Titel: Realität ohne Regierung
AutorIn: Noe, Ito
Datum: 1922
Quelle: Ito Noe – Frauen in der Revolution. Wilde Blume auf unfreiem Feld. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Akiko Terasaki und Ilse Lenz. Karin Kramer Verlag Berlin 1978; Seite 110-120
Bemerkungen: Japanischer Originaltext: Museifu no Jijitsu, 1922, in: Itö Noe Zenshil, Band 2, Seite 464-475

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I

Von allen Seiten haben wir den Vorwurf gehört, die Ideale des anarchistischen Kommunismus seien leere Phantasien und nicht zu verwirklichen. Alle sind in dem Aberglauben befangen, daß keinerlei Selbstregierung perfekt verlaufen kann, wenn sie sich nicht auf die Hand einer zentralen Regierung stützt.

Sogar etliche Sozialisten, die doch viel klüger als die üblichen gebildeten Leute sind, lachen verächtlich über den "Traum" des Anarchismus.

Aber für mich ist er keinesfalls ein "Traum", und ich fand Tatsachen, die mich glauben lassen, daß seine Verwirklichung in der einfachen "Selbstverwaltung" unserer Dörfer, die von unseren Ahnen bis heute überliefert wurde, sichtbar ist.


In der Provinz, wo man die Segnungen der "Kultur" nicht voll erhalten kann, fand ich ein soziales Leben ohne Macht, ohne Herrschaft und ohne Befehle, das nur auf dem Geist der für alle notwendigen gegenseitigen Hilfe und einer wirklich freien Übereinkunft beruht.

Dies ist etwas völlig anderes als die "Verwaltung", die sich unter der Kontrolle einer zentralen Regierung befindet. Die Strukturen der gegenseitigen Hilfe, die unter dem Druck der Notwendigkeit in alten Zeiten, als es noch keine so komplizierten Geschichten wie den "Verwaltungsapparat" gab, zustandekamen, leben bis heute getrennt von der offiziellen Verwaltung weiter.

II

Ich werde hier nur die Tatsachen beschreiben, die ich in dem Dorf, in dem ich geboren wurde, selbst gesehen und gehört habe und meine Gedanken dazu mitteilen.

Da ich nicht viel herumgekommen bin, kann ich nicht mit Sicherheit behaupten, ob diese Realität sich überall in Japan so darstellt. Aber ich glaube, es ist kein Fehler, das anzunehmen. Denn diese Fakten enthalten keine Besonderheiten, die nur für eine Region gelten. Sie haben einen notwendigen und allgemeinen Charakter für die Leute auf dem Land, deren Lebensweise sie in allen Dingen Mangel spüren läßt, gleich an welchem Ort und unter welchen Umständen sie sich befinden. Unser wichtiges Ideal, daß das Leben aller Menschen so sein sollte, ist ganz fest mit dieser Realität verknüpft.


Das Dorf, in dem ich geboren wurde, liegt etwa 12 km westlich von Fukuoka. Früher lag es an dem Weg zwischen dem Schloß Fukuoka und dem Schloß Karatsu, und einst, als das Reisen zu Lande beschwerlich war, war der Ortsteil meines Elternhauses ein Hafen. Heute ist er eine verfallene Siedlung, in der keine Spur des einstigen Glanzes mehr zu finden ist. Es wohnen dort nur arme Leute, halb Bauern, halb Händler, und das Dorf sieht wie tot aus. Mein Ortsteil wird gewöhnlich Matsubara (Kiefernfeld) genannt, und er umfaßt etwa 60 bis 70 Häuser, die größtenteils nebeneinander an der Straße liegen. Die 60 bis 70 Familien teilen sich in sechs kleinere "Gemeinschaften" [1] auf, welche sich wiederum je nach Bedürfnis zusammenschließen, d.h. der Ortsteil ist eigentlich die "Vereinigung der Gemeinschaften".


