Il Mugnaio Menocchio

Die Asche der Legenden

für ein Ende der Verherrlichung des Illegalismus

Dezember 2008

Es war einmal die Zeit der Helden. Eine vergangene, längst überholte Zeit, in der sich die Fantasie des Volkes der kleinen und grossen Taten einiger rebellischen Individuen bemächtigte, um Märchen und Legenden zu erfinden. Geschichten, die ein von Machtmissbrauch und Ausbeutung geprägtes Leben darstellten, Geschichten, in denen der kleine David sich gegen den grossen Goliath erhob und ihn mit einer «schlichten» Steinschleuder herausforderte.


Fast überall in der Welt haben die Abenteuer der «alleine gegen alles und alle»-Banditen die Herzen und Träume der enterbten Generationen bewegt: Mehr als ein Leitbild, waren sie eher geheime – und etwas unangenehme – Träume von dem, was man selbst nicht ist, die Bestätigung – durch das verzerrte und spektakuläre Bild des Helden – seiner eigenen Feigheit, seiner eigenen Resignation.

Aber diese Zeiten von denen wir reden, sind nun längst vorbei. Zeiten, in denen die Helden, vielleicht nicht so rein und unbefleckt waren, wie die Fantasie des Volkes es beschrieb, doch zumindest etwas «Nachvollziehbares». Ein Abbild der Rebellion, das, wenn es auch für viele ein blosses Anschauungsobjekt blieb, doch für einige ein nachzuahmender Weg darstellte.

Das, was die Vorstellung, die Erschaffung des Mythos mit dem eigentlichen rebellischen Akt verband, war weniger die Überschreitung der sozialen Regel oder des Gesetzes, sondern vielmehr das Begreifen eines Verhaltenscodex, der auf einem gemeinsamen Modell gründete. Die Frage der Ehre und der Moral – geprägt von einer guten Portion Christlichkeit – war bis erst vor einigen Jahrzehnten das Verbindungsglied zwischen der entschlossenen Wahl der Illegalität und dem ritterlichen Mythos. In der allgemeinen Vorstellung, insbesondere bei den ärmeren Schichten, waren der Bandit und die Bluttat oft von einem romantischen Bild geprägt: Die durchbohrende Lanze und das herausquellende Blut verschwinden, um den Platz dem weissen Pferd und der goldenen Rüstung zu überlassen.

Aus dieser Perspektive, selbst wenn es gewissen Leuten nicht gefällt, besteht historisch gesehen eine Überschneidung zwischen dem, was früher das Banditentum war, der relativ jungen Malavita [«das schlechte Leben»: die soziale Delinquenz auf hohem Niveau in den Arbeitervierteln] und dem, was die Mafia ist. Obwohl diese Formen der Illegalität deutlich unterschiedlichen Schicksalen nachgingen, die an ihre Geschichte und an die Ereignissen darin gebunden waren, ist das, was sie einander näher bringt, genau dieses Bild des Ritters, das sie in ihren Betrachtern hervorrufen.

Es ist kein Zufall, dass die historische Mafia (sizilianische Mafia, kalabresische `Ndrangheta und napolitanische Camorra) in ihrem Beitrittsschwur das Bild der drei Ritter beibehielten, die in Süditalien an Land gingen, um die drei Organisationen zu bilden. Zwischen dem Mythos und der Realität gibt es eine Verbindung: Obwohl die drei Ritter nie existiert haben, kamen die mafiösen Organisationen aus dem katholischen Adel des Südens hervor. Was der damalige Adel mit der Gründung dieser geheimen Gesellschaften ins Leben rufen wollte, unterscheidet sich nicht so sehr von den Praktiken der verschiedenen katholischen Freimaurerlogen in Europa: Die Idee war schlicht sich gegenseitig zu helfen und sich um gemeinsame Werte, die auf der – familiären und sozialen – Tradition gründen und um verbreitete Konzepte wie Ehre, Schwur und «Respekt» gegenüber der patriarchalen Hierarchie zu sammeln. Insbesondere zur Zeit der Vereinigung Italiens, die für die Bauern in Süditalien eine deutliche und dramatische Verschlechterung der Lebensumstände und einen Machtverlust für den Adel und die lokalen Besitz­enden bedeutete, sind die «Mafiafamilien» den Bauern mit Barmherzigkeit und Konfliktlösung (die an das Eigentum, die territorialen Grenzen, die Schulden und die Hochzeit gebunden waren) zu Hilfe gekommen. Dies bestimmte die Gründung des ritterlichen Mythos der reichen Mafia, die den armen Leuten zu Hilfe eilte und all dessen, was darauf folgte.

