#title Das Manifest der Sechzehn #author Hem Day #LISTtitle Manifest der Sechzehn #SORTauthors Day, Hem; Dieu, Marcel; #SORTtopics Krieg, Bellizismus, Erster Weltkrieg, Antimilitarismus, Militarismus, Nationalismus #date 1933 #source Entnommen aus: Hohmann, Andreas W. (Hg.) – *Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale.* Kapital braucht Kriege – wir nicht! Band 3 #lang de #pubdate 2016-02-05T17:28:32 #notes Französischer Originaltitel: Seize (le manifeste des). Erschienen 1933 als Beitrag zu der von Sébastien Faure herausgegebenen vierbändigen Encyclopédie anarchiste (Paris 1925–1934, S. 2541–2553). Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Michael Halfbrodt. Editorische Vorbemerkung: Hem Day, „Kriegsdienstverweigerer aus Gewissens- und Vemunftgründen, Freidenker, An-anarchist, autodidaktischer Historiker, Buchhändler von Beruf, Belgier von Geburt und Weltbürger“ (so die Kurzcharakteristik seiner „Freunde“) wurde 1902 als Marcel Dieu geboren, kürzte aber später seinen für einen Atheisten etwas unglücklichen bürgerlichen Namen zu M.D. ab (geschrieben: Hem Day). Im Mittelpunkt seines umfangreichen Werkes als Publizist und Aktivist stand seine bedingungslose Solidarität mit Verfolgten aller Richtungen sowie sein radikalpazifistisches Engagement. Hem Day gehörte 1926 zu den Mitbegründern des Comité de Défense Internationale Anarchiste (Internationales anarchistisches Verteidigungskomitee – CDIA) und initiierte in diesem Rahmen eine große Öffentlichkeitskampagne zugunsten der italo-amerikanischen Anarchisten Sacco und Vanzetti sowie der von Auslieferung bedrohten spanischen Anarchisten Ascaso, Durruti und Jover. „Pensée et Action“ (Gedanke und Tat), der Titel seiner über Jahrzehnte, erst als Zeitschrift, dann als Broschürenreihe herausgegebenen Publikation, war gleichsam Programm. Als der belgische Verteidigungsminister 1933 einen Gesetzesentwurf ins Parlament einbrachte, der vorsah, pazifistische und antimilitaristische Propaganda unter Strafe zu stellen, schickten Hem Day und sein lebenslanger Freund Léo Campion (später ein bekannter Schauspieler und Chansonnier) aus Protest ihre Wehrpässe an die Behörden zurück. Sie erhielten prompt ihre Gestellungsbefehle und wurden, als sie diese verweigerten, verhaftet, vor ein Militärgericht gestellt und zu zwei bzw. anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt. Mit einem Hungerstreik, unterstützt durch eine internationale Solidaritätskampagne, konnten sie schließlich ihre Freilassung erzwingen – der Gesetzesentwurf wurde fallen gelassen. Hem Days Buchladen in Brüssel – Les Joies de l’Esprit (Die Freuden des Geistes) – diente nicht nur dem Broterwerb, sondern war über Jahrzehnte eine beliebte Anlaufstelle für Anarchisten und darüber hinaus ein Zufluchtsort für Verfolgte aus aller Welt – italienische und spanische Antifaschisten, französische Deserteure, deutsche Nazigegner, von Deportation bedrohte Juden, Kriegsdienstverweigerer, Illegale usw. Hem Day blieb bis zu seinem Tod seinen vielfältigen libertärpazifistischen, bürgerrechtlichen, literarisch-historischen Interessen und Engagements treu. Er starb 1969 in Brüssel. Der vorliegende Text, 1933 entstanden, wurde unter dem Titel „Seize (le manifeste des)“ als Beitrag zu der von Sébastien Faure herausgegebenen vierbändigen Encyclopédie anarchiste (Paris 1925–1934, S. 2541–2553) veröffentlicht. Unter dieser Bezeichnung versteht man in der anarchistischen Bewegung eine Erklärung vom 28. Februar 1916, die erstmals am 14. März 1916 von der syndikalistischen Tageszeitung La Bataille veröffentlicht wurde. Nummer 16 der Publications de La Révolte et Temps Nouveaux[1] vom 15. Oktober 1922 hat die besagte Erklärung in vollem Wortlaut nachgedruckt, allerdings nur mit fünfzehn Unterschriften, was daher rührt, dass Husseindey, der vermeintlich sechzehnte Unterzeichner, in Wirklichkeit nur der (algerische) Wohnort eines der Unterzeichner, Orfila, war. Somit hätte das berühmt-berüchtigte Manifest der Sechzehn eigentlich Manifest der Fünfzehn heißen müssen. Allerdings befände man sich im Irrtum, wollte man in dieser Erklärung nur ein Bekenntnis von fünfzehn Anarchisten sehen. Aufgrund der Zeitumstände war der Text, als man ihn der französischen und der internationalen Presse übergab, nur von fünfzehn Genossen gezeichnet, da man es eilig hatte, ihn zu veröffentlichen. In der Ausgabe von La Libre Fédération[2], einer in Lausanne erscheinenden anarcho-kommunistischen Zeitschrift, vom 14. April 1916 kamen mehr als hundert neue Unterschriften zu den ursprünglichen hinzu: sie stammten von französischen sowie (in der Mehrzahl) italienischen Genossen, vereinzelt aus der Schweiz, England, Belgien und Portugal. Einige wiesen den merkwürdigen Zusatz „Zu den Armeen“ auf. Soweit zur Geschichte dieser Erklärung, die heftige Polemiken hervorrufen und zu Gegensätzen führen sollte, die auch jetzt [1933] noch nicht überwunden sind. Um dieses Manifest innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts besser einzuordnen, sei es mir gestattet, es in mehrerlei Hinsicht mit dem Manifest der 93 deutschen Intellektuellen zu vergleichen, das ebenfalls Anlass zu zahlreichen Kommentaren gab, und zu behaupten, dass es für die anarchistische Bewegung die gleiche Bedeutung hatte wie Letzteres für die Welt der „Intellektuellen“.[3] Das Manifest der Sechzehn – wir werden es auch weiterhin so nennen – hatte eine beträchtliche Resonanz, wie im gesamten Verhalten der anarchistischen Bewegung in der Nachkriegszeit vehement zum Ausdruck kam. Es ist noch lange nicht in Vergessenheit geraten, dem Desinteresse anheimgefallen oder im Museum der theoretischen Irrwege oder taktischen Verfehlungen gegenüber einem Ideal gelandet. Ich weiß nicht, ob kommende Generationen ihm noch die gleiche Bedeutung beimessen werden; wie dem auch sei, es war, wie schwerlich zu bestreiten sein wird, für die anarchistische Bewegung ein höchst bedauerliches Ereignis. Es war der Grund für Spaltungen und Fraktionierungen, deren Folgen die ganze Bewegung zu spüren bekam. Die anarchistische Bewegung war vor 1914 weit davon entfernt, organisierte und disziplinierte Massen hin sich zu scharen wie die politischen Parteien und die Arbeiterorganisationen. Wenngleich auch die Anhänger des anarchistischen Ideals den einen oder anderen Abgang zu verzeichnen hatten, so kann man dennoch guten Gewissens behaupten, dass diese vergleichsweise unbedeutend waren. Man kann sogar ohne Übertreibung sagen, dass das anarchistische Ideal blieb, was es immer war, ohne durch Richtungsstreitigkeiten beeinträchtigt zu werden, deren Ausmaß mit der Verteidigung seines Gedankenguts und seiner Grundprinzipien nicht mehr oder zumindest schwer zu vereinbaren gewesen wäre. