichkeit aber sich auf den ersten Blick als Absurdität erweist.

Einmal das diesbezügliche Streben der Anarchisten schief aufgefasst und ganz willkürlich als Individualismus im heutigen (egoistischen) Sinne des Wortes erklärt, ergeben sich die weiteren Konsequenzen verkehrter Argumentation ganz von selbst.

Dieselben reichen bis zu der Behauptung, dass die Anarchisten die Errungenschaften des modernen Produktionsprozesses ignorirten und eine isolirte (kleinbürgerliche) Gütererzeugung, also vollkommen reaktionäre Mucken im Kopfe hätten. Nichts Derartiges wird aber in den Büchern und Zeitungen der Anarchisten gepredigt, denn, wie gesagt, dieselben fühlen sich voll und ganz als Sozialisten, resp. als Kommunisten.

Es fällt den Anarchisten nicht ein, eine künftige Welt willkürlich konstruiren zu wollen; sie denken vielmehr daran, das Bestehende, das heisst die materielle Welt, wie sie sich bisher entfaltet hat, zu übernehmen und zum allgemeinen Besten anzuwenden.

Sie sind sich vollkommen klar darüber, dass die grössten Kulturfortschritte, welche bisher die Menschheit zu verzeichnen hatte, in der Theilung der Arbeit und in der Anwendung der Naturkräfte und der Mechanik bei der Gütererzeugung zu suchen sind. Kein Anarchist gedenkt dieselben rückgängig zu machen, sondern betrachtet es als eine Selbstverständlichkeit, dass auf diesem Gebiete eine stetige Entwickelung stattfinden muss.

Damit ist die Nothwendigkeit der Organisation der Arbeit, der Produktion mit vereinten Kräften, anerkannt. Und da die Unfreiheit der heutigen Volksmassen gerade in dem Umstände zu suchen ist, dass die zur organisirten Arbeit nöthigen Mittel (Land, Werkzeuge, Gebäude, Rohstoffe etc.) in den Händen von Privat- eigenthümern ruhen, so ergibt sich für die nach voller Freiheit (Anarchie) Strebenden daraus naturgemäss das Verlangen, alle diese Dinge in gemeinsames Eigenthum zu verwandeln, d.h. den Kommunismus zu erstreben.

Statt, wie ihre Stiefbrüder, die dem Namen nach nicht-anarchistischen Sozialisten, behaupten, Opponnenten des Kommunismus zu sein, fassen die Anarchisten denselben geradezu als die unerlässliche ökonomische Unterlage der zu erstrebenden freien Gesellschaft auf.

Der Streit zwischen ihnen und den Anhängern der älteren sozialistischen Schulen dreht sich nicht um die Frage, ob Kommunismus oder nicht – diese Frage wird einstimmig bejaht –, sondern um die Form, unter welcher der Kommunismus walten soll.

So weit die Kommunisten sich die (bereits als hinfällig charakterisirte) Staatsidee nicht aus dem Kopfe schlagen können, sind sie strikte Zentralisten; die Anarchisten, welche ausge- sprochenermassen von einem Staate der Zukunft Abstand nehmen, bekennen sich zum möglichst konsequent entfalteten Föderalismus. Und sie haben dazu ihre guten Gründe.

Eine zentralistisch organisirte kommunistische Gesellschaft mag – aller Staatsliebe ihrer Befürworter ungeachtet – keinen eigentlichen Staat vorstellen, allein sie würde ihrem ganzen Wesen nach eine stufenweise gegliederte Hierarchie von Wirthschaftsbeamten in sich bergen. Eine solche wäre nichts mehr und nichts weniger, als eine autoritäre Aristokratie, welche den Begriffen von Freiheit und Gleichheit schnurstracks zuwider liefe.

Bei dem von den Anarchisten erstrebten sozialen Föderalismus hingegen wäre eine solche Ueber- und Unterordnung ausgeschlossen und an deren Stelle waltete ein freiwillig eingegangenes Zusammenhandeln, das sich in tausendfältigen Spezialorganisationen bemerkbar machte, die wiederum in solchen Verbindungen zu einander stehen würden, wie sie die Zweckmässigkeit oder Notwendigkeit mit sich brächte. Eine eingehendere Darlegung über diesen Punkt haben wir bereits in der »Freien Gesellschaft« (I. B. No. 5) gegeben.

Wer sich dies Alles vor Augen hält, wird begreifen, dass die Verbissenheit, mit welcher die übrigen Sozialisten gegen ihren linken Flügel, die Anarchisten, ankämpfen, gar keinen rechten Sinn hat und dass die einschlägigen Streitfragen eigentlich niemals den Rahmen einer philosophischen Diskussion innerhalb ein und desselben Parteikörpers hätten überschreiten sollen.

