Herausgegeben von der Züricher Gruppe der Anarchistischen Internationale

Das „Rote Buch“ über die Politik der Völker im Krieg.

Ein Aufruf an Arbeiter, Arbeiterinnen und Soldaten aller Länder.

1917

An die Völker aller Länder!

« Die Wahrheit ist weder eine Abstraktion, noch ein Produkt der persönlichen Willkür, sondern sie ist der logische Ausdruck derjenigen Kräfte, die in den Volksmassen leben und wirken. Es kommt öfters vor, dass die Massen — aus Kurzsichtigkeit oder Unwissen — vom geraden Wege, der direkt zu ihren Zielen führt, abweichen und in den Händen der Regierungen und der privilegierten Klassen zu Werkzeugen zur Erlangung von Zielen werden, die ihren eigenen Lebensinteressen absolut widersprechen. »

M. Bakunin.

« Unsere Gesellschaft ist nichts anderes, als ein Labyrinth des Verrates, ein öffentliches Schlachthaus, wo jedermann es darauf absieht, seinen eigenen Kopf auf Kosten eines fremden zu bewahren...

Ist unabhängig der Hund, dem sein Eigentümer die tägliche Portion vorbehält? Sind unabhängig diejenigen, deren Freiheit, Körper und Seele einem Cäsar angehören, weil dieser Cäsar ihnen durch Steurern verschiedene Privilegien sichert?

Wenn sie dir sagen, dass sie glücklich sind, lügen sie...

Schmiede das Eisen, Freund! Und mögen die Stunden der Arbeit dir kürzer werden, als mir die Stunden meiner Einsamkeit...

Der Arbeiter, das ist der einzig ideale Mensch, wie er sein wird, wenn alles Monopol aus der Welt verschwindet... »

E. Coeurderoy.


Einstmals ist es das Unglück der Könige gewesen, dass sie nicht die Wahrheit hören wollten. Heute ist es ein Unglück der Völker, dass sie die Wahrheit nicht begreifen wollen.

Bald drei Jahre dauert bereits das blutige Bad, welches die Regierungen aller Länder in Einvernehmen mit ihren imperialistischen Kreisen in der ganzen Welt verursacht haben. Mit einer Grausamkeit ohnesgleichen wurden ganze Völker ihren Heimen entrissen, in farbige Soldatenkittel gesteckt und in schmutzige Schützengräben hineingepfercht, um als billiges Kanonenfutter für die Erlangung von räuberisch-imperialistischen Zielen ausgenutzt zu werden.

Und ihr, Völker, ihr, friedliche und friedliebende Arbeiter, ihr habt euch überall von euren verbrecherischen Regierungen überrumpeln lassen, ihr liesst euch zu willenslosen Hampelmännern, zu blinden Werkzeugen des Todes und der Vernichtung machen. Und indem ihr euren Regierungen Gehorsam leistetet, indem ihr euch bereit erklärt habt, in den mörderischen Krieg einzuwilligen, seid ihr selbst ebenfalls zu gemeinen Mördern und Brandstiftern, zu erbärmlichen Verbrechern gegen eure Brüder in andern Ländern, gegen die menschliche Kultur, gegen die ganze Menschheit geworden.

Wie konnte das in unserem Zeitalter geschehen? Wie konntet ihr euch zu einer derartigen Schandtat hergeben? Habt ihr euch denn nicht, wie es eigentlich jeder gut oder schlecht handelnde Mensch tun soll, die Frage gesteht, wozu ihr in’s Feld zieht, welchen Zielen ihr dient, wofür ihr eure Brüder von jenseits der Grenze niederschiesst und euch selbst ermorden lässt? Ist in euch denn nie der Gedanke aufgetaucht, dass es mit der «Verteidigung des Vaterlands» vielleicht nicht so idillisch-einfach bestellt ist, wie es euch eure Vorgesetzten einreden, und dass die Rolle von «Vaterlandsverteidigern» in Wirklichkeit vielleicht eine wenig ruhmvolle, ja eine erniedrigende Rolle von Eindringlern, Dieben und Mördern ist ?

Übrigens, nützt es jetzt wenig, das Geschehene platonisch zu beklagen. Es ist auch weniger eure Schuld, als euer Unglück gewesen. Ihr seid von Kind auf durch die staatliche Schulerziehung zu unselbstständigen, gefügsamen Maschinen erzogen worden. Man hat euch mit der Milch der Mutter verderbliche, falsche Begriffe einsaugen lassen, von denen ihr euch nicht leicht trennen könnt, weil sie euch in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und es ist immer schwer, sich vom eigenen Fleisch und Blut zu trennen, Gesinnungen, mit denen man sich eingelebt hat, auf einmal abzustreiten, alte Heiligtümer in’s Feuer zu schleudern, Göttern und Götzen untreu zu werden. Es ist schwer, ein neuer Mensch, ein neues Wesen zu werden. Dazu bedarf es mächtiger Erschütterungen, tragischer Erlebnisse, bedeutungsvoller, tiefwiegender Katastrophen.