Um einige Beispiele zu nennen: Selbst die Begriffe von Omertà und Faida, die in verschiedenen Fällen beliebt sind, hatten zu dieser Zeit einen ganz anderen Sinn. Faida bedeutete nicht eine «Abrechnung» mit Gewehrschüssen zwischen Mafiafamilien. Doch es war ein ungeschriebenes Gesetz, das die Konflikte zwischen den Dorfbewohnern, unter der Aufsicht eines wichtigen Alten – in der Regel eine wichtige Persönlichkeit der Gemeinschaft – beseitigte: In den meisten Fällen endete die Faida nicht in einem Massaker, sondern mit einer Hochzeit oder einer vertraglich festgelegten Entschädigung. Dasselbe gilt für die Omertà, die mit Unterwerfung nichts zu tun hatte, sondern vielmehr ein Verhaltensmodell aufzeigte, das den gemeinsamen moralischen Prinzipien konform war: Bescheidenheit und Respekt. Aufgrund von dem, ist es offensichtlich, dass die Verfestigung der italienischen Mafia nicht durch ein banales Kräfteverhältnis zustande kam, sondern durch eine fortwährende Mischung von christlichen Werten und Clanregeln, die bis in die graue Vorzeit zurückreichen. Eine tragische Vereinigung, in der, nach vergangener Zeit und vergossenem Blut, der «Respekt» vor der Unterwerfung wich, um sich heute schliesslich vor allem mit dem Terror durchzusetzen.

Broussard stand vor mir, alle seine Männer hinter ihm. Ich hatte eine Zigarette zwischen den Lippen. Ich lächelte ihm zu, während ich ihm die Hand entgegenstreckte:

«Gut gespielt Kommissar… Diese Runde haben sie gewonnen.»

Die Bullen sind in mein Appartement eingedrungen. Man legte mir die Handschellen an und der Kommissar Leclerc und der Staatsanwalt traten ein. Er schüttelte mir die Hand:

«Danke, Mesrine.

- Wofür?

- Wir haben mit dem Schlimmsten gerechnet.

- Ich hab das Spiel gespielt, mein Herr Staatsanwalt… Nichts als das Spiel.»

Dann, mich an Francine zurückwendend, dem man die Hände frei gelassen hat:

«Magst du uns etwas Champagner einschenken?»

Mit vollen Gläsern stiess ich mit Broussard, Leclerc und den anderen an. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen.

Jacques Mesrine, L’instinct de mort, 1977

Die Mafia war also nie bloss die Machtanwendung von einigen über viele, sondern vor allem ein ausgedehntes Sozialnetz (das auf politische, wirtschaftliche und moralische Grundlagen gebaut war), in dem die Gemeinschaften selbst, mit all ihren Schichten, ein wichtiger Teil waren. Die verbreitete Komplizenschaft und Zusammenarbeit mit mafiösen «Institutionen» seitens der «Randbevölkerung», die wir heute vor Augen haben, ist bestimmt tiefgreifender und schlimmer, als die Vorstellung der schlichten Erpressung, die uns die Medien auftischen wollen.

