Jan Waclaw Machajski
Sozialismus und Intelligenz
Die Veröffentlichung[1] dieses Werkes,[2] dessen zweite Folge dem Leser unter dem Titel „Sozialistische Wissenschaft als neue Religion" präsentiert wird, hat sich aus terminlichen, aber auch aus anderen Gründen ziemlich verzögert. Dies deswegen, weil der Autor beschlossen hat, die zwei Referate, die als Grundlage dieses Buches dienen, neu zu bearbeiten und zu vervollständigen.
Die zweite Folge ist nicht weniger als die erste umgearbeitet worden. Zu dem ursprünglichen Inhalt des zweiten Referats - „Die historisch-philosophischen Grundlagen des Marxismus" - wurde die neu geschriebene Kritik „des wissenschaftlichen Anarchismus" hinzugefügt, und die Zusammenfügung dieser Texte hatte das Thema zum Ergebnis, das im Titel dieser Ausgabe steht. Das Thema erfordert eine umfangreiche Ausarbeitung. Da der Autor in naher Zukunft keine Möglichkeit sieht, sich längere Zeit mit einer solchen zu beschäftigen, veröffentlicht er schon jetzt den vorbereiteten Stoff und die bis jetzt vorliegenden Schlußfolgerungen. „Sozialistische Wissenschaft als Religion" wird, wie auch die erste Folge, veröffentlicht als
Der geistige Arbeiter
Teil III
Folge II.
Dies aus dem Grund, weil das ganze Werk in seiner ursprünglichen, aber auch in der endgültig überarbeiteten Form eine direkte Fortsetzung und Entwicklung von Thesen darstellt, die schon in den ersten beiden Teilen von „Der geistige Arbeiter" entwickelt wurden.
Genf, Mai 1905
Sozialistische Wissenschaft als neue Religion
I
Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts ist trotz der Überzeugung aller, die daran glauben, kein Angriff auf die Grundlagen des Systems der Unfreiheit, das seit Jahrhunderten in Form verschiedener zivilisierter Gesellschaften und des Staates existiert. Er greift nur eine Form dieser Unfreiheit an, die Herrschaft der Klasse der Kapitalisten. Sogar im Falle seines Sieges hebt er die jahrhundertelange Ausbeutung nicht auf; er zerstört nur das Privateigentum an den materiellen Produktionsmitteln, an Grundbesitz und Fabriken; er zerstört nur die kapitalistische Ausbeutung.
Die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums, das heißt des Privateigentums an den Produktionsmitteln, bedeutet nicht die Abschaffung des Privateigentums im Allgemeinen. Aber genau diese Einrichtung garantiert die jahrhundertelange Ausbeutung und sorgt dafür, daß nur die vermögende Minderheit und ihre Nachkommen in den Besitz aller Reichtümer der Vergangenheit sowie des kulturellen und zivilisatorischen Erbes der Menschheit gelangen. Und genau diese Einrichtung verurteilt die Mehrheit der Menschheit dazu, als besitzlose Sklaven geboren zu werden und zu einer lebenslangen körperlichen Arbeit gezwungen zu sein. Die Enteignung der kapitalistischen Klasse bedeutet keineswegs die Abschaffung der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Die Enteignung der privaten Unternehmer ändert nichts daran, daß die modernen Sklaven, die heutige Arbeiterklasse, Sklaven bleiben, die zu lebenslanger körperlicher Arbeit verurteilt sind; der von ihnen geschaffene nationale Mehrwert verschwindet nicht, sondern geht als Guthaben zur Sicherung der parasitären Existenz aller Ausbeuter, der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, in die Hände des demokratischen Staates über. Die bürgerliche Gesellschaft bleibt auch nach der Abschaffung der Kapitalisten eine Gesellschaft, in der es wie zuvor Herrschende gibt, mit gebildeten Führern und einer Welt von Nichtstuern; diese bleiben im Besitz des nationalen Mehrwerts, der, wie auch heute üblich, in Form einer entsprechenden „Vergütung" unter den „geistigen Arbeitern" verteilt wird und im Rahmen und gemäß den Modalitäten des Privatbesitzes bewahrt und von den Nachkommen reproduziert wird.
Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bedeutet nur die Abschaffung des Rechts auf Privatbesitz und der privaten Verfügungsgewalt über Fabriken und Grundbesitz. Mit seinem Angriff auf den Fabrikbesitzer berührt der Sozialist in keiner Weise die „Vergütung" von dessen Direktor oder Ingenieur. Der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts läßt die Gewinne derjenigen, die keine körperliche Arbeit leisten, als ,,Arbeitslohn des geistigen Arbeiters" unberührt, und erklärt, die Intelligenz sei „nicht interessiert und nicht beteiligt an der kapitalistischen Ausbeutung" (Kautsky).
Der moderne Sozialist kann und will die jahrhundertelange Ausbeutung und Knechtschaft nicht aufheben.
*
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärt sich der Sozialismus offiziell zur Gesellschaftswissenschaft. Im Anschluß an die proletarische politische Ökonomie wird eine proletarische Soziologie und eine sozialistische Geschichtswissenschaft geschaffen.
Aber eine Gesellschaftswissenschaft kann kein Feind des Systems der Unterdrückung sein, das während der ganzen historischen Entwicklung der Zivilisation existiert hat. Sie möchte ein unvoreingenommener Kommentator dieser historischen Entwicklung sein - also ist sie kein Feind dieser Entwicklung, sondern deren Fürsprecher.
Inzwischen verspürt der Sozialismus eine starke Neigung, eine wirkliche Gesellschaftswissenschaft zu werden. Die sozialistischen Wissenschaftler entfernen sich immer weiter von dem Gedanken, daß die ganze bisherige Geschichte der zivilisierten Gesellschaften eine Geschichte der Unterdrückung der Mehrheit der Menschen ist, daß die historischen Gesetze der vergangenen Jahrhunderte bis zu unserer Zeit Gesetze der Ausraubung und Plünderung und Ausdruck des Willens der herrschenden Minderheit sind. Diese sozialistischen Wissenschaftler interpretieren diese Gesetze als objektive Gesetze der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, sie maßen sich an, „diese Gesetze zu entdecken und im Voraus zu erahnen, nur um sich ihnen unterzuordnen".
Dank der Verbreitung des sozialistischen Glaubens gelingt es den sozialistischen Wissenschaftlern, die Arbeitermassen davon zu überzeugen, daß sie sich, indem sie sich der objektiv-historischen Entwicklung unterordnen, gleichzeitig auch den Gesetzen der Natur unterordnen, die sich der Generation des 19. Jahrhunderts ohne Zweifel gnädig gezeigt und ihr den Ausblick auf ein sozialistisches Paradies bereitet haben.
Auf diese Weise entpuppt sich die sozialistische Wissenschaft unweigerlich als ein einfaches Mittel zum Einschläfern der aufständischen Arbeitermassen; sie wird trotz ihres Atheismus zu einem einfachen religiösen Traum und einem Bittgebet für die Heraufkunft eines sozialistischen Paradieses, zu einer Religion, die den Verstand und den Willen der Sklaven des bürgerlichen Systems bändigt.
Die marxistische sozialistische Wissenschaft hat eine ganze Vorsehung geschaffen, derzufolge „die kapitalistische Produktion sich selbst ein Grab schaufelt" und sich im Laufe der eigenen Entwicklung selbst vernichtet; dabei führen die unabwendbaren ökonomischen Gesetze, unabhängig von dem Willen der Menschen, diese direkt „in das Reich der Gleichheit und Freiheit".
Im Laufe der Jahre wird sich erweisen, daß die marxistische Vorsehung der wissenschaftlichen Sozialisten mit der Vorsehung aller anderer Priester und Geistlichen völlig übereinstimmt. Den Sklaven der bürgerlichen Gesellschaft verspricht diese Vorsehung Glück nach ihrem Tode; ihren Nachkommen garantiert sie ein sozialistisches Paradies. Die unerschütterliche Sicherheit und der Glaube der marxistischen wissenschaftlichen Religion an die unabwendbare Heraufkunft des sozialistischen Reichs der Freiheit segnet damit die bürgerliche Entwicklung, „die Zweckmäßigkeit", „die Gesetzlichkeit" und „die Fortschrittlichkeit" des modernen Systems der Ausbeutung ab. Der marxistische Glaube an den unvermeidlichen Übergang des Kapitalismus zum Sozialismus, der Glaube an den Kapitalismus als notwendiger Vorstufe zum Sozialismus entwickelt sich zu einer großen Liebe zum bürgerlichen Fortschritt, zur Entwicklung der vollständigen Herrschaft der Bourgeoisie, zur vollendeten bürgerlichen Ausbeutung. Die Gläubigen, die echten proletarischen Sozialisten, die von der marxistischen Revolution überzeugt sind, sind die besten Kämpfer für den bürgerlichen Fortschritt, die eifrigsten Apostel und glühendsten Verfechter der bürgerlichen Revolution.
Aber die ursprüngliche „Reinheit" des sozialistischen Evangeliums kann trotz aller Entstellungen durch die falschen sozialdemokratischen Lehrer nicht verloren gehen und nicht vergessen werden. Die moderne Lehre des Anarchismus will die unerschütterlichen Prinzipien des Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts in all ihrer Reinheit neu erschaffen. Im Gegensatz zum sozialdemokratischen Opportunismus, der die Massen mit seinem Bestreben, die moderne Gesellschaft zu reformieren und weiter zu entwickeln, demoralisiert und bei ihnen Widerspruch hervorgerufen hat, erinnert die Lehre des Anarchismus die Massen an die reine Sehnsucht nach einem „Ideal", an eine Bewegung, die unmittelbar und ohne Zwischenetappen auf ein „Endziel" verweist.
Die Anarchisten sollten jedoch wissen, daß sie in dieser Hinsicht nichts neues erfunden haben und in dem Ideenkreis der orthodoxen Marxisten verbleiben, die in jeglicher Variante ihrer Orthodoxie nie das „Endziel" vergessen haben, auch wenn sie zweifellos vor der Praxis der Revisionisten kapitulieren mußten, bis sich im Verlauf der Bernstein-Debatte herausstellte, daß ihr Streben nach einem „Endziel" mit dem Reformismus von Bernstein übereinstimmte, für den die Bewegung selbst das „Endziel" war - das heißt nichts.
Die Anarchisten selbst können, da sie in letzter Zeit ihre eigenen „Praktiker" haben (der französische Anarchosyndikalismus), den Satz von Bernstein nicht abstreiten, demzufolge jeder Schritt eines Sozialisten im wahren Leben und im praktischen Kampf ein Kompromiß und ein Sündenfall ist. Ein Anarchist sieht schon die Teilnahme an einem Streik als einen Sündenfall und einen Verrat an den Prinzipien an - weil er dabei nicht für das „Endziel" kämpft, sondern für ein „Nachgeben" und für „Reformen".
Offensichtlich bietet der Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts keinen Weg ohne Kompromiß mit der existierenden bürgerlichen Ordnung.
Einen solchen Weg bietet allein und ausschließlich der Kampf im Untergrund gegen das moderne bürgerliche System. Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts wird sogar in seiner den stärksten Schrecken hervorrufenden Variante, dem Anarchismus, in einer demokratischen Republik als Syndikalismus und als Predigt des „anarchistischen Ideals" zu einer vollkommen legalen Angelegenheit; und die unversöhnlichen Anarchisten werden, genau wie die Sozialdemokraten der gegenwärtigen Gesellschaft, zu regierungstreuen Bürgern und können jetzt nicht mehr gegen die demokratische „Freiheit des Wortes", der „Presse" und die „Versammlungsfreiheit" konspirieren, da diese Freiheiten nach ihrer Überzeugung, die in dieser Angelegenheit mit derjenigen der Sozialdemokraten übereinstimmt, eine legale Vorbereitung einer sozialen Revolution ermöglicht.
Eine verschwörerische Untergrundtätigkeit in einem demokratischen Staat wird für die Anarchisten genauso utopisch und genauso blanquistisch-verbrecherisch wie für jeden Sozialdemokraten.
Folglich liegt der einzige direkte Weg zum Sturz des existierenden Unterdrückungssystems, der einzige Weg, der frei von jeglichem Kompromiß mit dem bürgerlichen Gesetz ist - die geheime Verschwörung zur Umwandlung der zahlreichen und gewaltsamen Arbeiterstreiks in einen Aufstand und eine weltweite Arbeiterrevolution - ganz außerhalb der Lehre des modernen Sozialismus.
II
Die Sozialisten des 19. Jahrhunderts erklären einen Krieg; sie sind jedoch keine unversöhnlichen Gegner der modernen Klassengesellschaft und der bürgerlichen Herrschaft insgesamt, sondern nur der entarteten Form der zivilisierten Gesellschaft, die mit dem Entstehen der kapitalistischen Produktion einsetzt, weil diese nach Meinung der Marxisten ihre fortschrittliche Funktion noch nicht hat offenbaren und bisher nur ihre dunklen Seiten hat zeigen können. In dem Maße, in dem der Sozialismus sich zu einer Wissenschaft entwickelt, wächst und festigt sich bei den Sozialisten das Bewußtsein einer unversöhnlichen Feindschaft nur gegenüber jener entarteten Form der gegenwärtigen Gesellschaft, die ihr die kapitalistische Ausbeutung verliehen hat.
Wie im folgenden gezeigt wird, kann der Sozialismus als Wissenschaft nichts anderes zum Ausdruck bringen, als den Willen zum Aufstand gegen die „krankhafte Anomalität" der gegenwärtigen Gesellschaft, nicht jedoch gegen die zivilisierte Gesellschaft im allgemeinen.
Welches sind dann, der Lehre des Sozialismus zufolge, die tatsächlichen Gründe für die Angriffe auf das gegenwärtige System?
An erster Stelle die Verschlechterung der Lage der Bevölkerung im Vergleich mit früheren Gesellschaftsformen seit Beginn der kapitalistischen Produktion; dann das maßlose Gebaren in der Wirtschaft, die „Anarchie" in der Produktion und die Unfähigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft, eine gerechte und dauerhafte Wirtschaftsentwicklung des jeweiligen Landes zu sichern.
Die marxistische Lehre sagt den Sturz des Kapitalismus voraus, unabhängig vom Willen der Menschen, und sie sagt auch die objektive Notwendigkeit des Sozialismus für den Fortbestand der Gesellschaft voraus; der marxistische Objektivismus basiert auf einem ganzen System ausschließlich solcher Argumente.
Das sozialistische System wird eine Notwendigkeit für alle, weil Krisen die Existenz der Gesellschaft in ihrer bisherigen Form bedrohen. Die Sozialisten begehren gegen das kapitalistische System auf, um es von den Krisen zu heilen, nicht um das gegenwärtige Gesellschaftssystem zu stürzen. Das bedeutet also nicht den Sturz des jahrhundertelangen Systems der Unfreiheit, sondern seine Festigung.
Des weiteren erklären die wissenschaftlichen Sozialisten das kapitalistische System für unbrauchbar, weil es nicht zu leisten in der Lage ist, was schon in früheren Epochen geleistet wurde - die Arbeitskräfte zu beschäftigen und sie nicht in die Arbeitslosigkeit zu entlassen.
Im Gegensatz zur Vergangenheit konzentriert der Kapitalismus, als schlechteste Form der zivilisierten Gesellschaft, alle Reichtümer in den Händen einiger weniger Magnaten. Er bietet den besonders befähigten Menschen aus den niedrigen Klassen keine Hoffnung auf Besserung ihrer Lage, er bedroht vielmehr ihre Existenz. Der Kapitalismus enteignet selbst die Kapitalisten. Er verringert die Zahl der Vermögenden. Also lautet die allbekannte Schlußfolgerung des wissenschaftlichen Sozialisten: im Mittelalter standen Landwirtschaft und Handwerk in voller Blüte; besonders fleißige Gesellen hatten gute Möglichkeiten, den Status eines Meisters zu erlangen; und besonders begabte Persönlichkeiten hatten die Möglichkeit, eine privilegierte Position zu erreichen. Die früheren Gesellschaftsformen ließen den Unterdrückten die Hoffnung, daß besonders gewandte und geschickte unter ihnen, einer von Hundert, einer von Tausend - zu Herren aufsteigen konnten. Der Kapitalismus hat diese Hoffnung zunichte gemacht und sich damit selbst zum Untergang verurteilt. Er ist nicht imstande, die Zahl der Herren zu vergrößern.
Die Sozialisten sind Gegner des gegenwärtigen Systems, weil dieses nicht imstande ist, die Wirtschaft rational zu organisieren, weil es unfähig zum Fortschritt ist, weil die Herrscher ungebildet und unfähig sind, mit den neu aufkommenden und sich entwickelnden Problemen des Lebens Schritt zu halten.
All das versucht das „Kommunistische Manifest" möglichst deutlich herauszustellen: „Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft."[3]
Es reicht schon aus, sich den Kern der Auseinandersetzung zwischen den Orthodoxen und Bernstein ins Gedächtnis zu rufen, um das oben Gesagte zu belegen.
Um den Nachweis zu führen, daß es keinen Sinn hat in Westeuropa ein Revolutionär zu sein und daß die Sozialdemokratie als Verteidigerin der Arbeitsklasse reformistisch zu sein hat, mußte Bernstein beweisen, daß der moderne Kapitalismus keine Verschlechterung des sozialen Systems im Vergleich mit früheren Zeiten darstellt. Alle Orthodoxen waren sich dessen bewußt, daß die Existenz des wissenschaftlichen Sozialismus eng mit der Lösung dieser Aufgabe, in welchem Sinn auch immer, verbunden ist. Der Sturz des gegenwärtigen Systems hat nur dann einen Sinn, wenn es als entartet und kraftlos angesehen wird.
Kautsky erkennt das in ganz naiver Weise. Wenn es wahr wäre was Bernstein behauptet, bemerkt er, wenn die Krise, die die ganze industrielle Welt bedroht, verschwinden würde, wenn der Kapitalismus die Mittelklassen nicht vernichten würde, wenn die Zahl der Vermögenden nicht immer geringer werden würde, dann hätte es keinen Sinn, das derzeitige System zu stürzen oder überhaupt ein Sozialist zu sein (Artikel gegen Bernstein im „Vorwärts").[4]
Die Degeneration der herrschenden Klassen ist für einen Marxisten und auch für jeden modernen Sozialisten eine notwendige Voraussetzung für die Vernichtung der Sklaverei. Wenn die bürgerliche Gesellschaft selbst imstande ist, sich weiter zu entwickeln, wird ihr Sturz sinnlos. Man kann einen gewaltsamen Umsturz nicht anstreben, wenn man selbst nicht glaubt und die anderen nicht davon überzeugt hat, daß die Bourgeoisie schwach ist und das bürgerliche System morgen zwangsläufig von „alleine zu Grunde geht".
Die Orthodoxen erachten es als notwendig, ihre Streitkraft in einer unversöhnlichen Haltung gegenüber jenen Gesetzen und Mächten zu bestärken, die den bürgerlichen Fortschritt aufhalten (in eine solche Lage wurde die russische Sozialdemokratie durch den Zarismus gebracht), und sind zugleich gezwungen, den Glauben an den unvermeidlichen und sofortigen Zusammenbruch der Bourgeoisie aufrechtzuerhalten. Und eben dies tun sie auch, gleich welche Taschenspielertricks sie dabei auch anwenden müssen. Parvus, für den, wie für jeden Anhänger von Bernstein, ein sozialistischer Umschwung so weit entfernt ist, daß sogar in Rußland zur Zeit nur eine bürgerliche Revolution möglich ist, wird ihnen jederzeit mit Zahlen beweisen, daß „die Wirtschaftskatastrophe und der endgültige Bankrott der Bourgeoisie zweifellos schon morgen eintreffen werden".
Der Marxismus hat seine revolutionäre Gesinnung und seine Unversöhnlichkeit nicht aufgrund seines unerbittlichen Kampfes gegen das System der Ausbeutung gewonnen. Er hat nur zu beweisen versucht, daß die Gesetze der menschlichen Gesellschaft, die von den Menschen unabhängig sind, die über ihnen stehen - dies ist die wahrhaft sozialistische Vorsehung - und die bürgerliche Gesellschaft zur Schwäche und zum Untergang verurteilen, ihm damit die Möglichkeit geben, in einem bestimmten historischen Augenblick die ganze Welt von der Sklaverei zu befreien.
Aber es gibt keine sozialistische Vorsehung; keine gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze, die vom Willen der Menschen unabhängig sind. Es gibt keine Naturgesetze, die die unterdrückten „Guten" für ihre schweren Prüfungen belohnen und die ungerechten Unterdrücker für ihre bösen Taten bestrafen. Die Sozialisten erheben sich und kämpfen gegen die Verschlechterung des Klassensystems, wobei ihr Kampf nur gegen diese Verschlechterung angeht, aber nicht das Klassensystem selbst vernichten kann.
Aus diesem Grunde hat der wissenschaftliche Sozialismus gegen alle Erwartungen der naiven Gläubigen die Entwicklung des bürgerlichen Fortschritts unterstützt. Eben dies wird immer stärker zu seiner eigenen tiefen Überzeugung. Die Sozialdemokratie zieht ihrer eigenen Überzeugung zufolge alle überlebensfähigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft an. In den „Interessen der Klassen" erklärt Kautsky:
„Ist aber die Sozialdemokratie heute die einzige Partei geworden, die noch den gesellschaftlichen Fortschritt verficht, so muß sie damit auch die Partei aller derjenigen werden, die eine Weiterentwicklung der Gesellschaft anstreben." (S. 30, Ausgabe von Kuklin).
,,..., daß heute nur noch das Proletariat und seine Partei die Interessen des gesellschaftlichen Fortschritts vertreten, damit aber auch sie allein das Lebensinteresse der gesamten Gesellschaft." (S. 31)
daß „die proletarischen Interessen heute zusammenfallen mit denen der Nation." (S. 11 )[5]
Analog zur christlichen Religion, die die Welt des Bösen verurteilt und zugleich deren Rettung verkörpert, sind die sozialistischen Parteien, die das existierende gesellschaftliche System zum Untergang verurteilt haben, zu Parteien des bürgerlichen Fortschritts geworden, obwohl die Orthodoxen dies vertuschen wollen.
Der sozialistische Glaube regte seine Anhänger zu einem Kampf für den bürgerlichen Fortschritt, für die Entwicklung und Stärkung des konstitutionellen bürgerlichen Staates an. Die industrielle und politische Demokratie sowie die kulturelle Arbeit in den Gemeinden, Kooperativen und Gewerkschaften sollen die Arbeiter auf ein sozialistisches Leben vorbereiten.
Die unversöhnlichen Anarchisten werden natürlich behaupten, daß die bürgerliche Welt des Bösen nur die Sozialdemokraten verdorben hat, daß deren Niedergang und Opportunismus die Folge ihrer Teilhabe an den bestehenden gesetzgeberischen Organen sind. Sie selbst jedoch, die eine Beteiligung an der Politik ablehnen, seien vor dieser Degeneration geschützt.
Das von uns zu Beginn über das Wesen der sozialistischen Lehre des 19. Jahrhunderts Gesagte beweist die Vergeblichkeit der Hoffnungen und Beteuerungen der Anarchisten. Die Grundlage der sozialistischen Lehre - die Formel von der Vergesellschaftung als Allheilmittel -, egal in welch reiner Form auch immer man sie versteht, ist für sich genommen nichts anderes als ein Angriff auf eine bestimmte Form der Ausbeutung, nicht aber auf die jahrhundertlange Ausbeutung überhaupt. Man kann von der Lehre des Anarchismus auch nichts anderes erwarten, weil sie ebenfalls das längst offenbarte sozialistische Evangelium zu bewahren versucht. Und tatsächlich ruft der Anführer des modernen Anarchismus aus den gleichen Gründen wie die wissenschaftlichen Sozialisten zu einer Revolution auf. In „Worte eines Rebellen" lesen wir:
„Wir werden dann zum Ergebnis kommen, daß sich zwei vorherrschende Tatsachen vom grauen Hintergrunde dieses Gemäldes hervorheben: Das Erwachen der Völker, Seite an Seite mit dem moralischen intellektuellen und wirtschaftlichen Bankerott der herrschenden Klassen; und die ohnmächtigen, versagenden Anstrengungen der wohlhabenden Klassen, um dieses Erwachen zu verhindern."
