Henrik Ibsen
Brief an George Brandes
vom 17. 2. 1871
Lieber Brandes!
Ich habe mir wohl gedacht, daß mein langes Schweigen Sie in Harnisch bringen würde; aber ich hoffe zuversichtlich, wir stehen so zueinander, daß darum nichts in die Brüche geht. Ja, ich habe das bestimmte Gefühl, daß ein lebhaft geführter Briefwechsel zwischen uns eher eine solche Gefahr mit sich bringen könnte, wenn wir erst einmal persönlich aneinander geraten wären, würde sich vieles anders darstellen; vieles würde sich da auf beiden Seiten geklärt haben. Bis dahin laufe ich wirklich Gefahr, mich durch meine flüchtigen verstreuten Äußerungen bei Ihnen in ein falsches Licht zu setzen. Ihr Philosophen könnt dem Teufel ein Ohr abräsonnieren, und ich verspüre keine Lust, mit per Korrespondenz zu einem Stein oder einem Hahn reduzieren zu lassen, selbst mit der Möglichkeit vor Augen, nach mündlicher Erklärung wieder zum Menschen erhoben zu werden. In Ihrem vorigen Brief bewundern Sie ironisch das Gleichgewicht meines Gemüts unter den gegenwärtigen Verhältnissen. Da ist der Stein! Und jetzt, in Ihren letzten freundlichen (?) Zeilen, machen Sie mich zu einem Freiheitshasser. Der Hahn!
Die Sache ist die - mein Gemüt befindet sich so einigermaßen im Gleichgewicht, weil ich Frankreichs gegenwärtiges Unglück für das größte Glück halte, das dieser Nation widerfahren konnte. Und was die Freiheitsfrage betrifft, so beschränkt sie sich, glaube ich, auf einen Streit um Worte. Ich werde nie dafür zu haben sein, die Freiheit als gleichbedeutung mit politischer Freiheit anzusehen. Was Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten; und was ich den Kampf für die Freiheit nenne, ist doch nichts anderes als die ständige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer die Freiheit anders besitzt denn als das zu Erstrebende, der besitzt sie tot und geistlos, denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die Eigenschaft, sich während der Aneignung stets zu erweitern, und wenn deshalb einer während des Kampfes stehen bleibt und sagt: jetzt habe ich sie! - so zeigt er eben dadurch, daß er sie verloren hat. Aber gerade diese tote Art, einen gewissen festgelegten Freiheitsstandpunkt zu haben, ist etwas für die Staats verbände Charakteristisches; und eben das habe ich gemeint, als ich sagte, es sei nichts Gutes.
Ja, allerdings kann es etas Gutes sein, Wahlfreiheit, Steuerfreiheit usw. zu besitzen; aber für wen ist das gut? Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber für das Indidividuum absolute keine Vernunftnotwendigkeit vor, Bürger zu sein. Im Gegenteil. Der Staat ist der Fluch des Individuums. Womit ist Preußens Stärke als Staat erkauft? Mit dem Aufgehen der Individuen im politischen und geographischen Begriff. Der Kellner ist der beste Soldat. Und auf der anderen Seite das Volk der Juden, der Adel des Menschengeschlechts. Wodurch hat es sich in Absonderung, in Poesie erhalten, trotz aller Roheit von außen? Dadurch, daß es sich nicht mit einem Staat herumzuschleppen brauchte. Wäre es in Palästina geblieben, so wäre es schon längst in seiner Konstruktion untergegangen wie alle anderen Völker. Der Staat muß weg! Bei der Revolution tue ich auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiwilligkeit und das geistig Verwandte als das für ein Bündnis einzig Entscheidende auf, - das ist der Anfang einer Freiheit, die etwas wert ist! Ein Wechsel der Regierungsformen ist weiter nichts als eine Pusselei mit Graden - ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger - Torheit alles zusammen!
Ja, lieber Freund, es gilt bloß, sich von der Ehrwürdigkeit des Besitzes nicht schrecken zu lassen. Der Staat hat seine Wurzel in der Zeit; er wird seinen Gipfel in der Zeit haben. Es werden größere Dinge fallen als er; alle Religion wird fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor sich. Wie vielen gegenüber haben wir im Grunde die Verpflichtung, es zu konservieren? Wer bürgt mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf sind auf dem Jupiter?
Diese Andeutungen kann und will ich brieflich nicht weiter ausführen. Herzlichen Dank für Ihr Gedicht! Es wird nicht das letzte bleiben, das Sie schreiben, denn der Beruf dazu spricht aus jeder Zeile! Daß Sie mich überschätzen, setze ich auf Rechnung der Freundschaft. Dank, Dank! Bewahren Sie ein solches Bild von mir; ich werde gewißlich der alte bleiben.
Und kommen sie bald wieder zu Kräften! Und dann kommen Sie nach Dresden auf zwei gesunden Beinen! Ja, die Beingeschichte! Haben Sie das nicht als eine Nemesis [gerechte Strafe - wp] empfunden? Sie sind einmal so gewaltsam auf einen anderen Philosophen losgefahren, weil er auch zwei Beinen stand. Gott sei Dank, daß Sie die Möglichkeit für einen Philosophen, sich mit einem zu behelfen, nicht praktisch beweisen mußten! - Ich setze voraus, daß alle Gefahr vorüber ist, sonst würde ich gewiß nicht damit scherzen.
Von den "Kritiken und Porträts" habe ich bis heute durch HEGEL nur die erste Hälfte erhalten; aber selbst wenn ich das Ganze erhalten hätte, würde ich mich auf einen warmen Dank für das Buch beschränkt haben. Ich bin ein äußerst schlechter Kritiker; über einzelne Werke verstehe ich mich nicht auszusprechen, und wie Sie im ganzen, als abgeschlossene Persönlichkeit vor mir stehen, das wissen Sie.
Mit der Herausgabe meiner Gedichte bin ich seit Weihnachten fast Tag und Nacht beschäftigt gewesen. Es war ein verfluchtes Stück Arbeit, die vielen Anschauungsweisen durchgehen zu müssen, mit denen ich längst fertig bin. Zusammen bilden sie aber doch ein Ganzes; und ich bin gespannt, zu hören, was Sie von dem Buch sagen werden.
Die tausend Dinge, zu deren Erörterung Ihr Brief Anlaß geben könnte, will ich für diesmal auf sich beruhen lassen. Erst möchte ich jetzt erfahren, ob ich erwarten darf, Sie bald hier zu sehen. Dann wollen wir uns den Bischof Axius wie die sieben Kurfürsten zur Behandlung vornehmen. Sie sollen sehen, ich habe nicht umsonst zwei Jahre in der Nähe von GERT WESTFALERs Vaterland gelebt.
Herzliche Wünsche für Gesundheit und alles Gute!
Ihr getreuer Henrik Ibsen
Sobald ich eine leidlich anständige Photographie beschaffen kann, werde ich sie Ihnen schicken; nehmen Sie vorläufig mit der beiliegenden vorlieb. Ich hoffe, Sie revanchieren sich!