Heute, wo die Weltkatastrophe da ist; wo die Erde das dritte Jahr unter der kolossalsten, grässlichsten aller Erschütterungen erbebt; wo die ganze ausgehungerte, verdorbene, in’s Verderben geschleuderte und verstümmelte Menschheit sich in der Suche nach Rettung in konvulsiven Todeskrämpfen hilfsrutend und hilfslos windet; wo die Tränen der trauernden Mütter, Witwen und Kinder den Boden bis in seine tiefsten Tiefen durchtränken und sich in breiten Flüssen in die Meere ergiessen; wo die Luft von Stöhnen und Schluchzen und Fluchen erzittert und das vergossene schuldlose Blut nach blutiger Rache schreit, — heute, Völker, ist es höchste Zeit, Vernunft anzunehmen, dem wütenden Greuel ein Ende zu machen! Auf, Völker, an die Arbeit! Zerstört die Gegenwart und schmiedet die Zukunft. Ihr habt Grosses zu vollbringen, ehe die Sonne ihre Strahlen wieder in die Erde senkt, denn morgen darf die Erde nicht mehr vor Scham für die Menschheit erröten, wenn sie der Sonne in’s stolze Antlitz schaut. Ist es nicht auch für die Menschheit bereits Zeit, in stolzer Befreiung erleichtert aufzuatmen?

Arbeiter aller Länder, Arbeiterinnen, Soldaten!

Der verbrecherische Weltkrieg ist von den Imperialisten aller Nationen seit lange gewollt und heraufbeschwört, er ist von allen Regierungen seit lange vorbereitet worden. Jedoch um ihn zur Ausführung zu bringen, mussten sich die Regierungen eurer Zusage ganz sicher sein. Um diese aber zu erhalten, mussten sie euch in Bezug auf die Gründe und Ziele de[s] Krieges belügen. So haben sie es auch überall getan. Und — merkt wohl! — eure patentierten Volksvertreter aller Richtungen und Parteien sind ihnen dabei hilfreich entgegengekommen und stellten sich bei dem ersten Signal, ohne sich um eure Meinung in der Sache zu bekümmern, auf ihre Seite.

Und ihr?

Ihr habt euch in allen Ländern von euren Regierungen belügen, von euren Volksvertretern verraten lassen.

Gelogen hat die Regierung Oesterreichs, als sie den Krieg mit dem Attentat von Serajewo begründen wollte. Der Prinzenmord ist nur ein erwünschter und langgesuchter Vorwand zum Blankziehen der Waffen gewesen.

Gelogen hat die Regierung Deutschlands, als sie dem Krieg den Anschein einer hohen kulturgeschichtlichen Mission «gegen die russiche Barberei» gab. Das, was seit Jahrunderten die Grundlage der russischen Barbarei bildete, das verhasste Zarentum, ist für die deutsche Monarchie stets ein heiligstes Symbol gewesen und hat sie nie die Absicht gehegt, es irgendwie zu gefährden. Die deutsche Monarchie ist immer der treueste prinzipielle Verbündete des Zarentums gewesen. Das russische Volk dagegen hat, indem es während dem Kriege, durch eigene Kraft und gegen den Willen aller Regierungen mit dem Zarentum fertig wurde, der ganzen Welt den Beweis dafür gegeben, das es vom barbarischen Zustand sehr weit entfernt ist, und es kann von nun an allen Völkern als nachahmungswertes Beispiel dafür dienen, wie mit verbrecherischen Regierungen verfahren werden muss.

Gelogen hat die Regierung Frankreichs, als sie mit einer ebenfalls kulturgeschichtlichen Mission in’s Feld zog und dien Völkern den Krieg als eine heilige «demokratische» Croisade «gegen das deutsche Junkertum» und «gegen den deutschen Militarismus» vorspiegelte. Etwas niederträchtigeres, als diese hypokritische Behauptung, ist noch überhaupt nie aufgekommen: eine «Demokratie», die sich vorhin nicht geschämt hat, im Laufe eines Vierteljahrunderts die treueste Verbündete und finanzielle Stütze der reaktionärsten Monarchie des Kontinents zu sein, hat jedes moralische Recht verloren, ihre Freiheitsliebe öffentlich zu verkünden und sich in betrügerischer Selbstpreisung dem «deutschen Junkertum» entgegenzustellen. Was nun die tatsächlichen «Vorzüge» der französischen Republik der deutschen Monarchie gegenüber anbelangt, so wäre den demokratischen Schreiern ein nur ganz schweigsames Verhalten darüber anzuempfehlen. Das französische Volk weiss diese «Vorzüge» gut zu schätzen. Die vielbesungene «politische Gleichheit» der demokratischen Kultur ist überhaupt nichts anderes, als ein infamer Massenbetrug. Sie dient, wie jede andere bürgerliche Staatsform, der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und wird als Mittel zur besseren Deckung der ökonomischen Ausbeutung der arbeitenden Klassen angewandt Die ganze Philosophie der modernen demokratischen Kultur besteht nur darin, aus stimmlosen Sklaven stimmberechtigte Sklaven zu machen, ohne dabei das schamlose Institut des Sklaventums, der kapitalistischen Ausbeutung abzuschaffen. Eine derartige «Gleichheit», Arbeiter, habt ihr nicht nötig! Das ist eine Gleichheit im Sklaventum, ihr aber strebt nach Freiheit in der Gleichheit.