„Immer ängstlich, den Blick immerfort nach rückwärts gewandt, sind sie immer mehr und mehr unfähig, irgend etwas Dauerndes zu schaffen."
„Eine unheilbare Krankheit verzehrt sie alle: das Alter, der Niedergang."
„Wenn die herrschenden Klassen ihre Stellung fühlen könnten, würden sie sich beeilen, diesen Bestrebungen zuvor zu kommen. Aber gealtert in ihren Traditionen, ohne einen anderen Kultus als den des Geldsacks, widersetzen sie sich mit aller Kraft dieser neuen Strömung der Idee."
„Der Arbeiter fängt an, die Unfähigkeit aller Regierenden einzusehen, ihre Unfähigkeit, die neuen Bestrebungen der Arbeitenden zu verstehen; ihre Unfähigkeit, die Industrie zu leiten, die Produktion und den Austausch der Produkte zu organisieren."[6]
Im Namen des wissenschaftlichen Sozialismus und auch des Anarchismus „greifen die Arbeiter" die „herrschenden Klassen" an, weil diese nicht mehr „fähig" sind, die „Industrie zu leiten" und endgültig „gealtert" sind. Die Position des Anarchismus zum jahrhundertealten System der Ausbeutung ist, wie der Leser feststellen kann, nicht feindlicher als die der korrumpierten „parlamentarischen Sozialisten".[7] Im Gegenteil, der Anführer des modernen Anarchismus zeigt, obwohl er ein Gegner jeder Regierung ist, im Hinblick auf „die herrschenden Klassen" eine so kindliche Naivität, wie man sie nicht einmal bei den „korrumpierten" Sozialdemokraten findet. Er denkt, daß „die herrschenden Klassen", wenn sie nicht so „gealtert" wären und „ihre Stellung fühlen könnten", den neuen Bestrebungen entgegenkommen, dem Volk viel Brauchbares und Nutzliches bringen, den Arbeitern angesichts ihrer schweren Arbeit Wohlstand sichern und die Bedürfnisse des Volkes verstehen würden. Man ist einfach verwundert; aus welchem Grund erklärt Kropotkin, daß er selbst und seine Lehre jeder Regierung feindlich gesinnt sind, wenn doch gleichzeitig die Entrüstung in seiner Lehre nur gegen die „gealterte" herrschende Klasse gerichtet ist. Alle fortschrittlichen Regierungen, die es in der Geschichte mehr als einmal gegeben hat und die die neuen Bestrebungen „erkannt" haben, haben somit seiner Meinung nach auch die Bedürfnisse des Volkes verstanden und den Massen Wohlstand gesichert.
Und was geschieht, wenn die jetzigen „gealterten" herrschenden Klassen gegen neue, junge Klassen ausgetauscht werden, die nicht hilflos und ungebildet sind? Dann verschwinden auch der Grund und die Möglichkeit einer Revolution und eines Sturzes der Regierung sowie der Grund, Anarchist zu sein. Dieses verhängnisvolle Ende droht dem Anarchismus genauso wie dem wissenschaftlichen Sozialismus und dem Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts insgesamt. Schon oft wurden in der Geschichte die „gealterten" herrschenden Klassen durch Revolutionen gestürzt, um Platz für neue zu schaffen. Wo ist dann die Garantie, daß die herrschenden Klassen überhaupt aufhören zu existieren?
Nur das bewußte Streben der unterdrückten Massen zum Sturz aller herrschenden Klassen, egal ob sie rückschrittlich oder fortschrittlich sind, kann eine solche Garantie sein.
Aber der Aufstand der heutigen Sklaven ist, so die Erklärung der Sozialisten, nicht entstanden, weil es herrschende Klassen überhaupt gibt, sondern wegen deren Degeneration; demzufolge gibt es zur Zeit nur eine reale Kraft der Empörung und des Kampfes gegen den Stillstand und die Degeneration der herrschenden Gesellschaft. Aber wo ist die Kraft, die die herrschende Gesellschaft in Gänze stürzt und die Existenz der herrschenden Klassen negiert? Dies ist eine Kraft jenseits der Menschen, eine Vorsehung, die verspricht, den Protest gegen die Entartung und Schwäche des gegenwärtigen Systems in unserem Jahrhundert in einen Kampf gegen die Herrschaft überhaupt umzuwandeln. Der Marxismus versucht diesen Glauben auf der Basis von „wissenschaftlichen" und „ökonomischen" Erfindungen und Versprechungen zu entwickeln, die Anarchisten auf der Basis einer einfachen religiösen Propaganda des anarchistischen Ideals.
Genauso wie der christliche Glaube nicht einmal im Ansatz ein Himmelreich auf Erden schafft, sondern nur das System der Ausbeutung befestig und absegnet, so erschafft auch das sozialistische Glaubensbekenntnis kein sozialistisches Paradies, sondern fördert nur den bürgerlichen Fortschritt und die Entstehung von neuen, jungen herrschenden Klassen, deren Fehlen den Kampf ausgelöst hat.
Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts ergründet nur die Schwäche und die Entwicklung des Zerfallsprozesses der gegenwärtigen Herrschaftsform. Aber damit wird das Geheimnis der Herrschaft im allgemeinen natürlich weder erkannt noch gelüftet. Der Sozialismus zeigt nur die „Unzulänglichkeit" der gegenwärtig herrschenden Gesellschaft auf - aber dadurch ist nicht die „Unzulänglichkeit", das „Parasitentum" und die „Ausbeutung" aller in der Geschichte auftretenden Herrschaft bewiesen. Ganz im Gegenteil sieht der Marxismus seine Hauptaufgabe in dem Nachweis der Notwendigkeit der in der Geschichte vorkommenden herrschenden Klassen für das menschliche Zusammenleben. Der Anführer der Anarchisten ist dem Gedanken nicht abgeneigt, daß die herrschende Gesellschaft „die Bedürfnisse des Volkes verstehen" und „dem Volk seinen Wohlstand sichern könnte".
Folglich kann und will der Sozialismus des 19. Jahrhunderts die Grundlagen jeglicher Herrschaft überhaupt, sei sie schwach oder stark, nicht aufdecken. Er will weder erkennen noch verstehen, daß im Verlauf der ganzen geschichtlichen Entwicklung die ständige Ausbeutung Bestandteil der Herrschaft ist.
Er hat nicht die Kraft, noch ist es sein Wunsch, wirkliche und wahrhaftig menschliche Voraussetzungen für den Sturz des jahrhundertenlangen Systems der Ausbeutung und Gewalt zu schaffen. Seine wesentliche Aufgabe besteht darin, das Vertrauen der Massen zu gewinnen und ihnen den unerschütterlichen Glauben zu vermitteln, daß ausschließlich der Sozialismus der Weg zum Sturz des Systems der Unterdrückung ist. Daraus folgt seine spezielle Aufgabe: von der Heraufkunft des sozialistischen Paradieses zu überzeugen, „unabhängig vom Willen der Menschen", vom Gang der Geschichte vorherbestimmt und Folge von objektiven historischen Gesetzen.
Das ist die übliche Aufgabe jeder Religion und die sozialistische Religion hat diese Aufgabe ausgezeichnet erfüllt. Die positivistische und atheistische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat die Sozialisten nicht davor bewahrt, ein übernatürliches Wesen und eine neue Art der Vorsehung zu erfinden. Im Gegenteil, in dem Moment, als der Sozialismus von dem entschiedenen Bedürfnis erfaßt wurde, eine Wissenschaft zu werden, die die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung aufdeckt und vorhersagt, in demselben Moment hat er sich dazu entschieden, eine religiöse Fiktion zu erschaffen. Die sozialistische Wissenschaft hat dieselben Früchte hervorgebracht, wie die der heidnischen Priester und der christlichen Theologen.
Die Anarchisten bemühen sich um den Nachweis, daß die Wissenschaft der Marxisten für den revolutionären Sozialismus deswegen so verhängnisvoll geworden ist, weil sie nicht auf die wirklichen Grundlagen der modernen Wissenschaft zurückgegriffen haben, sondern auf die einer überlebten Metaphysik und insbesondere die der abgedroschenen Lehre der Anhänger Hegels. Die Anarchisten dagegen haben den strengen Positivismus zum Grundstein ihrer Lehre gemacht, die wirkliche wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaften, die induktiv-deduktive Methode, die vor jeder Metaphysik bewahrt und eine Fehlerlosigkeit der sozialistischen Lehre garantiert.
Also sehen wir uns noch einmal die wesentlichen Schlußfolgerungen des „wissenschaftlichen Anarchismus" an. Dabei können wir uns davon überzeugen, daß die Methode der Naturwissenschaften auf eine fatale Weise ins Reich der Träume, Fiktionen und leeren Aussagen führt; sie kommt zu denselben einschläfernden und bezähmenden Schlußfolgerungen wie der Marxismus und sie versetzt uns in eine noch verschwommenere Sphäre als dieser. Wir werden sehen, daß die revolutionäre Unversöhnlichkeit der anarchistischen Doktrin auf einem unglaublichen Mißverständnis basiert. Wir werden uns davon überzeugen, daß der Sozialismus, gleich ob bei Anarchisten oder Marxisten, mit seinem Streben nach „Wissenschaftlichkeit" die Grenzen des Glaubens nicht überschreitet, im Gegenteil: Die sozialistische Wissenschaft erfüllt mit ihrem Streben nach Wissenschaftlichkeit, Objektivität und Allgemeinverbindlichkeit die für alle Religionen charakteristische Funktion. Wir werden es dabei mit Kropotkin zu tun haben, der als einer der wichtigsten Vertreter der anarchistischen Wissenschaft gilt.
III
Der ganze anarchistische Anspruch Kropotkins, der angeblich den Sturz der jahrhundertelangen Unterdrückung anstrebt, basiert auf den Träumen vom wundertätigen Wirken des Volkes, das eines Tages aufgrund der menschlichen Solidarität und gemäß den anarchistischen Prinzipien das sozialistische Paradies errichtet - man muß dann nur noch die gegenwärtig herrschenden Regierungen stürzen und verhindern, daß eine „machtgierige Minderheit" deren Platz einnimmt.
„Wie der Sozialismus im allgemeinen und wie jede andere soziale Bewegung, so wurde auch der Anarchismus aus dem Volk geboren, und er wird nur so lange seine Vitalität und seine schöpferische Kraft bewahren, wie er eine Volksbewegung bleibt."
Dieser wesentliche Punkt eines wahrscheinlich von Plechanow stammenden und auf die bäuerliche Gesellschaft zielenden Programms bildet bis heute die Grundlage der von Kropotkin nicht nur auf Rußland, sondern auf alle zivilisierten Länder angewandten Lehre.
Wie die praktische Erfahrung der russischen Revolutionäre gezeigt hat, können diese volkstümlichen Träume keine revolutionäre Bewegung auslösen. In der anarchistischen Lehre von Kropotkin spielen sie jedoch eine bestimmende Rolle und sie vollbringen eine reale Tat; sie idealisieren die ganze bisherige Geschichte und damit auch das gegenwärtige System der Unfreiheit.
Tatsache ist, daß das Wirken des Volkes hinsichtlich der Errichtung eines idealen gesellschaftlichen Systems nur dann als wundertätig erscheinen kann, wenn es im Laufe der ganzen Geschichte nicht untätig war. Und tatsächlich:
„Von jeher... schufen die Massen in der Form von Gebräuchen eine Menge von Institutionen, die ein gesellschaftliches Zusammenleben erst ermöglichten... Es ist auch diese schöpferische und konstruktive Kraft des Volkes, mit Hilfe derer... der heutige Anarchismus die nötigen Einrichtungen zu schaffen sucht, welche eine freie Entwicklung der Gesellschaft gewährleisten... (und die) ursprünglich zur Wahrung der Gleichheit, des Friedens und der gegenseitigen Hilfe geschaffen wurden...; ... daß der Genius des Volkes in aller Freiheit die Einrichtungen der gegenseitigen Hilfe und des gegenseitigen Schutzes in Übereinstimmung mit den neuen Bedürfnissen und den neuen Lebensbedingungen wieder aufbauen könne."[8]
Demzufolge strebte das Volk zu jeder Zeit die Gleichheit an und dank seiner schöpferischen Tätigkeit zielte es in allen bekannten historischen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens darauf ab, die Bedürfnisse der Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft zu befriedigen.
Um diese historische Perspektive der anarchistischen Lehre zu verstehen, darf man als Leser die Tatsache nicht aus dem Auge verlieren, daß es dabei nicht um wirkliche Geschehnisse geht, sondern um die edlen Träume aller Jahrhunderte - und daß es von Nutzen ist, diese Träume um die gegenwärtigen anzureichern. Dies ist notwendig, um das Unternehmen nicht sinnlos werden zu lassen. Wenn wir tatsächlich die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachten, die jahrtausendelang die Grundlage der Zivilisation und der Altertums waren, dann ergibt sich zum Beispiel, daß die schöpferische Tätigkeit des griechischen Volkes darin bestand, Ketten für die Sklaven zu schaffen, um die Gleichheit zu sichern.
Der Idealismus, der für den ganzen Sozialismus des 19. Jahrhunderts charakteristisch ist, zeigt sich in der anarchistischen Doktrin in konzentrierter Form. Sie propagiert ein ganzes System von Selbstbetrug und Selbsteinschläferung, um das sozialistische Paradies schneller erreichen zu können. In dieser Hinsicht bleiben andere Anarchisten wie Jean Grave oder Errico Malatesta Kropotkin nichts schuldig. Die anarchistische Lehre setzt sich als Ziel, aus der ganzen Geschichte das reine Element der Gesellschaftlichkeit, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe herauszufiltern, und dessen Ursprung nicht nur in den Tiefen der menschlichen Psyche, sondern auch in den Instinkten des Tierlebens zu finden. Die Anarchisten wollen beweisen, daß im Gegensatz zu der Ansicht der Darwinisten der dominante Faktor im Tierreich und auch in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft nicht der „Kampf`, sondern das „Zusammenwirken" ist.[9] Die Ausbeutung und die Unfreiheit verschwinden demzufolge deswegen nicht, weil die Menschen nicht glauben wollen, daß eine Gesellschaft auf einer Grundlage existieren kann, die dem modernen Individualismus entgegengesetzt ist. Die anarchistische Predigt hat das Ziel, diesen Glauben zu erwecken. Dabei merken die anarchistischen Theoretiker nicht, wie sie zu wahren Moralisten und Predigern werden. Ihr frommer sozialistischer Glaube erlaubt ihnen nicht, das ganze Ausmaß der Unfreiheit der unterjochten Masse und den vollen Umfang der Herrschaft der Ausbeuter zu sehen. Die letztere ist ihnen zufolge eine krankhafte Entstellung der menschlichen Natur, eine zufällige Verirrung der ganzen Menschheit.[10]
Das religiöse Verhältnis der anarchistischen Denker zur „Solidarität" zwingt sie dazu, diese Kostbarkeit der menschlichen Seele anzubeten, sogar dann, wenn es um die Brüderlichkeit der Herrscher und Ausbeuter geht. Wie ein ganz gewöhnlicher Demokrat begeistert sich Kropotkin als Republikaner für die „Kommune" der Kaufleute des großen Nowgorod und der „Handwerkergilden und (der) Städte des Mittelalters", vergißt jedoch, daß es sich dabei um die Solidarität von Sklavenhaltern handelte, deren republikanische Staaten er als herrschaftslose Gesellschaften ansieht. Letztendlich werden in seinem kindlichen Schema der historischen Entwicklung, wie sie z.B. in „Moderne Wissenschaft und Anarchismus" dargestellt ist, alle sozialistischen und anarchistischen Anschauungen zu einer gewöhnlichen demokratischen Überzeugung. In der Sichtweise des Anarchisten existierte zu allen Zeiten, wie für jeden Demokraten, nur der Widerspruch zwischen Regierung und Volk. Das Volk setzte sich für Gleichheit ein, die Macht wiederum, die die Gesellschaft unterdrückte, machte diese gute Tat zunichte, jedoch nicht immer, sondern nur in Augenblicken der Reaktion vor einer Revolution.
„Überdies war es immer wieder der Fall, daß die Institutionen - selbst die besten, welche ursprünglich zur Wahrung der Gleichheit, des Friedens und der gegenseitigen Hilfe geschaffen wurden - in dem Maße, wie sie alterten auch erstarrten. Sie verloren ihre ursprüngliche Bedeutung, gerieten unter den Einfluß einer ehrgeizigen Minorität und wurden schließlich ein Hemmnis für die Weiterentwicklung der Gesellschaft."[11] Dann kommt die Zeit der Revolutionen. Der Leser, der mit dem Vorwort von „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" von Karl Marx vertraut ist, wird sich an die Aussage des Gründers des wissenschaftlichen Sozialismus erinnern, daß kurz vor einem politischen Umsturz die jeweiligen Produktionsverhältnisse aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte in deren Fesseln umschlagen.[12] Es ist allgemein bekannt, welche große Bedeutung die modernen wissenschaftlichen Sozialisten dieser Aussage beimessen, indem sie ihre ganze Theorie des ökonomischen Materialismus mit der Lehre einer gesetzlichen Übereinstimmung der historischen Entwicklung der Produktivkräfte und der Bedürfnisse der Produktion der zivilisierten Gesellschaft verbinden. Das Buch von Beltov über die monistische Geschichtsauffassung hat das Ziel zu beweisen, daß diese Aussage als materialistische und realistische Ergänzung von Hegels Behauptung, daß jede Zeit ihre Ordnung und ihre Wahrheit hat, die Hauptweisheit der marxistischen Philosophie darstellt.[13] Und dieses scheinbare Allheilmittel eines realistischen Denkens, diese scheinbare Garantie gegen jeden Utopismus findet sich in voller Gänze bei einem Denker, den die Marxisten selbst als einen Idealisten und Utopisten ansehen. Kropotkin hat es nicht nötig, die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als ökonomischen Klassenkampf um den Besitz von Reichtümern zu verstehen, wovon er, wie die ersten Seiten seiner oben erwähnten Broschüre beweisen, bis heute keinerlei Ahnung hat. Um mit den modernen materialistischen und wissenschaftlichen Sozialisten übereinzustimmen, brauchte er nur ein wenig mehr in den marxistischen Jargon zu verfallen, und zwar im Hinblick darauf, daß es sich mit allen bisher existierenden gesellschaftlichen Systemen so verhält wie mit benutzten Sachen: sie sind gut, solange sie neu sind, aber schlecht, wenn sie alt sind.
Im Anschluß an solche Werke wie das von Beltov übernahm die ganze volkstümliche und subjektivistische Intelligenz diese Anschauungen und verstand sich nun als marxistisch; auf diese Weise traten eine ganze Reihe von proletarischen Ideologen wie Struwe, Tugan-Baranovskij, Bulgakow und Berdjajew hervor, die an die Orthodoxen (Plechanow, Tulin) anknüpften.[14] Bald jedoch schon, sich den Zeitumständen anpassend, erklärten sie, daß die orthodoxe Anschauung der Klassenauseinandersetzungen subjektiv und utopisch sei. Sie stimmten mit Beltov nicht im Hinblick auf Klassenauseinandersetzungen überein, sondern wegen der von diesem gepredigten, den Klassenkampf zähmenden Theorie, die eine marxistische Theorie des Objektivismus, der industriellen Bedürfnisse und Gesetze ist.
Die Tatsache, daß die wichtigste Schlußfolgerung dieser Theorie von einem Denker übernommen wird, der nicht einmal versucht die Geschichte als tatsächlich ökonomischen Kampf zu sehen, beruht darauf, daß die Grundlage der materialistischen Theorie der industriellen Bedürfnisse auf derselben idealistischen Fiktion basiert, auf der auch das historische Schema von Kropotkin aufbaut. Sowohl Marx als auch Kropotkin lehren uns im Hinblick auf alle bisher existierenden Gesellschaftsformen, daß diese gestürzt wurden, als sie veraltet (Marx) bzw. „erstarrt" waren (Kropotkin). Aber zum Zeitpunkt ihrer Entstehung waren alle diese Gesellschaftsformen solche, die der Befriedigung der Bedürfnisse der Produktion dienten (Marx) und sie wurden als Garantie der Gleichheit, des Friedens und der gegenseitigen Hilfe geschaffen (Kropotkin).
Die Zivilisation kennt im Laufe der jahrhundertelangen Entwicklung keine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits der mittelalterlichen Sklaverei, der Leibeigenschaft oder der modernen Sklaverei der Arbeiter. Sowohl die marxistische als auch die anarchistische Wissenschaft versteht es, aus den verschiedenen Formen der Unterdrückung im Laufe der Zivilisation eine für sie notwendige Fiktion einer einheitlichen Gesellschaft zu entwickeln, die sich nur dank der gesellschaftlichen Bedürfnisse, der Bedürfnisse aller Mitglieder dieser Gesellschaft entwickelt; sie versteht es, die Fiktion einer einheitlichen Menschheit zu erzeugen, die sich dank der menschlichen Bedürfnisse weiterentwickelt.
Wenn der fromme sozialistische Glaube mit seinen Märchen darüber, wie zu jeder Zeit das Volk alle Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschaffen hat, auf die Arbeiterbewegung trifft und diese davon zu überzeugen versucht - wird er aus Notwendigkeit marxistisch. Angesichts der aufständischen Sklaven der modernen Gesellschaft ist der Sozialismus gezwungen anzuerkennen, daß die zivilisierte Gesellschaft ein Klassenstaat ist. Aber dieses Geheimnis zu lüften war er nur einverstanden, als sich die Möglichkeit ergab, die Fiktion der einheitlichen Menschheit und der einheitlichen Gesellschaft nicht aufzugeben, sondern im Gegenteil ins Unbewußte zu verweisen und somit den Glauben an die Allmacht der von den Menschen unabhängigen Gesetze der gesellschaftliche Produktion und den unanfechtbaren Gang der Dinge noch zu festigen.
Die anarchistische Theorie legt es nicht darauf an, analog zum Marxismus die Geschichte mit Anspielungen darauf, daß jede ihrer Etappen eine Klassenherrschaft darstellt, zu kompromittieren. Aber die Entrüstung der Sklaven der modernen Gesellschaft einer wissenschaftlichen Kontrolle - den historischen Gesetzen -, unterzuordnen, zählt auch für die anarchistische Theorie zu den notwendigen und nützlichen Sachen, obwohl sie ein Gegner jedes Gesetzes ist. Das süße Lied von der großen Solidarität entwickelt sich dadurch, daß es eine wissenschaftliche Tiefe gewinnt und zu einer gesellschaftlichen Wissenschaft wird, in dieselbe Richtung wie der Marxismus und die ganze moderne Soziologie.
Und dies sind die Ergebnisse dieser ganzen wissenschaftlichen Arbeit: Die zivilisierte Gesellschaft - der Staat - wird aus einer Organisation der Unfreiheit zu einer Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die das Ziel hat, die Bedürfnisse jedes Mitgliedes der Gesellschaft zu befriedigen. Die historische Entwicklung wird als Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse und des menschlichen Willens zu einem unanfechtbaren Gerichtsverfahren, vor dem alle niederknien müssen.
Die anarchistische Theorie hat, genauso wie der wissenschaftliche Sozialismus, in den Aufständen der Sklaven aller Epochen nie eine Empörung gegen die historische Entwicklung gesehen, die die Mehrheit der Menschen zur Sklaverei verurteilt, obwohl viele im Anarchismus die Verkörperung einer unversöhnlichen Empörung gegen jede Unterdrückung sehen. Die anarchistische Theorie wollte, genau wie der Marxismus, nie sehen, daß das unterdrückte Leben der großen Mehrheit der menschlichen Wesen, die in jeder bis jetzt existierenden Generation geboren wurden, im Widerspruch zur historischen Entwicklung steht. Den Anarchisten und Marxisten ist es nie in den Sinn gekommen, daß man die existierende Unfreiheit nur durch eine Empörung und eine Unzufriedenheit beheben kann, die einen Aufruhr gegen die historische Entwicklung bedeuten, nach deren Gesetzen die Unfreiheit von Generation zu Generation nur weitergegeben und befestigt wurde.
