Titel: Libertärer Naturismus
AutorIn: Beylie, Henri
Datum: Januar 1902
Quelle: Entnommen am 17.06-2016 von https://verlagketabha.files.wordpress.com/2009/07/emile-gravelle-etc-naturisten1.pdf; nochmals leicht überarbeitet
Bemerkungen: Original in: In Le Flambeau, Nr. 10; 5. Januar 1902; Übersetzt von A. Loepfe aus: (Dis)continuité, Sommer 2002

In vielen Artikeln haben die Genossen Henri Zisly, ich und auch andere Naturisten über die Schönheit des freien Lebens in einer überreichen Natur geschrieben und dabei einige der schrecklichen Attrappen, welche die korrumpierte Zivilisation auf unseren Weg geworfen hat, enthüllt. Wie viele Zwänge und idiotische Vorurteile haben wir übernommen, wo es doch sehr schön und sehr einfach wäre, diese Gesetze und das ganze künstliche Leben, welches unser Gehirn verzehrt, unser Blut und den ganzen Organismus verarmen, die ganze Menschheit degenerieren läßt und die Menschen (in Tat und Wahrheit die Sklaven von einigen Wenigen) schlaff und gemein macht, weit weg zu werfen. Alles in der Natur ist doch in Bewegung, lebt und schreitet in einer rührenden Harmonie voran.

Die Verirrung unter den Massen ist immer noch sehr gross und sehr tief. Man betrachtet die Erde als eine Stiefmutter, doch im Gegenteil, nichts was uns umgibt, ist eigentlich unser. Man hat sich in einen Fortschritt geworfen, welcher mit Riesenschritten an einem Gipfelpunkt angelangt ist. Man betrachtet den Maschinismus wie einen rettenden Gott, welcher alles Elend, jede Ausbeutung beseitigen und die vollkommene Freiheit und Gleichheit schaffen wird.

Falsch! Ich sage es laut und deutlich: Der nicht zu übersehende Maschinismus, der weiterhin Fortschritte macht, wird die Menschheit nicht glücklich machen. Wir wenigstens glauben nicht daran und wir sind überzeugt, daß unsere Auffassungen harmonischer und wahrer sind und in besserem Verhältnis zu den grundsätzlichen Bedürfnissen des Individuums stehen. Man wird mich nicht anklagen, glaube ich, ein Sektierer zu sein. Im Gegensatz zu vielen Anarchisten lasse ich jedem seine Auffassung und sein Denken wie er es für gut hält. In vielen Artikeln habe ich die Gesellschaft und ihr Räderwerk bekämpft. Dabei habe ich mich bis anhin nicht zum libertären Naturismus geäußert, aber ich nutze die Gelegenheit, welche das tapfere Avantgarde- Journal – das einzige wirklich anarchistische in Frankreich – bietet, um mit allen, die uns lesen, freundschaftlich zu diskutieren.

Wir verstehen uns nicht als Retter der Menschheit, wir bleiben nicht in irgendeiner Kirche und geben zu allem Absolution, Billigung oder Mißbilligung. Wir lassen dem Individuum seine möglichst vollständige Autonomie, geben niemandem das Recht zu urteilen, wir verurteilen niemanden, glauben mit gutem Recht, daß in allen neuen und großen Ideen etwas Gutes und Wahres enthalten ist. Wir machen uns kein sanftes Ruhekissen und leben nicht von der Anarchie wie diejenigen, die befürchten, eine neue Idee zu vertreten, zahle sich nicht aus und lasse womöglich die Verkaufszahlen der anarchistischen Zeitschrift einbrechen.

Die pedantischen Wissenschaftler gründen all ihre Theorien auf Wunsch und Neigung. Man tue alles zum eigenen Vergnügen, sagen sie, oder um seine Mitmenschen oder gar die ganze Menschheit glücklich zu machen (?). Ich sehe aber die Individuen nicht mit Wohlgefallen widerliche, schmutzige, langweilige und gefährliche Arbeiten machen. Und dies für seine Mitmenschen zu tun, scheint mir die reinste christliche Selbstaufopferung zu sein. Und wenn wir gar (jemals) die uns angenehmste Tätigkeit selber wählen könnten, so besteht kein Zweifel, daß die meisten Menschen die Arbeiten, welche das jetzige Elend uns auszuführen zwingt, nicht aufkommen lassen würden.