Aber die "Vereinigung" ist meistens im Zustand der Auflösung. In der Tat richten die Dorfbewohner ihre unmittelbaren Bedürfnisse immer an die Gemeinschaft. Die einzelnen Gemeinschaften umfassen Abschnitte von je 12 bis 15 Häusern auf beiden Seiten der langen, schmalen Straße. Es scheint, als ob sie sich in ihrer sehr alten Einteilung erhalten haben. Wie die Vereinigung sind sie immer im Zustand der Auflösung, wenn sie nicht in Anspruch genommen werden. Es gibt keine vorgeschriebenen Abmachungen, keine Beamte, sondern sie erhalten ihre Form nur durch den von den Urahnen überlieferten Willen, "gegenseitig dem Mangel abzuhelfen".

Wenn alle zugehörigen Familien in Frieden und ohne Schwierigkeiten leben, hat die Gemeinschaft keine Aufgaben. Jedoch wenn in einem Haus irgendetwas vorkommt, wird sie sofort tätig. Da es nur wenige Häuser gibt und die Familien sich immer in engem Kontakt befinden, verbreitet sich sofort in der Gemeinschaft, wenn in einem Haus etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist. Wenn so etwas bekannt wird, lassen alle ihre Arbeit ruhen und laufen zu diesem Haus. Oder wenn sie denken, daß man vor allem erst einmal darüber sprechen muß, versammeln sie sich sofort zu einer Beratung, ehe sie dorthin eilen.

Als Ort der Beratung dient entweder ein Hauseingang oder ein Nebenraum mit Lehmfußboden, oder aber sie treffen sich auf dem Feld, wo einer arbeitet, oder manchmal setzen sie sich ruhig in einem Zimmer zusammen.

Sowie die Leute versammelt sind, fangen sie sofort mit der Beratung an. Dabei sitzt keiner mit verschränkten Armen da und schweigt, außer wenn es um sehr schwierige Sachen geht.

Alle sagen ehrlich, was sie selbst wissen und was sie denken. Auch wenn einer der Meinung des anderen zustimmt, ist es üblich, daß er seine Gründe dafür genau erklärt. Auch Leute, die in einer anderen Runde ihren Mund nicht gut aufmachen können, vertreten hier ihre Meinung angemessen. Eine unbehagliche Atmosphäre, in der einer die Vorstellungen des anderen vorausberechnet und dabei verunsichert wird, seine eigene Meinung zu äußern, bleibt hier völlig fern.


Tatsächlich bedeutet es in der Gemeinschaft keinen Unterschied, ob einer Dorfvorsteher oder Tagelöhner ist. Keiner kann als Dorfvorsteher eine besondere Arbeit fordern, und es kommt auch nicht vor, daß einem, nur weil er Tagelöhner ist, Funktionen als Mitglied der Gemeinschaft entzogen werden. Es gibt keinen Hochmut und keine Selbsterniedrigung. Zwar werden, wie es auf dem Lande üblich ist, die Alten oder der gute Ruf des Hauses hoch geachtet. Jedoch ist zu bewundern, daß dies die Beratungen über die Aktivität der Gemeinschaft nicht behindert.


Wer fällt den endgültigen Beschluß der Beratung? Hier entscheiden ebenfalls alle zusammen. Da im allgemeinen das Problem auf konkreten und für jeden einsichtigen Tatsachen beruht, kommt eine Entscheidung von selbst zustande, wenn alle ihr Wissen und ihre Meinung restlos dargelegt haben.

Es ist nicht nötig, daß irgendeiner sie von sich aus trifft oder den anderen einflüstert. Im allgemeinen können sie sofort über das Gespräch entscheiden. Aber manchmal laufen die Meinungen irgendwie auseinander, und sie kommen zu keiner Einigung.

In einer der Familien der Gemeinschaft gibt es zum Beispiel Streit. Wenn die Mitglieder der Gemeinschaft zusammen sprechen, um eine Verständigung zu erzielen, so unterscheiden sich die Ansichten der Beteiligten über die einzelnen Familienmitglieder; es gibt sehr vielfältige Meinungen, und es ist nicht mehr leicht herauszufinden, welche der Wahrheit am nächsten kommt.