Die Arbeiterrevolution ist etwas, das sich vom wissenschaftlichen Sozialismus und Anarchismus total unterscheidet. Die Arbeiterrevolution ist die unaufhaltsame Folge der Tatsache, daß die historische Entwicklung Ausdruck des Willens einer Minderheit ist, die sich alle Reichtümer und Herrschaft angeeignet hat; diese historische Entwicklung verurteilt die Mehrheit der Menschheit dazu als Sklaven geboren zu werden, als eine niedrige Rasse. Die Arbeiterrevolution ist ein Aufstand der Sklaven der modernen Gesellschaft gegen die historischen Gesetze, die den ganzen Erdball bis heute in ein Gefängnis für sie umwandeln.
Ein anarchistischer oder marxistischer und jeder andere Gelehrte bemüht sich, „durch die Analyse der Gesellschaft die Tendenzen bloßzulegen, die ihr in einem gegebenen Augenblick ihrer Entwicklung zu eigen sind und sie zur Geltung zu bringen".[15] „Der Anarchismus stellt den Versuch dar, aufgrund der durch die induktiv-deduktiv Methode der Naturwissenschaften gewonnenen Verallgemeinerungen zu einer Wertung der menschlichen Institutionen zu gelangen. Er ist auch der Versuch, auf der Grundlage dieser Wertung den Weg der Menschheit in die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu finden, um so das größtmögliche Glück für jede Einheit in der menschlichen Gesellschaft zu gewinnen." [16]
Das Sklavendasein der Arbeitermassen der ganzen Welt, die Lebensinteressen und das menschliche Dasein der unterdrückten Mehrheit - all dies genügt den gelehrten Verwaltern der historischen Entwicklung nicht, um ihren Verstand damit zu beschäftigen, all dies ist ein unzureichendes und unwürdiges Motiv für ihre Gedanken und Taten. Sie suchen heutzutage genauso unermüdlich wie in den vergangenen Jahrhunderten nach einem würdigeren Gegenstand für ihre Forschungen. Sie suchen nach göttlichen Gesetzen, nach Naturgesetzen und solchen des Weltalls, die auch für die menschliche Gesellschaft gelten sollen. Dieses große Unternehmen endet, wie schon zu den Zeiten der heidnischen Priester und christlichen Theologen, in einem leeren Gerede von Parasiten, die sich der Sklaven der modernen Zwangsarbeit bedienen, in einer Stärkung der existierenden Sklaverei und einer Zähmung des Willens und der Gedanken der Massen durch die scheinbare Größe und Autorität der Kaste der gelehrten Übermenschen.
IV
Einen besonderen Verdienst, den sich der marxistische Sozialismus zuschreiben will, besteht in der Entdeckung des utopischen Charakters des frühen Sozialismus, in der Aufdeckung von dessen Ursachen und in der Warnung der Arbeitermassen vor den utopischen Irrwegen der frühen Sozialisten. Es hat sich aber gezeigt, daß dieser Anspruch verfrüht ist. Die Marxisten erklären den Utopien, durch die sich jeder anarchistische Theoretiker von ihnen unterscheidet, zwar den Krieg, sind aber nicht imstande, diese Utopien in der Wurzel zu vernichten. Keinem Marxisten ist es gelungen, die Ursachen der Utopie aufzudecken, und alle Versuche der wissenschaftlichen Sozialisten in dieser Richtung können keine Erfolge aufweisen.
Plechanow, der so viel über die Utopie geschrieben hat - so z. B. in seiner polemischen Broschüre gegen den Anarchismus und in seinem legal erschienenen Buch über „die Narodniki" (Volkstümler) -, versucht nicht ohne Grund, den Anarchismus und die Narodniki in einen Zusammenhang mit den frühen Utopisten zu bringen.[17] Aber die gemeinsame Ursache aller utopischen Richtungen ist von ihm nur sehr oberflächlich erfaßt worden, und der Schlag, den er sowohl dem russischen volkstümlichen Sozialismus als auch dem Anarchismus versetzt, ist so belanglos, daß er die Utopie nur leicht beschädigt, sie aber nicht aufhebt. Dieser nur leicht beschädigten Utopie bleibt das Recht auf eine weitere Existenz erhalten, und das nicht nur bei Plechanow, sondern auch bei den Marxisten.
Die Ursache der Utopie basiert nach Meinung von Plechanow auf der Überzeugung, daß es für die Menschheit eine ideale Gesellschaftsordnung gäbe, die der Natur des Menschen entspreche. Diese Ordnung könne mit Hilfe des Verstandes entdeckt werden, was wegen menschlicher Irrungen bis jetzt nicht geschehen sei. Einer solchen Utopie könne nur der wissenschaftliche Sozialismus seine einzig wahre Lehre entgegenstellen, die besagt, daß es für die sich ständig ändernde menschliche Natur keine ideale Ordnung gibt und daß jede Ordnung ihre Berechtigung zu ihrer Zeit und an ihrem Ort hat.
Der von Plechanow formulierte Vorwurf trifft zwar auf die Enzyklopädisten zu, aber nicht auf die Anarchisten und die russischen Narodniki. Alle Narodniki und Anhänger der Ideen der siebziger Jahre, nicht nur die revolutionären Narodniki, sondern auch friedliche liberale Herren, haben sich seinerzeit mit der „Geschichte" und der „Abfolge historischer Ereignisse" beschäftigt, nachdem Beltov ihnen Hegels Wahrheiten als Grundlage der proletarischen Lehre verkündet hatte. Sie bemühten sich zu zeigen, daß sie die Weisheiten der Lehre von den Klassen nicht schlechter kannten als „die echten Schüler", wenn man dies von ihnen erwartete.
Was die Anarchisten und Kropotkin betrifft, so sehen wir, daß dieser selbst die philosophischen Grundlagen der proletarischen Geschichtswissenschaft kennt. Er lehrt uns, daß alle Strukturen des Zusammenlebens zu allen Zeiten vom Volk geschaffen wurden, um Frieden, gegenseitige Hilfe, Gleichheit und Freiheit zu garantieren. So gut diese Strukturen jedoch zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auch waren, mit der Zeit wurden sie alt, erstarrten und entwickelten sich zum Hindernis für den weiteren Fortschritt und wurden von Revolutionen umgewälzt.
Mit solchen Worten artikuliert der Utopist Kropotkin die historisch-philosophischen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus, die in vollem Ausmaß nur für den proletarischen Marxismus verständlich sind; der Feind der Dialektik formuliert den zentralen Aspekt des dialektischen Materialismus. Dies bedeutet zum ersten, daß alle zeitgenössischen gelehrten Sozialisten diese von sämtlichen Schattierungen des Sozialismus anerkannte Wahrheit nicht aus Hegel als der einzigen Quelle schöpfen, sondern aus sich selbst, aus ihrem Standpunkt zur zivilisierten Gesellschaft und deren Geschichte, wobei dieser Standpunkt mit dem des preußisch königlichen Patrioten überein stimmt. Zweitens bedeutet dies, daß der Anführer des Anarchismus die antiutopischen Grundlagen des realistischen Marxismus formuliert, ohne jedoch seinen eigenen Utopismus in Frage zu stellen, der trotz dieser Formulierung ganz rein bleibt. Er lehrt uns, daß alle Strukturen des Zusammenlebens in der Geschichte mit dem Ziel einer allgemeinen Freiheit und Gleichheit geschaffen wurden. Der Utopismus der anarchistischen Lehre ist für die weise marxistische Kritik nicht angreifbar; er ist imstande, sie zu überlisten und zugleich ihre strengen wissenschaftlichen Forderungen zu erfüllen. Er bleibt so lebendig und frei von Schaden wie je zuvor.
Wir haben bisher auf Aspekte verwiesen, bezüglich derer die anarchistische Wissenschaft und der Marxismus weitgehend übereinstimmen. In der Folge gehen wir ausführlicher auf Punkte ein, bei denen sich eine Nichtübereinstimmung und sogar eine volle Gegensätzlichkeit zeigt.
*
„Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte entwickelte sich der Individualismus." „Die Mehrheit der Menschen dachte... wenn jeder einzelne sich versorgt hat, kann man sich auch vom Kapital befreien." „Das Geld gibt mir die Möglichkeit alles zu kaufen, was ich brauche, auch die Freiheit", dachten die Menschen und haben sich geirrt.
Die ganze Entwicklung der Geschichte und jegliche Form der Unterdrückung erfolgten demzufolge nur infolge menschlicher Kurzsichtigkeit.
„In dieser ganzen Periode des Blutvergießens, der Armut und der Ausbeutung, die man menschliche Geschichte nennt, hat der Mensch nur die von Unterdrückten zu leistende Arbeit gesehen, und dabei nicht daran gedacht, daß die Notwendigkeit, in der Zukunft immer wieder Arbeiteraufstände unterdrücken zu müssen, ebenfalls Arbeit erfordert. Es wäre vorteilhafter, zusammen zu arbeiten und einander zu helfen... Auf diese Weise wurde Macht und Eigentum festgelegt.“ [18]
Staat und Kapital existieren somit nur dank menschlicher Irrtümer und unzureichender Überlegungen.
„Seit Jahrhunderten in Anwendung, hat die Unterdrückung so wenig geholfen, daß wir uns in einer Sackgasse befinden, aus der wir nur heraus können, wenn wir die Fackel und die Axt an die Einrichtungen unserer Obrigkeitsgläubigkeit legen."[19]
Also ist die ganze Geschichte ein großer Fehler. Alle Menschenwesen, Milliarden, die bis jetzt auf der Erde gelebt haben, haben sich in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen geirrt und haben immer zum eigenen Schaden gehandelt.
Ein gewöhnlicher Mensch, der zufällig zu einer solchen Schlußfolgerung gelangt, wird sich die Augen reiben, sich umsehen und denken, daß er sich selbst und nicht gleich die ganze Menschheit in eine solch mißliche Lage gebracht hat.
Aber ein anarchistischer Denker ist viel zu erhaben für solche Gefühle. Er ist unerschütterlich davon überzeugt, daß zum erstenmal seit Jahrhunderten mit ihm ein Wesen auftaucht, das die Logik der Dinge erkennt und eine normale Sicht der Dinge hat. Seine außergewöhnliche Lage versucht der anarchistische Denker dadurch glaubhafter zu gestalten, daß er die Fehler, derer er die Menschen überführt, nicht als Ergebnis menschlicher Kurzsichtigkeit ansieht, sondern als Ausdruck eines moralischen Verfalls. Ein grober und elementarer Egoismus erlaubt es den Menschen und insbesondere den Sklavenhaltern nicht, ihre eigentlichen Interesse zu sehen. Und ein Anarchist ist, wie wir sehen konnten, ernsthaft darüber betrübt, daß die Sklavenhalter aller Jahrhunderte ein unglückliches Leben geführt haben, daß sie so viele harte Arbeit dafür aufgewendet haben, „Aufsicht" über die Unterdrückten führen und „Arbeiteraufstände unterdrücken zu müssen".
Die Verfestigung seiner Anschauungen führt den Anarchisten dazu, den elementaren Egoismus der Menschen und die groben materiellen Interessen als Verursacher allen Unglücks der Menschheit zunehmend zu hassen. Diese sind nichts anderes als der von jedem religiösen System zu erfindende böse Geist, den jeder Mensch in sich unterdrücken muß, weil das Glück auf Erden ansonsten niemals siegen wird.
Die wirkliche Welt aber hört nicht auf niederträchtig zu sein, die Sterblichen sind stur in ihren Irrungen. In der realen Welt treten die Menschenmassen immer öfter für „einen Cent", für ihre materiellen Interessen ein. Die Lehre des tugendhaften Grave und seiner Nachfolger beeinflußt den Kampf der Sklaven der gegenwärtigen Gesellschaft, der in seiner zukünftigen Entwicklung zu einem weltweiten Aufstand aller Sklaven führen wird, nur geringfügig.
Ein Anarchist sieht in einem ökonomischen Streik, wenn er sich daran beteiligt, nur eine Erziehungsmaßnahme für die Masse; er betrachtet den allgemeinen Streik als Akt der Solidarität, als Protest und als Demonstration, die dann von den Sozialdemokraten für ihre irdischen Ziele der Teilnahme an der Macht benutzt wird, wie es im vorigen Sommer in Italien geschah.
Wenn ein Anarchist seiner Doktrin und seinem Ideal treu und der Versuchung der niederträchtigen Welt gegenüber standhaft bleiben will, dann gesellt er sich bewußt und unverrückbar zu den Reihen jener Berufsprediger, die den Massen der eigenen Überzeugung zufolge noch lange erhalten bleiben werden.[20]
Die anarchistische Doktrin wird dann zu einer religiösen Predigt, die den einfachen Menschen beibringen will, nach hohen Idealen zu streben und sich nicht nach groben materiellen Interessen zu richten. Hier kommt die anarchistische Doktrin unmittelbar mit den Lehren von Tolstoi, Kant, dem Neokantianismus sowie Berdjajew in Berührung, die auf dem Weg „der reinen Wissenschaft" zu der Erkenntnis der Notwendigkeit von Metaphysik und Religion gelangt sind.
Wenn ein Prediger mit Worten der allgemeinen Liebe in ein Gefängnis tritt, das man die zivilisierte Gesellschaft nennt, unterstützt und festigt er dieses Gefängnis und ruft die Unterdrückten dazu auf, sich aus unfreiwilligen Sklaven in solche zu verwandeln, die ihrem Gewissen folgen.
Es gibt keinen Grund davon auszugehen, daß sich aufgrund der anarchistischen Predigt etwas an den Verhältnissen der Unfreiheit ändern wird - daß daraus Solidarität, Frieden, gegenseitige Hilfe und eine Verurteilung von Egoismus, Kampf und Zwang folgen.
Die anarchistische Doktrin bedroht die jahrhundertelangen Verhältnisse der Ausbeutung nicht, weil sie diese nicht als wesentlichen Faktor des zivilisierten Lebens betrachtet.
Sicher haben unsere Vorfahren „einander ausgeplündert und ausgebeutet". Aber das war ein Fehler und ein Irrtum, der ihnen selber geschadet hat. Ihre Plünderungen und die Ausbeutung waren nicht die Folgen ihrer Natur, sondern nur zufällige, fehlerhafte Erscheinungen der bösen Seite ihrer Seele.
Also sind Gewalt, Plünderungen und Ausbeutung in der menschlichen Entwicklung nicht von Bedeutung. Zugleich kommt etwas zum Vorschein, das viel bedeutender und wichtiger ist - die menschliche Solidarität, deren Folge eine gesellschaftliche Entwicklung auf der Basis einer Vervollkommnung der menschlichen Zusammenarbeit und des Fortschritts ist (Malatesta, s. oben S. 122). Nicht Plünderung und Ausbeutung, sondern die menschliche Zusammenarbeit steht am frühen Beginn der historischen Entwicklung. In der Folge zielen, ausgehend von der „Kraft des Volkes", alle Formen „des gesellschaftlichen Zusammenlebens" auf eine „Wahrung der Gleichheit" ab; von daher ist die ganze Geschichte eine unaufhaltsame Bewegung in Richtung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" (Kropotkin, s. oben S. 121).
Unsere Vorfahren haben zwar geplündert und ausgebeutet. Aber das bedeutet nicht, daß Plünderung und Ausbeutung die Grundlage der von ihnen errichteten zivilisierten Gesellschaft sind. Im Gegenteil. Als Grundlage für die sich entwickelnde Gesellschaft diente ihnen im Gegensatz dazu die (Malatesta, s. oben S. 122) - Zusammenarbeit. Ja! Die Grundlage der bis jetzt existierenden Gesellschaft ist nicht der Kampf, sondern die „Kooperation"; diese ist das „einzige Mittel des Fortschritts, der Vervollkommnung und der Sicherheit".
Die anarchistische Doktrin wird vielleicht Zugeständnisse machen und diese Zusammenarbeit als „erzwungen" erklären. Aber es bleibt dabei, auch die erzwungene Zusammenarbeit dient dem Fortschritt, der Vervollkommnung und der Sicherheit, und nur der offene Kampf ist atavistisch und unnütz für alle.
Folglich erkennt die anarchistische Doktrin in der modernen Gesellschaft vor allem eine Bekundung von Solidarität. Die Träger dieser Solidarität und das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sind für sie alle gegenwärtigen „Staaten" und „Nationen". Somit kann - wie wir in Folge 1 gesehen haben[21] - der vorgebliche Gegner eines jedes Staates vergessen, daß es sich dabei doch um Staaten handelt, denen er eigentlich den Krieg erklärt hat.
Mit seinen sozialistischen Forschungen ist Kropotkin auf fatale Weise zum Berater der europäischen Nationalstaaten geworden. Er gibt ihnen sozialistische Ratschläge in bezug auf die Frage, auf welchem Weg sie den größten Wohlstand und Erfolg erreichen können.[22]
Je mehr der Anarchismus sich zu einer Wissenschaft entwickelt, je mehr er sich in die Geheimnisse der „Solidarität" vertieft, dieses heiligen Anfangs und absoluten Wohls der menschlichen Natur, desto deutlicher erweist sich die zivilisierte Gesellschaft, dieses Gefängnis für die Sklaven aller Zeiten, als Modell der Zusammenarbeit. Er konzentriert seine Gedanken auf diese Gesellschaft und ihr Schicksal, und die Sorgen dieser Gesellschaft beschäftigen ihn zutiefst.
Ihre Krankheit macht auch ihn krank, und er macht sich Sorgen darüber, daß die Organisation der Herrschaft auf einen „falschen Weg" und in „eine Sackgasse" geraten ist; er sorgt sich um alle Mitglieder dieser Gesellschaft, sogar um die Fehler derer, die Geld anhäufen (Kropotkin, s. oben S. 128).
Ein anarchistischer Theoretiker kann sogar dann, wenn er zerstörerische Pläne entwickelt, seine Verbundenheit mit der modernen Gesellschaft nicht aufgeben; er kann sich zu keiner Zeit von denen loslösen, die diese errichtet haben und die sie aufrecht erhalten.
„Und wenn die bürgerliche Gesellschaft im Untergang begriffen ist; wenn wir uns heute in einer Sackgasse befinden, aus der wir nicht entrinnen können, ohne daß wir Säge und Axt an die Institutionen der Vergangenheit legen, so besteht die Schuld gerade darin, daß man zu viel gerechnet hat. Es ist unsere Schuld, daß wir uns zu dem Grundsatz haben hinreißen lassen, nur zu geben, um zu empfangen, d.h., daß wir aus der Gesellschaft eine Handelskompagnie, die auf dem Prinzip des Soll und Habens basiert, machen wollten."[23]
„Mit Säge und Axt” will ein Anarchist also tätig werden, um die zivilisierte Gesellschaft wieder in ihren eigentlichen Zustand zu verwandeln. Es ist also eine Verleumdung, daß die Gesellschaft in ihrer Grundlage „kommerziell" ist. Jeder Anarchist beschwört, daß die schlechte Lage der Arbeiter in der zivilisierten Gesellschaft zeitlich beschränkt bleibt, daß sie das Ergebnis einer vorübergehenden Entartung und einer zufälligen Verirrung der herrschenden Klassen ist.
Der Führer des modernen Anarchismus beansprucht auf jeder Seite, ein direkter Berater der modernen Gesellschaft zu sein. Er bemüht sich, in dieser Hinsicht radikaler als die Sozialdemokraten zu sein, aber er wird dadurch nur komischer.
„Doch verlieren wir nicht das Ziel der ganzen Produktion aus dem Auge: die Befriedigung der Bedürfnisse. Wenn aber die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen unbefriedigt bleiben, - was muß man dann tun, um die Produktivität der Arbeit zu steigern? Welches sind die Gründe der Unproduktivität? Ist es nicht vor allen anderen die Tatsache, daß die Produktion, die Bedürfnisse des Menschen aus den Augen verlierend, eine absolut falsche Richtung angenommen hat, und daß ihre Organisation fehlerhaft ist? Und wenn wir dies konstatiert haben, so laßt uns die Mittel suchen, die Produktion derartig zu organisieren, daß sie wirklich allen Bedürfnissen genügt."[24]
Dieses Zitat könnte aus dem Werk eines jeden Volkstümlers stammen, der die Gesellschaft dazu aufruft, sich zu schämen und ihren bis jetzt glücklichen Zustand nicht in eine kapitalistische, kommerzielle Gesellschaft zu verwandeln.
Der Führer des Anarchismus wirkt genauso naiv und komisch wie die russischen Volkstümler (Narodniki), wenn sie die Tatsache, daß die „Bedürfnisse des Menschen" nicht befriedigt werden, als einen einfachen Fehler der existierenden Gesellschaft ansehen, die doch überhaupt nicht das Ziel hat, diese Bedürfnisse zu befriedigen, sondern die Arbeitermassen auszubeuten pflegt. Nur ein naiver und falscher Prediger kann Märchen darüber erzählen, daß das Ziel jeder Produktion die Befriedigung der Bedürfnisse ist, und daß dies ausgerechnet für eine zivilisierte Gesellschaft gilt, deren Produktion jahrhundertelang nur dem parasitären Konsum der herrschenden Klassen diente und die für die Sklaven nur die notwendigen Lebensmittel übrig hatte.
Noch in seinen schärfsten Angriffen auf die moderne zivilisierte Gesellschaft fühlt sich Kropotkin als deren Mitglied, das Verantwortung für alle ihre Taten und alle ihre Mitglieder trägt, sogar für die Regierenden. „Wir haben", so schreibt er, „die Gesellschaft in ein kommerzielles Unternehmen umgewandelt, wir lieben die Macht, den Zwang und die Gewalt." Mit einem naiven Vertrauen versucht er die modernen Unternehmer davon zu überzeugen, „das Ziel der Produktion nicht aus den Augen zu verlieren" - das Wohlergehen aller Mitglieder der Gemeinschaft. Jede Seite seiner Werke zeugt davon, daß er sich trotz seiner zerstörerischen Pläne nicht von den Sorgen und Aufgaben der herrschenden Klasse loslösen kann. Seine Psychologie und seine Seele sind die eines Predigers, der diese Gesellschaft trotz aller Verdammungen liebt - die Seele eines Moralisten, der die Untugenden der von ihm geliebten Gesellschaft anklagt. Diese Psychologie ist nicht die Psychologie eines aufständischen Sklaven - des Proletariats.
Eine solche Psychologie ist nicht nur für den Führer des modernen Anarchismus, für Kropotkin, charakteristisch, sondern für alle Theoretiker des Anarchismus. Aus dieser Psychologie - der Liebe zu den modernen Gesellschaften und den Nationalstaaten, die nur zeitlich beschränkte Phasen der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und der menschlichen Solidarität sind - resultiert die ganze anarchistische Philosophie, jener Utopismus, den die Marxisten entdecken wollten, aber nicht konnten.
Dieser Utopismus erhält seine Vollendung in den folgenden Sentenzen eines „wissenschaftlichen Anarchismus", in denen sich die anarchistische Doktrin zur „modernen Politik" und zu modernen Gesetze wie folgt äußert:
„Politik kann keine sinnvollen Ergebnisse haben, da sie jedem Verstand fremd bleibt. Als eine unlogische Methode kann sie nicht zur Festlegung von logischen Verhaltensregeln dienen.“ [25]
„Das Gesetz ist eine antiwissenschaftliche und willkürliche Formel..."[26] ,,...die moderne Gesellschaftsorganisation ist jeder Logik, jedem gesunden Verstand entgegengesetzt..."[27]
Eine solche sentimentale Moral erklärt alle Plünderer und ihr historisches Werk als frei von jedem „edlen Verstand", sie spricht ihnen Logik und gesunden Sinn ab. Der Moralist, der mit seinen Belehrungen die Natur des Menschen zu ändern verspricht, versperrt den Weg zum wirklichen Verständnis der realen Wirklichkeit; er zerstört jede Möglichkeit, die Geschichte offenen Auges zu betrachten und die Wahrheit über ihre unerbittliche und schreckliche Logik zu erkennen.