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges setzten einige nach England geflüchtete anarchistische Aktivisten ihre Propaganda in Freedom fort, der 1886 von Kropotkin und Charlotte M. Wilson gegründeten anarcho-kommunistischen Zeitschrift.[4] In den Ausgaben von Oktober, November und Dezember 1914 entzündete sich eine lebhafte Kontroverse über den Krieg. Einem kriegsbefürwortenden Beitrag von Kropotkin, Tscherkesoff[5] und Jean Grave[6] stand einer der Kriegsgegner, Malatesta[7] und der Großteil der englischen Anarchisten, gegenüber. Kropotkin fand sich nur schwer damit ab, dass man einen anderen als den von den Kriegsbefürwortem vertretenen Standpunkt einnehmen könne und wiederholte folgerichtig eine bereits früher geäußerte Meinung, nämlich, dass er im Falle eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland für Frankreich eintreten werde, das er für höher entwickelt hielt und dessen Niederlage ihn einen Triumph der internationalen Reaktion befürchten ließ. Während eines Parisaufenthalts im Jahr 1913 (wie ich vermute) hatte Kropotkin einigen Freunden anvertraut: „Und der Krieg? Ich habe schon bei einem der letzten Male, als ich in Paris war und wo ebenfalls vom Krieg geredet wurde, gesagt, dass ich es bedaure, 62 Jahre alt zu sein und nicht zum Gewehr greifen zu können, um Frankreich zu verteidigen, falls es von Deutschland angegriffen und erobert zu werden drohe. In diesem Punkt habe ich meine Meinung nicht geändert. Ich lasse nicht zu, dass ein Land von einem anderen mit militärischen Mitteln angegriffen wird, und ich würde Frankreich gegen jedes andere Land verteidigen, egal ob gegen Russland, England, Japan oder eben Deutschland“.[8] Das war ein frankophiles Bekenntnis, gepaart mit einer Revolutionsromantik, die schlecht zum Verfasser der „Eroberung des Brotes“ oder der „Worte eines Rebellen“ passte, sich aber mit dem Autor der „Französischen Revolution“[9] vertrug. Doch wie verhielt es sich dann mit dem berühmten, von der revolutionäranarchistischen Bewegung propagierten „Aufstand im Kriegsfall“? Diese Polemik zwischen Interventionisten und Kriegsgegnern führte bald zum Bruch in der Freedom-Gruppe. Über das zulässige Maß einer korrekt geführten Debatte hinaus ließ sich Tscherkesoff dazu hinreißen, „Keell persönlich auf das Übelste zu beschimpfen, weil dieser sich weigerte, dem Ansinnen des (bestenfalls) halben Dutzends Kropotkinianer nachzugeben, die die Zeitschrift in den Dienst der Kriegspropaganda stellen wollten“. Um den schlechten Eindruck zu zerstreuen, den dieser heftige Bruch hinterließ, gaben die Londoner Exilanarchisten zusammen mit den englischen Genossen ein in englischer, französischer und deutscher Sprache verfasstes Manifest heraus, das von 36 Genossen unterzeichnet war und den Titel trug: „Die anarchistische Internationale und der Krieg“. Hier der Text dieses Manifests: „Europa steht in Flammen, zehn Millionen Männer kämpfen gegeneinander im schrecklichsten Gemetzel, das die Geschichte je gesehen hat, Millionen Frauen und Kinder weinen, das wirtschaftliche, geistige und sittliche Leben sieben großer Völker ist jäh zum Stillstand gelangt und jeden Tag droht neues, noch schlimmeres Unheil – das ist seit sieben Monaten das traurige, beängstigende, widerliche Schauspiel, das die zivilisierte Welt uns bietet. Allerdings ein vorhersehbares Schauspiel, zumindest für die Anarchisten, denn für sie gibt und gab es nie einen Zweifel – und die schrecklichen Ereignisse von heute bestätigen sie nur in dieser Gewissheit –, dass die bestehende Gesellschaftsordnung ständig mit dem Krieg schwanger geht und dass der bewaffnete Konflikt, ob begrenzt oder umfassend, in den Kolonien oder in Europa, die natürliche Konsequenz, die notwendige und zwangsläufige Folge eines Regimes ist, das auf der ökonomischen Ungleichheit der Bürger, auf dem schroffen Gegensatz der Interessen beruht, und in dem die Arbeiterschaft sich in strenger und schmerzlicher Abhängigkeit von einer kleinen Zahl von Parasiten befindet, die zugleich die politische und die wirtschaftliche Macht in ihren Händen halten. Der Krieg war unvermeidlich: egal aus welchem Anlass, er musste ausbrechen. Nicht umsonst häuft man seit einem halben Jahrhundert die gewaltigsten Waffenarsenale an, erhöht täglich die Budgets für den Tod. Wer ständig das Kriegsgerät perfektioniert, wer unaufhörlich versucht, die Gemüter und Meinungen auf eine bessere Organisation der Militärmaschine einzuschwören, der arbeitet nicht für den Frieden. Es ist auch naiv und kindisch, nach der Schaffung so vieler Gründe und Anlässe für Konflikte zu versuchen, die Schuld einer bestimmten Regierung zuzuschieben. Man kann nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterscheiden. Im gegenwärtigen Konflikt haben sich die Regierungen in Berlin und Wien mit nicht weniger glaubwürdigen Dokumenten gerechtfertigt als die Regierungen von Paris, London oder Petrograd; und stünde, wer die unbestreitbarsten und maßgeblichsten Dokumente vorlegen könnte, um sein reines Gewissen zu beweisen und sich als mustergültiger Verteidiger von Recht und Freiheit auszugeben, an der Spitze der Zivilisation? Die Zivilisation? Wer verkörpert sie in diesem Augenblick? Der deutsche Staat mit seinem ungeheuer mächtigen Militarismus, der jede Revolte im Keim erstickt? Der russische Staat, dessen Überzeugungskraft allein in Knute, Galgen und Verbannung besteht? Der französische Staat mit Biribi[10], den blutigen Feldzügen in Tonkin[11], Madagaskar und Marokko, der Zwangsrekrutierung von schwarzen Truppen? Frankreich, in dessen Gefängnissen seit Jahren Genossen einsitzen, deren einzige Schuld darin besteht, sich mündlich oder schriftlich gegen den Krieg geäußert zu haben? Ist es England, dass die Bevölkerungen seines riesigen Kolonialreichs ausbeutet, spaltet, hungern lässt und unterdrückt? Nein, keine der Kriegsparteien hat ein Recht, sich auf die Zivilisation zu berufen, und keine darf für sich ein Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Die wahre Ursache der Kriege, desjenigen, der gegenwärtig die Regionen Europas mit Blut tränkt, wie aller vorherigen, liegt in der Existenz des Staates, der politischen Form des Privilegs. Der Staat ist militärischer Gewalt entsprungen, seine Entwicklung verdankt sich militärischer Gewalt und folgerichtig ist es wiederum militärische Gewalt, auf die er sich stützen muss, um seine Macht zu erhalten. Welche Form er auch annimmt, der Staat ist immer nur die organisierte Unterdrückung im Interesse einer privilegierten Minderheit. Der