Ebenso klar wird sich der aufmerksame Leser darüber sein, dass ohnehin die verschiedenartigen Schulen der Sozialisten, wenn sich erst ihre Ideen vollends abgeklärt haben, konsequenter Weise zur Anarchie sich bekennen und mithin einen Organisationskörper bilden müssen. Wesentlich beschleunigt dürfte obendrein dieser Verbrüderungs-Prozess durch die immer ärger sich entwickelnde Verfolgung werden, welcher die Anhänger jeder Art von Sozialismus in allen Ländern ausgesetzt sind.

Diese bringt es gleichfalls mit sich, dass auch in taktischer Beziehung die Differenzen früher oder später – hoffentlich aber bald ausgeglichen werden, derenthalben sich bisher die Anarchisten und sonstigen Sozialisten unablässig gegenseitig zerfleischten.

In dieser Hinsicht gingen ja die Ansichten noch viel weiter auseinander, als betreffs der Prinzipien.

Auf nichtanarchistischer Seite wurde der Schwerpunkt auf die Herbeiführung vermeintlich rasch zu erlangender kleiner Reformen (innerhalb der jetzigen Gesellschaft) gelegt. Ebenso setzte man ein grosses Vertrauen auf das allgemeine Stimmrecht. Alle Resultate, welche in diesen Beziehungen bisher erzielt wurden, waren im höchsten Grade entmuthigend. Positive Erfolge wurden gar nicht erlangt und der erwartete agitatorische Effekt blieb gleichfalls aus, weil Das, was allenfalls an Anhängern gewonnen wurde, nicht aufwiegen konnte was bei solchen unbestimmten Agitationen an prinzipieller Schärfe und Klarheit verloren ging.

Mehr und mehr stellte es sich klar und deutlich heraus, dass die herrschenden Klassen entschlossen sind, nicht die geringsten Konzessionen an die Arbeiter zu machen, und dass sie vielmehr mit wüthender Hast sich anschickten, jeden Rest von Freiheit und Recht dem Proletariat gesetzgeberisch zu entziehen, ja dasselbe ganz und voll zu Parias zu degradiren.

Der Stimmkasten verschlang riesige Opfer, welche die betheiligten Leute auf die Dauer nicht erschwingen konnten; auch dämmerte es in denselben auf, dass ihre Mittel besser angewendet wären, wenn sie eine direktere und prinzipientreuere Agitation damit betrieben.

Unter den Anarchisten gab es andererseits Viele, welche nur die allerextremsten Massregeln befürworteten, ausschliesslich der Propaganda der That das Wort redeten und weder von mündlicher Agitation, noch von Zeitungen etwas wissen wollten. Da indess die Propaganda der That nur da stattfinden soll, wo die entsprechenden Akte von den Volksmassen beifällig aufgenommen werden, so stellte es sich heraus, dass diese Art der Propaganda nicht überall betrieben werden kann.

Den Anarchisten blieb es nach wie vor klar, dass nur die soziale Revolution schliesslich zum Ziele führen werde, doch begriffen sie, dass man dieselbe beim besten Willen, trotz der grössten Opferwilligkeit und allem Enthusiasmus ungeachtet, nicht willkürlich vom Zaune brechen könne. Den ausser ihren Reihen stehenden Sozialisten drängte sich endlich auch die Ueberzeugung auf, dass der grosse Kampf zwischen Kapital und Arbeit nur in einer grossen, zur Unvermeidlichkeit gewordenen sozialen Revolution siegreich zu beenden sei. Ueber diesen Hauptpunkt hinsichtlich der Dinge, welche die nahe Zukunft in ihrem Schoosse birgt, stellte sich also eine einheitliche Denkweise ein; und wir gehen nicht zu weit, wenn wir sagen, dass es gegenwärtig wohl keinen einzigen Sozialisten mehr gibt, welcher an die Lösung der sozialen Frage auf friedlichem Wege glaubt und in dem Wahne befangen ist, dass die Revolution vermieden werden könne.

Zwischen den beiden vorerwähnten Extremen der Taktik – Wahlpolitik einerseits und Propaganda der That andererseits – liegt gleichfalls ein Agitationsmoment, dessen Kraft und Zweckmässigkeit sowohl vom Gros der Anarchisten, als auch von den meisten der übrigen Sozialisten immer entschiedener gewürdigt wird. Es ist das die wirkliche Verbreitung jener Grundsätze, um welche es sich beim Emanzipationskampf des Proletariats handelt. Die indirekten Propaganda-Wege werden mehr und mehr verlassen und die Lehre von der sozialen Revolution, vom Kommunismus und (auf unserer Seite) auch von der Anarchie wird durch Wort und Schrift ohne Umschweife vorgetragen.