„Die zivilisierte Gesellschaft ist bar jeder Logik, bar jeden gesunden Verstandes!" Tatsächlich aber errichtet sie mit unerbittlicher Logik überall das gleiche Gefängnis für die Sklaven, wie hundert, tausend, zweitausend Jahre zuvor; sie verurteilt wie ehedem die Mehrheit der menschlichen Wesen noch vor ihrer Geburt zu einer lebenslangen Unfreiheit und zur Sklavenarbeit.
Und wie oft wurde dieses Gefängnis von den Unterdrückten scheinbar ein für allemal vernichtet! Mit eiserner Logik haben die „Taten des Volkes" es wieder aufgebaut; mit einem fehlerlos funktionierenden gesunden Verstand haben die neuen Ausbeuter unter Siegesjubel und in brüderlichen Umarmungen das Gefängnis noch größer und umfassender wieder errichtet.
Die moderne Gesellschaftsorganisation ist bar jeden gesunden Verstandes!
Mit einem teuflischen Sinn in ihren unzähligen Organen arbeitet sie seit Jahrhunderten jede Stunde und jede Minute an einem Ziel - dem Sklaven das Ergebnis seiner Arbeit zu entreißen.
Und währenddessen erzählt die Wissenschaft der Anarchisten ihre schönen Märchen von der Hilflosigkeit, den ewigen Fehlern und dem Mangel jeglicher Logik der Herrschenden!
Für die Auseinandersetzung mit der eisernen Logik der ewigen Unfreiheit und dem fehlerlos funktionierenden gesunden Verstand der Ausbeuter bewaffnet sie die Sklaven mit Phantasien und Illusionen, mit Naivität, mit kindlichem Vertrauen und Träumen. Die Wissenschaft der Anarchisten lehrt die Sklaven nicht, ihre Ketten zu zerreißen, sondern sich einzuschläfern.
Die Arbeiterrevolution[28]
Die bolschewistische Diktatur und die Enteignung der Bourgeoisie
Hundert Jahre lang belehrten die Sozialisten die Arbeiter, wie man eine ausbeuterische bürgerliche Gesellschaftsordnung stürzen kann. Über dieses Thema wurden Berge von Büchern, wissenschaftlichen Arbeiten, Zeitschriften, Broschüren, Zeitungen und Aufrufe geschrieben. Trotz der riesigen Arbeit ganzer sozialistischer Generationen waren die russischen Bolschewiki, nachdem sie erfolgreich die Macht übernommen hatten, völlig ahnungslos gegenüber der Frage, wie man die Bourgeoisie vernichten und die bürgerliche Gesellschaftsordnung endgültig stürzen sollte. Sie bewegten sich genauso im Dunkeln wie die Pariser Kommunarden vor 47 Jahren und wie die Sozialisten in demselben Paris vor 70 Jahren, die die bürgerliche Monarchie gestürzt hatten und dann hilflos vor der Frage standen, wie man weiter mit den Arbeiteraufständen umgehen sollte. Die Bolschewiki können sich jetzt davon überzeugen und mit ihrer Hilflosigkeit auch bezeugen, daß die ganze sozialistische Wissenschaft, besonders die der letzten 50 Jahre, sich nur mit der Frage beschäftigt hat, wie man die Arbeiter für den Sozialismus vorbereitet, wie man demokratische bürgerliche Strukturen weiterentwickelt, daß man aber nicht daran gedacht hat, wie man die Bourgeoisie im Moment der Revolution stürzt.
Die Bolschewiki sahen sich gezwungen, Anleitungen zur Durchführung der „proletarischen" Revolution nicht aus der aktuellen Phase der Entwicklung des Marxismus zu gewinnen, sondern in der Epoche zu suchen, die 70 Jahre hinter uns liegt. Sie waren bemüht, die kleinsten Hinweise von Marx aus jener Zeit zu erfüllen, bis zu dem Punkt, daß sie sich von „Sozialisten" in „Kommunisten" umtauften.
Dann begannen sie mit der Durchführung von teilweisen Nationalisierungen und zwar genau in der Reihenfolge, wie Marx es geschrieben hat, können aber mit keinen guten Ergebnissen ihrer Experimente aufwarten, weil sie den Widerstand der bürgerlichen Gesellschaft nicht überwinden können. Die bürgerliche Gesellschaftsordnung existiert weiter. Eingeengt und verkrüppelt kann sie immer noch, wenn die Revolution schwächer wird, ihre Wunden heilen und zu neuem Leben erwachen.
Wie soll man die bürgerliche Gesellschaftsordnung endgültig zerschlagen? Soll man die teilweise Nationalisierung fortsetzen? Diese hat aber ihre Schwäche schon bewiesen. Wie soll man die Überlebenskraft der alten Gesellschaftsordnung überwinden und die neuen Formen des Widerstandes der bürgerlichen gebildeten Gesellschaft ersticken?
Die wichtigsten Schritte der sozialen Revolution und die Hauptprobleme des sozialistischen Umsturzes müssen die Bolschewiki tastend und aufs Geratewohl angehen; sie sind gezwungen, dies nicht nur als erste, sondern auch unverzüglich und angesichts der Attacken ihrer eigenen und der ausländischen Bourgeoisie zu tun. Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich keiner von den vielen marxistischen Gelehrten die Aufgabe gestellt, die revolutionäre Formel von Marx, die dieser noch in den Jahren 1847 - 1850 formuliert hatte, zu vervollständigen.
Und dies ist auch kein Wunder. In der Epoche, die der Februarrevolution folgte, zielte der Sozialismus nicht auf die Arbeiterrevolution, sondern auf die Verbreitung des sozialistischen Glaubens an die Fortentwicklung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, daran, daß die Kapitalisten sich selbst ein Grab schaufeln, daß die zukünftige Ordnung im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft geboren wird und daß man den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß bloß nicht stören soll, indem man versucht „eine Frühgeburt" auszulösen - eine vorzeitige Arbeiterrevolution.
Der Umsturz im Oktober
In allen Perioden der Entwicklung des Marxismus blieb die Aussage, daß der erste Schritt zur Befreiung der Arbeiterklasse die Machteroberung ist, unverändert und unerschütterlich. Die Sozialdemokratie hat diese Aussage ihres tieferen Inhalts beraubt, indem sie mit ihrer Politik lehrte, daß die Arbeiterklasse einzig und allein mit Hilfe des friedlichen parlamentarischen Kampfes zur Macht gelangen kann. Mittlerweile erkennt jeder Bolschewik ohne Probleme, daß man auf diesem Weg „die Herrschaft des Proletariats" nicht erlangen kann, sondern daß die Sozialdemokratie selbst zu einer friedlichen und legalistischen Partei geworden ist, die zur Zeit überall den Regierungen hilft, einen Ausbeutungskrieg zu führen und die Arbeitermassen aller Länder dazu zu verführen, sich begeistert gegenseitig umzubringen. Der Bolschewismus hat die Formel der Machtergreifung von Marx in ihrer ursprünglichen revolutionären „Reinheit" nicht nur mit Worten, nicht nur in seiner Propaganda, sondern auch in der Tat wiederhergestellt.
Die Macht wird nicht auf friedlichem Wege, sondern mit Gewalt und Volksaufständen erkämpft. Das hat der Bolschewismus der ganzen sozialistischen Welt bewiesen; niemand wird bestreiten, daß er dies mit großer Sicherheit und Gewißheit getan hat. Aber die Behauptung der Bolschewiki, daß ihre Machtergreifung die Diktatur und die Herrschaft des Proletariats bedeute, ist eines der vielen Märchen, die vom Sozialismus im Laufe seiner gesamten Geschichte erdacht wurden.
Obwohl die Bolschewiki das Kompromißlertum der Sozialdemokratie abgelehnt haben, wird die Herrschaft der Arbeiterklasse bei ihnen vordergründig genauso schnell durchgesetzt wie die parlamentarische Herrschaft bei den Anhängern von Scheidemann. Sowohl die einen als auch die anderen versprechen der Arbeiterklasse die Herrschaft, ändern aber nichts an den Zwängen, denen sie unterworfen ist und dies bei andauernder Existenz der Bourgeoisie, die weiterhin über alle Reichtümer verfügt.
Vor dem Jahr 1903 beteuerten die späteren Bolschewiki in Übereinstimmung mit den sozialistischen und demokratischen Verbündeten, daß der Sturz der zaristischen Selbstherrschaft die Arbeiterklasse zum uneingeschränkten Herrn des Landes machen würde. Im Jahre 1917, wenige Tage nach dem Oktoberumsturz, nachdem die Bolschewiki in den Räten die Stellen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki eingenommen hatten - Lenin die von Kerenski und Schlapnikow die von Gwosdew -, wurde die Arbeiterklasse schon allein deswegen zum unumstrittenen Besitzer aller Reichtümer des russischen Reiches. „Grund und Boden, Eisenbahnen, Fabriken - das alles gehört euch, Arbeiter" - so steht es in einem der ersten Aufrufe des Rats der Volkskommissare.
Der angeblich vom sozialdemokratischen Opportunismus gereinigte Marxismus zeigt die allen sozialistischen Schwätzern eigene alte Neigung, die Arbeiter mit Märchen statt mit Brot zu füttern. Der revolutionäre kommunistische Marxismus, hervorgekehrt unter dem Müllhaufen langer Jahrzehnte, verteidigt die immer gleiche demokratische Utopie von der Alleinherrschaft des Volkes, auch wenn dieses in Unfreiheit, in Unwissenheit und in ökonomischer Sklaverei gehalten wird.
Auch wenn der bolschewistische Marxismus seine Diktatur errichtet und beschlossen hat, ein sozialistisches Regime zu verwirklichen, ist er die alte marxistische Gewohnheit nicht losgeworden, die „ökonomischen Interessen" der Arbeiter mithilfe der „Politik" einzudämmen, die Arbeiter vom ökonomischen Kampf abzulenken und die ökonomischen Aufgaben durch politische Diskussionen zu ersetzen. Im Gegenteil, kaum hatten sie ihr Meisterwerk vollbracht, haben die Bolschewiki die Arbeitermassen unverzüglich mit ihrer unaufhörlichen Lobhudelei von einer „Arbeiter- und Bauernregierung" umgarnt.
Nur weil die Bolschewiki die Macht ergriffen haben, soll das bürgerliche Rußland unverzüglich verschwunden und ein neues sozialistisches Rußland, ein russisches „sozialistisches Vaterland" enstanden sein, und dies, obwohl die „proletarische Diktatur" bis jetzt noch nicht begonnen hat und nicht einmal daran denkt, die Fabriken und Industriebetriebe zu vergesellschaften?
Die Kapitalisten haben ihre Fabriken verloren, obwohl sie ihnen nicht weggenommen wurden; sie sind nicht mehr die Eigentümer ihres Kapitals, obwohl sie immer noch wie Herren leben. Seit Oktober soll der Arbeiter Eigentümer des ganzen Reichtums sein, der gleiche Arbeiter, dessen Lohn angesichts der wachsenden Preise ein Hungerlohn geworden ist; der gleiche „Fabrikeigentümer", der bei den kleinsten Transportschwierigkeit zu einer so schrecklichen Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wie man sie in Rußland noch nie gesehen hatte.
Ja, die bolschewistische Diktatur ist wahrlich wundertätig! Sie gibt den Arbeitern Macht, sie gibt ihnen Herrschaft und Freiheit und läßt dabei die ganzen Reichtümer in den Händen der bürgerlichen Gesellschaft.
Aber, sagt die marxistische kommunistische Wissenschaft, die Geschichte kennt keinen anderen Weg der Befreiung: bis jetzt haben sich alle Klassen durch die Ergreifung der Staatsmacht befreit. Auf diesem Weg hat auch die Bourgeoisie ihre Alleinherrschaft in der Epoche der großen französischen Revolution erreicht.
Ein kleines Detail haben die kommunistischen Gelehrten vergessen: Alle Klassen, die sich im Laufe der Geschichte befreit haben, waren vermögende Klassen, während die Arbeiterrevolution die Herrschaft der Besitzlosen gewährleisten soll. Die Bourgeoisie ergriff die Macht erst, nachdem sie im Laufe der Jahrhunderte Reichtümer angehäuft hatte, die nicht geringer waren als die ihrer Unterdrücker, der Adligen; und nur aus diesem Grund bedeutete die direkte Machtergreifung eine wirksame Institutionalisierung und Befestigung ihrer Herrschaft für sie.
Die Arbeiterklasse kann dem Weg der sich befreienden Bourgeoisie nicht folgen. Die Akkumulation von Reichtümern ist für sie nicht denkbar, auf diesem Weg kann sie die Bourgeoisie nicht bekämpfen. Die Arbeiterklasse kann nicht vor der Durchführung der Revolution in den Besitz der Reichtümer gelangen. Deswegen gibt die Eroberung der Staatsmacht, von welcher wie auch immer revolutionären und noch so kommunistischen Partei sie auch durchgeführt wurde, den Arbeitern selbst nichts außer einer scheinbaren Macht und einer illusorischen Herrschaft, wie sie die bolschewistische Diktatur bis heute darstellt.
Die Bolschewiki bewegen sich im Hinblick auf eine Lösung dieser Probleme nicht vorwärts, und die Arbeitermassen, die schon seit längerem ihre diesbezüglichen Illusionen zu verlieren beginnen, werden letztendlich die bolschewistische Diktatur als für sie nutzlos erkennen und sich von ihr entfernen, so wie sie sich auch bereits von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären entfernt haben. Es wird offensichtlich werden, daß die jetzige Macht keine Macht der Arbeiterklasse ist und daß sie nichts anderes verteidigt als die Interessen der „Demokratie" und der unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft: des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums sowie der Intelligenz, die als „Intelligenz des Volkes" bezeichnet wird, sich aber aus Deklassierten der Bourgeoisie und der Arbeiterschaft zusammensetzt, die von der sowjetischen Republik dazu berufen worden sind, den Staat, die Industrie und das ganze Leben des Volkes zu bestimmen. Es wird sich herausstellen, daß die bolschewistische Diktatur nichts anderes als ein äußerst revolutionäres und unentbehrliches Mittel war, um die Konterrevolution zu unterdrücken und die demokratischen Errungenschaften zu beschützen. Es wird sich zudem herausstellen, daß die Bolschewiki den Oktoberaufstand gemacht haben, um die heruntergekommene Ruine des bürgerlichen Staates durch die Errichtung eines „Arbeiter- und Bauernstaates" vor dem völligen Untergang zu retten, und dabei nicht nur den herrschaftlichen Wohnbesitz, sondern ganze Städte und Regionen vor der Zerstörung zu bewahren, die zum einen von den hungernden Massen in den Städten und auf dem Land und zum anderen von Millionen Soldaten, die von der Front desertierten, bedroht waren.
Alles was von der bolschewistischen Revolution übrig bleibt, unterscheidet sich kaum von den bescheidenen Plänen, die die Bolschewiki zwei bis drei Monate vor dem Oktoberumsturz gemacht hatten. In der Broschüre „Die Lehren der Revolution" erklärt Lenin einige Male, die Aufgabe der Bolschewiki bestehe darin, das zu tun, was die sozialrevolutionären Minister zwar wollten, aber nicht konnten: Rußland vor dem Zerfall zu bewahren, und daß nur bürgerliche Verleumder den Bolschewiki das Streben nach einer sozialistischen Arbeiterdiktatur unterstellen können.[29]
In zwei späteren Broschüren („Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll” und „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?") erklärt Lenin, die Aufgabe der bolschewistischen Diktatur und der Arbeiterkontrolle bestehe im Austausch des alten bürokratischen Apparates durch einen neuen volkstümlichen Staatsapparat; er befürwortet zudem verschiedene phantastische Methoden wie man z.B. die Bourgeoisie zwingen kann, dem neuen volkstümlichen Staat zu dienen ohne ihr ihre Reichtümer wegzunehmen.[30]
Die bolschewistische Diktatur wurde als demokratische Diktatur verstanden, die die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht zerstören sollte. Nach dem Oktoberumsturz wurden einige Betriebe durch ein Dekret als nationalisiert erklärt, ohne daß die Umsetzung, wie man weiß, garantiert ist. Einige Dutzend Bankiers haben ihre Reichtümer verloren, aber im allgemeinen bleiben die Reichtümer Rußlands in den Händen der Bourgeoisie, als Basis ihrer Kraft und Macht.
Indem sie sich in den errungenen Stellungen verschanzen, werden die neu konvertierten Kommunisten die Rolle der französischen bürgerlichen Demokraten aus der Zeit der großen Revolution, die Rolle der ruhmreichen Jakobiner spielen, deren Karriere die bolschewistischen Anführer so sehr begeistert, daß sie sie gerne kopieren würden, sei es als Person oder in einer amtlichen Funktion.
Die französischen Jakobiner haben zu ihrer Zeit eine ähnlich illusorische „Diktatur der Armen" geschaffen wie die der russischen Bolschewiki. Um das Volk von der Unterdrückung der „Aristokraten" und anderer „Konterrevolutionäre" zu überzeugen und um zu zeigen, daß die Hauptstadt und der ganze Staat in den Händen der Armen sind, haben die Jakobiner die Reichen und die Aristokraten unter die Aufsicht der Masse gestellt und selbst blutige Repressionen gegen die Feinde des Volkes organisiert.
Die „revolutionären Tribunale" der Pariser Sansculottes haben jeden Tag zahlreiche Feinde des Volkes zum Tode verurteilt; die Armen wurden mit dem Spektakel der vom Schafott rollenden Köpfe eingeschläfert, so daß sie dabei ihre Sklaverei und Not vergaßen; genauso werden in Rußland die Arbeitermassen mit den Verhaftungen von Bürgern und Saboteuren, der Beschlagnahme von Palästen, dem Verbot der bürgerlichen Presse und einem terroristischen Spektakel, das dem der Jakobiner gleicht, eingeschläfert.
Ungeachtet des jakobinischen Terrors hat die gebildete Bourgeoisie bald anerkannt, daß gerade diese extremen Maßnahmen sie gerettet, die Eroberungen der revolutionären Bourgeoisie gefestigt und die bürgerliche Revolution und den Staat vor dem konterrevolutionären Europa bewahrt haben, und zugleich eine grenzenlose Treue des Volkes gegenüber „dem Vaterland der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit" begründeten.
Solange die Reichtümer in den Händen der Bourgeoisie bleiben, bleibt auch Rußland ein bürgerlicher Staat, egal wie oft die Bolschewiki ihn als „sozialistisches Vaterland" verherrlichen und egal, welche noch so volkstümlichen Regierungsformen sie erfinden. Alles, was sie bis jetzt gemacht haben, ist die Arbeit von Jakobinern: die Festigung des demokratischen Staates, der Versuch, die Massen in dem Selbstbetrug zu überzeugen, daß seit Oktober die Herrschaft der Ausbeuter ein Ende gefunden hat und alle Reichtümer dem arbeitenden Volk gehören; zudem haben sie im demokratischen Rußland den Patriotismus der französischen Sansculottes wieder aufleben lassen. Davon konnten die Bolschewiki vor dem Oktober, als sie noch in der Minderheit waren, aber bereits erklärten, daß nur sie den für die Verteidigung des Vaterlandes nötigen Enthusiasmus erwecken könnten, nur träumen.[31] Einmal an der Macht, haben sie nicht aufgehört eben daran zu denken, auch wenn es ihnen nicht gelang, in der „kranken" Armee ein patriotisches Feuer zu entflammen; sie denken jetzt noch daran, indem sie einen neuen „vaterländischen Krieg" ausrufen.
Die Herrschaft der Arbeiterklasse
Die Macht, die den Händen der Bourgeoisie entglitten ist, kann nicht in die Hände einer besitzlosen Klasse, wie es die Arbeiterklasse ist, übergehen und sich dort behaupten. Eine zugleich besitzlose und herrschende Klasse ist eine vollkommene Absurdität. Das ist die grundlegende Utopie des Marxismus, dank derer die bolschewistische Diktatur ebenso schnell wie einfach zu einer demokratischen Form der Vollendung und Befestigung der bürgerlichen Revolution, zu einer Art russischer Kopie der jakobinischen Diktatur wird.
Die Macht, die den Händen der Kapitalisten und Großgrundbesitzer entgleitet, kann nur von den unteren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft erobert werden - vom Kleinbürgertum und von der Intelligenz als den Trägern des Wissens, das für die Organisation und Regelung des ganzen Lebens im Land notwendig ist -, die sich ein Recht auf hohe Gewinne, auf einen Teil der zusammengeraubten Reichtümer und einen Teil des nationalen Gewinns erkämpft und gesichert haben. Aber diese unteren Schichten der Bourgeoisie, die den Kapitalisten eine demokratische Ordnung abgetrotzt haben, kehren sehr schnell zu einer Übereinstimmung und Einheit mit diesen zurück. Die Macht verbündet sich wieder mit den Besitzenden; sie kann nicht auf lange Zeit von der Quelle aller Macht getrennt bleiben - der Akkumulation des Reichtums. Muß man dann nicht zu dem Schluß kommen, daß die Arbeiter auf jeglichen Gedanken an eine Herrschaft verzichten sollen, und dies in jeder Situation? Nein, denn der Verzicht auf Herrschaft bedeutet nichts anderes als Verzicht auf Revolution. Die siegreiche Revolution der Arbeiterklasse bedeutet in der Tat nichts anderes als ihre Herrschaft.
Man muß ganz klar darauf verweisen, daß die Arbeiterklasse die bürgerliche Revolution nicht einfach kopieren kann, wie es ihr die sozialdemokratische Wissenschaft rät, und dies aus dem einfachen Grund, weil eine Klasse, die zu Hungerlöhnen verurteilt ist und von der Hand in den Mund lebt, im Gegensatz zur Bourgeoisie, die seit dem Mittelalter Reichtümer und Wissen ansammelte, nichts akkumuliert und auch gar keine Möglichkeit dazu hat. Die Arbeiter verfügen über ihren eigenen besonderen Weg, um sich aus der Sklaverei zu befreien. Um ihre Herrschaft zu ermöglichen, muß die Arbeiterklasse die Herrschaft der Bourgeoisie ein für allemal vernichten und sie mit einem Schlag von der Quelle ihrer Herrschaft, ihren Fabriken, ihren Industriebetrieben und all ihren sonstigen angesammelten Besitztümern abtrennen, und sie muß die Reichen in eine Reihe mit den Menschen stellen, die arbeiten müssen um leben zu können.
Aus diesem Grunde ist die Enteignung der Bourgeoisie der erste unvermeidliche Schritt der Arbeiterrevolution. Aber die Enteignung ist gewiß nur der erste Schritt auf dem Weg der Befreiung der Arbeiterklasse; die Enteignung der Bourgeoisie bringt weder die vollständige Vernichtung der Klassen, noch die volle Gleichheit mit sich. Nach der Enteignung des großen und mittleren Eigentums bleibt noch das kleine Eigentum in den Städten und auf dem Land, das zu vergesellschaften noch viele Jahre dauern wird. Es bleibt, was noch viel wichtiger ist, die Intelligenz. Obwohl ihre großen Einkommen im Rahmen der Enteignung der Bourgeoisie eingeschränkt werden, wird ihr nicht in jedem Fall die Möglichkeit genommen, einen höheren Arbeitslohn für sich zu erringen.
Da die Intelligenz weiterhin, wie zuvor, im Besitz des Wissens bleibt und die Regierung des Staates und der Produktion weiterhin in ihren Händen ruht, wird die Arbeiterklasse einen hartnäckigen Kampf mit ihr führen müssen, um den Arbeitslohn zu erhöhen und dem der Intelligenz anzugleichen.