In diesem Fall treffen sie sich an vielen Abenden und diskutieren leidenschaftlich. Die verschiedenen Ansichten werden erwogen und berücksichtigt, und beim Ausgleich wird versucht, möglichst nicht von den Normen abzuweichen, die alle für richtig halten. Wenn einer bei der Beratung ein Argument bringt, dem die anderen nicht zustimmen können, und er versucht, es durchzusetzen, so fragen alle nach, bis sie ihre Billigung aussprechen können. Wenn sie feststellen, dass sie nicht einwilligen können und daß dies nicht der richtige Weg oder das richtige Vorgehen ist, so schelten sie diese Person ganz offen.

III

In einer Familie wird jemand krank. Sofort wird das in der Gemeinschaft bekannt. Alle laufen eilig in dieses Haus. Freundlich helfen sie, den Arzt zu rufen oder die Familien in der nahen Verwandtschaft zu verständigen, und auch bei anderen Besorgungen oder bei der Krankenpflege. Wenn sich die Krankheit verschlimmert, machen sie abwechselnd zu zweit oder zu dritt Nachtwachen. Auch nach einer Woche oder zehn Tagen sind sie noch mit ganzem Herzen dabei.

Wenn jemand stirbt, werden von der Gemeinschaft selbstverständlich die Bekanntmachungen in der Nachbarschaft (man sagt, daß früher die Leute dafür bis zu zehn Meilen weit gingen) und andere Botengänge übernommen. Auch alle anderen Erledigungen werden sämtlich in der Gemeinschaft geregelt, wie das Grab ausheben, den Sarg tragen, alle Gegenstände, die man bei der Beerdigung braucht, herzustellen und sich um einen großen Leichenschmaus zu kümmern.


Wenn ein Kind geboren wird, versammeln sich die Frauen der Gemeinschaft. Bis die Wöchnerin wieder aufstehen kann, übernehmen diese Frauen ihre Pflege.

Auch wenn sonst die Unterstützung der anderen nötig ist, wird diese ohne Einwand von der Gemeinschaft geleistet. Natürlich sind in der Gemeinschaft nicht alle Familien bei allen beliebt. Es gibt mindestens zwei oder drei Familien, die aus irgendeinem Grund gering geschätzt werden. Falls man einer solchen Familie hilft, flüstern alle hinter deren Rücken und äußern ihre Mißbilligung. Aber es kommt nie vor, daß sie deswegen ihre Hilfe nachlässig verrichten. Sie trennen genau zwischen ihren jeweiligen Gefühlen gegenüber dieser Familie und dem, was man in der Gemeinschaft tun muß.


So etwas wie "Verwaltungsaufgaben" gibt es hier kaum. Nur wenn sie gemeinsam für etwas gezahlt haben, leisten sie zu dem jeweiligen Zeitpunkt und Anlaß eine vollständige Abrechnung über Einnahmen und Ausgaben.

Die Gemeinschaft veranstaltet öfter eine gesellige Zusammenkunft. Dabei treffen sie sich in einem Haus, essen mittags einen Festschmaus und trinken dazu. Jeder bringt eine vorher festgelegte Menge Reis und Münzen mit. Es gibt den Brauch, einmal im Jahr dieses Festessen zwei bis fünf Tage fortzusetzen. Die Abrechnung darüber kann recht mühsam erscheinen, aber tatsächlich wird sie relativ reibungslos abgewickelt. Wenn das gesammelte Geld nicht ausreicht, geben alle etwas dazu. Wenn etwas übrig bleibt, wird es entweder sofort ausgegeben, oder einer bewahrt es auf, bis man es wieder braucht.

Oft kommt es vor, daß die Saketrinker kräftig Sake geschluckt haben, also die Kosten für die Getränke ziemlich hoch geworden sind und das vorhergesehene Geld nicht reicht.

Dann sagen die Sakefreunde, daß ihnen die Leute leid tun, die nichts getrunken haben und daß sie den fehlenden Anteil selbst zahlen werden. Aber dieser Vorschlag wird nie angenommen. Die, die trinken, essen nicht so viel. Die, die nicht trinken, essen dafür mehr. So sagen sie, daß es in Ordnung ist und geben schließlich gleichviel zu der fehlenden Summe.


Der Einkauf bei Beerdigungen, Krankheiten, Geburten, Hochzeiten – wo immer die Gemeinschaft hilft – wird erledigt, indem unter dem Namen der Gemeinschaft eine Anleihe aufgenommen wird.