Damit ist aber nicht gesagt, dass alle sonstigen Propaganda-Mittel gänzlich unbeachtet bleiben. Man ist nur von allen Ausschliesslichkeiten abgekommen und hat ausgefunden, wo und wie diese und jene Massregeln mit Aussicht auf Erfolg ergriffen werden können. Die gemeinsame Parole der Sozialisten jeglicher Spielart lautet daher heutzutage im Grunde genommen: Kampf gegen das Bestehende mit allen Mitteln!

Wenn es sich auch vor Augen hält, von welch’ einer riesigen Gewalt die Träger der heutigen Gesellschaft umgeben sind, und wie wohl dieselbe organisirt ist, so muss es ja dem revolutionären Proletariat endlich einleuchten, dass es ein Verbrechen wider sich selbst begeht, wenn es nicht alle seine Kräfte zusammenfasst, um in erster Linie an der Zerstörung des Bestehenden zu arbeiten.

Die besitzenden und herrschenden Klassen mögen sich Konservative oder Liberale, Klerikale oder Freidenker, Schutzzöllner oder Freihändler, Edelleute oder Demokraten, Imperialisten oder Republikaner nennen – ihre diesbezüglichen Partei- und sonstigen Differenzen hindern sie gewiss nicht im Geringsten, sich als Eigentümer in feindlichem Gegensatz zu den Besitzlosen solidarisch zu fühlen.

Jeder einzelne Bourgeois betreibt seinen Klassengenossen gegenüber einen Konkurrenzkampf auf Tod und Leben; wenn es aber darauf ankommt, Stellung zu nehmen hinsichtlich des Proletariats, so weiss jeder Bourgeois, dass er Schulter an Schulter mit seinen Konkurrenten die von ihm und diesen gemeinsam eingenommene Position als Eigentümer im Rahmen des jetzigen Systems zu verteidigen hat.

Man ziehe durch alle Länder – ob sie monarchisch oder republikanisch organisirt sind – und beobachte, wie man in den Kreisen der Bourgeoisie über die Arbeiterbewegung denkt! Man wird wahrnehmen, dass schon das leiseste Verlangen der Arbeiter nach Besserung ihrer Lage eine Wuth in den Kreisen der Besitzenden erweckt, gegen welche die aus irgend welchen Privatgründen empfundene Feindseligkeit wider einen Klassengenossen sich wie zärtlichste Sanftmut ausnimmt. Vom hundertfältigen Millionär bis zum Spiessbürger, der etwa etliche »Lehrlinge« ausbeutet, besteht da nur eine einzige ungebrochene Kette von rasenden Menschen. Die Leidenschaft, welche da entwickelt wird, lässt keinen Schluss auf verständiges Handeln zu; man sieht nur noch thierische Instinkte – die Instinkte der Eigentumsbestie – walten. So sehr steckt das Bewusstsein, besitzend und deshalb berechtigt zu sein, die Nichtbesitzenden so entschieden wie möglich auszubeuten, jedem Bourgeois gleichsam in allen Knochen, dass ihm der blosse Gedanke der Arbeiter, wider die Ausbeuterei zu opponiren, als todeswürdiges Verbrechen erscheint.

Können die Proletarier dieses Verhältniss nicht bemerken? Können insbesondere die Sozialisten, welche sich doch rühmen, das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft studirt und durchschaut zu haben, nicht einsehen, dass diese kompakte Klassenstellung der Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterbewegung auch ihrerseits ein ganz festes, geschlossenes Massen-Auftreten erheischt, wenn ernsthaft an Kampf und Sieg gedacht werden soll?

Weiters sollte man in der Arbeiterwelt seine Blicke niemals abwenden von den ungeheuerlichen militärischen, polizeilichen und richterlichen Apparaten, welche der Bourgeoisie im Streite mit dem Proletariat zur Verfügung stehen. Man sollte daneben auch die volksfeindlichen Machinationen der schwarzen Gensdarmerie und der reaktionären Presse nicht vergessen, welche gleichfalls der herrschenden Klasse zu Gute kommen.

Wer alle diese Verhältnisse in’s Auge fasst, der kann die Archie – die auf Ausbeutung der Armen durch die Reichen ausgehende Herrschaft – nur als ein ungetheiltes und untheilbares Ganzes, als eine Weltorganisation der Minoritäts-Gewalt, unter deren Streichen sich die Majorität der Menschheit krümmt und windet, wahrnehmen.

Dieser Umstand sollte endlich auch die naturgemässen Opponenten der Archie – die Anarchisten – veranlassen, ihr ganzes Thun und Lassen in erster Linie im Hinblick auf ihre Klassen-Stellung in der Gesellschaft zu reguliren.