Gelogen hat die Regierung Russlands, als sie angab, zur Verteidigung Serbiens den Degen aus der Scheide ziehen zu müssen. Das Zarentum, das bei sich im Lande und im fernen Osten eine Unmasse von grossen und kleinen Völkern ökonomisch und politisch unterjocht, das seit jeher seine geschichtliche Aufgabe darin sah, jeden Keim von Volksfreiheit zu unterdrücken, — das Zarentum hat die Frechheit besessen, der ganzen Welt gegenüber eine derartige Lüge vorzuhalten! Und die zu Gunsten der Entente verrückt gewordene «ganze Welt» hat dem automatischen «Befreier» Serbiens heuchlerische Lobgesänge gewidmet. Der Blutigel, dessen Regierungsweise an Grausamkeit der mittelalterlichen Inquisition nahekommt und dessen Existenzmöglichkeit eine Schmach für die menschliche Kultur gewesen ist, wurde von der internationalen! demokratischen! Presse als sanftester und mildester Mensch schweifwedelnd besungen! Ein Beispiel dafür wie grenzlos die demokratische Niedertracht eines imperialistischen Jahrhunderts ist!

Gelogen hat die Regierung Englands, indem sie die Verletzung der Neutralität Belgiens als ethischen Grund ihres kriegerischen Eifers angab. Irländer, Aegypter, Boeren und Indier können ein langes Lied über englische Freiheitshebe singen. Das ganze englische Reich ist ja nichts anderes, als ein geschichtliches Denkmal der Vergewaltigung von Völkern und Völkerschaften, ein Denkmal, das auf Knochen und Blut schwimmt!

Alle ohne Ausnahme haben sie gelogen. Und ihr habt euch von ihnen überall mit Hilfe eurer patentierten Volksvertreter belügen und in’s Verderben stürzen lassen.

Ja, Arbeiter aller Länder, eure Volksvertreter haben an euch den niederträchtigten, den gemeinsten Verrat verübt. Und ihr werdet mit ihnen zu gleicher Zeit, wie mit euren Regierungen, abrechnen müssen.

Verrat an der internationalen Völkersoldarität haben sie geübt, als sie euch unter dem lügnerischen Vorwand der «Vaterlandsverteidigung» zu gegenseitiger Vernichtung riefen. Proletarier besitzen kein Vaterland und haben daher auch nichts zu verteidigen. Die künstlichen Staatsgrenzen, die die Erde in nationale Reichseinheiten zerstückeln, sollten bereits längst niedergerissen werden und nicht existieren, denn alle Menschen sind Brüder und jeder hat das natürliche Recht ein freier, vollberechtigter Bürger der Welt zu sein. «Vaterland» ist ein falscher, volksfeindlicher Begriff. Er wird von den Regierungen und den herrschenden Klassen durch Erziehung und Gewalt aufrechterhalten, um die Existenz des nationalen Privateigentums und des nationalen, durch künstliche Grenzstäbe gekennzeichneten Staats zu sichern, um die nationale kapitalistische Ausbeutung der arbeitenden Klassen zu gewähren, um dem Staate die politische Versklavung der Völker, die sogenannte Untertanenschaft oder Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. Auf der Anerkennung des «Vaterlands» durch die Völker gründet der Staat seine ganze militärische Gewalt und um in den Völkern einen kriegerischen Patriotismus aufrecht zu erhalten, wird ihnen durch bezahlte Lehrer, Prediger und Pfaffen «Vaterlandsliebe» von der Schulbank eingeprägt. Ohne Vaterlandsliebe ist keine staatlich-politische Versklavung, ist kein Militarismus möglich. Und Militarismus ist die Stütze des bürgerlichen Staats, der kapitalistischen Gesellschaft; er wird von allen Regierungen nicht nur gegen den äusseren, sondern mit ebenderselben Energie auch gegen den inneren Feind, — gegen euch, Arbeiter! — verwendet. Verraten haben euch eure Volksvertreter, als sie euch riefen, das bürgerliche Vaterland zu lieben und zu verteidigen, anstatt es zu hassen und zu vernichten.

Verrat an euch haben eure Volksvertreter begangen, indem sie überall den Burgfrieden proklamierten. «Burgfrieden» heisst Einstellen des Klassenkampfs, heisst Interessengemeinschaft zwischen Proletariern und der Bourgeoisie. Wer aber von Interessengemeinschaft zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, zwischen Sklaven und Sklavenhändlern spricht, der übt an den arbeitenden Klassen schmählichen Verrat. In Friedens- wie in Kriegszeiten ist eine Unterstützung der Bourgeoisie durch das Proletariat eine widernatürliche Sache, denn die Bourgeoisie unterstützen bedeutet gleichzeitig das Proletariat schädigen. Ein imperialistischer Krieg bezweckt stets die politische und ökonomisch Versklavung von Völkern anderer Länder, er hat stets eine blutige gegenseitige Vernichtung der Proletarier zu Gunsten des nationalen Kapitalismus als Folge. Deshalb übt ein jeder, der in einen imperialistischen Krieg einwilligt, Verrat an der internationalen proletarischen Solidarität. Es giebt und es kann nie mehr eine geschichtliche Epoche geben, die vom Proletariat ein Mitarbeiten mit den bürgerlichen Klassen verlangt; Bourgeoisie und Proletariat haben zur geschichtlichen Aufgabe nicht friedlich nebeneinander mitzuarbeiten, sondern sich gegenseitig zu bekämpfen. Es existiert für sie kein anderes gemeinsames Tätigkeitsfeld, als das nationale Schlachtfeld, wo jeder der Gegner bemüht ist, den andern zu vernichten. Deshalb haben eure Volksvertreter, indem sie den Krieg guthiessen, indem sie die Militärkredite und Kriegsvorlagen votierten und an euch den verbrecherischen Ruf erliessen, ihr sollet euch zwecks «Vaterlandsverteidigung» unter die kriegerischen Fahnen eurer nationalen Regierungen schaaren, überall doppelten Verrat begangen: an dem Proletariat des eigenen Landes, das sie zum Burgfrieden, zum Einstellen des Klassenkampfes, zur Unterstützung der nationalen Bourgeoisie, anstatt zu deren ewiger Bekämpfung riefen; und an den Proletariern anderer Länder, die zu ermorden, auszurotten und zu vernichten sie als ihre nationale Vaterlandspflicht, als geschichtlich notwendige Staatsmission betrachteten. Und eure heiligste Pflicht ist es jetzt, wenn ihr für eure zukünftige Selbstbewahrung besorgt sein wollt, mit dieser Bande ruchloser Volksverräter, die sich Sozialdemokraten nennen, schnellmöglichst fertig zu werden, abzurechnen, ihnen die Schande des Verrats in’s Gesicht zu werfen und sie aus euren Reihen ein für allemal zu vertreiben, damit sie in Zukunft ihre mit proletarischem Blute beflecken Hände von der revolutionären Arbeiterbewegung fernhalten. Denn weh den Völkern, die es nicht verstehen werden, sich von der Führung ihrer «vaterlandsliebenden» Politiker zu befreien: diese Völker gehen ihrem eigenen Verderben, ihrem Ruin, ihrer geistigen und politischen Versklavung entgegen!