Zweifellos hat sich das, was die Individuen durch diese «gemeinsamen Werte» verband, in dem letzten Jahrhundert verändert, oder besser gesagt, die früheren Werte wurden durch andere ersetzt. Werte, die der modernen Wirtschaft und den modernen Machtverhältnissen besser entsprechen: Der antike ritterliche Mythos der Ehre, des «Paten», hat sich in einen Mythos der Gewalt, der Vorstellung von absoluter territorialer Kontrolle verwandelt, in einen Kult der Waffen- und Geldanhäufung. Ein neues Modell; weniger, weil die alten Mafiosi davon befreit waren, sondern eher, weil es eine ausschlaggebende Rolle spielt und es keine katholische Rechtfertigung mehr gibt. Wir könnten provokativ von einem entschieden amerikanischeren Modell sprechen. Kurzum, eine junge Mafia, die den Mythos der goldenen Rüstung und des weissen Pferds, den «Respekt» der Familie und der Ehre, durch das kreieren des eigenen Mythos, durch die Zurschaustellung seiner Omnipotenz ersetzt: Ein junger Angehöriger einer Paranza [1] strebt nicht danach ein «kühner Ritter» oder ein «einflussreicher Grundbesitzer» zu werden, ihm liegt nichts daran respektiert zu werden; er träumt davon, ein gefürchteter Ganganführer zu sein, bedeckt mit Waffen und Dollarnoten, in einem kitschigen Auto zu sitzen, in Begleitung von halbnackten Frauen. Tragischerweise unterscheiden sich die Mythen der «jungen Mafiosi» nicht besonders von jenen vieler aufgebrachter Jugendlicher in den Peripherien der grossen Metropolen: Die Einen sowie die Anderen sind die Kinder des modernen Zeitalters. Innert kürzester Zeit hat sich diese kulturelle Auffassung zu einem «diffusen Nihilismus» entwickelt, in dem das Leben weder für den Mafiosi, noch für seine Nacheiferer und Bewunderer irgendeinen Wert besitzt – weder das Seine noch das der Anderen. Was zählt, ist gefürchtet zu werden; zu sehen wie die Anderen ihre Blicke beim vorbeigehen senken, ihre Gier nach angehäufter (menschlicher und materieller) Ware zu spüren. Egal um welchen Preis.

Um die aktuelle Situation zu verstehen – und so gut wie möglich der Zersetzung alter und neuer Mythen beizutragen – lohnt es sich einen Schritt zurück zu machen. In der Entstehung und besonders in der Entwicklung der Mafia sind klare Parallelen zum Banditentum zu erkennen. Was nicht heissen soll, dass es sich um ein und dieselbe Sache handelt: Dies ist alleine schon offensichtlich, wenn man die (anfängliche) soziale Stellung der Mafiosi mit jener der Banditen vergleicht. Was dazu führt, dass sie gar nicht anders können als sich in ihren Strategien und Praktiken grundlegend zu unterscheiden. Das einzige Vergleichbare an ihnen, ist – oder war – die verbreitete «moralische Komplizenschaft» in der Bevölkerung.

Für den Banditen war die Flucht, die Bande und der Illegalismus eigentlich immer eine erzwungene Wahl: Es gibt hunderte von Geschichten über Männer, die aufgrund von Ehrendelikten vor den Soldaten und der Polizei auf der Flucht waren. Der Bandit wurde nicht dafür beschützt und bewundert, weil er das Eigentum als solches angriff, sondern für seinen Wert, für die geteilte Tat, die ihn in die Klandestinität gezwungen hat. Den Geliebten der Frau umgebracht zu haben, einen Machtmissbrauch gegen ein Familienmitglied ausgeglichen zu haben, eine Beleidigung oder Verleumdung blutig gerächt zu haben…. sind bloss einige Beispiele.

Sowie es für den alten Mafiosi vielmehr das allgemeine Teilen einer ursprünglichen Tat war (vor allem unter Bauern), was ermöglichte, einen Banditen zu einem Helden zu machen, als das, was er danach tat.

Um sich vor Auge zu führen, was eine auf Ehre und Mut basierende Legende ist, reicht es aus zu sehen, wie noch heute, sechzig Jahre später, die Figur des sizilianischen Banditen Salvatore Giuliano positiv gewertet wird. Es war ein ehrenvoller Mann, ein Christ, ein mutiges Individuum, das dem italienischen Staat (der als fremde Macht angeschaut wird) bewaffnet entgegentrat. In der Entstehung und Übermittlung des Mythos interessiert es wenig, dass Giuluiano erst von amerikanischen Geheimdiensten und dann von der Mafia beauftragt war, um schliesslich zum bewaffneten Arm der anti-sozialistischen Reaktion zu werden, die auf inszenierte und auswechselbare Weise von den latifundistischen Familien und dem italienischen Innenministerium von Scelba geführt wurde.

Noch heute ist dieser Bandit in der Fantasie des Volkes eine Legende. Sosehr, dass sogar gewisse Gefährten – mit der schwülstigen Sprache von Politikern – es fertig bringen ihn zu Zitieren, und so tun als ob sie das Wesentliche vergessen hätten: Giuliano war ein Mann der Reaktion, ein Mann in den diensten der Macht, ein Mann der – vielleicht mit der Hilfe von Valerio Junio Borgehse [2] – nicht zögerte mit Maschinenpistolen und Handgranaten auf Bauern zu schiessen, die sich am ersten Mai ihr Land zurückerkämpfen wollten.