Wir haben schon gezeigt, wie wenig verschieden die Bestrebungen der bewussten und der unbewussten Anarchisten von einander sind und wir gehen nicht zu weit, wenn wir behaupten, dass die Einzelninteressen der Besitzenden viel weiter auseinandergehen, als die Interessen der einzelnen Besitzlosen. Wenn trotzdem die Reichen in allen Klassenangelegenheiten so fest zusammenhalten, wie wir vorhin konstatirten: weshalb soll nicht ein gleich starker Klassengeist auch das Proletariat, insbesondere die kämpfende Vorhut desselben, beseelen können?

Oft kommt es uns vor, als ob die Ursache des Zwistes unter Denen, welche ein Herz und eine Seele sein sollten, und deren innigster Zusammenhalt die Voraussetzung für ihren Sieg bildet, nichts Anderes sei, als die Gespensterfurcht vor Worten.

Thatsächlich ist es nicht der Begriff, sondern nur das Wort Anarchie, wovor sich die meisten Sozialisten älterer Couleur fürchten. Für sie schreiben wir jedoch dieses Heftchen ganz speziell, und wir wollen daher auch schulmeisterlich zu Werke gehen.

Alles, was solch’ ein Mensch abzustreifen hat, um als fix und fertiger Anarchist dazustehen, das ist ja nur der Rest von Staatsidee, welcher den vor der Anarchie entsetzten Sozialisten anhaftet. Deshalb ventiliren wir mit denselben den Werth dieser Idee Schritt für Schritt.

Was ist denn das höchste Glück des Menschen! Die grösstmögliche individuelle Freiheit, d.h. die Möglichkeit, alle seine geistigen und körperlichen Bedürfnisse nach allen Richtungen hin zu befriedigen. Eine solche individuelle Freiheit wird aber selbstverständlich nicht weiter gehen können, als bis dahin, wo die Ausübung derselben Anderen schadet, sonst lände eine Beherrschung des Menschen durch den Menschen statt. Ebenso sind viele menschheitliche Zwecke in einer zivilisirten Gesellschaft nicht erreichbar durch einzelne Individuen; sie können zu denselben nur gelangen, wenn sie sich an andere Individuen, die dieselben Neigungen haben, anschliessen. Aber ist denn damit gesagt, dass ein System existiren müsse, wo der einzelne Mensch auf ein Diktat hin gleichsam in einer Schachtel oder Abtheilung eines zentralisirten Staats existiren muss, in die er hineingesteckt wird, und wo eine höhere Macht bestimmt, was er von der Geburt bis zum Grabe zu thun hat! Das wäre doch das reinste Austern-Dasein.

Was bei einem gesunden System, wobei die individuelle Freiheit des Einzelnen und diejenige Aller zugleich gewahrt ist, notwendig bleibt, das ist lediglich der Abschluss freier Gesellschaftsverträge! Es braucht nicht eine Vorsehung von oben herab Alles zu leiten, sondern es ist nur nöthig, dass von unten herauf entsprechend gehandelt wird. Bis jetzt liefen alle öffentlichen Organisationen im Zentrum zusammen und die breite Peripherie glich einem Uhrwerke, das man aufzieht und mechanisch wieder ablaufen lässt. Bei einem vernünftigen, nämlich bei einem anarchistischen (Herrschaftslosigkeits-)System, würde der Schwerpunkt umgekehrt in der Peripherie hegen.

Das Naturgemässe, das Gesetz der Schwere, welches so lange ausser Acht gelassen worden, würde wieder zur Geltung kommen. Das Knechtschaftssystem, das die Welt bisher verunstaltet hat, müsste verschwinden.

Was wird beim Aufbau einer solchen Gesellschaft die wesentlichste Streitfrage sein? Einfach ob man ausser der Gesellschaft noch einen Staat (ein höheres Macht-Instrument) brauche oder nicht? Die Sache ist leichter beantwortet, als Viele glauben. Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, was der Staat bisher war. Ist derselbe vielleicht etwas Natürliches, etwas immer Dagewesenes?

Er ist, wie schon gezeigt, etwas historisch Gewordenes, und er ist bisher stets dazu angewendet worden, einer Clique von Menschen die Herrschaft über die Masse zu sichern.

Zerschlagen wir daher den Staat in Stücke! Das Hauptrad in dem Räderwerk des bisherigen Staats ist der Militarismus. Wer will behaupten, dass derselbe in einer freien Gesellschaft auch einen Freiplatz haben werde? Für so lange freilich, als die alte Gesellschaft noch nicht ganz vernichtet ist, werden die Proletarier allerdings sozusagen in der einen Hand das Werkzeug und in der andern das Schwert führen müssen. Das ist jedoch die Revolutionsepoche. Auch ist Volksbewaffnung und Staats-Soldateska wahrlich nicht ein und dasselbe. Und so bald einmal der Friede hergestellt, d.h. aller Archie der Garaus gemacht ist, verschwindet auch jeder Rest von militärischen Einrichtungen.

Das zweite grosse Rad in jenem mächtigen Getriebe, zwischen dessen Rädern bisher Tausende zerquetscht wurden, ist die wohlorganisirte Polizei.