gegenwärtige Konflikt zeigt dies auf schlagende Weise: Alle Staatsformen beteiligen sich an diesem Krieg: der Absolutismus in der Gestalt Russlands; der mit parlamentarischen Elementen versetzte Absolutismus Deutschlands; der über Völker ganz unterschiedlicher Rassen herrschende Staat Österreichs; die konstitutionelle Demokratie Englands und die demokratische Republik Frankreichs. Es ist das Unglück der Völker, dass sie, obwohl zutiefst friedliebend, in den Staat mit seinen intriganten Diplomaten vertrauten, in die Demokratie und die politischen Parteien (selbst die oppositionellen des parlamentarischen Sozialismus), um den Krieg zu vermeiden. Dieses Vertrauen ist vorsätzlich missbraucht worden und wird weiterhin missbraucht, wenn die Regierungen mit Hilfe ihrer gesamten Presse ihre jeweiligen Bevölkerungen davon zu überzeugen versuchen, dass dieser Krieg ein Befreiungskrieg ist. Wir sind entschieden gegen jeden zwischenstaatlichen Krieg; und in neutralen Ländern wie Italien, wo die Regierenden beabsichtigen, neue Volksmassen ins Kriegsgetümmel zu werfen, stemmten und stemmen sich unsere Genossen mit aller Kraft gegen den Krieg und werden es immer tun. Die Rolle der Anarchisten, an welchem Ort und in welcher Lage innerhalb der derzeitigen Tragödie sie sich auch befinden, besteht darin, weiter zu verkünden, dass es in allen Ländern nur einen Befreiungskrieg gibt: denjenigen der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter. Es ist unsere Rolle, die Sklaven zur Revolte gegen ihre Herrn aufzurufen. Die anarchistische Propaganda und Aktion müssen beharrlich darauf ausgerichtet sein, die verschiedenen Staaten zu schwächen und zu zersetzen, den Geist der Revolte zu kultivieren und die Unzufriedenheit in den Volksmassen und den Armeen zu schüren. Wir müssen alle Soldaten aller Länder, die überzeugt sind, für Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen, erklären, dass ihr Heldenmut und ihre Tapferkeit nur dazu dienen, Hass, Tyrannei und Elend aufrechtzuerhalten. Es gilt, den Fabrikarbeitern ins Gedächtnis zu rufen, dass die Gewehre, die sich jetzt in Händen halten, in den Tagen des Streiks und der legitimen Revolte gegen sie verwendet wurden und später wieder gegen sie eingesetzt werden, um sie zu zwingen, sich der kapitalistischen Ausbeutung zu fügen. Den Bauern zu zeigen, dass sie sich nach dem Krieg wieder dem Joch beugen und das Land ihrer Herrn bestellen und die Reichen ernähren müssen. Allen Parias, dass sie ihre Waffen nicht abgeben dürfen, solange sie nicht mit ihren Unterdrückern abgerechnet und das Land und die Fabriken in ihren eigenen Besitz genommen haben. Zeigen wir den Müttern, den Töchtern, den Gefährtinnen, die an einem Übermaß an Elend und Entbehrung leiden, wer die wahren Verantwortlichen ihrer Schmerzen und des Mordes an ihren Vätern, Söhnen und Ehemännern sind. Wir müssen uns alle Regungen der Revolte, der Unzufriedenheit zunutze machen, um den Aufstand vorzubereiten, die Revolution zu organisieren, von der wir uns das Ende aller sozialen Ungerechtigkeiten erwarten. Kein Verzagen – selbst angesichts einer Katastrophe wie dem gegenwärtigen Krieg. Gerade in solch unruhigen Zeiten, in denen tausende Männer ihr Leben für eine Idee opfern, müssen wir diesen Männern die Vornehmheit, die Größe und Schönheit des anarchistischen Ideals verdeutlichen: die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit durch den freien Zusammenschluss der Produzenten; die endgültige Beseitigung von Krieg und Militarismus; die Eroberung der umfassenden Freiheit durch die vollständige Zerstörung des Staates und seiner Zwangsorgane. Es lebe die Anarchie!“ London, Februar 1915. – Léonard d’Abbot[12], Alexandre Berckman[13], L. Bertoni[14], L. Bersani, G. Bernard, A. Bemado, G. Barrett[15], E. Boudot[16], A. Gazitta, Joseph J. Cohen[17], Henri Combes[18], Nestor Ciek van Diepen, F.-W. Dünn[19], Ch. Frigerio[20], Emma Goldman[21], V. Garcia[22], Hippolyte Havel[23], T.-H. Keell[24], Harry Kelly[25], J. Lemarie, E. Malatesta, A. Marquez, F. Domela-Nieuwenhuis[26], Noël Paravich, E. Recchioni[27], G. Rijnders, I. Rochtchine, A. Savioli, A. Schapiro[28], William Shatoff[29], V.-J.-C. Schermerhom, G. Trombetti, P. Vallina[30], G. Vignati, L.-G. Wolf[31], S. Yanovsky[32]. Während die schmerzlichen Ereignisse ihren Lauf nahmen, die seit August 1914 die ganze Welt mit blutigen Wirren überzogen und sie in ein riesiges, grauenvolles Schlachthaus verwandelten, empfanden zu Beginn des Jahres 1916, gerade in dem Augenblick, als erstmals von Frieden die Rede war, manche Anarchisten das dringende Bedürfnis, ihre Position zu dem kriegerischen Konflikt, an dem alle Völker Europas und Amerikas beteiligt waren, zu bekräftigen. So entstand jene Erklärung, die in revolutionären, vor allem anarchistischen Kreisen den Namen „Manifest der Sechzehn“ erhalten sollte. Ihr Initiator war Jean Grave, ein bekannter anarchokommunistischer Theoretiker, Verfasser von Werken wie „Die sterbende Gesellschaft und die Anarchie“, „Reformen und Revolution“, „Die Zukunftsgesellschaft“, usw... Hier nun der Text dieser Erklärung der Sechzehn: „Von verschiedenen Seiten werden Stimmen laut, die einen sofortigen Frieden fordern. „Genug des Blutvergießens, genug der Zerstörung“, heißt es, „es ist Zeit, damit aufzuhören, auf welche Weise auch immer“. Mehr als irgendjemand sonst, und das seit langem, sind wir, in unseren Zeitungen, gegen jeden Angriffskrieg zwischen Staaten eingetreten, und gegen jeden Militarismus, egal, ob er den Helm des Kaisers oder den der Republik trägt. Und wir wären im höchsten Maße beglückt, wenn die Arbeiter Europas auf einem internationalen Kongress die Bedingungen für einen Frieden diskutieren würden – wenn so etwas möglich wäre. Zumal sich das deutsche Volk im August 1914 hat täuschen lassen, und auch wenn es wirklich geglaubt hat, für die Verteidigung seines Territoriums mobilisiert zu werden, so hatte es mittlerweile Zeit genug, um zu bemerken, dass man es betrogen und stattdessen in einen Eroberungskrieg geworfen hat. Tatsächlich sollten die deutschen Arbeiter, zumindest in ihren mehr oder weniger fortschrittlichen Gruppierungen, inzwischen verstanden haben, dass die Pläne zur Invasion Frankreichs, Belgiens und Russlands von langer Hand vorbereitet waren und dass, wenn dieser Krieg nicht 1875, 1880, 1911 oder 1913 ausgebrochen ist, es daran lag, dass die internationalen Beziehungen zu dieser Zeit noch keine so günstigen Voraussetzungen boten und die militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug vorangeschritten waren, um Deutschland die Aussicht auf einen Sieg zu eröffnen (Vervollständigung der strategischen Linien, Ausbau des Nordostseekanals, Perfektionierung der großen Belagerungsgeschütze). Und jetzt, nach zwanzig entsetzlich verlustreichen Monaten Krieg sollte ihnen bewusst sein, dass die deutsche Armee ihre Eroberungen nicht wird behaupten können. Zumal der Grundsatz zu berücksichtigen ist (den Frankreich schon 1859, nach der Niederlage Österreichs, anerkannt hat), dass es der Bevölkerung jedes Territoriums selbst obliegt, darüber zu entscheiden, ob sie annektiert werden möchte oder nicht. Wenn die deutschen Arbeiter beginnen, die Situation so zu verstehen, wie wir es tun, und wie bereits jetzt eine kleine Minderheit ihrer Sozialdemokraten sie versteht[33] – und wenn es ihnen gelingt, sich bei ihren Regierenden Gehör zu verschaffen –, dann könnte es eine Ebene der Verständigung geben, um mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Doch dazu müssten sie erklären, dass sie Annexionen absolut ablehnen; dass sie auf das Vorhaben verzichten, von den eroberten Nationen „Kontributionen“ zu erheben; dass sie die Pflicht des deutschen Staates anerkennen, die materiellen Schäden, die von den Invasoren bei ihren Nachbarn angerichtet wurden, im Rahmen des Möglichen zu beheben, und dass sie nicht die Absicht hegen, sie durch sogenannte Handelsverträge ökonomisch zu unterwerfen. Leider sind bisher keine Anzeichen eines solchen Erwachens seitens des deutschen Volkes zu erkennen. Es war von der Zimmerwalder Konferenz[34] die Rede, doch auf dieser Konferenz fehlte das Wesentliche: eine Vertretung der deutschen Arbeiter.[35] Man hat auch viel Aufhebens von einigen Unruhen gemacht, die in Deutschland wegen der hohen Lebensmittelpreise ausgebrochen sind. Dabei wird vergessen, dass es in allen großen Kriegen zu solchen Unruhen kam, ohne dass sie Einfluss auf deren Dauer hatten. Außerdem weisen alle derzeit von der deutschen Regierung getroffenen Maßnahmen darauf hin, dass sie neue Offensiven für das Frühjahr plant. Da sie aber auch weiß, dass die Alliierten ihr im Frühjahr mit neuen, besser ausgerüsteten Armeen und einer viel stärkeren Artillerie als zuvor gegenüberstehen werden, arbeitet sie auch daran, Zwietracht in den Bevölkerungen der alliierten Länder zu säen. Und sie setzt dafür ein Mittel ein, das so alt ist wie der Krieg selbst: das Verbreiten von Gerüchten über einen bevorstehenden Frieden, dem sich auf Seiten des Gegners nur die Militärs und die Waffenlieferanten widersetzen würden. Eben darum bemühte sich Bülow mit seinen Sekretären während seines letzten Aufenthalts in der Schweiz. Doch was sind seine Bedingungen für einen Friedensschluss? Die Neue Züricher Zeitung glaubt zu wissen, und die regierungsamtliche Norddeutsche Zeitung widerspricht ihr nicht, dass ein Großteil Belgiens geräumt würde, allerdings nur unter der Bedingung, dass das Land Garantien abgibt, dass es sich nicht nochmals, wie im August 1914, dem Durchmarsch deutscher Truppen widersetzt. Was wären das für Garantien? Die belgischen Kohlegruben? Der Kongo? Davon verlautet nichts. Doch bereits jetzt wird eine hohe jährliche Kontribution erhoben. Die eroberten Territorien in Frankreich würden zurückgegeben, ebenso der französischsprachige Teil Lothringens. Doch im Gegenzug müsste Frankreich dem deutschen Staat alle russischen Anleihen überlassen, deren Wert sich auf achtzehn Milliarden beläuft. Mit anderen Worten, eine Kontribution von achtzehn Milliarden, die von den französischen Land- und Industriearbeitern aufzubringen wären, weil sie die Steuerzahler sind. Achtzehn Milliarden für den Rückkauf von zehn Departements, die dank ihrer Hände Arbeit so reich und prosperierend waren und die sie ruiniert und verwüstet zurückerhalten... Und wenn man wissen will, was man in Deutschland über die Friedensbedingungen denkt, so ist eines sicher: die bürgerliche Presse bereitet die Nation auf den Gedanken vor, Belgien und die französischen Norddepartements schlicht und einfach zu annektieren. Und es gibt in Deutschland keine Kraft, die dagegen Widerstand leisten würde. Die Arbeiter, die ihre Stimme gegen diese Eroberungen hätten erheben müssen, tun es nicht. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter lassen sich von der Welle imperialistischer Begeisterung mitreißen und die sozialdemokratische Partei, die trotz ihres Massenanhangs zu schwach ist, um in allem, was den Frieden betrifft, Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung zu nehmen, ist in dieser Frage in zwei verfeindete Lager gespalten, wobei die Parteimehrheit auf Seiten der Regierung steht. Das deutsche Reich sieht angesichts der Tatsache, dass seine Armeen seit achtzehn Monaten 90 Kilometer vor Paris stehen und dass es in seinem Traum von neuen Eroberungen vom deutschen Volk unterstützt wird, keinerlei Veranlassung, warum es aus seinen bisherigen Eroberungen keinen Nutzen ziehen sollte. Es glaubt sich in der Lage, Friedensbedingungen diktieren zu können, die ihm ermöglichen würden, mit den neuen Milliarden an Kontributionen weiter aufzurüsten, um Frankreich bei passender Gelegenheit erneut anzugreifen, ihm seine Kolonien und weitere Provinzen zu entreißen, ohne seinen Widerstand noch fürchten zu müssen. Gerade jetzt von Frieden zu sprechen, hieße genau, das Spiel der deutschen Regierungspartei zu betreiben, das von Bülow und seiner Agenten. Wir hingegen weigern uns strikt, die Illusionen mancher unserer Genossen zu teilen, was die friedlichen Absichten derer angeht, die die Geschicke Deutschlands lenken. Wir ziehen es vor, der Gefahr ins Auge zu blicken und zu unternehmen, was notwendig ist, um sie abzuwenden. Diese Gefahr zu ignorieren hieße, sie zu vergrößern. Unserer tiefsten Überzeugung nach ist die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin. Deshalb haben wir Anarchisten, wir Antimilitaristen, wir Kriegsgegner, wir leidenschaftlichen Befürworter des Friedens und des brüderlichen Miteinanders der Völker, uns auf die Seite des Wiederstandes gestellt, in dem Glauben, unser Schicksal nicht von dem der übrigen Bevölkerung trennen zu dürfen. Wir halten es für überflüssig zu betonen, dass wir es lieber gesehen hätten, dass diese Bevölkerung ihre Selbstverteidigung in die eigenen Hände nimmt. Da dies unmöglich war, blieb nur, sich in das Unabänderliche zu fügen. Und mit denen, die kämpfen, sind wir der Meinung, dass solange die deutsche Bevölkerung nicht zu vernünftigeren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit zurückkehrt und endlich aufhört, sich als Werkzeug pangermanischer Herrschaftspläne missbrauchen zu lassen, von Frieden keine Rede sein kann. Trotz des Krieges, trotz des Gemetzels haben