Arbeiter, Arbeiterinnen, Soldaten!

Ihr seid in allen Ländern zu Opfern des Betrugs, der Lüge und des Verrats geworden. Der Weltkrieg hat nur deswegen entstehen können, weil ihr unbewusst gehandelt habt, weil ihr euren Regierungen, euren Vertretern und euren geistlichen Seelenpächtern Glauben geschenkt habt. Wie die Sozialisten aller Länder sich in einem Andrang von Patriotismus unter ihre Regierungsfahnen schaarten, so haben auch die Pfaffen aller Länder desgleichen getan. Diese Parasiten haben sich überall sofort in den Dienst ihrer kriegerischen Regierungen gestellt, haben den Krieg gutgeheissen und die Waffen der Vernichtung und des Todes mit heiligem Weihwasser besprengt. Ihren lieben Herrgott, den sie bisher als einen Gott des Friedens und der Liebe explodierten, haben sie im Handumdrehen in einen Gott des Krieges und des Völkerhasses verwandelt; ihn, der doch Einer sein soll, haben sie in nationale Fetzen zerrissen und in nationale Trachten gekleidet. Und alle Götter fingen bei ihnen auf- einmal an, die Sprachen ihrer Regierungen zu sprechen, sie sind vom Himmel in die Generalquartiere niedergestiegen, um den Regierungen zu helfen, die Völker «im Namen Gottes» gegeneinander zu hetzen. In allen Ländern haben die Pfaffen den Gläubigen auf Befehl der Regierungen die blödsinnige Mähr verkündet, der liebe Herrgott habe sich verpflichtet, für den Sieg des Vaterlands Sorge zu tragen, er habe seinen Wohnsitz im Generalquartier genommen und habe die Waffen der mörderischen Vernichtung eigenhändig gesegnet und geschliffen. Etwas dümmeres, unwahrscheinlicheres, als diese Nationalisierung, diese Militarisierung, diese Selbstverneinung Gottes, ist ja noch nie dagewesen. Ihr aber habt auch diesem Blödsinn, den euch eure von der Regierung besoldeten Seelenpächter vorhielten, Glauben geschenkt und habt ihnen, aus Erkenntlichkeit für das göttliche Wohlwollen, den gewohnten Obol dankend in die immer auf Gaben erpichte Hand geschoben.

Es ist ein niederdrückender, himmelschreiender Anblick, ganze Völker durch Betrug und Verrat aufeinander gehetzt und gegeneinander geworfen zu sehen. Und es ist erniedrigend für die Völker, sich noch länger betrügen und zu verbrecherischen Zielen verwenden zu lassen.

Arbeiterinnen aller Länder, Mütter, Witwen, Frauen! Habt ihr euch gefragt, wozu es nötig gewesen ist, dass eure Väter, Männer und Söhne in’s Feld ziehen, um nie oder nur als verstümmelte Krüppel zurückzukehren? Habt ihr euch gefragt, wem zuliebe euer Heim zerstört wurde, eure Kinder dem Hungertode überlassen sind und ihr selber darauf angewiesen seid, den Rest eurer Tage in schmerzlichen Erinnerungen, in Armut und Trauer zu verbringen?

Arbeiter, Soldaten aller Länder! Habt ihr euch Rechenschaft darüber abgegeben, wozu ihr in den Krieg geschickt worden seid, was man von euch haben will und wem ihr dient? Habt ihr darüber nachgedacht, wofür ihr euer eigenes und eurer Brüder Blut vergiesst, warum ihr seit Jahren in den Schützengräben steckt, anstatt sich in engem Familienkreise des friedlichen Lebens zu erfreuen? Wisst ihr, dass eure Mütter und Frauen schwer arbeiten müssen, um ihr klägliches Dasein fristen zu können, und eure Kinder zu Tausenden täglich des Hungertodes sterben?

Ihr müsst es en[d]lich wissen! Ihr müsst euch der Sachlage ganz klar werden, um ihr ein schnelles Ende zu machen, um eure Komplizität mit den verräterischen Volksvertretern und dem lügnerischen Pfaffentum von eurem Gewissen abzuschütteln.