Die volle Freiheit der Arbeiter läßt sich erst dann verwirklichen, wenn eine neue Generation von gleich gebildeten Menschen entstanden ist, als unweigerliche Folge einer gleichen Entlohnung von körperlicher und geistiger Arbeit, weil Angehörige der Intelligenz und Arbeiter dann die gleiche Möglichkeit zur Erziehung ihrer Kinder haben. Die Herrschaft der Arbeiter kann der Enteignung der Reichen nicht vorangehen. Erst im Augenblick der Enteignung der Bourgeoisie kann die Herrschaft der Arbeiterklasse beginnen. Die Arbeiterrevolution wird die Staatsmacht zwingen, eine Enteignung der großen und mittleren Bourgeoisie durchzuführen und die Inbesitznahme der Industriebetriebe, der Fabriken und aller akkumulierten Reichtümer durch die Arbeiter zu legitimieren.
Die marxistische Diktatur
Da es bei dem Oktoberumsturz um die „Arbeiter und Bauern", um die bürgerliche Revolution und um die demokratische Diktatur ging, konnte der alte bolschewistische Wagen, wenn auch mit Schwierigkeiten, einen Weg aus dem Sumpf finden und einen neuen Weg einschlagen. Aber der weitere Weg führt steil nach oben. Es steht die „sofortige Einführung des Sozialismus" bevor, die von der auseinander gejagten Verfassungsgebenden Versammlung feierlich aufgerufen wurde. Der sozialdemokratische Leiterwagen kracht und knirscht auf dem ansteigenden Weg, die Passagiere werfen immer öfter traurige Blicke zurück in Richtung des Sumpfs. Dieser Verlockung kann auch der Kutscher nicht widerstehen. Die Kommunisten kehren mit lautem Geschrei um: Keine Aufstände mehr! Es lebe das Vaterland! Mehr Arbeit für die Arbeiter! Eine eiserne Disziplin in Fabriken und Betrieben!
Mit wildem Jubel werden sie von ihren alten Verwandten begrüßt, den Mitgenossen der bürgerlichen Revolution, den Menschewiki: „Ihr seid zurückgekehrt! Ihr wolltet ,gegen den objektiven Gang der Dinge' rebellieren, gegen die ,bürgerlichen Einsichten' ! Ihr wolltet eine sofortige Verwirklichung des Sozialismus! Ihr habt deren ,Unmöglichkeit' selbst auf die beste Art bewiesen."
Aber umsonst jubeln die Bewohner des Sumpfes über alle Maßen. Der Verzicht der Bolschewiki auf weitere „sozialistische Experimente" beweist nur das Unvermögen der Sozialdemokratie, die bürgerliche Gesellschaftsordnung zu stürzen, aber nicht das objektive Unvermögen insgesamt und das Unvermögen der Arbeiterklasse, eine siegreiche Revolution gegen die räuberische Gesellschaftsordnung durchzuführen.
Die Bolschewiki haben eine Aufgabe auf sich genommen, die ihre Kräfte übersteigt. Sie glaubten, die bürgerliche Gesellschaftsordnung auf Basis der sozialdemokratischen Lehre stürzen zu können. Aber diese marxistische Lehre wird auch von den „Kompromißlern" der Menschewiki, von „den kaiserlichen Sozialdemokraten" in Deutschland und Österreich und von den „Sozialpatrioten" aller Länder gepredigt. Diese Lehre führt zur Niederlage der Revolution, zum Einschläfern der Arbeitermassen, sie ist ein festes Netz, das den Verstand der Arbeiter umwickelt, die gefährlichste Waffe der gebildeten Bourgeoisie in ihrem Kampf mit der Arbeiterrevolution.
Als die Sozialdemokratie der ganzen Welt soweit ging, Armeen von Arbeitern, die für die sozialistische Befreiung gebildet worden waren, dem räuberischen Militär zur Vernichtung zu übergeben, beschlossen einige Anführer des Bolschewismus, die Sozialdemokratie als faulenden Leichnam zu bezeichnen. Aber die Lehre der Sozialdemokratie, ihr marxistischer Sozialismus, der diesen „faulenden Leichnam" geboren hat, ist für die bolschewistischen Anführer heilig und unbefleckt geblieben. Die Sozialdemokratie hatte nur ihre Lehre „verraten". Aber die Verräter zählen Millionen, und treue „Anhänger" der Lehre zum Zeitpunkt der russischen Revolution sind nur Lenin und vielleicht Liebknecht. Trotzdem gilt: Es lebe der heilige marxistische Sozialismus, der wahre Sozialismus!
Das ist die übliche Geschichte der sozialistischen Spaltungen des vergangenen Jahrhunderts. Ein Erneuerer taucht aus dem sozialistischen Sumpf auf, aber nicht um einen Ausweg für sich und die anderen zu finden, sondern um das alte Vermächtnis zu verwirklichen, z.B. um die jakobinische Revolution durchzuführen. Deswegen weht nur ein laues Lüftchen über dem Sumpf und bald herrscht wieder eine wonnige Flaute. Das sozialistische Netz, das den Verstand der Arbeiter umgarnt und sie von der Revolution fern hält, wird durch die Erneuerungen „der revolutionären" Kommunisten nicht schwächer, sonder nur stärker.
Vor ungefähr zwanzig Jahren haben die Bolschewiki zusammen mit Plechanow, Guesde, Vandervelde und anderen Sozialpatrioten eine einheitliche solidarische Sozialdemokratie gebildet. Damals wurde für Rußland eine marxistische Lehre ausgearbeitet - eine marxistische Philosophie, Soziologie und politische Ökonomie -, derselbe marxistische Sozialismus, der die Sozialdemokratie in einen „faulenden Leichnam" umgewandelt hat, der aber als Bolschewismus wie ein Wunder die Bourgeoisie stürzen und die Arbeiterklasse befreien sollte. Mit vereinten Kräften von solchen Personen wie Plechanow, Martow und Lenin ausgearbeitet, hat der russische Marxismus nie einen sozialistischen Umsturz als seine Hauptaufgabe betrachtet. Er ging davon aus, daß der Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu unserer Zeit unmöglich sei und hat diese Aufgabe an zukünftige Generationen weitergegeben.
Der russische Marxismus hat sich, wie auch der westeuropäische, nicht mit der Frage des Sturzes der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt, sondern mit deren Entwicklung, Demokratisierung und Vervollkommnung. Aber in dem zurückgebliebenen sozialistischen Rußland hat die Liebe zur bürgerlichen Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts haben die Bolschewiki und die Menschewiki, noch bevor sie sich in zwei konkurrierende Lager spalteten, beschlossen, daß die Hauptaufgabe des Sozialismus in Rußland die Durchsetzung der bürgerlichen Revolution sei. Dieser Beschluß wurde von allen Sozialisten dieser Welt gutgeheißen. Das bedeutete: Die ganzen kraftvollen Anstrengungen, zu der russische Arbeiter fähig sind, das Blut, das sie vor dem Winterpalais und in den Straßen von Moskau vergossen haben, alle Opfer der Häscher von 1905/1906 hatten ein Ziel - die Erschaffung eines erneuerten, fortschrittlichen bürgerlichen Rußland.
Die von Lenin in der vorherigen Revolution ausgerufene „Diktatur der Arbeiter und Bauern" ist eine versöhnlerische Vereinigung des Marxismus mit der Sache der Sozialrevolutionäre und verstößt sicherlich nicht gegen den sozialdemokratischen Grundsatz über die Unzulässigkeit der sozialistischen Revolution. Eine Diktatur der Arbeiter und Bauern wurde ausgerufen, weil die alleinige Herrschaft der Arbeiterklasse als unmöglich empfunden wurde, und eine Diktatur der bürgerlichen Demokratie wurde ausgerufen, weil der Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung als unmöglich gefunden wurde.
So überlebte der Marxismus bis zu der Oktoberrevolution. Er bestimmte den Weg der Protagonisten der bürgerlichen Revolution von 1905/1906 wie auch den der Sozialpatrioten der Februarrevolution. Er stellte für sie ein unerschöpfliches Reservoir an Instruktionen dar. Aber es ist naiv, in der marxistischen Lehre Instruktionen für den Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und für eine Arbeiterrevolution zu suchen. Man findet dort nur eine Aufzählung von Schwierigkeiten, Gefahren und Warnungen vor verfrühten sozialistischen Experimenten; daraus resultiert eine abergläubische Angst vor dem sozialistischen Umsturz als einer großen Weltkatastrophe; eine Angst, die von solchen Personen wie Plechanow, Potresow, Liber und Dan und ihren Anhängern so gut zum Ausdruck gebracht wurde, letztendlich aber auch von den Bolschewiki, die sich vor Lenin gefürchtet haben, als er dazu aufrief den Sozialismus sofort einzuführen.
Es hätte ein Wunder passieren müssen, damit das Unternehmen von Lenin hätte umgesetzt werden können und nicht zur größten Demagogie in der Geschichte der Revolutionen geworden wäre; es wäre dabei nötig gewesen, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung von Menschen gestürzt worden wäre, die sich selber und anderen eingeredet haben, daß ein solcher Sturz unmöglich ist. Es wäre nötig gewesen, daß die bolschewistischen Funktionäre, die den Sozialismus noch aus den Lehrbüchern von Plechanow, Kautsky und Bernstein gelernt haben und die eine vieljährige demokratische Erziehung der Arbeitermassen forderten, im Feuer der Revolution eine neue Lehre geschaffen hätten, die gezeigt hätte, daß eine solche Vorbereitung überflüssig ist. Es wäre nötig gewesen, daß vieljährige Anstrengungen, den Arbeiterkampf auf den politischen bürgerlichen Umsturz auszurichten und die Arbeiterrevolution abzuwenden, sich in das Bestreben, eine solche Revolution auszulösen, verwandelt hätten.
Aber die Geschichte kennt solche Wunder nicht. Der derzeitige Verrat der Bolschewiki an ihren eigenen Ideen und der von ihnen auf der Basis dieser Ideen ausgerufenen Oktoberrevolution ist für sie eine natürliche Sache.
Der siegreiche „wissenschaftliche Sozialismus", der alle anderen sozialistischen Schulen vereinnahmte, ist altersschwach geworden und hat als Ergebnis all seiner Kämpfe nichts als den Fortschritt und die Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft erbracht. Der Bolschewismus wollte der kommunistischen Jugend mit seinem Marxismus neues Leben einhauchen, hat damit aber nur gezeigt, daß auch in dieser Ausgabe der Marxismus nichts neues mehr erschaffen kann. Das Gegenteil zu glauben, daß die Bolschewiki tatsächlich das ausbeuterisch bürgerliche Regime stürzen wollen, das ihre eigenen Brüder - die Sozialpatrioten der ganzen Welt - verteidigen, ist eine Naivität. Die Bolschewiki verlieren selbst den Glauben an ihr Rebellentum.
Was sind das für Feinde des bürgerlichen Regimes, die ihre Alleinherrschaft ausrufen und dann selbst freiwillig auf den Sturz der Bourgeoisie verzichten? Wie können sie, wenn sie die Vernichtung der Bourgeoisie als „objektive Unmöglichkeit" ansehen, auf dem eingenommenen Posten bleiben? Es ist ihnen also gleichgültig, ob sie Verkünder des Willens der Arbeiter sind oder Vollstrecker des Willens der am Leben gelassenen Bourgeoisie.
Das Verhalten der Bolschewiki nur mit ihrer politischen Nachlässigkeit zu erklären wäre sehr oberflächlich. Das Hauptziel, von dem sie sich nie lossagen, das sie nie verraten und um das zu erreichen sie sogar den Tod in Kauf nehmen, ist für die Marxisten, sogar für die bolschewistischen Kommunisten die Demokratisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung und nicht ihre Zerstörung.
Die bolschewistischen und die versöhnlerischen Marxisten dienen einer gemeinsamen Sache. Es gibt nur einen Unterschied zwischen ihnen: die letzteren gehen den bekannten Weg der westeuropäischen konstitutionellen Staaten, die ersteren aber haben sich entschlossen, eine Revolution gegen das republikanische Regime vorzubereiten. Dieser Unterschied konnte nur in Rußland entstehen. Das größte Reich der Welt hat einen solchen Verfall erlitten, daß es im gegenwärtigen Krieg nicht einmal seine Existenz sichern kann. Hier war die von den versöhnlerischen Sozialisten erkämpfte Republik nicht fähig, sich vor dem äußeren Feind und der Konterrevolution zu schützen. Die Bolschewiki sahen sich der großen Aufgabe gegenüber, den Staat völlig umzubauen, als einen Staat des Volkes, damit eine Quelle der Kraft entsteht, die für den Schutz der Demokratie vor äußeren und inneren Feinden nötig ist.
Auf der Suche nach der stärksten Waffe für die Rettung der demokratischen Revolution durchsuchten die russischen Sozialdemokraten das ganze marxistische Waffenarsenal. Diese Waffe wurde in der Marxschen Idee der Diktatur aus der Zeit der Revolution der Jahre 1848-1850 gefunden.
Die sechsmonatige diktatorische Macht der Bolschewiki hat unwiderruflich bewiesen, daß die wiedergeborene kommunistische Diktatur, wie der hundert Jahre alte Sozialismus insgesamt, das ausbeuterische Regime weder stürzen kann noch will. Die bolschewistische Diktatur hat auf der Verfassungsgebenden Versammlung feierlich die sofortige Verwirklichung des Sozialismus erklärt und dem deutschen Kaiser eine kurze „Verschnaufpause" abgetrotzt. Jetzt ist sie ganz nahe an die „Enteignung der Bourgeoisie" herangekommen, aber sie weicht instinktiv vor dieser Aufgabe zurück, die ihrer ganzen Natur widerspricht.
Was eigentlich ist die bolschewistische Diktatur, die trotz ihres schlechten kommunistischen Rufs weiter existiert? Sie ist ein demokratisches Mittel, um die bürgerliche Gesellschaft vor dem Untergang unter den Trümmern des alten Staates zu retten; sie ist deren Wiedergeburt in einer anderen volkstümlichen Form, die nur die Revolution schaffen konnte. Diese Diktatur bedeutet einen revolutionären Wandel im russischen Staatsleben, einen Wandel in den untersten Volksschichten des bürgerlichen Vaterlandes, die jetzt als kleine Unternehmer, als Volks- und Arbeiterintelligenz in den Städten befreit werden.
Als ersten unvermeidlichen Schritt auf dem Weg der Befreiung der Arbeiterklasse, des endgültigen Sturzes der Jahrtausende alten ausbeuterischen Gesellschaft haben die Erfinder der kommunistischen Diktatur den Arbeitern ein Mittel untergeschoben, mit dessen Hilfe die bürgerlichen Demokraten der französischen Revolution, die Jakobiner, das ausbeuterische Regime gerettet und gefestigt haben. Die Tatsache, daß die Sozialisten das Mittel der Jakobiner einsetzen, wird zu einem Ergebniss führen, das bürgerliche Früchte tragen wird, weil die erste Aufgabe jedes Sozialisten darin besteht, den sofortigen Sturz der Bourgeoisie zu verhindern, statt eine Arbeiterrevolution zuzulassen.
Schon zu Beginn des dritten Monats der bolschewistischen Diktatur haben kluge Vertreter der russischen vermögenden Schichten (Rabuschinski in „Russischer Morgen") erklärt, daß der Bolschewismus eine gefährliche Krankheit sei, die man aber mit viel Geduld heilen muß, weil sie ihrem geliebten ausbeuterischen Vaterland die rettende Wiedergeburt und Macht bringt. Dieselben klugen Vertreter der Bourgeoisie ziehen Lenin Kerenski vor, der sie vor den „aufständischen und aufrührerischen Sklaven" verteidigt hat. Warum? Weil Kerenski die zerrüttete Macht mit seiner Politik der Konfliktvermeidung und seiner Unentschlossenheit noch mehr geschwächt hat. Lenin dagegen hat die alte schwache Macht, die sich selbst kompromittiert hat, vernichtet und die Quelle einer neuen stärkeren Kraft erschlossen, der der russische Arbeiter das Recht auf Alleinherrschaft zuerkannt hat.
Rabuschinski, der den Marxismus gut kennt und hoch schätzt, hat sich bald davon überzeugt, daß sich die Macht des Pöbels nicht „vom Weg der ehrenhaften sozialdemokratischen Lehre" abwenden wird, und bald verstanden, daß eine starke bolschewistische Macht früher oder später übernommen werden kann, obwohl man dann mit den neu herangewachsenen Herrschern - den unteren Schichten der Bourgeoisie die Macht teilen muß.
Rabuschinski konnte schon längst bedenkenlos auf folgende erfreuliche Aspekte hinweisen: 1. In den Händen der bolschewistischen Diktatur bleibt der Sozialismus ein Versprechen, mit dem die Massen in den Kampf für die Wiedergeburt der bürgerlichen Heimat gehen. 2. Die sozialistische Diktatur ist nur ein demagogisches Agitationsmittel zwecks Durchführung einer demokratischen Diktatur; Ähnlichkeiten mit einer sozialistischen Diktatur wurden von den Kommunisten nur für einen kurzen Moment zugelassen, um die demokratische Diktatur zu festigen und sie mit den Träumen und Illusionen der Arbeiter auszuschmücken. 3. Der demokratischen Diktatur und dem neugeborenen russischen Staat wird ein Hauch der revolutionären Macht verliehen, die von den Massen bei den Arbeiteraufständen angestrebt wird. Diese Schlußfolgerungen ergeben sich unweigerlich aus der Geschichte der bolschewistischen Diktatur der Arbeiter und Bauern.
Der Bolschewismus hat jahrelang, seit den Zeiten der letzten Revolution, seine Partei bewußt auf eine kleinbürgerliche Diktatur vorbereitet, in der Millionen Bauern, die Kleinbauern werden wollen, das Bestreben der Arbeiter nach einer sofortigen Arbeiterrevolution, einer Vernichtung jedes Privatunternehmens, lahm legen sollen. Diese kleinbürgerliche Diktatur haben die Bolschewiki mit dem Oktoberumsturz eingeleitet, indem sie nicht nur Arbeiterräte zur Machtübernahme aufforderten, sondern auch Bauern- und Soldatenräte, die genügend Vertreter des Kleinbürgertums in sich versammeln. Und selbst dann haben die Arbeiterräte die Macht erst bekommen, als sie sich in der Hand der Bolschewiki befanden, die die demokratische Diktatur bestätigten.
Die Bolschewiki haben die Sowjetmacht auf einer offensichtlich kleinbürgerlichen Grundlage erbaut, ähnlich allen anderen Demokraten. Jetzt wollen sie von den Arbeitern die Anerkennung dieser Macht mit Hilfe von Arbeiterherrschaft und Arbeiterdiktatur erhalten. Mit eben diesem Ziel werden in ganz Rußland Arbeiteraufstände zustande gebracht. Das ist jetzt, wie die Kommunisten selbst erklären, die „Agitationsperiode", einfacher gesagt, die demagogische Periode der bolschewistischen Diktatur. Erbarmungslos werden alle alten und neuen bürgerlichen Formen zerstört: die Kaste der Offiziere, die Armee, die Justiz, „die Selbstverwaltung", sogar die Verfassungsgebende Versammlung. Gemäß einer anarchistischen Methode und Seite an Seite mit den Anarchisten werden Enteignungen durchgeführt, Kontributionen auferlegt und die Bourgeoisie terrorisiert. Am Ende dieser „Agitationsperiode" werden die Bolschewiki an ihrer demokratischen Hütte das viel versprechende Schild anbringen: Sozialistisches Vaterland.
Die Arbeitermassen, die wochenlang heldenhaft in allen Ecken Rußlands gekämpft haben, konnten nicht ahnen, daß sie nur eine „Agitationsperiode" ihrer Diktatur erlebten, daß diese Periode sehr bald zur „sachlichen" Zusammenarbeit mit den Fabrikanten und Großindustriellen fuhren wird, daß man mit ihnen nur spielte und daß man ihnen nur einen „Spaziergang" erlaubt hat.
In den Arbeiteraufständen wurden das Streben nach völliger Unterdrückung der Bourgeoisie und der Wille nach Selbstbehauptung der Arbeiter geboren und gefestigt, der Wille, der in seiner Macht und seiner Alleinherrschaft die alte ausbeuterische Welt stürzt. Die kleinbürgerliche bolschewistische Diktatur hat sich die Allmacht und den Willen zur Alleinherrschaft der Arbeiter angeeignet und baut jetzt einen neuen starken „Volksstaat" für die bürgerlich gebildete Gesellschaft auf.
In diesem Moment wurde in Rußland der wahre Verkünder des Willens der Arbeiter geboren: der bolschewistische Kommunismus, der Eroberer der Staatsmacht, verkörpert in der zentralen Sowjetmacht.
Die Arbeitermassen brauchen sich nicht weiter zu sorgen: den Beteuerungen der Bolschewiki zufolge werden alle ihre erfüllbaren Forderungen und Wünsche von dem sowjetischen Staat sofort umgesetzt.
Aber von jetzt an muß jeder Kampf der Arbeiter gegen den Staat und seine Gesetze aufhören, weil der sowjetische Staat ein Arbeiterstaat ist. Der Kampf dagegen wäre ein verbrecherischer Aufstand gegen den Willen der gesamten Arbeiterklasse. Einen solchen Kampf könnten nur randalierende, verbrecherische und bösartige Elemente der Arbeitermassen anfangen.
Da die Arbeiterkontrolle nach der Meinung der Bolschewiki den Arbeitern die volle Macht in den Fabriken übergibt, verlieren die Streiks ihren Sinn und werden verboten. Es wird überhaupt jeder Kampf gegen die Sklavenbelohnung der körperlichen Arbeit verboten.
Der Wille der Arbeiter, wenn er sich gegen die sowjetische Bürokratie äußert, ist verbrecherisch, weil er den in der Sowjetmacht verkörperten Willen der ganzen Arbeiterklasse nicht anerkennt. Alle Arbeiterschichten mit einem Hungerlohn werden, sollten sie die Sowjetmacht als die Macht der Satten bezeichnen, als Randalierer bezeichnet; Arbeitslose werden, wenn sie die Hungerqualen nicht länger ertragen und nicht auf einen Hungertod warten wollen, zu Verbrechern und haben schon jetzt kein Recht auf eine eigene Organisation.
Angesichts einerseits der Reichen, die ein sattes Leben führen, und andererseits der Arbeitslosen, die zu Hungerqualen verurteilt sind, bestätigt die Sowjetmacht ihre staatlichen Rechte, versucht die bedingungslose Unterordnung unter die existierenden Gesetzen durchzusetzen und verfolgt jede Störung der Gesellschaftsordnung und der Sicherheit. Alle Aufrufe und Aufstände werden zur Konterrevolution erklärt und schonungslos von den bewaffneten sowjetischen Kräften niedergeschlagen.
Die höchsten Rechte der kommunistischen Sowjetmacht werden sich schon bald von den höchsten Rechten einer beliebigen Staatsmacht in einer ausbeuterischen Gesellschaft kaum unterscheiden. Der Unterschied besteht nur im Namen: in allen „freien" Ländern nennt sich die Staatsmacht die Herrschaft des „Volkswillens", in Rußland nennt sie sich die Herrschaft des „des Willens der Arbeiter". Solange die bürgerliche Gesellschaft nicht zerstört ist, ist der kommunistische „Wille der Arbeiter" ein leerer Begriff, eine Lüge, genauso wie auch der demokratische „Wille des Volkes". Solange die Ausbeuter existieren, wird sich ihr Wille, der Wille der Besitzer und nicht der Wille der Arbeiter früher oder später in der bolschewistischen Staatsmacht verkörpern. Diese Entwicklung forcieren die Kommunisten schon jetzt; sie erklären ganz offen, daß die eiserne Diktatur nicht für die Zerstörung des Kapitalismus notwendig sei, sondern für die Disziplinierung der Arbeiter, um deren Schulung zu vollenden, die vom Kapitalismus begonnen, aber nicht abgeschlossen wurde, wahrscheinlich wegen des vorzeitigen Ausbruchs der sozialistischen Revolution. Jetzt, wo die bolschewistische Diktatur mit Hilfe der Arbeiter die Konterrevolution gebändigt hat, stellt sie sich gegen die Arbeitermassen.