Schliesslich ist es eben die Legende – als das, was die Banditen und den Mafiosi immer begleitet hat und viele der geltenden sozialen Beziehungen bestimmt, –, die dringend in Frage gestellt werden muss. Denn noch heute, auch wenn die Zeiten der Banditen und Bauern vorbei sind, bezahlen wir den Preis dieser Mentalität, dieser Geschichte und – warum nicht auch – dieser Politik. Ohne allzu weit zu suchen, kann man sehen, wie die selbe unkritische und moralisierende Mentalität, wie die der Bauern der Vergangenheit, in der Welt der sogenannten antagonistischen Publikationen auftaucht – in den internen Debatten von breiten, mehr oder weniger subversiven Strömungen und in den Perspektiven zahlreicher Gefährten.

Gewiss auf unterschiedlichen Ebenen und bestimmt von unterschiedlichen Modellen.

Es sind nicht mehr die Ehre, die patriarchale Kultur und die christlichen Werte, die dazu führen, dass die verstreute Ohnmacht und Frustration im Mythos der Illegalität eine Zuflucht finden, sondern etwas viel neueres und natürlich etwas, das, wie wir sehen werden, mit der heutigen Zeit einhergeht.

Die neuen Modelle, die neuen Mythen, auf welchen sich die fast schon voyeuristischen Fantasmen der modernen Rebellen entfesseln, sind die Bewaff­neten Räuberbanden der Siebziger, das zwischen Separatismus und Rebellion pendelnde sardinische Banditentum, aufgebaut auf Mord und Entführungen. Es ist der «kriminelle Einzelgänger» und der hartgesottene Schmuggler. Letztendlich wirft man Mesrine, Vallanzasca[3] und Mesina [4] zusammen mit dem ganzen Untergrund von einigen Jahrzehnten der organisierten Malavita in den selben Topf.

Nicht das eine solche Mixtur heute noch einen Skandal hervorrufen müsste. Es ist eher normal, dass in einer Epoche wie der unseren, in der es scheint, das jegliche revolutionäre Perspektive und ebenso die Fähigkeit von einer anderen Gesellschaft zu träumen von uns geschieden sind, von überall her die alten Fantasien von den einsamen Helden und sozialen Rebellen ausgegraben werden. Das ist nichts fremdartiges, es ist schlicht der Triumph der Resignation: Wir können die Revolution nicht mehr machen, wir glauben nicht mehr daran. Wozu sollten uns noch die revolutionären Ideen und Perspektiven oder die Erfahrungen der Gefährten aus der Vergangenheit dienen? Zu nichts. Es ist also – für die Verherrlicher der Malavita – besser, dem sozialen Rebellentum zu vertrauen, es zu bewundern und zu betrachten: Dies führt vielleicht genauso zu nichts, doch es verschafft zumindest den Trost, per procura ein andres Leben zu führen. Ein Bisschen so, wie die Bauern es früher taten, doch auf eine etwas deformierte Weise.

Mit dem Triumph der als Revolte verkleideten Resignation, wird jede reelle Erfahrung negiert und, im besten Falle, schlichtwegs vergessen. Das Bild der zischenden Kugeln, der Bullen, die fallen und der ausgeraubten Banken, lässt vergessen, dass die besagten Helden weder revolutionäre Bestrebungen, noch einen Wunsch nach Veränderung hatten. Die Helden griffen zwar das Eigentum an, jedoch aus dem Verlangen nach mehr, und in gewissen Fällen, aufgrund des reinen Adrenalins. Viele dieser «Modelle» nahmen die Menschen gefangen. Sie lebten in dem Kult der Männlichkeit und Kraft, sie glaubten an die Medien und verehrten die Ware, einige handelten mit Drogen und zeigten sich den Prostituierten gegenüber nicht abgeneigt. Gewiss, wenn man so um sich schaut, könnte man ihnen fast nachtrauern: Es bestand eine Ethik, der Sinn für Ehre (sofern er angenommen wird) war wenigstens nachvollziehbar, der Sinn der Feindschaft gegen die Autorität (zumindest gegenüber der ersichtlichsten Autorität) war deutlich und die Verweigerung der Industriearbeit und ihre Verdammung zu einem «Proletarierleben» war für einige eine Ausgangsbasis.