Um euch ein klares Urteil über die wahren Gründe, die den Krieg hervorgerufen, zu bilden, müsst ihr die vorimperialistische Lage der staatlichen Einheiten, die als diplomatische Einleitung in den modernen Imperialismus dient, euch vergegenwärtigen.

Bis Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat von allen Grossmächten allein England eine mehr oder weniger bedeutende Kolonialpolitik getrieben. Von den anderen Staaten ist zu der Zeit noch fast kein einziger zu einer genügenden inneren Stärke herangereift, um an eine aussereuropäische Organisation seiner Märkte denken zu können. Die einen sind mit dem innern Ausbau ihres Staatswesens, die andern mit der Liquidation von Kriegen und Revolutionen beschäftigt gewesen.

Deutschland hat erst in den neunziger Jahren angefangen, ernst an Kolonialpolitik zu denken, aber es kam zu spät zur Tafel, da zu dieser Zeit die meisten Kolonien bereits vergriffen waren. Das führte dazu, dass Deutschland den andern Grossmächten gegenüber in Bezug auf auswärtige Märkte sehr ungünstig dastand. Zu Anfang des XX. Jahrhunderts hat, zum Beispiel, England ca. 20 Millionen Quadratkilometer Kolonien besessen, Frankreich ca. 11 Millionen, Deutschland aber nur 2 ½ Millionen, das heisst ebensoviel, wie das kleine Belgien, oder Holland, oder Portugal.

In der Jagd nach Kolonien hat Deutschland es in den letzten 30 Jahren mehr als ein Mal versucht, die Hand auf das, was schon früher von andern Dieben gestohlen wurde, zu legen. Es wurde aber stets von England und Frankreich unter Kriegsdrohung zurückgwiesen. Endlich hat es sich davon überzeugt, dass derjenige, der in einer Räubergesellschaft das Recht auf Forderungen beanspruchen und womöglich seine Genossen in der Räuberei noch übertreffen will, entsprechend stark sein muss. Stark von aussen, — durch eine gute diplomatische Konjunktur, und stark von innen, — durch einen Aufbau der militärischen Macht. Zeit ist nicht mehr zu verlieren gewesen. Die erste Bedingung wurde durch die Bildung des Dreibundes, der von gegnerischer Seite mit der Bildung des Dreiverbandes geantwortet wurde, in Erfüllung gebracht, die zweite — durch den progressiven Ausbau eines kolossalen Militärsystems. Der progressive Wuchs der Militärisierung Deutschlands ist aus dem beständigen Steigen seines Kriegsbudgets zu ersehen: 1895 betrug es 960 Millionen Fr., 1903 — 1087 Millionen, und 1913 — 2285 Millionen. Es versteht sich von selbst, dass von Seiten des Dreiverbandes durch entsprechende Massregeln erwidert wurde, und so ist es gekommen, dass ganz Europa in kurzer Zeit in einen imperialistischen Militarismus ausartete, welcher zu der heutigen schrecklichen Kraftprobe notgedrungen führen musste und auch führte. Alle Phrasen über einen heiligen Kreuzzug gegen die «russische Barbarei», gegen das «deutsche Junkertum», für die «demokratischen Prinzipien», für die «Freiheit der Völker» und so weiter, sind nichts als plumpe Lügen der Regierungen und der sozialistischen Parlament- und Strassenschreier den Völkern gegenüber. Vor dem Kriege haben sich «deutsches Junkertum» und «russische Barbarei» sehr zärtlich miteinander vertragen und 1905 hat sich das deutsche Junkertum die grössten Bemühungen gegeben, den wackelnden Tronsitz der russischen Barbarei zu retten. Andererseits haben die jetzt so plötzlich an die Oberfläche des öffentlichen Lebens herangeschleppten «demokratischen Prinzipien» es der französischen Republik bis dahin nicht unmöglich gemacht, während einem Vierteljahrhundert mit dem grausamsten und reaktionärsten aller Monarchen in liebevoller Harmonie Hand in Hand zu gehen und dem Zarentum die zur Unterdrückung der russischen Revolution nötigen Millionen vorzustrecken; ebenso wie das plötzliche Anbeten der «Freiheit der Völker» es den freiheitsliebenden Engländern vor und während dem Kriege nie erschwert hat, mit Irländern, Indiern, Boeren und andern, nach Befreiung von der englischen «Fürsorge» strebenden Völkern, auf russisch-kosakische Manier fertig zu werden.

Der Prinzenmord von Serajevo ist in einen bereits auf’s dichteste bewölkten diplomatischen Himmel gefallen, wo alle Staate besonders energisch gegeneinander rüsteten und wo es nur eines kleinsten Funkens bedurfte, um das Gewitter hervorzurufen.

Der Krieg zwischen Oesterreich und Serbien ist infolge der Unversöhnlichkeit der ökonomischen und national-politischen Interessen beider Staate unvermeidlich gewesen. Der Friede von Bukarest hat die Lage nicht geklärt, sondern im Gegenteil kompliziert. Serbien ist vor dem Kriege ein ökonomischer Vassal Oesterreichs gewesen; es war, infolge seiner geographischen Lage, verpflichtet, fast alle Produkte seiner Industrie und seiner Landwirtschaft an Oesterreich abzusetzen. Oesterreich nutzte diesen Umstand stets zwecks ökonomischer Erdrosselung Serbiens aus. Deshalb das beständige Streben der serbischen Bourgeoisie nach einem «Korridor zum Meer», welcher ihr die Möglichkeit verschaffen konnte, einen Warenaustausch mit andern Ländern zu realisieren. Jedoch die Erweiterung der serbischen Grenze bis zum Meer würde Serbien von dem österreichischen Grosskapital und von den ungarischen Agrariern unabhängig machen, deshalb will Oesterreich dieselbe unter keinen Umständen zulassen. Der national-politische Faktor besteht darin, dass die meisten Serbo-Kroaten auf österreichischem Staatsboden leben, weswegen Oesterreich eine serbisch-irredentistische Bewegung zu befürchten hätte, wenn neben ihm ein blühender serbischer Staat existieren würde. Die Interessen der serbischen Bourgeoisie verlangten also die Befreiung vom ökonomischen Joch Oesterreichs; die Interessen des österreichischen Grosskapitals — die ökonomische Erdrosselung Serbiens.