wir natürlich nicht vergessen, dass wir Internationalisten sind, dass wir die Einheit der Völker wollen, das Verschwinden der Grenzen. Und gerade, weil wir die Versöhnung der Völker, einschließlich des deutschen Volkes, wollen, sind wir der Auffassung, dass man einem Aggressor widerstehen muss, der die Auslöschung all unserer emanzipatorischen Hoffnungen verkörpert. Von Frieden zu sprechen, so lange die Partei, die Europa seit fünfundvierzig Jahren[36] in ein befestigtes Heerlager verwandelt, in der Lage ist, ihre Bedingungen zu diktieren, wäre der schlimmste Fehler, den man begehen könnte. Widerstand zu leisten und ihre Pläne zum Scheitern zu bringen, heißt, dem vernünftig gebliebenen Teil der deutschen Bevölkerung den Weg zu bereiten und ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich dieser Partei zu entledigen. Mögen unsere deutschen Genossen einsehen, dass dies die einzige, für beiden Seiten vorteilhafte Lösung ist, dann sind wir bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten – 28. Februar 1916.“ Da unter dem Druck der Ereignisse bei der Veröffentlichung dieser Erklärung Eile geboten war, hatten zu dem Zeitpunkt, als sie der französischen und ausländischen Presse übergeben wurde, lediglich fünfzehn Genossen, deren Namen folgen, den Text gebilligt: Christian Comelissen[37], Henri Fuss[38], Jean Grave, Jacques Guérin[39], Peter Kropotkin, A. Laisant[40], F. Le Lève (Lorient)[41], Charles Malato[42], Jules Moineau (Lüttich)[43], Ant. Orfila (Husseindey, Algerien), M. Pierrot[44], Paul Reclus[45], Richard (Algerien)[46], Ichikawa (Japan)[47], W. Tscherkesoff. Um den Eindruck entgegenzutreten, den diese Erklärung auf politisch fortschrittliche Kreise machte, und um sich von denen abzugrenzen, die mit der Unterzeichnung der Erklärung der Sechzehn für den sogenannten „Krieg des Rechts“ eintraten, veröffentlichte bereits im April 1916 eine Anzahl von Aktivisten im Londoner Exil unter der Bezeichnung „Gruppe internationaler Anarchisten“ ein Protestschreiben mit dem Titel „Anarchistische Erklärung“. Diese Erklärung hat folgenden Wortlaut: „Seit bald zwei Jahren wird Europa von der schrecklichsten Plage heimgesucht, die die Geschichte je erlebt hat, und bisher ist kein wirksames Mittel gefunden worden, um ihrem Wüten Einhalt zu gebieten. Unter Missachtung vorheriger Erklärungen haben sich die meisten Führer der fortschrittlichsten Parteien, darunter die meisten Führer der Arbeiterorganisationen – teils aus Feigheit, teils aus mangelnder Überzeugung, teils aus Eigennutz – von der patriotisch-militaristischen Kriegspropaganda vereinnahmen lassen, die in jeder kriegführenden Nation mit einer Heftigkeit tobt, die durch die Lage und das Wesen der Zeit, die wir gerade durchmachen, hinreichend erklärt wird. Was die große Masse des Volkes angeht, so ist ihr Denken durch Schule, Kirche, Armee und Presse geprägt, d.h. durch Unwissenheit, Leichtgläubigkeit, mangelnde Initiative, Erziehung zum Gehorsam und Bereitschaft, sich dem Willen der selbstgewählten Herrn, vom Gesetzgeber bis zum Gewerkschaftssekretär, zu fügen. Sie ist unter dem Druck dieser Hirten, die, ob große oder kleine, bei diesem schäbigsten aller Gewerbe einträchtig Zusammenwirken, brav ins Schlachthaus marschiert und hat dabei, durch die Kraft ihrer eigenen Trägheit, selbst ihre Besten mitgerissen, die das Risiko, an die Wand gestellt zu werden, nur durch die Gefahr vermieden, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Dennoch haben schon in den ersten Tagen, sogar schon vor der Kriegserklärung, die Anarchisten aller Länder, ob kriegführende oder neutrale, mit einigen, aber so wenigen Ausnahmen, dass man sie als unbedeutend vernachlässigen konnte, eindeutig gegen den Krieg Stellung bezogen. Von Beginn an haben einige von uns, Helden und Märtyrer, deren Namen man später kennen wird, es vorgezogen, lieber erschossen zu werden, als sich an dem Blutbad zu beteiligen. Andere büßen in kaiserlichen oder republikanischen Kerkern für das Verbrechen, protestiert und versucht zu haben, das Bewusstsein des Volkes zu wecken. Noch vor Ende des Jahres 1914 gaben die Anarchisten ein Manifest heraus, das die Zustimmung von Genossen auf der ganzen Welt fand und von unseren Organen in den Ländern abgedruckt wurde, in denen es noch welche gab. Dieses Manifest stellte klar, dass die Schuld für die gegenwärtige Tragödie bei ausnahmslos allen Regierenden liegt sowie bei den Großkapitalisten, in deren Diensten sie stehen, und dass die kapitalistische Organisation und der Autoritarismus der Gesellschaft die ausschlaggebenden Gründe jedes Krieges sind. Und es beseitigte die Unklarheiten, die durch das Verhalten einiger weniger, aber dafür umso lauterer „Kriegsanarchisten“ entstanden waren. Letztere waren schon deshalb unüberhörbar, weil sie der Sache ihres einstigen und unseres ewigen Feindes, des Staates, dienten und sich deshalb, als einzige, frei und offen äußern durften. Die Monate vergingen, anderthalb Jahre zogen ins Land, und diese Renegaten riefen weiter seelenruhig und in sicherer Entfernung von den Schützengräben zur Fortsetzung des stumpfsinnigen und widerwärtigen Mordens auf. Als sich letzten Monat eine Bewegung für den Frieden abzuzeichnen begann, meinten die Berüchtigsten unter ihnen, eine Aufsehen erregende Tat vollbringen zu müssen, um zugleich die Pläne dieser Strömung, die Herrschenden zur Einstellung der Kampfhandlungen zu zwingen, zu durchkreuzen und den Eindruck zu erwecken, die Anarchisten hätten sich der Idee und der Sache des Krieges angeschlossen. Wir wollen über jene Erklärung sprechen, die am 14. März in La Bataille, in Paris, erschienen ist, unterzeichnet von Christian Comelissen, Henri Fuss, Jean Grave, Jacques Guérin, Hussein Bey, Peter Kropotkin, A. Laisant, F. Le Levé, Charles Malato, Jules Moineaux, Ant. Orfila, M. Pierrot, Paul Reclus, Richard, S. Shikawa, W. Tscherkesoff, und die, selbstverständlich, von der reaktionären Presse begrüßt wurde. Es wäre uns ein Leichtes, uns über diese einstigen Genossen lustig zu machen, oder uns gar über die Rolle, die sie spielen, aufzuregen, die Tatsache, dass sie aufgrund ihres Alters, ihrer besonderen Situation oder auch ihres Wohnsitzes von jeder persönlichen Gefahr verschont sind und dennoch mit einer Gnadenlosigkeit oder Grausamkeit, die selbst manchem konservativen Bewahrer der bestehenden Gesellschaftsordnung abgeht, zu schreiben wagen, während sich allenthalben Erschöpfung breit macht und sich erste zarte Friedensbestrebungen zeigen, zu schreiben wagen, sagen wir, das jetzt „von Frieden zu sprechen, der schlimmste Fehler ist, den man begehen könnte“ und die