Jedesmal nach der Hilfe beginnt dann die Abrechnung. Alle Mitglieder versammeln sich. Sie untersuchen alles sorgfältig bis auf den letzten Sen. Erst wenn sie feststellen, daß es keine Fehler gab, teilen sie den Familienmitgliedern das Ergebnis mit. Damit ist die Aufgabe der Gemeinschaft beendet. Bei jedem Vorfall wird auf diese Weise alles, was bürokratisch aussieht, von sämtlichen Betroffenen selbst geregelt.

Wenn eine Aufgabe kontinuierlich erledigt werden muß – was selten ist –, wird bei der ersten Beratung die Reihenfolge vorsorglich festgelegt, und es gibt keine Schwierigkeiten.


Die Verantwortung, die alle gegenüber der Gemeinschaft haben, ist für sie nicht eine aufgezwungene widerwillige Sache. Sie handeln in dem Bewußtsein, daß es für die Mehrheit unverantwortlich ist, die beschlossenen Aufgaben zu vernachlässigen, wenn man selbst an der Reihe ist. Daher braucht man weder Befehl noch Kontrolle.

IV

Aufgaben, die den ganzen Ortsteil betreffen, wie die Feuerwache, die Reinigung oder Ausbesserung des Schreins, Feste usw. besprechen alle sechs Gemeinschaften zusammen. In diesem Fall werden von jeder Gemeinschaft zwei bis drei Leute, die gerade Zeit haben, zur Beratung geschickt. Wenn ein Beschluß zustandekommt, teilen sie den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe dessen Inhalt mit. Wenn sie nicht alleine entscheiden können, fragen sie nach der Meinung aller Mitglieder und treffen sich dann wieder.III

Wenn ein Beschluß gefallen ist und die Arbeit schließlich beginnt, werden die Grenzen zwischen den Gruppen völlig aufgehoben. Die kleinen Gemeinschaften lösen sich auf, und die Vereinigung wird eine einzige Gemeinschaft. Die Grundeinheit der Vereinigung ist also nicht die Einzelgemeinschaft, sondern je eine Familie.


Es kommt der Vorschlag, mit allen gemeinsam abwechselnd eine Feuerwache durchzuführen. Weil dies nur innerhalb einer Gemeinschaft sinnlos ist, entscheidet man im ganzen Ortsteil daranzugehen.

Daraufhin beschließen die Vertreter der einzelnen Gemeinschaften, von wann bis wann die Wache dauern soll. Sie bestimmen die konkreten Einzelheiten, nämlich wieviele Familien sich jeden Abend beteiligen sollen, wie oft man herumgehen soll, ob man vom Norden oder Süden her anfangen soll oder vom Ost- oder Westende. Wenn festgelegt wird, daß jeden Abend drei Familien die Aufgabe haben, vom Nordwestrand des Ortsteils aus dreimal eine Runde zu machen, so kommt am ersten Abend jemand aus diesen drei Familien, rührt im ganzen Dorf die Trommel, schlägt hölzerne Klappern und führt so die Feuerwache durch. Am nächsten Tag werden die Trommel, die hölzernen Klappern und die Laterne an eine Familie der nächsten drei Häuser übergeben. So vollzieht sich die Wache ohne Irrtümer der Reihe nach in der vorher bestimmten Weise.


Das Geld für die Ausbesserung des Schreins kommt nicht auf einmal zusammen. Sie beraten alle und sparen. Sie verfertigen eine Schachtel, die sie zusammen mit einem Heft, das die Namen aller Familienvorstände des Ortsteils enthält, herumgeben, und jede Familie legt jeden Tag die beschlossene Summe von drei oder fünf Sen hinein. Diese Schachtel wandert täglich ohne Ausnahme durch die ganze Nachbarschaft.

Es ist mühselig für die Kinder, da der Weg zur Schule sehr schlecht ist. Darüber klagen die Mütter. Gleich darauf macht eine der Mütter einen Vorschlag, und die Leute, die gerade Zeit haben, bessern in ein oder zwei Tagen den Weg aus.