Die Widersprüche zwischen Oesterreich und Russland sind noch komplizierter. Ausser den Ansprüchen, welche Russland seit lange in Bezug auf eine unmittelbar österreichische Provinz, Galizien, im Stillen hegt, strebt es noch beständig nach einer Herrschaft auf dem Balkan. Das nächste Ziel des militärischen Programms der russischen Imperialisten, die momentan durch die provisorische Regierung ebensogut repräsentiert werden, wie vorhin durch das Zarentum, bildet die Eroberung Konstantinopels. Von dem Moment an, wo Russland sich in Konstantinopel festsetzt, erlangt es einen freien Ausgang in’s Mittelländische Meer und wird in demselben zu einer dominierenden Grösse. Aber die Ansprüche Russlands bleiben dabei nicht stehen, sondern sie gehen bedeutend weiter. Russland bestrebt sich, auch in der Adria und im Aegäischen Meer eine dominierende Stellung zu erlangen. Um das zu erreichen, unterstützt es stets die Bestrebungen Serbiens und Bulgariens, in diesen Meeren Häfen zu bekommen, in der Hoffnung, es werde ihm zukünftig gelingen, diese Häfen für das Stationieren der russischen Flotte auszunutzen. Hierin liegt der Grund, weshalb Russland seit einem Jahrhundert Bulgarien, Serbien und Griechenland in ihren «national-befreienden» Kriegen unterstützt und beständig verschiedene Kombinationen eines «Balkanbundes» gegen die Türkei und Oesterreich brütet. Oesterreich, andererseits, strebt stets zu einem Bunde mit Rumänien und der Türkei gegen Russland, Bulgarien, Serbien und Griechenland. Dabei bemüht es sich immer, den ewigen serbo-bulgarischen Streit wegen Mazedonien auszunutzen, um Bulgarien zu einem Bündnis mit der Türkei zu veranlassen. In dem heutigen Krieg ist Oesterreich dieses Projekt bekanntlich gelungen.

Zwischen Oesterreich und Rumänien besteht Feindschaft wegen Transylvanien, welches, von Rumäniern bevölkert, sich im Besitze Oesterreichs befindet. Transsylvanien von Oesterreich loszureissen ist das beständige Ziel der rumänischen Nationalisten gewesen und sie haben nie aufgehört, dort eine irredentistische Propaganda zu führen, gleich derjenigen, die von russischen Nationalisten in Galizien geführt wird. Deshalb inkliniert Rumänien mehr zu einem Bündnisse mit Russland, als mit Oesterreich, obwohl es auch mit Russland wegen Bessarabien in einem Gegensatz steht.

Was die Türkei betrifft, so haben alle Grossmächte es seit lange auf ihre Territorien abgesehen. Frankreich und England haben bereits 1899 das tripolitanische Hinterland unter sich verteilt; Italien hat sich 35 Jahre lang um Tripolitanien bemüht, bis es endlich vor einigen Jahren dazu gekommen ist, sich desselben zu bemächtigen; Russland hat nie aufgehört, sein Spinnennetz in Armenien zu weben; Deutschland hat den Bezirk der Bagdadbahn immer als seine ganz spezielle «Einfluss-Sphäre» betrachtet; in Syrien hat Frankreich sich niedergesetzt; Arabien wurde von England als ein ganz selbstverständliches Erbe zu seinen Gunsten angesehen. Auf die Verteilung Kleinasiens liegt eine lange Reihe konkurrierender Ansprüche vor. Oh, du liebste Völkerfreiheit!

Soll die Liste noch fortgesetzt werden ?

Italien und Oesterreich sind, trotz ihrem langen Zusammenmarschieren im Dreibund, stets geschichtliche Feinde gewesen. Italien betrachtet die österreichischen Provinzen Dalmatien, Istrien, Trentin und Triest als sein geschichtliches Eigentum und die italienischen Irredentisten führen dort seit jeher eine aktive Propaganda. Ein steter Zwistigkeitsgrund zwischen den zwei Staaten ist auch Albanien gewesen, wegen dem der europäische Frieden schon öfters bedroht wurde. Die Gründung des «autonomen» albanischen Königreichs mit einem Fürsten von Wied an der Spitze ist die talentloseste diplomatische Zuschneiderei unserer Zeit gewesen, da sie, trotz der sorgfältigen Einteilung der sogenannten «Einfluss-Sphären», den Konflikt nicht aus der Welt zu schaffen geeignet war. Es klingt fast paradox, ist aber eine kuriose Tatsache, dass das Bündnis zwischen Italien und Oesterreich nicht auf einer Gemeinschaft, sondern auf dem Gegensatz ihrer Interessen basierte. Deshalb konnte es auch keinem Zweifel unterliegen, dass Italien bei der ersten Gelegenheit dem Dreibunde untreu werden wird und sich aut die Seite der Gegner Oesterreichs schlägt.