Die höchsten Rechte, die sich im Besitz einer jeden Staatsmacht befinden, müssen über die absolute Macht der Gesetze verfügen, die sich auf die Militärkraft stützt. Die Demokratie, die aus der bolschewistischen Diktatur heranwächst, wird auch in dieser Hinsicht nicht hinter den anderen Staaten zurückbleiben. Sie wird genauso nicht nur über die Freiheit, sondern auch über das Leben ihrer Untergebenen verfügen und einzelne Aufständische sowie Massenaufstände unterdrücken.
Die von den Bolschewiki gegründete „sozialistische Armee" ist verpflichtet die Sowjetmacht zu beschützen, egal welche Wendungen die Anführer des bolschewistischen Zentrums vorzunehmen gedenken. Wird die Enteignung der Reichen aufhören, wie es im Moment beschlossen wurde, wird die bolschewistische Diktatur vorwärts zum Sozialismus schreiten, wird eine noch engere Versöhnung mit der Bourgeoisie stattfinden, wird die bolschewistische Regierung zum Kapitalismus zurückkehren - egal was passiert, sie glaubt das Recht zu haben, der Arbeiterklasse eine Wehrpflicht aufzuerlegen.
Die Sklavenpflicht, die der Arbeiterklasse von allen ausbeuterischen Klassen auferlegt wurde - die Pflicht, in einem Krieg ihre Unterdrücker und deren Reichtümer zu verteidigen - ist in der Sowjetrepublik nicht verschwunden. Hier versucht man den Arbeitern einzureden, daß diese Pflicht Ausdruck eines besonderen Vertrauens ist, das der Arbeiterklasse erwiesen wird. Sie allein verdient die Ehre, Blut für ihr Vaterland zu vergießen, das mit dem leeren und falschen Namen „sozialistisches Vaterland" ausgeschmückt wird. Als Belohnung für die Ehre werden die Soldaten des Sozialismus, wie die Bolschewiki hoffen, in der nahen Zukunft ebenso tapfer kämpfen, wie es die Armeen des Konvents und des Direktoriums von Napoleon getan haben.
An der inneren Front sind die sozialistischen Militäreinheiten nicht nur dazu verpflichtet die Sowjetmacht vor der Konterrevolution zu verteidigen. Seit den ersten Tagen des Oktoberumsturzes lernen sie mit „Blut und Stahl" Eigentum zu verteidigen, indem sie Diebe und Plünderer auf der Stelle erschießen. Die kommunistischen Krieger üben jetzt, wie man Disziplin und Ordnung wieder herstellt, indem sie ihre gestrigen Genossen brutal niedermetzeln, die keine Zeit hatten zu verstehen, daß bei dem neuen Kurs die kommunistische Regierung die Ausschweifungen der Roten Armee nicht mehr braucht und Menschen deswegen erschießt, weswegen sie gestern noch belohnt wurden. Die sozialistischen Krieger, die so geschult werden und sich den sich ständig ändernden Befehlen ihrer Führer beugen, werden zweifellos die „revolutionäre Arbeitsdisziplin" durchsetzen, die Aufstände der Hungernden unterdrücken und den Aufruhr der Arbeiter und Arbeitslosen zähmen.
Solange die Arbeitermassen nicht zu einem neuen Kampf aufstehen und bestimmte Forderungen aufstellen, solange dem „neuen Kurs" und den Abschweifungen der Bolschewiki kein Ende gemacht wird, wird sich der bürgerliche demokratische Staat weiterentwickeln und dabei alle Mittel der Unterdrückung und der Gewalt gegen die Hungernden, Ausgebeuteten und Unterjochten vermehren.
Auf diese Weise erschafft die marxistische Diktatur in Rußland einen neuen starken Volksstaat der bürgerlichen Gesellschaft, nachdem sie vorher den alten hilflosen Staat gründlich vernichtet hat.
Alle revolutionären Versuche der russischen Marxisten haben bewiesen, daß der „wissenschaftliche Sozialismus" - der Anreger der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt - die bürgerliche Ordnung nicht stürzen kann und nicht stürzen will. Aber das ist noch nicht genug - in einer tiefgreifenden sozialen Revolution, die für Rußland unvermeidlich geworden ist und als Epilog des Weltkrieges auch für andere Länder unvermeidlich werden kann, zeigt der marxistische Sozialismus den bürgerlichen Demokratien der Welt einen beispielhaften Weg zur Rettung des ausbeuterischen Regimes und präsentiert ihnen ein unschätzbares Mittel als Schutz vor den Arbeiterrevolutionen.
Die Konterrevolution der Intelligenz
Die Eroberung des Staatsapparates ist für die sozialistische Demokratie einer der wichtigsten Momente der Arbeiterrevolution, schon allein mit diesem Akt wird ihr zufolge die bürgerliche Gesellschaftsordnung gestürzt. Wenn der bolschewistische Umsturz von den Arbeitern anerkannt ist und die Sowjetmacht sich überall behauptet hat, werden allein dadurch ganz Rußland und seine Reichtümer zum Eigentum der Arbeiter. Mit dem Auseinanderjagen der Verfassungsgebenden Versammlung und aller anderen demokratischen Institutionen, die von der ganzen Bevölkerung gewählt wurden, verlieren die Kapitalisten ihre elementaren Rechte und jede Möglichkeit zur Teilnahme an der gesetzgebenden Tätigkeit des Staates; also behaupten die Bolschewiki, daß die Bourgeoisie damit entwaffnet und jeder Kraft behoben ist, der Diktatur der Arbeiterklasse Widerstand leisten zu können.
Aber schon am zweiten Tag des Oktoberumsturzes hat die Bourgeoisie überzeugend bewiesen und daran erinnert, daß ihr nur ein Teil der Macht genommen wurde, daß kein politischer Umsturz die Kraft hat, ihr die Macht zu entziehen, daß keine Staatsmacht der Arbeiter mit welchen politischen Mitteln auch immer, mit keiner Verfolgung und keinem Terror sie überwältigen und ihr die Kraft und auch die Mittel entziehen kann, ihr erfolgreich den Widerstand zu leisten.
Der Schlag, den die Bolschewiki in den ersten Tagen der Diktatur erlitten haben, kam für sie ganz unerwartet. Das war umso schlimmer, als ihn nicht die Kapitalisten selbst ausgeführt haben, sondern jene besondere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, die von den Sozialisten und den Bolschewiki zum Lager der „Werktätigen" gezählt wurde; diese Klasse haben sie immer vor den bösartigen „verleumderischen" Beschuldigungen, sie sei bürgerlich, verteidigt.
Als Verteidiger des bürgerlichen Regimes, gegen die Drohungen von Lenin, dieses Regime zu stürzen, ist die Intelligenz aufgetreten. Sie ist als eine Armee von Werktätigen aufgetreten mit ihren Berufsgenossenschaften, mit einem Kampfmittel der Arbeiter - dem Streik - und hat in der ganzen Welt laut ihre Klage über die Bolschewiki, die sie unterdrücken und terrorisieren, verkündet.
Die Abwehr der Intelligenz war so stark, daß dadurch die bolschewistische Partei fast in zwei Lager gespalten wurde und die ganze bolschewistische Diktatur einer Gefahr aussetzte: die barmherzige bolschewistische Intelligenz wollte keine harten Mittel gegen die „werktätige Masse" der streikenden Beamten einsetzen, die ihr so ans Herz gewachsen war.
Die Arbeiter dagegen zeigten sich von dem Streik der Intelligenz nicht verwundert, weil sie diese zur Bourgeoisie gezählt haben. Die Arbeiter brauchen keine Beweise dafür, daß die Intelligenz eine bürgerliche Klasse ist. Sie sehen sehr gut, daß die privilegierten großen Einkommen der Intelligenz aus der Ausbeutung der körperlichen Arbeit stammen und sich auf die Sklavenrationen der Arbeiter stützen. Die Arbeiter wissen, daß die großen Einkommen der Intelligenz ein Teil des Gewinns sind, der ihnen vom Arbeitgeber und dem Staat als Steuer entrissen wurde, um den großzügigen Unterhalt der privilegierten Beamten zu sichern. Man sollte sich nicht wundern, daß diese ganze brüderliche Gemeinschaft zusammen mit den Kapitalisten und Gutsbesitzern gegen die Arbeiterrevolution rebelliert hat, deren erste Aufgabe die Vernichtung ihrer Einkommen ist. Was die Vertreter der unteren Schicht der Intelligenz betrifft, so sind sie denen der höheren Schicht aus Wichtigtuerei und bürgerlichen Vorurteilen gefolgt, so wie ein Kleinbauer dem Gutbesitzer folgt.
Eine ganz verblüffende Wirkung hatte die Sabotage der Intelligenz auf die bolschewistische Intelligenz. Diese hat ihr Leben lang zusammen mit anderen Sozialisten gelehrt, daß der Sozialismus die Befreiung des gesamten Proletariats bedeutet, nicht nur der Arbeiter, sondern auch der Intelligenz. Wie soll man jetzt den Sozialismus verwirklichen gegen den einstimmigen Willen der ganzen Intelligenz und ihr denselben Krieg erklären wie den Kapitalisten und Grundbesitzern?
Der Oktoberumsturz, der von den Bolschewiki mit einem Aufruf zur sofortigen Verwirklichung des Sozialismus verbunden worden war, hatte seinen Höhepunkt in einem mächtigen Volksaufstand und war für die Bourgeoisie eine tödliche Gefahr. Die Macht gelangte aber in die Hände der Marxisten, die wegen ihrer Fähigkeit bekannt sind, den Arbeiteraufstand in einem für die Bourgeoisie gefahrlosen Rahmen zu halten. Aber diese bolschewistischen Marxisten sind jetzt wie ausgewechselt; sie schüren das Feuer der Aufstände, ohne an die Schwierigkeiten zu denken, wie man es wieder löscht. Ihre nächsten Genossen, die Menschewiki, beteuern, daß die Anhänger Lenins von Marxisten zu Anarchisten geworden sind.
Die bolschewistischen Anführer haben die ersten Akte ihrer „Agitationsperiode" so mutig und vortrefflich gespielt, daß die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich Angst bekommen hat. Es kam völlig unbeabsichtigt der Gedanke auf, daß die Diktatoren des revolutionären Sturmes die eroberte Macht wirklich zur Vernichtung des bürgerlichen Regimes nutzen könnten.
Die Sozialisten wissen es nicht, aber die Reichen fühlen instinktiv, daß ein Schlag möglich ist, der für das ausbeuterische Regime tödlich sein kann. Sich vor so einem Schlag zu schützen ist zur Überlebensaufgabe der Bourgeoisie geworden. Diese Aufgabe haben die Sabotage und die Streiks der Intelligenz voll erfüllt.
Einige Bolschewiki waren von dem revolutionären Elan der Arbeiterunruhen dermaßen begeistert, daß sie mit dem Gedanken spielten, aus dem marxistischen Milieu auszubrechen. Sie dachten über die Frage nach, wie man die Bourgeoisie vernichten könne, aber die Sabotage der Intelligenz hat dem ein Ende gesetzt und die Erinnerung an die auswendig gelernten Formeln geweckt, wie der von der Unmöglichkeit einer sofortigen Verwirklichung des Sozialismus, und sie somit wieder auf den Gedanken gebracht, daß man den Sozialismus nur allmählich aufbauen kann.
Die Bourgeoisie, die in den ersten Augenblicken der Oktoberrevolution sehr erschrocken war, bemerkte bald, daß es zum Verzweifeln keinen Grund gibt. Der Staatsmacht enthoben, vom Aufstand des ganzen Volkes betäubt, erwartete sie mit Schrecken ihr Ende; und auf einmal wurde ihr erklärt, daß ihr Ende auf keinen Fall sofort kommen wird, im Gegenteil, es wird allmählich und langsam kommen, nach allen sozialistischen Regeln, den fehlerlosen Methoden des wissenschaftlichen Sozialismus entsprechend; ihr Ende wird schmerzfrei in Form des allmählichen sozialistischen Aufbaues kommen. Und selbst dieser Aufbau wird nicht sofort beginnen; der fehlerfreien marxistischen Praxis entsprechend, ist eine vorangehende Vorbereitung in Form „einer Arbeiterkontrolle" nötig.
Ein moderner wissenschaftlicher Sozialist hat kein anderes Programm für den Sturz des bürgerlichen Regimes als die allmähliche Nationalisierung der Produktionsmittel. Man muß mit den Wirtschaftszweigen beginnen, die den Anforderungen einer hohen „Konzentration" entsprechen und für die Vergesellschaftung reif sind, damit Erfahrungen sammeln und so die Richtigkeit der sozialistischen Aufbaumethode überprüfen und beweisen und darf dann erst mit weiteren Nationalisierungen fortfahren. Dieses Programm, das von den versöhnlerischen Sozialisten ausgedacht wurde, damit die Aufhebung der kapitalistischen Produktion gewaltlos vor sich geht, ohne Aufstand, in Form eines „Hereinwachsens" des Kapitalismus in den Sozialismus, dieses wissenschaftliche Programm erweist sich im Augenblick der Revolution als auf kindliche Weise hilflos. Man nähert sich mit allen wissenschaftlichen Vorsichtsmaßnahmen dem gigantischen Organismus der kapitalistischen Produktion und nach langen Überlegungen wird nur ein Gelenk amputiert. Man wartet ab, bis die Wunde geheilt ist, um mit der Amputation weiterer Glieder zu beginnen. Aber die jahrhundertealte ausbeutende Gesellschaft ist sogar im Augenblick der Entwaffnung ihres Wächters - der Staatsmacht - keine Bühne für den sozialistischen Aufbau, kein Labor für wissenschaftliche Versuche. Sie ist eine Bühne des jahrhundertealten klassischen Kampfes, eines sozialen Krieges, und wenig erfolgreich ist der Sieger, der dem Besiegten nicht sofort die Quelle seiner Macht entzieht.
Das wissenschaftliche Programm des allmählichen sozialistischen Aufbaus ist ein Programm, um die Arbeitermassen zu umgarnen und zum Narren zu halten, ein sozialistischer roter Lappen, der die Arbeiter zur bürgerlichen und kleinbürgerlichen Diktatur treibt; es ist ein Einschläferungsmittel für die Massen, es verhindert die Revolution der Arbeiter. Dies ist die Rolle des Sozialismus in der ganzen Welt; dies ist die Rolle des bolschewistischen Kommunismus in der Oktoberrevolution.
Im dritten Monat der bolschewistischen Diktatur haben die Saboteure von der Intelligenz den Rückzug angetreten. Aber nur die ganz rechten Bolschewiki konnten deswegen laut über einen Sieg reden. Die Intelligenz hat aufgehört zu streiken, weil der Bolschewismus gar nicht so Furcht einflößend war, wie es in den Oktobertagen schien. Alle haben allmählich verstanden, daß die geforderte Angleichung des Einkommens der Intelligenz und der Arbeiter, daß alle derartigen Verfügungen und Androhungen nichts als Demagogie sind, um die Arbeitermassen zu beschwichtigen. Alle haben gesehen, daß die bolschewistischen Nationalisierungen keine feste und unbeugsame Tendenz zur Aufhebung des bürgerlichen Regimes darstellen; es sind nur „sozialistische Experimente", die von der Intelligenz mit ihrer vernünftigen Anerkennung der bolschewistischen Macht verlangsamt und sogar ganz gestoppt werden können. Deswegen hat die Bourgeoisie die weitere Bezahlung der Verweigerer als überflüssig angesehen, deswegen haben die Saboteure Bereitschaft gezeigt, mit der Sowjetmacht Frieden zu schließen.
Aber der Rückzug der Saboteure bedeutet nicht, daß sie nicht mehr streiken werden, sollten die bolschewistischen Nationalisierungen wieder anfangen, besonders die Nationalisierungen der wichtigsten Industriezweige, die die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft bilden. Jeder Bolschewik versteht, daß beim ersten Versuch einer Enteignung der Industriellen und einer Einschränkung des hohen Einkommens der Fachkräfte in einem beliebigen Industriezweig, bei jedem Versuch, das kapitalistische Regime zu stürzen, zweifelsfrei ein neuer Streik der Beamten ausbrechen wird, mit dem einzigen Ziel, das komplette Scheitern „der Arbeiterwirtschaft" zu verursachen. Was soll man tun? Wie soll man mit der Nationalisierung angesichts solcher Gefahr beginnen?
Um die Sabotage der Intelligenz zu unterdrücken, kann sich das sozialdemokratische Programm nichts ausdenken. Die Obstruktion der Intelligenz kann man mit einem grausamen Terror oder mit der nicht umsetzbaren Androhung eines Entzugs der Lebensmittelkarten nicht brechen.
Der Sinn der Sache ist der, daß ein Kampf mit der Intelligenz jedem sozialistischen Programm widerspricht. Die Sozialisten müssen die Intelligenz beschützen und nicht gegen sie kämpfen. Egal wie feindlich sie gegen die Arbeiter auftritt, bei den Sozialisten und auch bei den Bolschewiki muß sie „ein Teil des Proletariats" bleiben, der von den bürgerlichen Vorurteilen demoralisiert und eingewickelt wurde.
Ungeachtet dessen, daß in den entscheidenden Augenblicken, wie z. B. in den Oktobertagen, die Intelligenz sich als ein nicht weniger grausamer und hartnäckiger Feind der Arbeiterrevolution erwies, als selbst die Kapitalisten, verrät sie nach Überzeugung der Sozialisten ihre proletarischen Interessen, irrt sich nur vorübergehend, kann aber nicht zum Feind der Arbeiter erklärt werden. Ein Bolschewik kann nur versuchen, sie zur Vernunft zu bringen, aber er traut sich nicht ihr einen unversöhnlichen Krieg zu erklären. Ein Bolschewik als „echter, wirklicher" Sozialist, als Verteidiger und Vertreter der Interessen der Intelligenz, wird nie zu ihrem Feind. Den Willen der Kapitalisten erlaubt er sich zu unterdrücken, aber den Willen der Intelligenz muß er akzeptieren. Wenn die ganze Intelligenz einstimmig gegen „die sozialistischen Experimente" protestiert, muß ein Bolschewik dieses beachten und den Kampf mit dem kapitalistischen Regime stoppen oder wenigstens verlangsamen.
Der marxistische Verstand der Bolschewiki, der einen Weg für weitere Nationalisierungen sucht, wird unter dem Druck der Sabotage der Intelligenz, die für ihn unüberwindbar ist, auf fatalistische Weise zum hilflosen Nachschlagen in den verschimmelten sozialistischen Utopien verurteilt.
Vielleicht sollte man alle Ingenieure und Techniker auf seine Seite ziehen? Oder soll man vielleicht in verschiedenen Arbeiterkursen das nötige Fachpersonal ausbilden, das für die Industrie notwendig ist? Aber die russische und ausländische Bourgeoisie zerschlägt die Revolution noch bevor dieses Unternehmen Früchte trägt.
Vielleicht sollte man warten, bis die Mitglieder der Betriebskomitees unter der Arbeiterkontrolle die Fachkenntnisse der Ingenieure erlernen? Aber auch dieses Märchen enthält nur leere Versprechungen, dient aber nicht der wirklichen Führung einer hoch entwickelten Produktion. Während der Oktoberrevolution haben die Bolschewiki gehofft, wie dies alle Sozialisten bei ihren „Angriffen" auf das Kapital tun, die Intelligenz von der Bourgeoisie zu trennen. Aber die Intelligenz war, zusammen mit all den Sozialrevolutionären und Menschewiki, entschieden für die bürgerliche Ordnung und gegen die Arbeiterrevolution. Im Ergebnis konnten die Bolschewiki die Intelligenz nicht auf ihre Seite ziehen, sondern sind vor ihr selbst und auch vor ihrem Erzeuger und Ernährer, der bürgerlichen Gesellschaft, zurückgeschreckt. Nach jeder neuen Abwehr von Seiten der Intelligenz wiederholten die Bolschewiki bestürzt, daß sie sich wahrscheinlich viel zu schnell vorwärts bewegen. Sie sahen die Garantie ihres Erfolges schließlich in der Verlangsamung der Vorwärtsbewegung, in der Abschwächung des Drucks auf die Bourgeoisie. Sie dachten eine Lösung zu finden, indem sie sich immer weiter von ihr entfernten.
Auch wenn man die Enteignung der Bourgeoisie in die Länge zieht, wird bei jedem ernsthaften Schritt in diese Richtung aufgrund einer einfachen Bedingung - der naiven Art und Weise der Enteignung der Bourgeoisie auf Kredit - unvermeidlich ein Streik der Intelligenz ausbrechen. Die bolschewistischen Expropriateure enteignen immer nur eine Gruppe der Besitzer der Reichtümer, ohne an die Reichtümer der ganzen Bourgeoisie zu gehen. Diese Reichtümer dienen als Vorrat, um die sabotierende Intelligenz im Laufe ganzer Monate zu unterstützen.
Der Sozialist kann nicht begreifen, daß man mit einer Schritt für Schritt erfolgenden Enteignung der Bourgeoise die Intelligenz nicht von den Kapitalisten trennen kann. Statt nacheinander die einen oder die anderen anzugreifen, sollte man eine gleichzeitige allgemeine Enteignung durchführen, und so mit einem Schlag die Existenzbasis der Groß- und Mittelbourgeoisie vernichten, um auf diese Weise den Widerstand der Intelligenz und die andauernden Streiks zu unterbinden.
Somit stellt der Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung für einen Sozialdemokraten, der auf den Widerstand der Intelligenz stößt, eine unüberwindliche Schwierigkeit dar. Er wird wieder einmal mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären einverstanden sein, denen zufolge „eine sofortige Verwirklichung des Sozialismus unmöglich ist". Der kommunistische Bolschewik muß zu dem vulgären sozialistischen Märchen zurückkehren, in dem erzählt wird, daß die Arbeitermassen ihr Leben lang der Unfreiheit der körperlichen Arbeit verhaftet bleiben, um irgendwann in der weiteren Zukunft dank der Hilfe kultureller Bildungsorganisationen und Volksuniversitäten, die einmal entstehen werden, die gleichen Kenntnisse wie die Intelligenz zu haben.
Der Bolschewismus hat die Bourgeoisie bedroht, konnte und wollte aber diese Bedrohung nicht verwirklichen. Er ist vor dem Willen der Intelligenz zurückgeschreckt.
Die russische Intelligenz, die wegen ihres Rebellentums bekannt und weitgehend sozialistisch orientiert ist, diese edle russische Intelligenz hat, angeleitet von den gestrigen Revolutionären mit Märtyrerkränzen auf ihren Köpfen, die Bourgeoisie vor dem Untergang gerettet - vor der Arbeiterrevolution.
Aber die Intelligenz will diesen Sieg nicht feiern und auch nicht bekannt machen. Sie möchte, daß die Arbeiter ihre Verdienste um die Bourgeoisie ganz schnell vergessen, weil sie auch weiterhin der beste Freund der Arbeiterklasse bleiben will und davon träumt, sie im Laufe der Jahrhunderte des bürgerlichen Fortschritts zum „vernünftigen Sozialismus" zu führen.
Genauso neigen auch die Bolschewiki dazu, nicht an die bürgerlichen Heldentaten der Intelligenz während der Oktoberrevolution zu denken. Auch für sie soll die Intelligenz offensichtlich ein Teil der proletarischen Armee bleiben. Egal wie viele Arbeiter von den weißen Garden der Intelligenz erschossen wurden, egal wie oft die Intelligenz gegen die Arbeiterklasse streikte, die Bolschewiki werden sie nie zur bürgerlichen Klasse zählen.
Die Bolschewiki werden mit den Unterstützern der Weißgardisten und den Saboteuren, mit all den Sozialrevolutionären, Menschewiki, mit der ganzen „sozialistischen Front", enge Beziehungen pflegen, egal wieviel Blut die Arbeiterklasse für die Verteidigung derselben Bolschewiki vor ihren sozialistischen Gegnern vergießen wird.