Wer will aber behaupten, dass in unserer Gesellschaft noch Tausende von Spitzeln, Gensdarmen und Spionen nöthig sind, die das Volk an den Strassenecken anschnautzen, überall aushorchen und malträtiren? Die Gesellschaft freier Menschen wird das Institut der Polizei nicht kennen!

Die Büreaukraten, d.h. das übrige Beamtenpack, das ja auch nur die Aufgabe zu haben scheint, die Menschen von der Wiege bis zum Grabe zu schinden, kann ebenfalls mit dem Schwamme der Geschichte ausgewischt werden. Diese Drohnen werden auf unsere Kosten gefüttert, ohne dass wir irgend einen Nutzen von ihnen haben. Der thätige Mensch lernt sie nur kennen, wenn er verklagt, eingesperrt, besteuert oder sonstwie geschuhriegelt wird.

Auch die heutige Justiz ist nur dazu da, um der Eigenthumsbestie den Raub, den sie am Volke verübt hat, zu sichern. Die Sozialisten wissen, dass alle Verbrechen, die heute geschehen, zurückzuführen sind auf schlechte Erziehung, d.h. Verwahrlosung, und auf Eigenthumslosigkeit, unter welcher das Volk schmachtet. Es ist jedem Gefängnissbeamten bekannt, dass zur Winterszeit, wenn die Geschäfte schlecht gehen, mehr Leute in’s Gefängniss kommen, als sonst. Namentlich während schwerer Krisen mehren sich die »Verbrechen« wider das Eigenthum. Nach einem Krieg nehmen die Angriffe auf das Leben der Menschen überhand. Alle Verbrechen resultiren mithin aus den Zuständen, unter denen wir jetzt leben. Sie sind nichts weiter, als eine der entsetzlichen Konsequenzen unserer heutigen Gesellschaft, die sich nicht schämt, sich eine zivilisirte zu nennen. Hinweg mit dieser Gesellschaft, und es wird keine Verwahrlosung und keine Verbrechen mehr geben.

Der heutige Staat, theils direkt, wie in Europa, theils indirekt, wie in Amerika, hat noch ein anderes Rad: den Kultus. Glaubt man aber vielleicht, dass in der zukünftigen Gesellschaft, wo das Volk allgemein gebildet ist, und wo die Menschheit zum ersten Male frei sein wird, Raum wäre für die schwarzen Gensdarmen von heute! Nichts könnte unsinniger sein. Der Kultus der Zukunft kann in nichts Anderem bestehen, als in dem Kultus der Vernunft, des Schönen und Edlen, im Wetteifer der Menschen, sich um das Gemeinwohl verdient zu machen. Und das zu bewirken, brauchen wir keinen Extra-Staat; das kann sehr wohl in allen sonstigen gesellschaftlichen Organisationen, in den Kommunen und Gruppen bewerkstelligt werden.

Die Schule bleibt nur noch übrig. Sie ist, wie ein Lehrer Namens Sack sehr richtig sagt, heute auch nur ein Institut »im Dienste gegen die Freiheit.« Es lässt sich zwar annehmen dass an Stelle der schlechten eine gute Schule gesetzt werden könnte. Aber hiefür ist ein Extra-Staat schon gleich gar nicht nöthig. Wir würden sogar eine solche Staatsschule für schädlich erachten. Jemehr Zentralisation auf dem Gebiete des Schulwesens herrscht, desto mehr Spielraum für Schablonisirung und Konservatismus ist gegeben. Die Kommunen und sonstigen kleinen Organisationen, freier Vereinigungen, die auf Grund von Gesellschaftsverträgen zu Stande gekommen, würden viel mehr geeignet sein, das Schulwesen in die Hand zu nehmen, als der Staat, und zwar schon deshalb, weil das Volk über diese Organisationen eine vollständige Kontrolle hat.

Es bleibt nun nichts mehr übrig, als die verschiedenen ökonomischen Einrichtungen. Diese haben aber mit dem Staate als solchem absolut nichts zu schaffen. Der Staat eignete sich solche bisher nur an, um sich Einnahmequellen zu eröffnen.

Der alte Staat wäre somit beseitigt. Jetzt kommen wir an den neuen! Aber weshalb denn neuen Wein in alte Schläuche giessen? Weshalb zu Freiheitszwecken einen Mechanismus benützen wollen, der lediglich zur Knechtung der Massen durch Wenige erfunden worden? Staat und Volk kann man nicht identifiziren, wie dummer Weise oft geschieht. Beide haben nichts mit einander zu thun. Wir wollen, dass das Volk frei sei, und erstreben deshalb die Sprengung der staatlichen Fesseln, in denen es eingezwängt ist.