Zwischen Russland und England besteht eine ganze Reihe von in der Luft hängenden Konflikten wegen der türkischen Erbschaft, den Dardanellen, wegen Persien, Armenien, Afghanistan u. s. w., und es ist ganz klar, dass keine diplomatische Friedenskonferenz der Welt diese Konflikte liquidieren können wird, sondern dass für sie nur eine zeitweilige, kompromissliche Lösung gefunden werden kann, die in allerkürzester Zeit zu neuen Reibungen, neuen Komplikationen und neuen Gefahren führen wird.

Zwischen Russland und Deutschland existierten keine besonderen Widersprüche. Im Gegenteil, die ökonomischen wie politischen Interessen beider Länder sind vor dem Kriege eher harmonisch gewesen. Der Kriegszustand zwischen ihnen ist das Resultat einer diplomatischen Kombination, welche sie einander entgegenstellte, um sie vielleicht später eng zu verbinden. Nur die beständige Notwendigkeit, aus der republikanisch-französischen Tasche Milliarden zu schöpfen, konnte Russland zu einem Bündnis gegen Deutschland zwingen. In der Dardanellen-Frage wäre für Russland ein Arrangement mit Deutschland ebenfalls bedeutend leichter und möglicher gewesen, als mit England. Und es würde auch schliesslich wahrscheinlich, wenn die Völker es ihren kriegführenden Regierungen gönnen würden, einen diplomatischen Frieden zu schliessen, zu einer deutschen Lösung der Dardanellenfrage kommen, d. h. zu deren «Neutralisierung». Pack schlägt sich, Pack verträgt sich...

Deutschland und Frankreich sind alte Feinde. Die Idee einer «Revanche» für die 1871 durch Deutschland entrissenen Provinzen ist in Frankreich nie eingeschlummert. Ausserde[m] sind zwischen den beiden Staaten öfters schwerwiegende Konflikte wegen der afrikanischen Kolonien, der chinesischen Einfluss-Sphären und dem Fell des noch nicht getöteten türkischen Bären entstanden.

Raub, noch einmal Raub und abermals Raub — das sind die unmittelbaren Ursachen und Ziele des Weltkrieges gewesen. Dessen internationale Ursachen und Ziele. Und um euren Regierungen und eurer Bourgeoisie die Vorbereitungen zum gegenseitigen Ueberfall zu ermöglichen, musstet ihr, Arbeiter, Jahrzehnte lang schwere Steuern zahlen, staatliche Zwangsarbeit, das heisst erniedrigenden Militärdienst leisten, euch endlich belügen und verraten lassen, um zum Schluss in blutigem Kampfe gegeneinander geworfen zu werden. Was all dieses mit «russischer Barbarei», mit «demokratischen Prinzipien» und «Völkerfreiheit» zu tun hat, wird euch nun wahrscheinlich einleuchten! Ihr habt euch schön über’s Ohr hauen lassen!

Arbeiter, Arbeiterinnen, Soldaten!

Der verbrecherische, mörderische Krieg durfte von euch überhaupt nicht zugelassen werden! Nun ist es aber an der Zeit, dass ihr ihm ein Ende macht!

Wie soll aber dieses Ende sein? Sollt ihr, wie es euch die vor der Revolution zurückschreckenden und die Erhaltung der bürgerlich-kapitalistischen Staatsordnung anstrebenden Pazifisten und Sozialdemokraten anempfehlen, einem Druck auf eure Regierungen, Parlamente und Deputierte ausüben, damit sofort eine diplomatische Friedenskonferenz einberufen werde, die die Feindseligkeiten einstellt und einen Frieden «ohne Annexionen und Kontributionen» abschliesst? Sollt ihr die Liquidation des Krieges euren Regierungen und eurer imperialistischen Bourgeoisie, die euch belogen haben und auch zukünftig immer belügen werden, überlassen? Oder euren geistlichen Seelenpächtern, die euch «in Gottes Namen» Geduld und Gehorsam den Arbeitgebern gegenüber predigen, es aber dabei nicht verabscheuen, sich für ihren Liebesdienst von den privilegierten Klassen reichlich durch irdische Güter bezahlen zu lassen? Oder euren «sozialistischen» Volksvertretern, die euch schmählich verraten, in’s Verderben und in den Tod für den Imperialismus gestürzt haben, die stets mit euren Regierungen und eurer Bourgeoisie gegen euch zusammenarbeiteten ? Denselben Volksvertretern, die den verbrecherischen Proletariermord überall durch das Abstimmen der Kriegsvorlagen bewilligten, die, anstatt ihn zu verdammen und unmöglich zu machen, euch zu einer hysterisch-patriotischen Vaterlands- Extase anspornten, die für das Entstehen und für die Folgen der mörderischen Tat ebenso verantwortlich sind, wie eure Regierung?

Nein, Arbeiter und Soldaten aller Länder, das sollt ihr nicht! Ihr dürft es nicht zulassen, dass der Friede von einer Bande verruchter Staatspolitiker, die sich Regierungen, Pfaffen und Volksvertreter nennen, von einer gemeinen volksfeindlichen Verbrecherbande hergestellt wird.