Aufgrund einer unzertrennlichen Verbindung mit der Intelligenz haben sich die Bolschewiki eine Zurückhaltung auferlegt und ungeachtet des Streites mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären werden sie selbstverständlich in die sozialistische Familie zurückkehren und sich bemühen, aus eigener Kraft den Abgrund zuzuschütten, der sich am Ende des blutigen Kampfes zwischen den Versöhnlern und den bolschewistischen Massen im Lauf des vergangenen Winters gebildet hat.
Sie werden argumentieren: Warum soll man sich an den Haß und an die Grausamkeiten der Weißgardisten und Saboteure erinnern, wenn sie doch das ganze bereuen und jetzt der Arbeiter- und Bauernregierung dienen wollen? Warum soll man sich nicht bemühen, die boshaften Parolen der Intelligenz, wie „Weg mit dem Bauernsozialismus!", „Weg mit der Herrschaft der Arbeiter!", zu vergessen?
Andererseits - soll man wirklich auf den Forderungen bestehen, die im Eifer des Gefechtes sichtlich übertrieben wurden? Es ist ja unmöglich, an die sofortige Verwirklichung der Arbeiterrevolution in Rußland zu denken! Die Rede war von einer Arbeiter- und Bauerndiktatur, wird sich der Bolschewik erinnern, von einer demokratischen Diktatur, die auch von allen anderen „Internationalisten" anerkannt wird. Konnten die Arbeiter wirklich ein sofortiges Verschwinden der Bourgeoisie erwarten? Nein, die Rede war nur von einer Arbeiterkontrolle, die die Alleinherrschaft der Kapitalisten beschränkt. Es ist auch unmöglich, an die sofortige volle Verwirklichung des Sozialismus zu denken. Man muß die Möglichkeit verteidigen, über den von Lenin angesprochenen „Staatskapitalismus" ein sozialistisches Vaterland aufzubauen. Werden die Volkstümler und Menschewiki ein solches sozialistisches Vaterland ablehnen? Im Gegenteil, ein Aufbau auf der Basis eines Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern ist dem Bündnis zwischen Bauern und Bourgeoisie von Tschernow und dem zwischen Arbeitern und Bourgeoisie von Liber und Dan sehr ähnlich.
Wenn der Preis der Arbeiteraufstände und Siege in der falschen Münze ausgedrückt wird, die sich Sozialismus nennt, wird mit den Arbeitern zur Freude aller Parteien der Intelligenz immer falsch abgerechnet. Die Arbeiter schätzen in ihrem Glauben an die Intelligenz den Sozialismus als Goldwert, aber er ist bestenfalls nur Kupfer.
Enteignung der Bourgeoisie
Gleich zu Beginn der Arbeiterrevolution müssen Nichtstuer aus der Gesellschaft verschwinden, alle Gesellschaftsmitglieder müssen arbeiten. Die Arbeiterrevolution erreicht dies nicht mit Hilfe grober, primitiver Mittel, die die bolschewistische Regierung vorhat einzusetzen, nicht mit „einer allgemeinen Arbeitspflicht", deren Ausführung die eine oder andere Polizei kontrollieren soll, in diesem Fall die Rotgardisten. Die Arbeiterrevolution wird die Reichen zur Arbeit zwingen, indem sie ihnen ihre Reichtümer wegnimmt, die ihnen die Möglichkeit geben, nichts zu tun.
Die Sowjetmacht spürt, daß die Arbeiter von „ihrer Arbeiterdiktatur" erwarten, daß die Reichen zur Arbeit gezwungen werden; aber sie findet kein anderes Mittel, als die Arbeitspflicht; sie kann es nur den Staaten nachmachen, die sich im Krieg befinden und die in einer schweren Stunde die Arbeitspflicht zum Schutz des bürgerlichen Vaterlandes eingeführt haben. Aber das beweist, daß die Sowjetmacht es nicht vorhatte und es auch in der nahen Zukunft nicht vorhat, der Bourgeoisie ihre Reichtümer wegzunehmen.
Der Kampf im Oktober hat gezeigt, daß der Feind der Arbeiterrevolution und Beschützer des ausbeutenden Regimes nicht nur der Kapitalist, der Inhaber der Fabrik ist, sondern auch die Intelligenz, die Kenntnisse besitzt und diese für ein herrschaftliches Einkommen verkauft. Die satte Intelligenz hat zum Schutz ihrer Lage beschlossen, die Herrschaft der Arbeiter nicht zuzulassen; sie hat die technische Leitung der Industrie abgelehnt, ohne die die Arbeiter die Revolution nicht weiterführen konnten.
Aber der Erfolg und die Ausdauer des Streiks der Intelligenz waren nur möglich dank der Unentschlossenheit der Sowjetmacht, alle angesammelten Reichtümer an sich zu nehmen.
Die Bolschewiki haben der Tatsache, daß die Streiks der Intelligenz von den Reichen finanziert wurden, wenig Beachtung geschenkt. Da die Streiks in den Banken, in den Räten und andernorts finanziert wurden, dachten die Saboteure, warum sollen wir uns nicht ausruhen, wo wir doch noch unseren Lohn bekommen. Und vor allem, wenn die Reichen zahlen können, wenn die Reichtümer immer noch in ihren Händen sind, dann sind sie immer noch eine Kraft, die es mit der bolschewistischen Diktatur aufnehmen kann und ihr Kapital kann stärker sein als die bolschewistische Macht. Wenn die Saboteure nicht bezahlt würden, würden alle Angehörige der niedrigen Intelligenz schon bald hungern. Aber sie werden von der Arbeiterrevolution, die nur das Einkommen der großen Herren einschränkt, nicht bedroht. Bei der kleinsten Not würde die ganze Masse von kleinen Beamten mit der Arbeit beginnen und alle Betriebe und Ämter würden weiter funktionieren.
Wenn man die Möglichkeit der Finanzierung der Streiks der Intelligenz durch die Reichen verhindert, werden diese entweder überhaupt nicht mehr ausbrechen oder nach ein oder zwei Wochen wieder aufhören. Aber diese Finanzierung kann man nur mit einer Maßnahme abwenden: der gleichzeitigen Konfiskation aller Produktionsmittel, des ganzen Kapitals und aller angesammelten Reichtümer. Die gleichzeitige allgemeine Enteignung der Bourgeoisie macht die Streiks der Intelligenz unmöglich, genauso andere Versuche der Intelligenz, die Produktion zu stören, die dann in die Hände der Arbeiter übergeht.
Die Beamten sind dann gezwungen, auf ihren Stellen zu bleiben und unter den neuen Bedingungen in den nationalisierten Betrieben weiter zu arbeiten. Es gibt auch keinen Ausweg für die höheren Beamten; auch sie sind gezwungen, sich mit der Angleichung ihres Gehaltes an eine Norm zufrieden zu geben, die bei einer allgemeinen Enteignung festgelegt wird, als Maximum, das kein Einkommen übersteigen darf.
Nur bei einer Enteignung, die gleichzeitig im ganzen Land durchgeführt wird, wird es keine Hindernisse geben, daß alle Fabriken und Industriebetriebe wie gewöhnlich weiter arbeiten.
Wenn man sich in der ersten Phase mit dem derzeitigen Ausmaß der Produktion zufrieden gibt, wird die Industrie in den meisten Fällen keinen Stillstand erleiden.
Nehmen wir an, daß die Sowjetmacht unter dem Druck der Arbeiter eine gleichzeitige allgemeine Enteignung durchführt. Dann werden die Arbeiter selbst, ohne spezielle Kommissare und Instrukteure, die Fabriken und Betriebe mit ihren Büros, Lagerhallen und Kassen beschlagnahmen und in kürzester Zeit werden die Arbeiterkomitees die Produktion in jedem Betrieb in Gang setzen. Die Sowjetmacht selbst müßte dann die Enteignung nur in Großbetrieben durchführen, z. B. in Banken, Aktiengesellschaften, Genossenschaften - da, wo es wenige Arbeiter und viele Beamte gibt, die Gegner der Enteignung sind. Wenn man im Augenblick in Rußland alle Einkommen, die die Grenze von 10.000 Rubel pro Jahr übersteigen, als konfisziert erklärt, so müßten alle Fabriken und Betriebe, jedes Vermögen, das ein höheres Einkommen bringt, konfisziert werden und in die Hände der Arbeiter übergehen. An diese maximale Norm müßten alle Einkommen der höheren Intelligenz angeglichen werden.
Die allgemeine Enteignung, die auf diese Weise durchgeführt wird, vernichtet mit einem Schlag die Existenz der Groß- und Mittelbourgeoisie. Es ist klar, daß eine solche Enteignung einen noch größeren Kampfgeist bei der Bourgeoisie entflammen würde als „die sozialistischen Experimente" des Bolschewismus. Aber sie hätte nicht die Schutzmöglichkeiten, die sie jetzt im Kampf gegen die bolschewistische Diktatur besitzt. An jedem Ort würde bei der ersten Abwehr des bürgerlichen Widerstandes, bei dem ersten Sieg des Arbeiteraufstandes die Bourgeoisie ihre Reichtümer und damit jede Möglichkeit verlieren, weiter zu kämpfen. Auch wenn sie irgendwo weißgardistische Truppen organisieren könnte, hätte sie keine Mittel, um diese längere Zeit zu unterstützen; einen langen Bürgerkrieg im ganzen Land auszulösen wäre für die Bourgeoisie nach der Enteignung unmöglich. Die ganze Konterrevolution wird mit der Konfiskation der zusammengeraubten Reichtümer gelähmt.
Das sind die Vorzüge der Arbeiterrevolution vor der demokratischen und kleinbürgerlichen, auch vor der bolschewistischen Revolution. In einer bürgerlichen, demokratischen Revolution ist die Restauration früher oder später untervermeidlich, weil sie in ihrem Streben, die niedrigen Klassen an die Herrschaft der höheren Klassen anzuschließen, die alte ausbeuterische Klasse am Leben läßt und ihr die Möglichkeit gibt, die Restauration von innen, in der Revolution selbst zu organisieren. Diesem Schicksal können auch die Bolschewiki nicht entfliehen, weil sie sich endgültig von der Arbeiterrevolution abgewandt haben. Nur die Arbeiterrevolution, die die ausbeuterische Klasse enteignet und ihre Existenz beendet, ist in einem von der Revolution erfaßten Land vor einer Restauration von innen geschützt.
Die allgemeine und gleichzeitige Enteignung, die den Widerstand der Bourgeoisie an der Wurzel lähmt, die Sabotage und den Streik der Intelligenz abwendet, ist vor dem Scheitern gefeit, zu dem das bolschewistische und jedes sozialistische Programm einer allmählichen und schrittweisen Nationalisierung verurteilt ist. Die gleichzeitige Enteignung minimiert eine Krise und einen Zerfall der Industrie und kann unter günstigen Voraussetzungen einen solchen ganz verhindern, während das bolschewistische Programm einer auf Monate und Jahre verteilten Enteignung ihn unvermeidlich mit sich bringt.
Die Teilnationalisierungen, die von der bolschewistischen Macht durchgeführt werden, sind ein Signal für die ganze Bourgeoisie. Sie bemüht sich, den größten Teil ihres Vermögens in Geld umzuwandeln, die Produktion zu verringern und das Geld zu verstecken. Viele verlassen ihre Fabriken und Betriebe und nehmen das ganze Anlagekapital mit. Die bolschewistische Macht ist gezwungen, die verlassenen Betriebe aus der Staatskasse zu finanzieren, weil sie die Arbeiter nicht auf die Straße setzen lassen will.
Die Kapitalisten bringen es zustande, sich sogar die finanzielle Unterstützung anzueignen, die sich die Arbeiter von der Regierung verschafft haben.
Die Sowjetmacht hat das Schwert über die Köpfe aller Kapitalisten erhoben, aber bis sie sich traut es zu benutzen, wird die unvermeidliche Sabotage und ausbeuterische Wirtschaftsführung der Kapitalisten die Produktion ganz lähmen, noch grausamere Arbeitslosigkeit auslösen und den ökonomischen Zerfall, der vom langen Krieg, dann durch die Demoralisierung der Armee und der Industrie ausgelöst worden ist, bis zu den äußersten Grenzen ausdehnen. In Aussicht solcher Resultate ist es verbrecherisch und unsinnig auf dem Programm einer allmählichen Enteignung zu bestehen, das auf Monate und Jahre verteilt ist. Das bedeutet einen Mißerfolg aller Versuche zur Vorbereitung einer antikapitalistischen Wirtschaft.
Die Sowjetmacht ist gezwungen, viel Geld zur Finanzierung der Betriebe aufzutreiben, die konfisziert oder von Kapitalisten verlassen wurden. Das Budget erreicht phantastische Zahlen; die Gelddruckmaschinen arbeiten mit voller Kraft. Und jede neue Nationalisierung fordert die Kapitalisten zur Sabotage auf: Rette sich wer kann, entnehmt dem Umlauf so viel Geld wie möglich. Ungeachtet der Berge bedruckten Papiers gibt es kein Geld im Lande. Es wird hartnäckig und systematisch versteckt. Eine allgemeine und gleichzeitige Enteignung der Bourgeoisie setzt diesem systematischen Verschwinden des Geldes ein Ende.
Die Finanzierung der Fabriken und Betriebe wird gründlich vereinfacht. Um diese mit den nötigen Rohstoffen und Mitteln zu versorgen, braucht man kein großes Geld; alles wird aus den Lagerhallen und Einrichtungen zugestellt, die dem Staat gehören. Nur in seltenen Fällen wird das Nötige im Ausland bei Kleinunternehmern eingekauft.
Jedes Erzeugnis, jeder Stoff, der verschiedene Stufen der Bearbeitung durchlaufen muß, gelangt ohne Hilfe des Geldes von einer Fabrik in die andere, aufgrund von Schreiben und Quittungen, auf denen der wachsende Preis mit jeder Bearbeitungsstufe festgehalten wird. Auf diese Weise funktioniert die ganze Staatsindustrie, unabhängig vom Geldmarkt, und umgeht so die Hindernisse, die durch das Fehlen des Geldes verursacht werden.
Letztendlich ist die Erweiterung der Produktion für den sozialistischen Staat sogar in umfangreicherem Maße möglich als für den bürgerlichen, auch ohne Auslandskapital, ohne Anleihen u. a.
Der sozialistische Staat, der die Groß- und Mittelbourgeoisie enteignet, aber Millionen Kleinunternehmer weiter existieren läßt, wird natürlich viel Geld drucken, um die nationalen Arbeitskräfte zu bezahlen. Aber dieses Geld wird nicht mehr verschwinden und wird auch nicht mehr versteckt, es wird zum größten Teil in die Staatskasse zurückkehren. Die Ausgabe von Papiergeld wird den Kurs nicht senken, er wird einerseits durch das große Nationalvermögen, die Reichtümer des Landes, und nicht nur durch ein oder zwei Millionen in Gold, andererseits aufgrund der produktiven Ausgaben der nationalen Mittel für die Bezahlung der Arbeiter gesichert sein.
Das Programm der allmählichen Enteignung der Bourgeoisie hat sich selbst zum Mißerfolg verurteilt, indem es vor der neuen Methode der Wirtschaftsführung unnötige und unüberwindbare Hindernisse aufhäuft. Die nicht zu Ende geführte Enteignung löst einen nie da gewesenen und beispiellosen Zerfall der Wirtschaft im Lande aus. Die Existenz der Industrie kann von der bolschewistischen Macht nur mittels einer Vergrößerung des Budgets in einem ungeheuerlichen Ausmaß gesichert werden. Neue teilweise Nationalisierungen durchzuführen bedeutet, das Budget mit neuen Ausgaben zur Finanzierung der Betriebe zu belasten und Milliarden Geldscheine für diesen Bedarf drucken zu lassen; bei einer gleichzeitigen und vollständigen Vergesellschaftung hätte man dazu kein Geld gebraucht. Die Erweiterung der sozialisierten Elemente der Wirtschaft vergrößert nur die Gefahr eines finanziellen Bankrotts, die für den kapitalistischen Staat charakteristisch ist, und man erreicht nicht einmal ansatzweise jene Einfachheit, Beständigkeit und Stärke, die von einer nationalen Produktion bei unverzüglicher Vergesellschaftung sofort erreicht wird.
Der bolschewistischen Wirtschaft bleiben nur zwei Alternativen; entweder mit der endgültigen allgemeinen Enteignung zu beginnen, oder jede weitere Nationalisierung abzubrechen und über die Zwischenetappe des „Staatskapitalismus" die alte kapitalistische Wirtschaft wieder herzustellen.
Warum haben sich die Bolschewiki nicht zu einer allgemeinen Enteignung der Bourgeoisie entschlossen? Sie sind diesem Umsturz ganz nahe gekommen, als sie davon redeten, daß man die Bourgeoisie „endgültig ersticken muß". Das könnte man bei der noch nie da gewesenen Einigkeit der Arbeitermassen ganz Rußlands leicht erreichen, leichter als das bolschewistische Vorhaben, eine geisterhafte Herrschaft der Arbeiter bei gleichzeitiger Existenz von Reichen zu erschaffen.
Die Bolschewiki haben keine Enteignung der Bourgeoisie vorgenommen, weil sie keine Arbeiterrevolution wollen, sondern eine demokratische, kleinbürgerliche Revolution. Sie sind keine Kämpfer für die Freiheit der Arbeiterklasse, sondern die Beschützer der unteren Schichten der existierenden bürgerlichen Gesellschaft und vor allem der Intelligenz. Als solche wollen sie einfach keine allgemeine Enteignung der Bourgeoisie. Aber nicht, weil ihnen die Kapitalisten leid tun. Nein, sie wollen keine allgemeine Enteignung, weil sie um das Schicksal der Intelligenz fürchten; eine allgemeine Enteignung wird gleichzeitig das herrschaftliche Einkommen der Intelligenz kürzen, wird dem Kampf der Arbeiter gegen die Nichtstuer einen Anschub geben, dem Kampf für die gleiche Bezahlung von geistiger und körperlicher Arbeit. Die bolschewistische Partei ist immer auch die Partei der Intelligenz, genauso wie alle anderen sozialistischen Parteien, die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre u. a., die sozialistischen Parteien der ganzen Welt.
Jeder Sozialismus möchte in erster Linie die Intelligenz befreien und nicht die Arbeiter. Er lehrt, daß die Kapitalisten die einzigen Herrscher in der Gesellschaft sind, die nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Intelligenz ausbeuten, und daß die einen wie die anderen im gleichen Ausmaß unterjocht werden.
Keine sozialistische Richtung, nicht einmal die ganz radikale wie der Anarchismus oder der revolutionären Syndikalismus, greift das Herrendasein der Vertreter der geistigen Arbeit an, obwohl die obersten Schichten der Intelligenz - große Gelehrte, hohe Staatsleiter, Industriefachkräfte - ein Einkommen haben, das dem der Großbourgeoisie gleich ist. Im Gegenteil, der Sozialismus bietet die Möglichkeit davon zu träumen, daß nach der Beseitigung der Kapitalisten und Einführung des sozialistischen Regimes das privilegierte Einkommen der Intelligenz unangetastet bleibt. Einige Vertreter des Sozialismus reden offen darüber. Es ist nicht schwer zu erraten, daß ein solches sozialistisches Vaterland sich durch nichts von einem bürgerlichen unterscheidet - der ganze nationale Gewinn wird unter der Intelligenz verteilt, die Arbeiter aber verbleiben in der Unfreiheit der körperlichen Arbeit und werden zu Sklaven der gelehrten Welt.
Die Sorge aller Sozialisten und Kommunisten besteht also nicht darin, die Bourgeoisie insgesamt zu entfernen, sondern darin, daß der Intelligenz bei der Enteignung der Kapitalisten nicht geschadet wird. Das ist keine leichte Aufgabe. Die Sozialisten haben sich früh davon überzeugt, daß die Arbeiter, die „eine soziale Revolution" angefangen haben, sehr fordernd sind und mit dieser Revolution nichts anderes als eine sofortige Gleichstellung erreichen wollen. Die Sozialisten der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben beschlossen, daß die Arbeiter vorher „umerzogen", gedrillt und durch eine lange bürgerliche Schulung demoralisiert werden müssen, so daß die ungleiche Bezahlung der verschiedenen Arbeitsarten - geistig und körperlich - ihnen als notwendige Voraussetzung für die Existenz der menschlichen Gesellschaft erscheint und das herrschaftliche Einkommen der Intelligenz mit der höheren Bezahlung der qualifizierten Arbeiter gerechtfertigt wird; die privilegierte Lage der Intelligenz soll durch den Streit zwischen den qualifizierten und unqualifizierten Arbeitern gesichert werden, ohne den kein ausbeuterisches Regime existieren kann.
Da die Sozialisten aller Länder den Kampf der Arbeiter mit der Intelligenz fürchten, lassen sie, wenn auch unfreiwillig, die Kapitalisten in Ruhe, verschieben die Enteignung der Bourgeoisie und wandeln ihre zukünftige sozialistische Revolution in eine religiöses Märchen um, das vom Kommen des Gottesreiches auf Erden erzählt.
Die Enteignung der Bourgeoisie soll laut den sozialistischen Plänen erstens das hohe Einkommen der Intelligenz nicht verringern und zweitens keine übermäßigen Forderungen der Arbeiter verursachen und ihre Bezahlung aus dem nationalen Gewinn, der der Intelligenz zusteht, nicht vergrößern. Das sind die Sorgen der Sozialisten.
Die Arbeiter haben Sorgen, die diesen absolut entgegenstehen; sie wollen das hohe Einkommen der Intelligenz nach Möglichkeit verringern und den Gewinn, den die Kapitalisten beziehen, den aber nicht nur sie, sondern auch ihre Direktoren, Leiter und Fachkräfte bekommen, in ihr Einkommen zu verwandeln.
Die Sozialisten, die Beschützer der Intelligenz, brauchen für ihre Ziele eine allmähliche Nationalisierung der Fabriken und Betriebe und aller Produktionsmittel. Die Arbeiter aber brauchen eine gleichzeitige und allgemeine Enteignung.
Bei einer Teilnationalisierung können die Sozialisten ihre Ziele leichter umsetzen. Wie wird von der Sowjetmacht die Übergabe eines konfiszierten Betriebes in die Hände der Arbeiter durchgeführt, z. B. eines Metallbetriebes? Bis zur einfachen Beseitigung der Kapitalisten ist dies eine leichte Sache. Von der Bezahlung der Arbeiter ist nicht einmal die Rede. Die Arbeiter sind wie zuvor verpflichtet für einen Lohn weiterzuarbeiten, der durch einen Tarif festgelegt wird, der von den bolschewistischen Gewerkschaften für alle Betriebe dieses Wirtschaftszweiges ausgearbeitet und auch von privaten Unternehmern anerkannt wurde. Tariflöhne sind wie bekannt sehr bescheiden und gleichen nicht einmal die Teuerungen aus. Die bolschewistischen Tarife sind so, daß sie das Einkommen der Betriebsinhaber absolut nicht einschränken, das in den nationalisierten Betrieben vom Staat garantiert wird.
Wenn die Bolschewiki sich entschließen würden, einen ganzen Wirtschaftszweig zu nationalisieren, z. B. den metallverarbeitenden, würden alle dort beschäftigten Arbeiter in dieselbe Lage gebracht wie in einem einzelnen konfiszierten Betrieb. Die bolschewistische Gewerkschaft und das Kommissariat für Arbeit würden keine Erhöhung der Arbeiterlöhne zulassen. Der Gewinn, den früher die Inhaber eingezogen haben, soll jetzt ihrer Meinung nach dem Staat und nicht den Arbeitern gehören; er soll somit zum Unterhalt privilegierter Staatsbeamter, Staatsführer und auch Aufklärer der Arbeiterklasse verwendet werden.
Die höheren Beamten und die Fachkräfte des Wirtschaftszweiges, der vergesellschaftet worden ist, würden sich bemühen, die vorherigen hohen Löhne zu bekommen, die ihnen zu zahlen die bolschewistische Macht jetzt auch bereit ist.