Wenn ein Ortsteil das tut, bessern auch die anderen Ortsteile die Wege in ihrer Nähe aus, weil die Wege ja für alle frei sind und es nicht richtig wäre, ließe man nur die Leute von dort drüben Hand anlegen. Unerwartet kommen alle Wege in Ordnung.

Auf diese Weise wird alles wirklich gut ausgeführt. Die meisten Angelegenheiten werden in der Gemeinschaft erledigt.

Falls die Zusammenarbeit mit anderen nötig ist, wird diese Form aufgegeben, und die Ortsteile werden zu einer Einheit.


Wenn man die Selbstverwaltung der Gemeinschaft und des Ortsteils betrachtet, fragt man sich, was das staatliche Gemeindeamt eigentlich tut. Aber es ist kaum zu glauben, wie getrennt die Selbstverwaltung und die staatliche Verwaltung sind. Viele von den Leuten, die bei irgendeiner Beratung der Gemeinschaft oder des Ortsteils voller Eifer aufpassen, haben gar kein Interesse daran, wer Vorsitzender im Dorfrat ist oder was dort zur Debatte steht. Die meisten Leute denken über das Gemeindeamt, daß es sich nur mit Aufgaben wie der Einziehung der Steuern, dem Familienregister, der Einberufung zur Armee und der Schulpflicht beschäftigt.

V

Wegen der Bemühungen der Gemeinschaft wird die Polizeiwache im Dorf und die Polizei als fast nutzlos angesehen.

Ein Streit zwischen Einzelnen und Unfrieden zwischen Familien wird im allgemeinen von der Gemeinschaft beigelegt.

Aber auch wenn sie einen Dieb erwischen, halten sie das vor der Polizei selbstverständlich geheim, wenn er aus der gleichen Gegend kommt, und versuchen das auch bei auswärtigen.

Neulich kam etwas in der Art vor. Ein Ehepaar stahl. Der Bestohlene, bei dem das schon öfter vorgekommen war, und der einen Verdacht hatte, lieferte eindeutige Beweise. Er rief das Ehepaar in sein Haus und schalt es. Da sowohl der Bestohlene als auch die Diebe einer Gemeinschaft angehörten, kamen sofort andere Mitglieder hinzugelaufen. Dem Paar wurde von allen unter Vorwürfen und Fragen hart zugesetzt, weil es schon seit längerem hier und dort gewarnt worden war. Als sie sich jedoch irgendwie entschuldigten und versprachen, so etwas nie wieder zu tun, vergab ihnen auch der Haushaltsvorstand der bestohlenen Familie. Die Gemeinschaft beschloß, die Beziehungen zwischen dem Paar und der Gemeinschaft abzubrechen, falls es noch einmal vorkommen sollte und ließ die Sache fallen.

Die meisten Leute dachten folgenderweise über den Vorfall: "Natürlich ist es nicht gut, zu stehlen. Aber was wird, wenn sie ins Gefängnis kommen? Sie haben auch Kinder und Verwandte. Man muß schon daran denken, welche Schwierigkeiten sie dadurch haben. Wenn die beiden noch Scham kennen, so ist es demütigend genug für sie, sich vor der Gemeinschaft zu entschuldigen. Weil sie vorhaben, weiter in dieser Gegend zu wohnen, werden sie so etwas nicht mehr anstellen, weil sie sonst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Und da sie solche schlechten Gewohnheiten haben, werden alle aufpassen und ihnen keine Gelegenheit geben. So dürfte ihnen auch gut geholfen sein."


Es sieht so aus, als ob sie sich tatsächlich zurückhalten. Sie werden zwar ermahnt, aber man wird nichts tun, was sie offen beschämt. Die Bauern sprechen aus ehrlicher Rücksichtnahme ihre Warnungen nur verdeckt aus.

Die Geschichte beschränkt sich auf die Ohren der Ortsmitglieder. Man paßt sehr gut auf, daß sie nicht in das Ohr eines Polizisten gelangt. Wenn einer sonst auch noch so eng mit einem Polizisten befreundet ist, wird er nichts sagen, was einen anderen zum Verbrecher macht. Wenn es einen solchen Schwatzvogel gibt, wird er sofort von den Leuten im Dorf gewarnt.