Das Glück liegt in der best möglichen Befriedigung unserer Sinne, dem grösstmöglichen Gebrauch unserer Organismen, in der möglichst uneingeschränkten Entwicklung unserer Individualität. Wir suchen nach ihm, in der himmlischen Glückseligkeit, in der Ruhe des Zurückziehens, in der sanften Ausgeglichenheit des Zufalls.

Dass wir täglich auf das Glück setzen, das wir sosehr suchen. Wir verlieren es im Namen der Ehre des Vaterlandes, der Ehre des guten Rufes und der ehelichen Ehre. Für ein Wort, für eine Tat, greifen wir nach einem Gewehr, einem Dolch oder einem Revolver, und richten unsere Brust gegen andere Gewehre, einen anderen Dolch, einen anderen Revolver, für das Vaterland, für den guten Ruf, für die ewige Treue.

Wir suchen das Glück und das Lächeln einer Frau (oder eines Mannes, je nach Geschlecht) reicht aus, um es für lange Zeit weit von uns weg zu jagen. Wir bauen unser Glück auf Treibsand, auf dem bröckligsten Boden entlang der Ozeane, und wir schreien wenn es uns verloren geht, mitgerissen von den sich zurückziehenden Wellen oder von der Bewegung der Erde. Wir bauen Kartenhäuser, die schon der geringste Windstoss wieder umwirft, und sagen dann: «Das Glück ist nicht von dieser Erde.»

Nein, das Glück, derart wie man es uns gezeigt hat, derart wie es uns die Jahrhunderte von körperlicher und geistiger Sklaverei erkennen liessen, existiert nicht. Doch es existiert: Jenes das aus der best möglichen Befriedigung unserer Sinne in jedem Moment unseres Lebens besteht.

Lassen wir die Stadt des Glücks aufbauen, aber lasst uns deutlich sagen, das dies nicht möglich ist, auf all den Trümmern, auf all den Vorurteilen, auf all den anderen geistigen und moralischen Städten, die man in seinem Namen aufbaute. Lasst uns all unsere Bildung, all unsere heutigen Vorstellungen der Dinge dahin tragen. Verlassen wir Gott und seine unermesslichkeit, die Seele und ihre unsterblichkeit, das Vaterland und seine Ehre, die Familie und ihr guter Ruf, die Liebe und ihre ewige Treue.

Albert Libertad, A la conquête du bonheur, 25 oktober 1906

Trotz der rasanten Veränderungen, die das letzte Jahrhundert geprägt und Stück für Stück die Beziehungen und die Möglichkeiten der Individuen modifiziert haben, bis zu einem Milieue der «aussergesetzlichkeit», stossen wir in den letzten Jahrzehnten erneut auf die selben geteilten Werte, die selben moralischen Gründe, die den Malavitoso mit seiner ursprünglichen Gemeinschaft verband, mit dieser proletarische Grundlage, die diese besondere Art von Sprache und diese Wut bewunderte und verstand. Ein vielleicht nicht immer sehr klares Verständnis und mit variierenden Einschätzungen die von einzelnen Positionen abhängen, doch ein Verständnis, das im Grunde, durch das Gefühl, aus den selben Klassenumständen, aus der selben «Unerträglichkeit» zu stammen vereint.

Man kann sagen, dass mit dem Verschwinden der alten Produktionsmodelle, der Demontage der grossen Industrie und letztendlich mit dem Überholen des fordistischen Modells, auch die europäische Arbeiterklasse verschwindet. Das was der Kapitalismus mit der industriellen Revolution an (wenn auch fiktiver) Gemeinschaft geschaffen hatte, wurde in den 70er und 80er Jahren liquidiert. Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wurden Millionen von Menschen aus den ländlichen Gemeinschaften entrissen um sie in den Peripherien der grossen urbanen Zentren zusammenzupferchen. Sie waren die neuen auszubeutenden Sklaven, für das gute Funktionieren der entstehenden Grossindustrie. Diese Frauen und Männer, diese Weisen der alten Welt der Landwirtschaft, sahen sich plötzlich eingepfercht zwischen tausenden von Unbekannten wieder, die alle aus verschiedenen Geschichten und Orten stammten. Eine neues «menschliches Agglomerat», das durch die neuen wirtschaftlichen Anforderungen und mit neuen, spezifischen Gemeinschaftsmerkmalen erschaffen wurde. Jeder lebte neben dem anderen: In den selben Schlafquartieren, in den selben Fabriken, den selben Strassen. In einem Wort, alle lebten in dem selben Elend, erlitten die selbe Ausbeutung und hatten die selben Bosse: Der Feind war deutlich, allen gemeinsam und gut zu identifizieren.