Eine solche Art und Weise der Abschaffung der Ausbeuter würde natürlich eine Empörung bei den Arbeitern auslösen. Wie kommt es, daß Ausbeuter aus einem ganzen Wirtschaftszweig verjagt werden und es keine Vorteile für die Arbeiter, keine Erhöhung ihrer Sklavenration gibt?
Deswegen entschließen sich Sozialisten nur in äußersten Fällen zur Enteignung. Im allgemeinen versuchen sie eine solche zu vermeiden und hinauszuzögern. Deshalb haben die Bolschewiki, nachdem sie im Oktober „den sofortigen Sozialismus" ausgerufen hatten, statt der Enteignung eine inhaltsleere utopische „Kontrolle" eingeführt. Jetzt versuchen sie zu beweisen, daß diese Kontrolle bis zur Vollkommenheit gebracht werden muß. Sie muß (nach Lenin) zur „genauesten" Berechnung und Kalkulation der Produktion und des Verbrauchs führen, was viel Zeit in Anspruch nehmen wird; ohne eine solche „genaueste" Kontrolle sei die Nationalisierung absolut unmöglich.
Wenn die Bolschewiki noch damit rechnen, daß man die Unzufriedenheit und Empörung der Arbeiter in einem Wirtschaftszweig mit Kleinigkeiten beruhigen kann, ist das bei einer allgemeinen Enteignung der Bourgeoisie unmöglich. Hier werden die Arbeiter ihr Ziel - Erhöhung ihrer Löhne - erreichen. Der ganze Gewinn, das ganze Einkommen der privilegierten höheren Beamten muß für die Erhöhung der Löhne der Arbeiter verwendet werden. Vor allem muß der Lohn der nicht qualifizierten Arbeiter erhöht werden, die momentan eine Hungerration bekommen.
Jeder Kampf der Arbeiter ist immer ein Kampf für eine bessere Bezahlung der körperlichen Arbeit, für die Erleichterung des Sklavendaseins der Arbeiter der niedrigsten Kategorie. So ist dieser Kampf auch im Laufe der letzten hundert Jahre geführt worden. Sozialisten aller Art haben sich dieses ganze Jahrhundert über bemüht, die Arbeiter von ihrem „niederträchtigen" Kampf für „einen Cent" abzulenken, und haben sie dazu aufgerufen, für „das hohe, saubere, lichte, sozialistische Ideal", manchmal auch für „alles" und „sofort" zu kämpfen. Aber die sozialistischen Aufrufe erweisen sich meistens als ein einfacher Betrug, ihre gelehrten Programme als leere Märchen. Der einzige unwandelbare und fehlerlose Weg des Arbeiterkampfes in der ganzen Welt bleibt der Kampf für die höchste Belohnung der körperlichen Arbeit, genau das, was die Arbeitermassen immer und überall verteidigt haben, ihren sozialistischen Erziehern, Predigern und Betreuern zum Trotz.
In einer bürgerlichen Gesellschaft, in der das Einkommen der Besitzenden unantastbar ist, unter der Herrschaft des Kapitalisten, löst die Erhöhung des Arbeiterlohnes nur in seltenen Fällen keine Steigerung der Warenpreise aus und somit wird die Erhöhung des Lohnes oft durch die Preissteigerung der Konsumwaren zu Nichts gemacht.
Nach einer Enteignung der Bourgeoisie funktioniert die Erhöhung des Arbeiterlohnes ganz anders. Hier werden der ganze Gewinn und alle hohen Einkommen für die Arbeiter enteignet und bilden ihren Ertrag. Also kann und muß der Arbeiterlohn erhöht werden, ohne daß die Warenpreise steigen.
Die kommende Arbeiterrevolution wird auf dem Kampf für die höchste Belohnung der körperlichen Arbeit basieren. Wenn bei diesem letzten Ansturm die Bezahlung der körperlichen Arbeit mit der Bezahlung der geistigen Arbeit gleichgestellt wird - dann wird die jahrhundertelange Unfreiheit des arbeitenden Volkes unwiderruflich verschwinden. Schon am Ende der Revolution werden die Familien der Arbeiter und der Intelligenz über gleiche Mittel für die Kindererziehung verfügen; und in den kommenden Generationen wird man keine Millionen Menschen mehr finden, die noch vor ihrer Geburt beraubt wurden, die wie heutzutage ungebildet bleiben, nur zur körperlichen Arbeiter fähig sind und als Sklaven der bürgerlichen gebildeten Gesellschaft geboren werden.
Die Arbeiterevolution ist in ihrer ersten und letzten Phase und in ihrem gesamten Verlauf eine Enteignung der vermögenden Klassen zu Nutzen der Ausgebeuteten und für eine Erhöhung des Arbeiterlohnes. Zuerst müssen den Inhabern der Reichtümer, die über Jahrhunderte hinweg erschaffen wurden, ihre hohen Gewinne und privilegierten Einkommen entzogen werden, damit Reichtum und Zivilisation bei voller Vermögensgleichheit zum Eigentum aller Menschen werden.
Übersetzung aus dem Russischen: Erika König
[1] In den Jahren 1904/1905 veröffentlichte Jan Waclaw Machajski unter dem Pseudonym A. Vol'skii in Genf in drei Teilen sein Hauptwerk „Umstvennyi rabochii" („Der geistige Arbeiter"): Teil 1: „Evoliutsiia sotsialdemokratii: Novoe isdanie s prdisloviem i prilozheniem” („Die Entwicklung der Sozialdemokratie"); Teil 2: „Nauchnyi sotsializm" („Wissenschaftlicher Sozialismus"); Teil 3, Folge 1: „Sotsializm i rabochee dvizhenie v Rossii” („Sozialismus und Arbeiterbewegung"); Teil 3, Folge 2: „Sotsialisticheskaia nauka, kak novaia religiia” („Sozialistisehe Wissenschaft als neue Religion"). Es folgten die Broschüren bzw. Zeitschriften: „Bankrotstvo sotsializma XIX stoletiia" („Der Bankrott des Sozialismus des 19. Jahrhunderts", Genf 1905); „Burzhuaznaia revoliutsiia i rabochee delo" („Die bürgerliche Revolution und die Sache der Arbeiter", Genf 1905); „Rabochii zagovor" („Die Arbeiterverschwörung", Heft 1, Genf 1908); „Rabochaia revoliutsiia" („Die Arbeiterrevolution", Heft 1, Moskau 1918). Eine vollständige Ausgabe von „Umstvennyi rabochii" („Der geistige Arbeiter") wurde zusammen mit „Rabochaia revoliutsiia" („Die Arbeiterrevolution") und mit je einem Vorwort in englischer Sprache von Albert Parry und in russischer Sprache von R. N. Redlikh 1968 von Mezhdunarodnoe Literaturnoe Sodruzhestvo/Inter-Language Literary Associates, New York/Baltimore mit dem Hinweis „Printed in Germany" neu aufgelegt.. Kurze Auszüge aus „Umstvennyi rabochii” („Der geistige Arbeiter") erschienen in englischer Übersetzung in dem von V. F. Calverton herausgegebenen Band „The Making of Society. An Outline of Sociology", New York 1937, S. 427-436. Verwiesen sei zudem auf eine französische Auswahlausgabe: Jan Waclav Makhaïski, Le socialisme des intellectuels. Textes choisis, traduits et présentés par Alexandre Skirda, Paris 1979; eine um ein Vorwort des Herausgebers und Texte von Machajski selbst erweiterte Neuausgabe erschien Paris 2001. Die bisher einzige Monographie zu Machajski stammt von Marshall S. Shatz: Jan Waclaw Machajski. A Radical Critic of the Russian Intelligentsia and Socialism, Pittsburgh, PA 1989. Ergänzend sei hingewiesen auf folgende Veröffentlichungen: Marshall Shatz, Jan Waclaw Machajski. The `Conspiracy' of the Inteilectuals, in: Survey. A Journal of Soviet and East European Studies, 62/January 1967, S. 45-57; Marshall S. Shatz, The Makhaevists and the Russian Revolutionary Movement, in: International Review of Social History, 2/1970 (Vol. 15), S. 235-265; Anthony D'Agostino, Intelligentsia Socialism and the "Workers' Revolution": The Views of J. W. Machajski, in: ebd., 1/1969 (Vol. 14), S. 54-89; Paul Avrich, What is `Makhaevism'?, in: Soviet Studies, 1/July 1965 (Vol. XVII), S. 66-75; Paul Flewers, Socialism and the Intelligentsia. The Ideas of Jan Machajski in Historical Retrospect: http://geocities.com/CapitolHill/Lobby/2379/flewers.htm. Im deutschen Sprachbereich ist Jan Waclaw Machajski - wie bei der Staats- und akademischen Wissenschaftsgläubigkeit der dortigen Linken nicht anders zu erwarten - bisher weder übersetzt noch zur Kenntnis genommen worden; auch im akademischen Milieu der deutschsprachigen Slavistik scheint Machajski unbekannt zu sein. Im folgenden veröffentlichen wir unter dem redaktionellen Titel „Sozialismus und Intelligenz" Teil 3, Folge 2 - „Sozialistische Wissenschaft als neue Religion" - von „Der geistige Arbeiter" sowie Auszüge aus „Die Arbeiterrevolution". Die Fußnoten werden durchgehend numeriert, diejenigen der Redaktion mit AdÜ versehen; Machajski hat Zitate teilweise gar nicht nachgewiesen, teilweise mit knappen Hinweisen im Text versehen, einige konnten in deutschen Übersetzungen nachgewiesen werden, andere nicht.
[2] Gemeint ist hier der in zwei Folgen erschienene Teil 3 von „Umstvennyi rabochii" („Der geistige Arbeiter"). (AdÜ)
[3] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 4, Berlin 1972, S. 459-493, hier S. 473 (AdÜ).
[4] Machajski bezieht sich wahrscheinlich auf folgende Artikel von Karl Kautsky: Bernsteins Streitschrift. 1. Die Zusammenbruchstheorie, 2. Liberalismus und Sozialismus, 3: Demokratie und Klassenkampf, in: Vorwärts, 64 - 66/16., 17., 18. März 1899 (AdÜ).
[5] Karl Kautsky, Klasseninteresse - Sonderinteresse - Gemeininteresse, in: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie, 1902/1903 (21. Jg.), 2. Band, Heft 34/S. 240-245, Heft 35/S. 261-274; hier S. 273 und 245. Machajski zitiert nach der von G.A. Kuklin 1903 in Genf herausgegebenen russischen Übersetzung von Kautskys Text (AdÜ).
[6] Peter Kropotkin, Worte eines Rebellen. Herausgegeben und eingeleitet von Dieter Marc Schneider, Reinbek 1972; die Zitate finden sich auf den S. 12, 13, 16, 16 und 15 (AdÜ).
[7] Ein Gleichgesinnter von Kropotkin schreibt: „Auch wenn es unserem Ideal überhaupt nicht bestimmt wäre, Wirklichkeit zu werden, ist es für die gesellschaftliche Entwicklung trotzdem von Nutzen. Dieses Ideal ist der Leitstern des Fortschrittts; es zeigt ihm sowohl das Ziel, das er anstreben muß, als auch die Hindernisse, die ihn vom notwendigen Weg ablenken können; einer Persönlichkeit zeigt dieses Ideal, was sie machen muß, wenn sie so energisch ist, daß sie frei und glücklich werden will." (Jean Grave, Die zukünftige Gesellschaft, unvollständige russische Übersetzung, S. 84 [Jean Grave, La Société future, Paris 1895, AdÜJ]. Wenn der Leser aufgrund dieses Zitates den „sozialistischen" und „revolutionären" Anspruch des Anarchismus mit dem der bürgerlichen antirevolutionären Sozialdemokraten vergleichen will, so ergibt sich keine Möglichkeit, den anarchistischen Lehrer nicht in eine Reihe mit Berdjajew zu stellen, der es in seinem Buch „Der Subjektivismus und der Individualismus" (N.A. Berdjaev, Sub'ektivizm i individualzm v obscestvennoj filosofii. Kriticeskij etjud o N.K. Michajlovskom, Sankt Petersburg 1901, Nachdruck: Moskau 1999, AdÜ) fur notwendig hält, den Anhängern von Bernstein Spießbürgertum vorzuwerfen, „weil sie den Gedanken zulassen, daß ,das sozialistische Ideal nicht zu verwirklichen ist". Eine Meinung über die Rolle „des sozialistischen Endziels", die der oben beschriebenen der bekannten Theoretiker des Anarchismus ähnlich ist, kann man auch bei den vertrauenswürdigsten bürgerlichen Philosophen fmden. Wenn man das Buch von Stammler „Wirtschaft und Recht" (Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig 1896; eine Übersetzung von Stammlers Werk erschien unter dem Titel „Chozjajstvo i pravo s" toéki zrénija materlalisticeskago ponimanja istorli: social'no-filosofskoe islédovanie Rudol'fa gtammlera" 1899 in St. Petersburg, AdÜ) nimmt, so ist es möglich, das oben genannte Zitat des Anarchisten an einer beliebigen Stelle in die Predigt des deutschen Professors über „das soziale Ideal" einzufügen. Die Ähnlichkeit der Anschauungen geht bis zur völligen Übereinstimmung in den Aussagen über „das Ideal als Leitstern" in „der gesellschaftlichen Entwicklung" und über die Persönlichkeit, die „Freiheit und Glück" verfolgt.
Bei Stammler wundert sich natürlich niemand über dessen Meinung, aber warum wundert die Lehre von Jean Grave nicht diejenigen seiner Anhänger, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, über den sozialdemokratischen Opportunismus herzufallen - das bleibt eine interessante Frage.
Die Sozialisten und die Anarchisten haben den Arbeitern mit ihrem sozialistischen Ideal die Befreiung aus der Unterdrückung versprochen. Und auf einmal rät der Lehrer des Anarchismus denselben Arbeitern, nicht zu sehr auf der Verwirklichung „des Ideals" zu bestehen und ihr Ziel - die Befreiung von der Unterdrückung - in „einen Leitstern" zu verwandeln, von dem sich die Seeleute auf ihren Fahrten leiten lassen, „aber den zu erreichen sie nur in ihren wahnsinnigen Träumen können wollen" (Stammler).
Als Bernstein die oben genannte Anschauung von Jean Grave im Lager der antirevolutionären Sozialdemokraten äußerte, sind „die Anhänger des Staates" wenigstens laut geworden und haben sich entschlossen, Bernstein zu bändigen. Im Lager der unversöhnlichen Anarchisten vollzieht sich eine Entwicklung wie bei den Sozialdemokraten - eine Verrechtlichung und eine Versöhnung mit dem gegenwärtigen System -, aber das geschieht ohne jeden Lärm und ohne jeden Skandal, und Jean Grave, der Anhänger von Bernstein, wird immer noch zu den Predigern der extremsten anarchistischen Unversöhnlichkeit gezählt.
Die Schüler von Jean Grave werden sagen, daß ihr Lehrer einen Vorzug vor Bernstein hat: Er hört nicht auf, über die Revolution zu reden. So lesen wir gleich im Anschluß an die zitierte Stelle: „Nach dem jetzigen Sachverhalt wird die Revolution als Evolution geboren; sie ist eine schicksalhafte Phase, die wir durchleben müssen." Aber man sollte nicht vergessen, daß gegenwärtig sogar Bernstein dank dem Protest der Orthodoxen verstanden hat: „Man darf die Revolution nicht aus dem Auge verlieren." Alle Anhänger Bernsteins drohen der Bourgeoisie mit der Revolution, auch Jean Grave. Wenn man an der zitierten Stelle weiter liest, sieht man, daß die „revolutionäre Gesinnung" von Jean Grave, wie bei allen „Opportunisten, auf Sand gebaut ist. „Wir können hinzufügen, daß sie (die Revolution) noch aus dem Grund notwendig ist, um die Menschen vor dem Rückschritt zu retten, zu dem sie von der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft gezwungen werden." (Kursivschrift von uns).
Wenn also der anarchistische Lehrer am Anfang gesagt hat, daß das sozialistische Ideal für die Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig ist, so sagt er jetzt, daß die Revolution notwendig ist, um die gegenwärtige Gesellschaft vor der Entartung zu retten.
Das Wesen und der Sinn des Sozialismus, den wir in unserem Artikel enthüllen wollen, wird bei Jean Grave ganz offensichtlich. Er ist Revolutionär, weil die bürgerliche Gesellschaft degeneriert ist. Wenn aber die Gesellschaft sich weiter entwickelt, denkt er nicht an ihren Sturz; er will dann selbst an ihrer Entwicklung teilnehmen, mit Hilfe seines „Leitsterns" - dem sozialistischen Ideal.
[8] Peter Kropotkin, Moderne Wissenschaft und Anarchismus, in: ders., Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie. Herausgegeben von Heinz Hug, Wien/Grafenau 1993, S. 23-120, hier S. 27-30 (AdÜ).
[9] In seiner Broschüre „Die Anarchie" schreibt Malatesta, daß „es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit das - freiwillige oder unfreiwillige - Zusammenwirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Vervollkommnung, zur Sicherheit geworden ist; der Kampf hingegen - als ein Überbleibsel der Urzeiten - ist ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern, im Gegenteil, der Kampf bringt allen Siegern wie Besiegten nur Schaden." (Kursivschrift von uns; s. Errico Malatesta, Anarchie. Einleitung Bernd Kramer, Berlin 1975, S. 44 [AdÜ]). Ungeachtet aller frommen Bemühungen des Anarchisten, den Niedergang des Guten in der Geschichte der Menschheit zu verhindern, triumphiert die Welt des Bösen auf fatalistische Weise und reißt sogar einen sentimental-idealistischen Prediger mit. Der Anarchist zählt „den Kampf" und „den Zwang" zum absolut Bösen. Aber weil er gleichzeitig Anhänger jedes, sogar des „unfreiwilligen" Zusammenwirkens ist, welches „das einzige Mittel für den Fortschritt" darstellt, preist und verherrlicht er, trotz des gewalttätigen Charakters, den Kampf und den Zwang, deren Ergebnis das erzwungene Zusammenwirken ist.
[10] „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt... muß der Menschen anerkennen, daß seine Vorfahren einen falschen Weg gegangen sind, als sie einander verprügelten, ausplünderten und ausbeuteten; er muß zur Solidarität zurückkehren, deren Keime nicht einmal in tausenden von Jahren durch inneren gegenseitigen Kampf vernichtet wurden." (Jean Grave, Die zukünftige Gesellschaft, unvollständige russische Übersetzung, S. 26 [Jean Grave, La Société future, Paris 1895, AdÜ]).
[11] Peter Kropotkin, Moderne Wissenschaft und Anarchismus, a.a.O., S. 27-29 (AdÜ).
[12] Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke Band 13, Berlin 1971, S. 3-160, hier S. 9 (AdÜ).
[13] G.W. Plechanow (N. Beltow), Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung, Berlin 1956 (das Buch erschien zuerst 1895 unter dem Pseudonym N. Beltow und unter dem Titel „K voprosu o razviti monisticeskogo vzgljada na istoriju") (AdÜ).
[14] Peter B. Struwe (26.1.1870-26.2.1944, Historiker und Politiker, in seiner Jugend Marxist, später als Gegner der Oktoberrevolution in der Emigration); Michail Tugan-Baranovskij (8.1.186521.1.1919, Nationalökonom und Politiker, in seiner Jugend vom Marxismus beeinflußt, seit 1905 Mitglieder der „Konstitutionell-Demokratischen Partei"); Sergej N. Bulgakov (16.6.187113.7.1944, Philosoph und Theologie, in seiner Jugend Marxist, nach der Oktoberrevolution in der Emigration); Nikolaj A. Berdjajew (6.3.1874-24.3.1948, Philosoph, in seiner Jugend Marxist, seit 1922 in der Emigration); Georgii V. Plechanow (11.12.1856-30.5.1918, erster bedeutender russischer Marxist, von 1880-1917 in der Emigration, Kritiker Lenins und der Bolschewisten); Tulin ist eines der vielen Pseudonyme Lenins, das er ca. 1893 benutzte (AdÜ).
[15] Peter Kropotkin, Der Anarchismus. Seine Philosophie/Sein Ideal, in: ders., Der Anarchismus. Mit einer Einführung in Kropotkins Leben und Werk, Siegen-Eiserfeld 1983, S. 57-101, hier S. 94 (AdÜ).
[16] Peter Kropotkin, Moderne Wissenschaft und Anarchismus, a.a.O., S. 118 (AdÜ).
[17] Georg Plechanow, Anarchismus und Sozialismus, Berlin 1 894 (2. Aufl.: 1904, Nachdruck der 2. Aufl.: Graz 1973). Mit dem Buch über die Narodniki kann Plechanows zuerst 1884 erschienene Schrift „Unsere Meinungsverschiedenheiten" oder die zuerst 1895 unter dem Pseudonym N. Beltow erschienene Schrift „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung" gemeint sein (AdÜ).
[18] Jean Grave, Die sterbende Gesellschaft und die Anarchie, S. 12-13 (Jean Grave, La Société mourante et l'Anarchie, Paris 1893, AdÜ).
[19] Peter Kropotkin, Der Anarchismus. Seine Philosophie/Sein Ideal, a.a.O., S. 90 (AdÜ).
[20] Jean Grave stellt sich die Zeit, die man benötigt, um „unsere Ideale" in die Köpfe der Massen „einzupauken und sie ihnen einzuprägen" und diese auf das kommunistische Leben vorzubereiten, als nicht weniger langfristig vor, als dies ein ganz opportunistischer Anhänger von Bernstein tut (siehe unten).
[21] Machajski verweist hier auf Teil 3, Folge 1 („Sotsializm i rabochee dvizhenie v Rossii” [„Sozialismus und Arbeiterbewegung"]) seines Buches „Umstvennyi rabochii" („Der geistige Arbeiter”) (AdÜ).
[22] Peter Kropotkin, Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, Berlin 1976 (Fields, factories and workshops, Boston 1899) (AdÜ).
[23] Peter Kropotkin, Eroberung des Brotes. Über den anarchistischen Kommunismus, Berlin 1972, S. 163 (AdÜ). Wie die folgenden Zeilen zeigen, stimmt die Sprache des Anführers des modernen Anarchismus mit der Predigt der russischen Narodniki (Volkstümler) fast überein: „Wir haben die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsformen nicht einmal verhindert, ungeachtet dessen, daß diese auf der Enteignung der Bauernschaft basiert, im Gegenteil - wir haben uns mit allen Kräften bemüht, die grundsätzliche Zerstörung unseres Wirtschaftslebens zu unterstützen, die Zerstörung, die zur Hungersnot von 1891 geführt hat.” (Nik-on, Studien zur Ökonomie)
[24] Ebd., S. 170 (AdÜ).
[25] Mathias Georges Paraf-Javal, Libre Examen, Paris 1901, S. 7.
[26] Ebd., S. 8.
[27] Jean Grave, Die sterbende Gesellschaft und die Anarchie, S. 1 (Jean Grave, La Société mourante et l'Anarchie, Paris 1893, AdÜ).
[28] Die Arbeiterrevolution, Heft 1/ Juni - Juli 1918. Diese einzige Ausgabe der Zeitschrift „Die Arbeiterrevolution" enthält drei kürzere - „An die Arbeiter", „Das zweite Jahr des Kampfes", „Arbeitslosigkeit" - und einen längeren Artikel - „Die bolschewistische Diktatur und die Enteignung der Bourgeoisie"; dieser wird hier bis auf den Schlußteil - „Der sozialistische Aufbau" - vollständig übersetzt.
[29] W.I. Lenin, Die Lehren der Revolution, in: Ders., Ausgewählte Werke, Band II, Berlin 1970, S. 225-241 (AdÜ).
[30] W.I. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll; den., Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, in: Den., Ausgewählte Werke, Band II, a.a.O., S. 261306 und S. 443-490 (AdÛ).
[31] W.I. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, a.a.O. (AdÜ).