Ich glaube, man darf wohl annehmen, daß dieses Verhalten von altersher auf einer Übung beruht, die dem Denken echter Selbstverwaltung entspricht – nämlich den Frieden des Dorfes so weit möglich zu schützen vor den Beamten, die nur Dinge, die Unglück für andere hervorbringen, beabsichtigen.


Die äußerste Strafe der Gemeinschaft, der Abbruch der Beziehungen, führt zu dem Resultat, daß die Betroffenen aus der Gegend vertrieben werden. Wenn eine Gemeinschaft die Beziehungen zu jemand abgebrochen hat, kann er keiner der anderen Gemeinschaften mehr beitreten.

Der Abbruch der Beziehungen kommt nur im äußersten Fall vor. Der Verlauf der Sache wird sofort überall verbreitet. Niemand läßt sich mit einem ein, über den dies ausgesprochen wurde. Diesem bleibt zuletzt nichts anderes übrig, als die Gegend zu verlassen und woanders hinzugehen.

Aber alle nehmen diese äußerste Strafe sehr ernst. Deswegen wird sie nur über einen Menschen verhängt, der etwas kaum Verzeihliches begangen hat. Soweit ich das erfahren konnte, hörte ich nie, daß sie in meinem Dorf angewandt wurde. Unter diesen Umständen ist es schon äußerst schwerwiegend, wenn sie einem unter der Voraussetzung, daß er dieses oder jenes noch einmal tut, angedroht wird. Die Wirkung ist außerordentlich.

Lebt man auf dem Land, so kann man tatsächlich nichts ausrichten, wenn man von der Gemeinschaft getrennt wird. Solange man nur ihren Schutz hat, gibt es keinen Anlaß zur Sorge, wenn in einer Familie einer todkrank oder schon tot und kein Sen vorhanden ist. Selbstverständlich findet sie einen Weg zur Lösung der augenblicklichen Schwierigkeiten; aber auch später noch kümmert sie sich um die Betroffenen, hilft, wenn es notwendig ist, und macht Erledigungen. Die Notwendigkeit, die Hilfe der Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen, ist fast absolut. Dies gilt umso mehr für die Armen. Die Armen spüren eher als die Reichen großen Mangel in allen möglichen Fällen. Sei die Not klein oder groß, sie wird im allgemeinen durch die Hände der Gemeinschaft behoben.


Bisher konnte ich die Anhänglichkeit der Bauern zu ihrer langweiligen Lebensweise im Dorf überhaupt nicht verstehen. Auch die, die sich einmal entschlossen und von ihrem Ort getrennt hatten, kommen meistens wieder zurück. Ich wunderte mich sehr darüber, daß sogar Jugendliche, die in die Stadt gingen und angesehene Kaufleute werden wollten, in ihr Dorf zurückkehrten, wo sie nichts anfangen können und der armen eintönigen Lebensweise dort verhaftet bleiben.


Aber als ich meine Augen den Gemeinschaften im Dorf zuwandte, begriff ich zum ersten Mal. Wer sich an diese Lebensweise gewöhnt hat, hält das profitorientierte, eiskalte Leben anderswo, vor allem in der Stadt, gar nicht aus. Er wohnt viel lieber in der warmen Lebensweise dort – auch wenn sie keine Hoffnung auf Erfolg bietet und arm ist –, wo man sich mit der Kraft der Gemeinschaft gegenseitig hilft.


[1] Japanisch: kumiai, was einen engen Zusammenschluß beinhaltet. Nelly Naumann übersetzte das als "Verband" (kleines Wörterbuch der Japanologie, Stichwort: Dorf). Da "Verband" jedoch die Konnotation eines bewußten, organisatorisch festgelegten Zusammenschlusses hat, Ito jedoch die Gruppierung aus einer gemeinsam vollzogenen Alltagspraxis der gegenseitigen Hilfe ableitet, entschlossen wir uns für "Gemeinschaft". Allerdings mit einem gewissen Zögern, da die Gefahr einer Mißinterpretation im Sinne einer pauschalen "Dorfgemeinschaft" besteht.