Aus diesen Umständen, die gezwungenermassen, wenn auch paradoxerweise von den Bossen geschaffen wurden, entstanden die Arbeiterkämpfe, die vor 30-40 Jahren in zahlreichen europäischen Städten entflammten.

Das Zusammentreffen von Unterschiedlichen Menschen unter den selben sozialen Bedingungen hatte den sozialen Krieg ausgelöst und dieser Krieg musste gestoppt werden. Die selbe wirtschaftliche und produktionsorientierte Logik, die von jahrlangen Streiks, Blockaden und Sabotagen unteminiert worden war, musste nun irgendwie eine Lösung finden. Umso mehr, da der «Wirtschaftsboom» das Gespenst dessen vorausahnen lies, was sich heute klar zeigt: Die Invasion der Ware und die Sättigung des Marktes.

Die Technologie kam den Kapitalisten zu Hilfe. Durch die Entwicklung neuer und innovativer Mittel, insbesondere der Informatik, hat sich die Industrie mit einem erstaunlichen Rhythmus weiterentwickelt und umgeformt. Die Möglichkeit die Geschwindigkeit des Transportes, der Kommunikation und der Produktion zu erhöhen, erlaubte die Ausbreitung der Fabriken in alle Teile des Planeten. Wir stehen nicht länger der «grossen Industrie» mit ihrem mächtigen Boss gegenüber, sondern hunderten von Fabriken, die untereinander koordiniert sind und von nebelhaft erscheinenden Geschäftslobbys verwaltet werden.

Mit der industriellen Umstrukturierung verschwindet unausweichlich auch die Möglichkeit der «proletarischen Begegnung», diese Form von Gemeinschaft, die mit der Konzentration von Menschen in den grossen Fabriken entstanden ist. Zusammen mit dem Proletariat verschwindet all das, was das diffuse Zugehörigkeitsgefühl ausmachte und für alle die Illegalität begreiflich machte – ob sie revolutionären Bestrebungen nachging oder schlicht und einfach mit einer sozialen Rebellion verbunden war.

Das, was die letzten Jahrzehnte beherrschte und die Verfestigung der Resignation ermöglichte, ist die Entfremdung. Ein diffuses Gefühl von Einsamkeit, in dem jeder versucht «über die Runden zu kommen», ohne Träume und ohne Hoffnung auf irgendeine reelle Veränderung. Eine Welt, in der die Menschen täglich hinnehmen, in der sie sich jedoch von nun an, aufgrund ihrer Unfähigkeit eine neue, gemeinschaftliche Sprache zu entwickeln, ausserhalb der sozialen Realität befinden.

Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass der kapitalistische Fortschritt seine volle Verwirklichung erreicht hat, wohl aber, dass die Dialektik zwischen den Klassen tot ist, selbst wenn der Klassenantagonismus noch immer sehr lebendig bleibt. Das was sich da mit übermässiger Gewalt bewegt, ist ein «Schiff mit zerbrochenen Rudern», das direkt auf die Felsen zusteuert. Die Besatzung beobachtet beunruhigt was passiert, doch versteht nicht, kann die Ruder nicht reparieren, versucht den Kurs zu halten, hat keine Erwartungen mehr. Rund um das und auf dem Schiff herrscht Leere – die Leere in den Köpfen und in den Herzen, die Leere der «Hypothesen und Hoffnungen».