Da höre ich schnell jemanden sagen: „Aber dafür haben wir jetzt eine vollkommene Maschinerie, eine phantastische Maschinenausstattung, welche die Arbeit harmonischer und weniger widerlich macht, und damit würde die Arbeit verringert. Was jetzt abstoßende Mühsal von 10-12 Stunden bedeutet wäre dann ein angenehmer Zeitvertreib von 1-2 Stunden.“

Schon gut, meine Lieben, wir hören wohl. Doch zuerst einmal: Ich glaube nicht an die Ideologie von Neigung, Wunsch und jeder Sentimentalität. „Jeder für sich“ heisst es doch in dieser Welt, und weil ich glaube, daß jedermann die angenehmsten Neigungen sucht, schliesse ich daraus, daß sehr wenige sich für die dreckigen Arbeiten aufopfern würden. Im weiteren ist eure Perfektion der Maschinerie noch nicht real. Oh! Ich zweifle nicht am teilweisen Erfolg; hingegen aber an all den schönen Zukunftsplänen, mit welchen man das Volk immer und überall betrügt. Ich sehe nicht so ganz, wie Maschinen die Erde aushöhlen und ihre Schätze herausholen sollten, ohne daß die Mitwirkung einiger Individuen nötig wäre, die, so wenige es auch wären, dennoch gezwungen wären, unangenehme Arbeit zu tun. Man könnte in dieser Hinsicht leicht Beruf um Beruf durchgehen.

Man vereinfache die Arbeit, andere schaffe man ab, aber es bleiben immer Arbeiten, die trotz allen Fortschrittes des Gottes Maschine durch die Hand des Menschen zu verrichten sind.

Nochmals, keine Sentimentalität! Immer streben wir zur saubersten und einfachsten Arbeit.

Ich glaube, daß viele Genossen, von der Idee dieser schönen zukünftigen Gesellschaft begeistert, die Sachen nur oberflächlich studiert und nie tiefer nachgefragt haben. Sie glauben, daß alle wie sie die Leiden und die Nachteile, welche eine neue Organisation mit sich brächte, akzeptieren könnten. Das ist der Fehler vieler aufrichtiger Gefährten, glaube ich. Und schaut, welche Schönheit findet sich in diesem ins Extrem getriebenen Maschinismus? welche Befriedigung finden wir darin?

Da umgeben uns verschiedenste Apparate, Getriebe, Räder, Schwungräder, Dämpfe, Elektrizitäten, ein richtiges Gewimmel von Drähten, welche schon jetzt eine enorme Arbeitslosigkeit mit sich bringen. Und das ist nur eine Vorahnung davon, was der Maschinismus in der libertären wissenschaftlichen Gesellschaft wäre.

Ich sehe mit Schrecken die Zeit kommen, wo die Häuser voller perfektionierter Apparate sind und wir Gefahr laufen bei der geringsten Unvorsicht in die Welt gesprengt oder verstümmelt zu werden, man lache nicht. Die Möglichkeiten der schnelleren Fortbewegung, die ein enormes Ausmaß annimmt, läßt mich für die zukünftigen Unfälle schaudern.

Wir werden nur noch eingeschlagene Schädel, abgeschnittene Arme und Beine sehen; die Elektrizität erschlägt uns mit ihrer Kraft, die unterdrückten Kriege werden durch die täglichen Verletzungen im Durcheinander des maschinellen Räderwerks ersetzt. Traurige Perspektiven, wo die Versehrten, die Bettler, all die Verkrüppelten sich massenhaft in einer zukünftigen Gesellschaft treffen werden.

Ich mag lieber die Erde, die ernährende Natur mit einem einfachen Leben und unbedingt frei von jeder mühseligen Schufterei. In meiner Hütte oder in meinem Haus erfüllte mich das ländliche und genügsame Leben mit angenehmen Gefühlen und schlösse dabei weder Kunst noch einen kleinen, wohl gemessenen Fortschritt aus, der dafür weniger gefährlich wäre als die Millionen von elektrischen Drähten die uns im Traum der maschinenenthusiastischen anarchistischen Genossen umgeben sollen.