behaupten: „Mit denen, die kämpfen, sind wir der Meinung, dass von Frieden keine Rede sein kann“. Nun wissen wir, und sie werden das nicht ignorieren können, was die „Kämpfenden“ denken. Wir wissen, was „diejenigen, die sterben werden“, um es deutlicher zu sagen, sich wünschen; auch wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass die Gründe für ihre Schwäche vielleicht dazu führen werden, dass sie sterben, ohne die Initiative ergriffen zu haben, die sie retten würde. Wir überlassen diese Genossen von einst ihren neuen Freunden. Was wir jedoch wollen, worauf es uns im Wesentlichen ankommt, ist, Widerspruch einzulegen gegen ihren Versuch, die anarchistische Weltbewegung und die anarchistische Philosophie an sich in den Dunstkreis ihrer armseligen neo-etatistischen Spekulationen hineinzuziehen; dagegen, dass sie versuchen, mit ihrer Geste in den Augen der unaufgeklärten Öffentlichkeit die Gesamtheit der Anarchisten zu vereinnahmen, die einer Vergangenheit treu geblieben sind, zu deren Verleugnung sie keinerlei Anlass sehen, und die mehr denn je an die Wahrheit ihrer Ideen glauben. Die Anarchisten haben keine Führer, will sagen, keine Anführer. Abgesehen davon wollen wir mit unseren Aussagen nicht nur belegen, dass diese sechzehn Unterzeichner die Ausnahme sind und wir die große Mehrheit, was von beschränkter Relevanz wäre, sondern auch, dass sie sich mit ihrer Geste und ihren Behauptungen in keiner Weise auf unsere Lehre berufen können, dass sie vielmehr in einem absoluten Widerspruch zu dieser stehen. Hier ist nicht der Ort, um im Detail, Satz für Satz, auf diese Erklärung einzugehen, um jede ihrer Thesen zu analysieren und zu kritisieren. Im Übrigen ist sie ja bekannt. Was findet man darin? All den nationalistischen Unsinn, den wir seit bald zwei Jahren in einer käuflichen Presse lesen, all die patriotischen Dummheiten, über die sich die Verfasser früher lustig machten, all die Phrasen über Außenpolitik, mit denen die Regierungen die Völker einlullen. Sie prangern einen Imperialismus an, den sie inzwischen nur noch bei ihren Gegnern entdecken. Als würden sie in den Ministerien, Stäatskanzleien und Generalstäben ein und aus gehen, jonglieren sie mit Entschädigungssummen herum, beurteilen militärische Kräfteverhältnisse und zeichnen, sie, die ehemaligen Verächter des Vaterlandsgedankens, die Weltkarte neu, auf Grundlage des „Völkerrechts“ und des „Nationalitätenprinzips“. Da sie es für gefährlich erachten, von Frieden zu sprechen, solange nicht, um den gängigen Ausdruck zu verwenden, der preußische Militarismus, und er allein, zerschlagen ist, ziehen sie es vor, weitab vom Schuss, der Gefahr ins Auge zu sehen. Wenn wir die in ihrer Erklärung formulierten Ideen eher zusammenfassend betrachten, so stellen wir fest, dass kein Unterschied besteht zwischen der These, die in ihr vertreten wird, und dem üblichen Anliegen der Autoritätsparteien, die sich, in jeder kriegführenden Nation, zu einem „Heiligen Bund“ zusammengeschlossen haben. Auch sie, die abtrünnigen Anarchisten, sind dem „Heiligen Bund“ zur Verteidigung der berühmten „errungenen Freiheiten“ beigetreten und sie sehen keinen besseren Weg, um diese vermeintliche Freiheit der Völker zu bewahren, zu deren Vorkämpfern sie sich aufwerfen, als das Individuum zu zwingen, im Auftrag und zum Wohle des Staates zu töten und sich töten zu lassen. In Wirklichkeit ist diese Erklärung nicht das Werk von Anarchisten. Sie wurde von Etatisten geschrieben, solchen zwar, die sich dessen nicht bewusst sind, aber dennoch Etatisten. Und nichts unterscheidet, diesem unnötig opportunistischen Werk nach zu urteilen, diese Ex-Genossen noch von jenen Politikern, Moralisten und Philosophen auf Regierungsseite, deren Bekämpfung sie einst ihr Leben gewidmet hatten. Einen Staat, eine Regierung in ihrem Kampf gegen einen anderen Staat, eine andere Regierung zu unterstützen, selbst wenn dabei keine blutige Gewalt im Spiel wäre, zwischen zwei Arten von Sklaverei, die sich nur oberflächlich unterscheiden, eine Wahl zu treffen, wobei der Unterschied allein aus der Anpassung der Regierungsmethoden an den aktuellen Entwicklungsstand der ihr unterworfenen Bevölkerung herrührt, das hat wahrlich mit Anarchismus nichts zu tun. Und umso weniger, wenn dieser Kampf die besonders niederträchtige Form des Krieges annimmt. Was den Anarchisten stets von anderen sozialen Elementen unterschied, die sich auf die verschiedenen politischen Parteien, philosophischen oder soziologischen Schulen verteilten, war und ist die Ablehnung des Staates, als Vereinigung aller Herrschaftsinstrumente, als Zentrum jeglicher Tyrannei. Der Staat, der seinem Wesen nach der Feind des Individuums ist, für dessen Triumph der Anarchismus stets gekämpft hat und mit dessen Leben derzeit so leichtfertig umgegangen wird von den Verteidigern des „Rechts“, die, nicht zu vergessen, auf beiden Seiten der Grenze angesiedelt sind. Wer mit diesem Staat ohne Not gemeinsame Sache macht, der hat, wie die Unterzeichner der Erklärung, den Anarchismus verleugnet. Wir hingegen, die wir davon überzeugt sind, einem Anarchismus treu geblieben zu sein, dessen Wahrheit sich durch die Tatsache dieses Krieges nicht verändert hat, eines seit langem absehbaren Krieges, der vielmehr höchster Ausdruck der von Staat und Kapitalismus verkörperten Übel ist, wir legen Wert darauf, uns von jenen Ex-Genossen zu distanzieren, die ihre Ideen, unsere Ideen, aufgegeben haben, und das in einer Situation, in der es mehr denn je darauf angekommen wäre, sie laut und entschlossen zu verkünden. Als Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums, Hand- und Kopfarbeiter, freidenkende Menschen, sind wir, faktisch und aus eigenem Entschluss, „vaterlandslose Gesellen“. Wobei Vaterland nur eine poetische Umschreibung für Staat ist. Da wir nichts zu verteidigen haben, nicht einmal die „errungenen Freiheiten“, die uns kein Staat geben kann, lehnen wir die verlogene Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen ab. Wir kennen nur Kriege, die zwischen den Herrschenden, zwischen Kapitalisten geführt werden, die dafür Tod, Leid und Elend ihrer Untertanen in Kauf nehmen. Der gegenwärtige Krieg veranschaulicht das auf drastische Weise. Solange die Völker sich nicht entschließen, zum Aufbau einer libertär-kommunistischen Gesellschaft zu schreiten, wird der Frieden immer nur eine Feuerpause sein, die dazu dient, den nächsten Krieg vorzubereiten, denn die Möglichkeit des zwischenstaatlichen Krieges ist im Autoritäts- und Eigentumsprinzip bereits angelegt. Das einzige Mittel, den Krieg zu beenden, jeden Krieg zu verhindern, ist die revolutionäre