Wir haben demgemäss nicht allein die Absicht, den Staat zu vernichten, sondern auch die Träger desselben. Die Revolutionäre haben das Verlangen, alle Unterdrücker hinwegzufegen und sie den Weg wandeln zu lassen, den bisher die Reaktion den Revolutionären angewiesen hat, so oft die Letzteren im Kampfe um die allgemeine Menschheit erlagen.

Es würde sich vor allen Dingen bei unserem Neubau der Gesellschaft, wenn man noch vom Staat sprechen wollte, um die Frage handeln: wie gross soll denn der Staat werden? Wir sind international und würden mithin zu dem Schlüsse gelangen, dass die ganze Bevölkerung der Erde einem Gemeinwesen angehören solle. Die zentralisirte Gewalt würde eine ungeheure sein und würde uns früher oder später zu neuem Despotismus führen.

So gross brauchten wir ja den Staat nicht zu machen, wird man einwenden. Sollen wir denn das internationale Prinzip aufgeben, auf die alten Grenzen zurückfallen, national werden? Da wäre das ungeheure Russland, daneben die kleine Schweiz oder nur ein Kanton derselben, also eine Ungleichheit, welche an sich schon beweist, dass die Staaten in Bezug auf ihre Grösse nur Produkte einer rein zufälligen historischen Entwickelung waren.

Die meisten Staatssozialisten wollen ihre Liebhaberei nur noch damit retten, dass sie dieselbe als Uebergangsstadium reklamiren. Ein solches wäre aber schon an und für sich der reine Mord; uns ist es indessen vollkommen klar, dass auf die soziale Revolution nicht eine langsame Umwandlung des Kapitalismus zum Kommunismus und Anarchismus Platz greifen kann, sondern dass vielmehr Alles augenblicklich mit rücksichtsloser Gewalt zu Gunsten unserer Prinzipien gestaltet werden muss, wenn nicht der ganze Kampf rein umsonst gewesen sein soll.

Konfiskation des gesammten Kapitals durch die gewissermassen als Welteroberer auftretenden Revolutionssoldaten und sofortige Ausrottung der Bourgeoisie, Aristokratie und Pfaffheit – das oder nichts muss die Loosung sein. Wir wenigstens pfiffen schon heute auf jeden Kampf, wenn wir nicht glaubten sicher sein zu dürfen, dass dies das Ende vom Liede sei. Alles Andere wäre der reine Schwindel.

Tritt aber dieser Fall ein, d.h. belegt das Proletariat alle Resultate früherer Arbeit mit Beschlag, um auf Grund derselben die kommunistische Organisation der Arbeit vornehmen zu können, und füttert es die Drohnen und Parasiten der Gesellschaft – nach deren eigenem Rezept – rechtzeitig mit Pulver und Blei, so ist jede Staatlerei einfach Blödsinn, wenn nicht Schlimmeres.

Uebrigens sind sich alle wirklich grossartig denkenden Geister längst darüber klar gewesen, dass ohne individuelle Freiheit kein vollkommenes Gesellschafts-Verhältniss möglich ist, und dass sich weder das Vorhandensein irgend eines Staates, noch überhaupt ein Repräsentativsystem mit wirklicher Freiheit verträgt.

John Stuart Mill sagt:'

»Der einzige Theil seines Verhaltens, für den Jemand der Gesellchaft Rechenschaft schuldet, ist der, welcher Andere betrifft. Ueber sich selbst, über seinen Geist und Körper ist der Einzelne souverän!«

Heine legt seinem Ratcliff folgende Worte in den Mund:

»O seht mir doch die klugen, satten Leute,

Wie sie mit einem Walle von Gesetzen

Sich wohlverwahret gegen jeden Andrang

Der schreiend überläst’gen Hungerleider!

Weh’ Dem, der diesen Wall durchbricht!

Bereit sind Richter, Henker, Stricke, Galgen, –

Je nun! Manchmal gibt’s Leut’ die das nicht scheu’n.«

In Börne’s Schriften lesen wir:

»Sobald ein Mensch geboren wird – gleich umstellen und umlauern ihn die Mutter, die Amme, der Vater, die Wärterin; später kommt der Lehrer, später der Polizeimann dazu. Die Mutter bringt ein Stückchen Zucker, die Amme ein Mährchen, die Wärterin eine Ruthe, der Vater den Vorwurf, der Lehrer den Stock, der Staat seine Ketten, sein Henkerbeil. Und zeigt sich eine Kraft, rührt sich, stammelt eine Kraft – gleich wird sie fortgeschmeichelt, fortgepredigt oder fortgezüchtigt. So werden wir wohlerzogene Menschen, so bekommen wir schöne Talente. Wissen sie, was ein »grosses Talent« heisst? Ein Talent ist eine grosse fette Gansleber. Es ist eine Krankheit; der Leber wird das ganze arme Thier aufgeopfert. Wir werden in einen engen Stall gesperrt, dürfen uns nicht bewegen, dass wir fett werden; wir werden getopft mit moralischem Welschkorn und gelehrten Nudeln, und dann schnaufen wir und ersticken fast vor Moral, Gelehrsamkeit und Polizeifurcht, und dann kommt eine alte Köchin von Regierung, betastet uns, lobt uns, schlachtet uns, rupft uns und benutzt unsere schönen Talente. Was nur an uns stirbt, möchte ich wissen; ich möchte wissen, was nur der Tod an uns zu holen findet! Aber der Tod ist ein armer Hund; nichts als Knochen ein ganzes Leben lang – selten dass ihm ein voller Mensch herabfällt.«