Ein Friede, der durch die Regierungen zu Stande gebracht wird, ein diplomatischer Friede, sogar wenn derselbe unter einem starken Druck der Völker auf Regierungsorgane und Parlamente abgeschlossen wird, ist für euch nichts wert. Er wird die bestehende Ordnung nicht schwächen. Er wird eure ökonomische Sklaverei nicht aufheben. Er wird den Militarismus nicht abschaffen, da die bürgerlichen Staate ohne denselben nicht existieren können. Folglich kann so ein Frieden euch nicht vor zukünftigen bewaffneten Zusammenstössen schützen.

Nein, Arbeiter und Soldaten! Nein. Völker! Wenn ihr um euer und der Menschheit Glück besorgt seid, so dürft ihr es unter keinen Umständen zu einem Regierungsfrieden kommen lassen. Der bevorstehende Frieden muss und kann nur ein Völkerfrieden sein! Er muss gegen den Willen aller Regierungen und aller Sozial-Patrioten, sie niederwerfend, zwischen freien Völkern abgeschlossen werden!

Die bürgerlich-pazifistische Sehnsucht nach einem Frieden auf alten Grundlagen, nach einem Frieden, wo es «weder Sieger, noch Besiegte» geben würde, darf euch nicht irreleiten: Es muss in diesem Krieg eine Besiegte geben — die Internationale Bourgeoisie, und es muss einen Sieger geben — das Internationale Proletariat!

Arbeiter und Soldaten aller Länder! Das russische Volk hat euch ein Beispiel dafür gegeben, wie auch ihr zu handeln habt. Die grosse russische Revolution ist gegen die Fortsetzung des Krieges, für seine sofortige Beendigung enstanden und eingetreten.

Aber die russische Revolution kann nur dann zum Triumph der internationalen Solidarität der arbeitenden Klassen führen, wenn sie die Proletarier aller übrigen Länder unter ihrer roten Fahne vereinigt, wenn sie zu einer Internationalen Revolution wird. Andernfalls wird sie notgedrungen von der russischen Imperialistischen Bourgeoisie durch eine bereits stark eingreifende kriegerisch-chovinistische Agitation auf’s Kriegsgeleise verschoben und dann unterdrückt werden. Und eure Passivität, eure Unterwürfigkeit den verbrecherischen Regierungen gegenüber wird an dem Unterliegen eurer russischen Brüder schuld sein. Könnt ihr so etwas zugeben? Könnt ihr die Besiegung, die Unterdrückung der russischen Revolution wollen? Könnt ihr euch auch noch der Komplizität mit den russischen Imperialisten gegen das russische Proletariat schuldig machen? Denkt darüber nach! In diesem Kriege würde die Niederlage der russischen Revolution einer Niederlage des internationalen Proletariats gleichkommen; dagegen wird der Sieg der russischen Revolution ein Sieg der revolutionären Arbeiter-Internationale bedeuten.

Ihr dürft weder euren Regierungen, noch euren Volksvertretern weiter Glauben schenken. Ihr dürft euch nicht mehr mit den «Freiheiten» begnügen, die alle Regierungen euch, aus Furcht vor Revolutionen, «nach dem Kriege» zu geben versprechen. Freiheiten, die versprochen, ja sogar gegeben werden, sind nichts wert, Freiheiten müssen genommen werden!

Soldaten aller Fronten!

Stellt sofort die Feindseligkeiten ein! Revoltiert euch gegen eure Generäle und Offiziere, zerreisst die lügnerischen nationalen Fahnen eurer Regierungen und ersetzt sie überall durch die einfarbige, gleichbedeutende rote Fahne der Revolution! Schafft die geographischen Benennungen aller West- und Ostfronten ab und proklamiert der ganzen Menschheit, dass es von nun an in der Welt nur eine einzige kriegerische Front gibt: Die Front des internationalen vereinigten Proletariats gegen die Regierungen und die Bourgeoisie aller Staaten.

Arbeiter aller Länder! Arbeiterinnen! Soldaten!

Stellt sofort den Plänen und Befehlen eurer Regierungen euren mächtigen Völkerwillen und eure direkte revolutionäre Aktion entgegen! Werft die Arbeit in den Munitionsfabriken, gebt den Burgfrieden auf, und proklamiert über die Köpfe eurer Regierungen den revolutionären Völkerfrieden! Das getan, müsst ihr sofort die Waffen gegen den Feind im eigenen Lande wenden, die Dratsperrungen niederreissen und Barrikaden erheben, von deren stolzer Höhe ihr das Ableben der kapitalistischen Staatsordnung verkünden werdet! Eure rote Fahne wird euch die Einheit der proletarischen Front besser sichern, als es die Resolutionen der sozialistischen Parteitage und Kongresse zu machen im Stande gewesen sind. Nicht Papierresolutionen, sondern Taten sind heute nötig! Soldatenstreik, Arbeiterstreik, allgemeiner Aufstand! — das ist jetzt eure einzige Parole! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit dem Kapital! Nieder mit allen Regierungen! Verjagt die Deputierten aus den Parlamenten, die Pfaffen aus den Kirchen, die Präsidenten und Könige aus den Palästen!

Auf, Arbeiterinnen, Arbeiter und Soldaten! Auf zum Krieg gegen das Sklaventum, gegen die Tyrannen !

Es lebe die Soziale Revolution!

Es lebe der ewige Völkerfrieden!

Es lebe die Revolutionäre Arbeiter- Internationale!


Entnommen aus "Das „Rote Buch“ über die Politik der Völker im Krieg.", „Verlag des Réveil“, Genf, 1917.