Enteignung, der soziale Krieg, der einzige, in dem wir Anarchisten unser Leben einsetzen können. Und was die Sechzehn am Schluss ihrer Erklärung nicht haben sagen können, das rufen wir laut heraus: Es lebe die Anarchie!... Gruppe internationaler Anarchisten, London (April 1916)“. Zum anderen verfasste Malatesta, in einer Ausgabe von Freedom (April 1916) einen persönlichen Protest gegen die Behauptungen der Sechzehn. Hier sein Artikel, der den Titel „Anarchisten als Regierungsbefürworter“ trägt: „Unlängst ist ein Manifest erschienen, unterzeichnet von Kropotkin, Malato und einem Dutzend weiterer alter Genossen, in dem sie, genau wie die Regierungen der Entente, die einen Kampf bis zum Äußersten, bis zur Niederwerfung Deutschland fordern, gegen die Idee eines „verfrühten Friedens“ Stellung bezogen. Die kapitalistische Presse veröffentlicht, mit sichtlicher Befriedigung, Auszüge aus diesem Manifest, das sie als Werk „führender Vertreter der internationalen anarchistischen Bewegung“ ausgibt. Die Anarchisten, die fast durchweg ihren Überzeugungen treu geblieben sind, haben die Pflicht, gegen diesen Versuch zu protestieren, den Anarchismus für die Fortsetzung eines blutigen Gemetzels zu vereinnahmen, das nie zu der Hoffnung Anlass gab, die Sache von Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern und das sich inzwischen als absolute Sackgasse erweist, selbst aus Sicht der Herrschenden, egal, auf welcher Seite des Schützengrabens sie stehen. Die Aufrichtigkeit und die guten Absichten derer, die das Manifest unterzeichnet haben, stehen außer Frage. Doch so schmerzlich es sein mag, sich mit alten Freunden zu überwerfen, die der Sache, die in der Vergangenheit einmal unsere gemeinsame war, so viele gute Dienste erwiesen haben, so ist es dennoch – aus Gründen der Ehrlichkeit und im Interesse unserer emanzipatorischen Bewegung – unerlässlich, sich von Genossen zu trennen, die anarchistische Ideen für vereinbar halten mit der Tatsache, dass man die Regierungen und die Kapitalistenklasse mancher Länder in ihrem Kampf gegen die Kapitalisten und Regierenden anderer Länder unterstützt. Im Laufe des gegenwärtigen Krieges haben wir gesehen, wie sich Republikaner in den Dienst von Königen stellten, Sozialisten gemeinsame Sache mit der herrschenden Klasse machten, Arbeitervertreter den Interessen von Kapitalisten dienten; doch diese Leute sind allesamt, in unterschiedlichem Ausmaß, Konservative, die an die Mission des Staates glauben, und ihr Zögern ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der einzige Ausweg in der Beseitigung jeder staatlichen Gängelung, in der Entfesselung der sozialen Revolution besteht. Doch auf Seiten der Anarchisten ist ein solches Zögern unverständlich. Wir behaupten, dass der Staat unfähig ist, irgendetwas Gutes zu bewirken. Sowohl auf internationaler Ebene als auch in individuellen Beziehungen kann er Aggression nur bekämpfen, indem er selbst zum Aggressor wird; er kann das Verbrechen nur verhindern, indem er noch größere Verbrechen organisiert und begeht. Selbst angenommen – was weit von der Wahrheit entfernt ist –, dass Deutschland die Alleinschuld für den gegenwärtigen Krieg trägt, so ist erwiesen, dass man Deutschland, wenn man Regierungsmethoden befolgt, nur widerstehen kann, indem man alle Freiheiten beseitigt und allen Kräften der Reaktion ihre Macht zurückerstattet. Abgesehen von einer revolutionären Massenbewegung gibt es keinen anderen Weg, der Bedrohung durch eine disziplinierte Armee zu widerstehen, als eine noch stärkere und noch diszipliniertere Armee aufzustellen, sodass die entschiedensten Antimilitaristen, sofern sie keine Anarchisten sind und vor der Zerstörung des Staates zurückschrecken, keine andere Wahl haben, als zu glühenden Militaristen zu werden. Tatsächlich haben sie, in der fragwürdigen Hoffnung, den preußischen Militarismus zu zerschlagen, jeden Freiheitsgeist und alle freiheitlichen Traditionen aufgegeben, haben England und Frankreich verpreußt, haben sich dem Zarismus unterworfen, haben das Prestige des wankenden italienischen Throns wiederhergestellt. Können Anarchisten auch nur einen Moment lang einen solchen Zustand billigen, ohne jegliches Recht verwirkt zu haben, sich Anarchisten zu nennen? Was mich betrifft, so ist mir selbst die gewaltsam aufgezwungene Fremdherrschaft, gegen die sich Widerstand regt, noch lieber als die Unterdrückung im Inneren, die demütig, fast dankbar ertragen wird, in der Hoffnung, dass uns auf diesem Wege ein größeres Übel erspart bleibt. Es ist sinnlos, wie die Verfasser und Unterzeichner des fraglichen Manifestes, zu behaupten, dass ihre Haltung durch außergewöhnliche Umstände bedingt sei und dass, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, jeder in sein Lager zurückkehren und für sein eigenes Ideal kämpfen wird. Denn wenn es jetzt notwendig ist, einträchtig mit der Regierung und dem Kapitalismus zusammenzuarbeiten, um sich vor der „teutonischen Gefahr“ zu schützen, wird es auch nach dem Krieg notwendig sein. Egal, wie vernichtend die Niederlage der deutschen Armee ausfällt – sofern sie überhaupt geschlagen wird –, es wird niemals möglich sein, die deutschen Patrioten davon abzuhalten, auf Rache zu sinnen und sie vorzubereiten. Und die Patrioten anderer Regionen werden sich, aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht, bereit halten wollen, um sich nicht überrumpeln zu lassen. Das bedeutet, dass der preußische Militarismus eine stehende und dauerhafte Einrichtung in allen Ländern wird. Was werden dann die angeblichen Anarchisten sagen, die jetzt den Sieg einer der kriegführenden Allianzen herbeiwünschen? Werden sie, wenn sie sich Antimilitaristen nennen, für Abrüstung, Wehrdienstverweigerung, Sabotage der Landesverteidigung eintreten, nur um sich beim geringsten Anzeichen eines neuen Krieges in Werbeoffiziere der Regierungen zu verwandeln, die sie zuvor hatten entwaffnen und lahmlegen wollen? Es heißt, dergleichen würde sich erübrigen, wenn das deutsche Volk sich seiner Tyrannen entledigen würde und durch die Beseitigung des Militarismus in seinem Land keine Bedrohung für Europa mehr wäre. Doch würden die Deutschen nicht in der berechtigten Überzeugung, dass eine englische und französische Herrschaft (vom zaristischen Russland ganz zu schweigen) für die Deutschen nicht angenehmer wäre als eine deutsche Herrschaft über Franzosen und Engländer, gegebenenfalls lieber abwarten wollen, dass die Russen und die anderen ihren eigenen Militarismus abschaffen und bis dahin ihre Armee weiter aufrüsten? Und was dann? Wie lange soll man die Revolution aufschieben? Und die Anarchie? Müssen wir ewig