Proudhon wurde einmal darüber befragt, welche Regierungsform er bevorzuge. Da entwickelte sich der nachstehende Dialog:

»Welche Regierungsform werden wir vorziehen? – Wie, können Sie noch fragen? erwidert mancher meiner jungen Leser, Sie sind ein Republikaner! – Republikaner, ja; aber dieses Wort bezeichnet nichts. Res publica, das ist die öffentliche Angelegenheit; also Jeder, der die öffentliche Angelegenheit fördern will, kann sich Republikaner nennen. Die Könige sind ebenfalls Republikaner. – Nun wohl, Sie sind Demokrat? – Nein.– Wie? Sie wären Monarchist? – Nein. – Konstitutioneller? – »Gott« möge mich davor bewahren! –Also sind Sie Aristokrat? – Keineswegs. – Sie wollen eine gemischte Regierungsform? – Noch weniger. – Was sind Sie also denn? – Ich bin Anarchist.«

Victor Drury argumentirt sehr richtig so:

»Die Selbstherrlichkeit (Souveränität) der Individualität ist Freiheit; Freiheit ist Ordnung und Sicherheit, denn ohne dieselben wäre keine Freiheit vorhanden. Während Freiheit die Verneinung jeglicher Regierung bedeutet, versteht es sich ganz von selbst, dass da, wo Herrschaft existirt, Unterdrückung vorhanden sein muss – allerlei Gefahr und Unordnung. So ist es also nicht das Wort Anarchie, sondern das Wort Regierung, welches Abwesenheit von Ordnung und Sicherheit bedeutet. Die Autoritätsanbeter werden sagen, das sei lediglich paradox; es ist aber einfach logisch.«

Otto Rotzen brachte des Pudels Kern in nachstehende Verse:

»Ein Tempel wird gethürmt von Menschenleibern,

Man heisst ihn Staat, um Staat mit ihm zu machen,

Wer fragt danach, was Stein und Mörtel fühlen?

Nicht Menschenwohl gehöret zu den Zielen

Von Staatengründern und von Völkertreibern,

Der Moloch Staat verschlingt’s in seinem Rachen,

»Gott« musste seinetwegen Menschen machen.«

Selbst Friedrich Engels kann nicht umhin, für den Anarchismus eine Lanze zu brechen, und zwar mit folgenden Worten:

»Der Staat ist nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaften gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwickelung, die mit Spaltung der Gesellschaft in Klassen nothwendig verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Nothwendigkeit. Wir nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwickelungsstufe der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hinderniss der Produktion wird. Sie Werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf (Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisirt, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: in’s Museum der Alterthümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.«

Memme du Camp, ein reaktionärer Schriftsteller, sagt:

»Ist es möglich, dass die alte Hydra der Anarchie, nachdem man sie in der Literatur, in der Malerei und in der Skulptur zu Boden geschmettert hat, immer noch nicht todt ist? Ich glaube fast, dass man sie nicht recht verstanden hat. Sie ist hässlich, das gestehe ich von ganzem Herzen zu, aber könnte nicht diese Hässlichkeit nur eine Maske sein? Lasst sie uns kühn abreissen, und dahinter finden wir vielleicht das träumerische Antlitz jenes ewigen Jünglings, des Fortschritts. Ach! war nicht Galiläi ein Anarchist? Die Gesellschaft gleicht gewissermassen einem Weibe. Eines Tages verliert sie ihre Formenschöne, ihr Gesicht verändert sich, ihre Gesundheit wird schwankend; sie fühlt grosse Schmerzen in ihrem Innern, sie weint, sie betet, sie verzweifelt; sie glaubt sterben zu müssen; und plötzlich bringt sie ein weinendes Kind zur Welt, das sie stolz und glücklich macht, und das vielleicht in der Zukunft ein Erlöser der Menschheit wird.«

Schon Pytagoras sagte:

»Ein Volk, das Gesetze braucht, ist nicht werth, in Freiheit zu leben.«

Thomas Payne nagelte folgende Wahrheiten fest:

»Ein grosser Theil dessen, was wir Regierung nennen, ist im Grunde genommen nichts weiter als Anmassung und Unverschämtheit .... Je höher die Zivilisation, desto weniger Grund für Regierung, weil zivilisirte Menschen sich selbst regieren ... Alle grossen Gesetze, deren die Gesellschaft bedarf, sind Naturgesetze, für deren Befolgung man keiner Regierungsgewalt bedarf. Man befolgt sie, weil das in unserem Interesse liegt .... Was immer die scheinbare Ursache von Aufständen sein mag, die wirkliche ist stets Unzufriedenheit .... Das Regierungsgeschäft ist seit Menschengedenken von den Unwissendsten und Schuftigsten der menschlichen Rasse monopolisirt worden.«

In Richard Wagner's nachgelassenen Papieren finden sich unter Anderem folgende Sätze:

»Freiheit heisst: keine Herrschaft unter uns dulden, die gegen unser Wissen und Wollen ist.

Nur, wenn wir uns für unwissend und willenlos halten, könnten wir eine Herrschaft über uns, die uns das richtige Wissen und Wollen gebietet, uns als nützlich denken.. Eine Herrschaft dulden, von der wir annehmen, dass sie das Richtige nicht weiss und will, ist knechtisch.«

Wagner sagt also, mit anderen Worten, dass nur Dummköpfe und willenlose Menschen – Charakter-Jämmerlinge – eine Herrschaft (Archie) ertragen können, während sich der gesunde Menschenverstand und ernstes Wollen dagegen sträuben.

»Der wahre Mann,« sagt Shelley, »will nicht befehlen, nicht gehorchen! Gewalt ist eine Pestilenz, die Alles frisst, was sie berührt; Gehorsam ist der Tod des Genius, der Tugend, Wahrheit, Freiheit; Gehorsam macht aus Menschen Sklaven, Gehorsam ist der Feind selbst edler Thaten und macht aus Leib und Seele Automaten.«

Karl Heimen lässt sich über unseren Gegenstand so aus:

»Ja, der Mensch allein kennt Verbrechen und das Ungeheuer, womit er diese Sprösslinge seines sittlichen Bedürfnisses zur Welt bringt, heisst das Gesetz, welches in seiner höchsten Vollendung auftritt als Strafgesetz. Was ist dies Gesetz? Einfach eine Bestimmung, unter welchen Umständen ein Mensch eingekerkert oder vertrieben oder gehängt werden soll. Dies Einkerkern oder Vertreiben, dies Köpfen oder Hängen würde als tyrannische Willkür oder blutdürstige Barbarei ausgelegt werden, wenn es zur Sicherung der Gesellschaft vor ihren gefährlichsten Feinden auf Geheiss einer Versammlung der besten Menschen erfolgte; aber es ist unter allen Umständen Nothwendigkeit und Gerechtigkeit, wenn es erfolgt im Namen eines »Gesetzes«, das die Schlechtesten gemacht haben. Ausserhalb des Gesetzes kein Verbrechen; innerhalb des Gesetzes keine Tugend. Sei ein Scheusal und du kannst ein »Heiliger« werden, wenn dich das Gesetz nicht trifft; sei ein »Heiliger« und du wirst zum Scheusal, wenn du unter das Gesetz kommst. Das Gesetz allein gibt den Handlungen ihren Stempel, und wer gibt das Gesetz? Wer die Gewalt dazu hat. Wer die Gewalt hat, einzukerkern und zu morden ohne die Gefahr der Wiedervergeltung, der gebietet und verbietet, belohnt und bestraft was ihm behebt, und das nennt er Gesetz und die Uebertretung dieses Gesetzes nennt er Verbrechen. Es hat nicht das Gesetz die Gewalt geschaffen, die es ausübt, sondern die Gewalt hat das Gesetz geschaffen, das ihr dient. Damit aber der Vernunft alle Versuchung vergehe, die Weisheit und Gerechtigkeit der Gewalt und ihres Gesetzes anzufechten, steht dieser zur Seite die Beherrscherin aller Vernunft, die Religion. Sie krönt die Gewalt, spricht ihren Segen über das Gesetz, ihren Fluch über das Verbrechen und nun hat aller Widerspruch ein Ende wie alles Bedenken. Jetzt mag die Kerkerthüre in’s Schloss fallen, das Blut fliessen und die Flamme prasseln – das Gesetz ist vollstreckt, das Verbrechen ist gesühnt und die göttliche Ordnung ist hergestellt bis wieder ein neuer Kerker geöffnet, ein neues Blutgerüst aufgeschlagen und ein neuer Scheiterhaufen errichtet ist.«

Wir könnten noch mit einem Buch voll ähnlicher Zitate dienen und damit beweisen, dass von jeher jeder grosse Geist die Anarchie verkündete. Wer ist beschränkt genug, trotz alledem vor diesem Ideale sich zu fürchten?