Eben dieser Leere müssen wir uns bewusst werden. Und von ihr müssen wir ausgehen, wenn wir den Wiederaufbau einer revolutionären Hypothese versuchen wollen. Wir müssen fähig sein zuzugeben, dass wir – ja, auch wir – die Weisenkinder von allem sind. Und wir werden bestimmt nicht durch das ausgraben alter Legenden zu neuen Möglichkeiten finden: Die dringendste Notwendigkeit besteht darin, uns von all den Hindernissen zu befreien, die etwas auszufüllen versuchen, das nicht ist. Nicht aus Liebe zur Geschichte, sondern viel eher um eine reelle Kritik an der Gegenwart aufzubauen. Denn, wenn der Mythos zur Darstellung der modernen Resignation schädlich ist und zum Windschirm wird, hinter dem die revolutionären Waffen niedergelegen werden, so wird er noch schädlicher, wenn man versucht ihn auf die aktuellen sozialen Verhältnisse, auf die allesverzehrende Entfremdung anzuwenden.

Der Versuch die gegenwärtigen Lücken in der Kritik, in der Praxis und in der revolutionären Entschlossenheit durch das Übernehmen von Erfahrungen der Malavita (oder noch schlimmer, der Mafia) der Vergangenheit aufzufüllen, um sie dann auf die Gegenwart anzuwenden, wird uns nicht helfen, einen präsentablen Blickwinkel auf den weitverbreiteten Zustand des sozialen Rebellentum und seiner Charakteristiken zu geben. Genauso wenig nützt es uns, für einen Moment die Illusion zu haben, doch nicht so alleine in unserer offenen Feindschaft zu sein, indem wir alle Widerstrebigen, die das Gesetz übertreten als Komplizen betrachten.

Es tut mir leid, aber es geht nicht darum, wie wütend, wie arm und unglücklich man ist, welche und wie viele Verbrechen man beging, sondern viel mehr um die Qualität der Taten und um das Warum. Der Illegalismus unterscheidet sich keineswegs von dem Legalismus, weder im Mythos noch in der Praxis. Die Wut eines Entfremdeten verändert die Gesellschaft genauso wenig, wie es ein Resignierter tut. Es mag banal erscheinen, doch das was die zu begehende Tat bestimmt, sollte eine Perspektive sein; eine Entscheidung, eine Abwägung und eine Überschneidung zwischen den Mitteln und dem Zweck, die – zumindest für jene, die noch nach der Freiheit streben – den moralischen und juristischen Abwägungen entgeht.

Zur Frage steht, warum wir rebellieren, und nicht die Rebellion an sich. Die Barbarei die um uns umgibt hat nichts mit der Hypothese über den «Fall der Kosaken» zu tun, wonach die neue Welt aus dem Bewusstwerden des Konfliktes entstehen könne oder aus der vorbestimmten Erschaffung einer Harmonie und einer aus dem Chaos geborener Gegenseitigkeit. Was uns umgibt, das ist der Bürgerkrieg, gefüllt mit Hass, Gewalt und Irrationalität. Das Trugbild, das uns die moderne Wut erkennen lässt, ist das Massaker zwischen Armen, das ethnische und/oder ideologische (religiöse und politische) Schlachten: Es ist die alte reaktionäre Scheisse, getarnt und verstärkt durch den Fortschritt, die Moderne, die schleichende Entfremdung und die Leere.

Es bringt nichts Mesrine oder den «Batterien» [5] der siebziger Jahre neues leben einzuhauchen, um den aktuellen sozialen Konfrontation einen Sinn zu geben. Es gab damals nichts revolutionäres an dem Rebellentum sowie es daran auch heute nichts revolutionäres gibt, weder bewusst und (wie es wohl vielen Gefährten gefallen würde) noch viel weniger unbewusst.

Viel interessanter wäre hingegen zu sehen, wie dieser Annäherungsversuch eine politische Praxis mit sich führt, die versucht anderen etwas in den Mund oder in die Hände zu legen, an dem sie nicht teilhaben und an dem sie auch nie teilhaben wollten. Denn die jungen Gauner, die Steine gegen die Polizei werfen und Autos und Schulen anzünden, haben nie jemanden darum gebeten ihnen nach Mass ein kritisches Bewusstsein zuzuschneiden, das sie präsentabel macht. Genau so wenig fragten die jungen Diebe oder Dealer auf der Strasse danach. Und ausserden glaube ich – trotz der florierenden Auflagen – nicht, dass die alten Banditen jemals von irgendwelchen armseligen Linken oder enttäuschten Revolutionären verlangten, ihr Anwalt oder Biograph zu werden. All dies ist, ein weiteres Mal, die Frucht der krebsartigen Politik und des Wurmes der Ohnmacht, der daran nagt.

In einem System, in dem ein Drittel der Wirtschaft informell abläuft und von der Mafia bestimmt wird; in dem Entscheidungen oder Umstände, die gegen das Gesetz verstossen, sich nur schwerlich von der (mehr oder weniger starken) Kontrolle der grossen kriminellen Organisationen loslösen kann, wäre es bestimmt interessanter, die Aspekte, die Reichweite und die Gewalt der Ausbeutung, die an diese übergeordneten Strukturen gebunden ist, abzuwägen. Die Macht der Mafia in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen ist nicht ein kleines vernachlässigbares Teilchen der Gesellschaft, sondern eine tragende Säule des modernen Kapitalismus. Der Angriff auf den grössten Teil der aktuellen aussergesetzlichen Mechanismen (natürlich gibt es Ausnahmen) wird genauso grundlegend, wie der Angriff auf die produktiven, politischen, repressiven, sozusagen legalen Mechanismen. Sie beide sind das Produkt des selben Monsters. Oder besser: Sie sind das Monster.

Es ist dieses Monster, das den Bürgerkrieg formt und über die heutigen Klassenverhältnisse herrscht. Erinnern wir uns immer und immer wieder daran, dass es zwischen rebellisch, wütend, «delinquent» und subversiv, revolutionär einen beträchtlichen Unterschied gibt. Die ersten Keime der Veränderung, der Bewahrung einer Verhaltensethik, des Traums einer anderen Gesellschaft müssen aus Taten und Worten hervorkommen. Sicherlich muss zu dem sozialen Konflikt beigetragen werden, doch indem wir ihn mit unserer Konfliktualität füllen. Mit unseren Hypothesen, unseren Experimenten und und unseren Begierden. Die Wut ist ansteckend und die aktuellen sozialen Umstände blasen nur noch mehr in das Feuer. Schade, dass das Streben nach Freiheit und die Bedeutung einer individuellen Ethik nicht genauso ansteckend ist. Gerade deshalb ist es grundlegend, dass alle Taten und Worte stehts mit den Zielen verbunden sind, dass es den (legalen oder illegalen) Aktionen gelingt, das Warum zu übermitteln, den Traum, der dahinter steckt. Denn der Feind meines Feindes wird nie -a priori- mein Freund sein, denn kein Ziel kann jemals die Mittel rechtfertigen. Denn es ist Zeit, dass die Verantwortlichen dieser Gewalt und dieses Missbrauchs bezahlen. Denn es ist Zeit, die Bedeutung von Worten wie Freiheit und revolutionärer Gewalt wieder aufzudecken.

Il Mugnaio Menocchio

[1] Paranza: Eine (oft bewaffnete) Gruppe, die der Mafia angehört.

[2] Junio Valerio Borghese: Ein wichtiger Verantwortlicher des Faschismus, Kommandant der Division X Mas. In der Nachkriegszeit versuchte er die faschistische Partei wieder aufzubauen und inspirierte verschiedene illegale rechtsextreme Bewegungen. All dies, während er mit den italienischen und amerikanischen Geheimdienste in Verbindung stand. In den siebziger Jahren versucht er einen Staatsstreich.

[3] Renato Vallanzasca (1950-): Ein bekannter mailändischer Bandit und „Mythos“ der Malavita der Siebziger. Er stand wegen verschiedenen Raubüberfällen, Morden, Entführungen und Knastausbrüchen vor Gericht. Er ist bekannt für seine Verführungskünste (so hatte er ein Verhältnis mit einer jungen Entführten und seiner Anwältin,… die ihm half, aus dem Knast zu fliehen). In den Zeitungen war er bekannt als der „schöne Rene“. Er sitzt noch immer im Knast (sein Antrag auf Begnadigung wurde 2007 abgelehnt).

[4] Graziano Mesina (1942-): Ein bekannter sardinischer Bandit. Er führte verschiedene Geiselnahmen durch (Geschäftsleute, Grundbesitzer, Industrielle) und wird zu verschiedenen Morden beschuldigt. Nach vielen Jahren im Knast wurde er 2004 Begnadigt.

[5] Batterie: Ein Übername, der von der Malavita den Banden gegeben wird.


Veröffentlicht in A Corps Perdu, internationale anarchistische Zeitschrift, Nr. 1, Mai 2009.