warten, dass die anderen anfangen? Die Maxime ihres Handelns ist den Anarchisten durch die unerbittliche Logik ihrer Ziele eindeutig vorgegeben. Der Krieg hätte durch die Revolution verhindert werden müssen oder zumindest durch die Angst der Regierungen vor einer drohenden Revolution. Die Stärke und das Geschick, die dazu notwendig gewesen wären, haben gefehlt. Der Frieden muss durch die Revolution erzwungen werden, oder zumindest durch den Versuch, sie herbeizuführen. Dazu fehlt es derzeit wiederum an Stärke und Geschick. Nun gut! Es gibt nur einen Ausweg: es in der Zukunft besser zu machen. Mehr denn je müssen wir jeden Kompromiss ablehnen, die Kluft zwischen Kapitalisten und Lohnsklaven, Regierenden und Regierten vertiefen, die Enteignung des Privateigentums und die Zerstörung des Staates propagieren, als einzige Mittel, um ein brüderliches Zusammenleben der Völker sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu garantieren. Und wir müssen uns darauf vorbereiten, all das auch zu bewerkstelligen. Bis dahin halte ich es für ein Verbrechen, auch nur das Geringste zu unternehmen, was diesen Krieg verlängern könnte, der Menschen mordet, Wohlstand vernichtet und das Wiederaufleben des Kampfes um Befreiung verhindert. Ich denke, dass wer einen „Krieg bis zum Äußersten“ propagiert, in Wahrheit das Spiel der Regierenden in Deutschland betreibt, die ihre Untertanen täuschen und ihren Kampfesmut anstacheln, indem sie ihnen einreden, ihre Gegner wollten das deutsche Volk unterwerfen und knechten. Jetzt, wie seit jeher, muss unsere Devise lauten: ‚Nieder mit den Kapitalisten und den Regierungen, allen Kapitalisten und allen Regierungen!‘ Und die Völker sollen leben, alle Völker!... Errico Malatesta.“ In den Ländern, in denen die anarchistische Bewegung über eine gewisse Zahl von Aktivisten verfügte, erhoben sich allenthalben – zumeist wütende und lautstarke – Proteste gegen die Position der Unterzeichner des Manifestes der Sechzehn. In Frankreich hatte Sébastien Faure[48] bereits ab Oktober 1914 den Anfang gemacht und unzweideutig gegen den Krieg Stellung bezogen. Er veröffentlichte ein Manifest mit dem Titel: „Dem Frieden entgegen“, sowie ein weiteres, „Ruhepause für die Völker“ im Juli 1915. In großer Auflage gedruckt und verteilt, gelangten diese Antikriegsschriften bis in die vordersten Frontstellungen der Armeen. Im März 1916 gründete Sébastien Faure zusammen mit einigen anderen Anarchisten die erste Zeitschrift, die sich mitten im Krieg offen gegen die Fortsetzung der Kampfhandlungen aussprach und mit Nachdruck die sofortige Aufhebung des Kriegszustandes forderte. Dieses Wochenblatt, Ce qu’il faut dire[49] (so der Titel), wurde von Sébastien Faure herausgegeben, geleitet und redigiert, mit Unterstützung einer großen Zahl von Mitarbeitern und Freunden, darunter Trivier, Mauricius[50] und Génold[51]. Schon in der ersten Ausgabe von Ce qu’il faut dire versuchte Sébastien Faure, eine geharnischte Antwort auf das Manifest der Sechzehn zu veröffentlichen. Doch die Zensur verhinderte die Publikation mit der Drohung, die Zeitschrift dauerhaft zu verbieten. Keine Zeile dieser Replik – eine Art Gegenmanifest mit einer beachtlichen Zahl von Unterzeichnern – konnte erscheinen. Und während sich das Manifest der Sechzehn der Aufmerksamkeit der gesamten Presse erfreute, war selbstverständlich keine einzige Zeitung bereit, diese Replik zu drucken oder auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Pierre Martin[52], Lecoin[53], Ruff[54] und einige andere wiederum veröffentlichten heimlich Flugblätter und Sonderausgaben der Zeitschrift Le Libertaire[55], in denen diese Anarchisten, die unverrückbar am libertären Denken und Handeln festhielten, den Krieg verurteilten und die Haltung der anarchistischen Verfasser und Unterzeichner des sogenannten Manifestes der Sechzehn scharf kritisierten. Was in Frankreich passierte, wiederholte sich – mehr oder minder stark ausgeprägt – in anderen Ländern. Doch hier wie anderswo taten Regierung, Militärführung, Zensoren und Journalisten ihr Möglichstes – und das mit nahezu unbegrenzten Mitteln –, um die Anarchisten zum Schweigen zu bringen, die als Einzige oder nahezu Einzige ihren Hass auf den Krieg herausschrieen und die Wiederherstellung des Friedens forderten. Diese Dinge müssen hier erwähnt werden, nicht nur, weil sie der Wahrheit entsprechen, sondern auch, weil sie im strikten Gegensatz zu den Behauptungen der sich als avantgardistisch, revolutionär und pazifistisch bezeichnenden Parteien und Arbeiterorganisationen stehen. Diese Organisationen, die – wie die sozialistische Partei und die Gewerkschaften – während des infamen Krieges von 1914–1918 gegen das ihnen anvertraute Mandat verstießen, versuchten nämlich, ihren Verrat mit Verweis auf die Verfasser des Manifestes der Sechzehn zu rechtfertigen, die sie, absolut zu Unrecht, wie gesehen, mit dem Anarchismus insgesamt gleichsetzten. Der Krieg ging zu Ende und es schien, als hätten sich mit der Beendigung des Konflikts sozusagen die Wogen geglättet, als hätten sich mit der Anerkennung eines situationsbedingten Irrtums auch die Animositäten erledigt, die infolge der Artikel und Stellungnahmen zum Manifest entstanden waren. Leider gibt es Eitelkeiten und Rechthabereien, denen mit Vernunftgründen nicht beizukommen ist. Jean Grave etwa schrieb in La Bataille syndicaliste, wo er regelmäßig seine Texte veröffentlichte, einen Artikel mit dem Titel: „Wer widerspricht sich hier?“ (Nummer 358)[56]: „Hätten sich die Anarchisten in so großer Zahl der Einberufung verweigert, dass die Verteidigung dadurch beeinträchtigt worden wäre, hätte sich der Volkszorn gegen sie gewandt. Die Bevölkerung hätte sie lediglich als Agenten des Aggressors wahrgenommen und ihre Hinrichtung beklatscht. Und in diesem Konflikt, von dessen Ausgang das Schicksal der Menschheit abhängt, das muss ich aus tiefster Überzeugung bekennen, hätten sie nur die Behandlung bekommen, die sie verdienten“. Man wird zugeben müssen, dass ein Abgrund klafft zwischen diesen Gedanken und jenen, die er einst in „Die sterbende Gesellschaft und die Anarchie“ formulierte, wo er sich folgendermaßen ausdrückte: „Solltet ihr aber doch den Leichtsinn begangen haben, die Uniform zu tragen und eines Tages in die Situation geraten, euch vor Empörung nicht mehr beherrschen zu können... beschimpft oder schlagt eure Vorgesetzten nicht... stecht sie ab, das kommt euch auch nicht teurer zu stehen“. Oder: „Für einen Menschen, der diesen Namen wirklich verdient, gibt es kein Vaterland oder allenfalls eines: der Ort, wo er für sein Recht kämpft, wo er lebt, an dem sein Herz hängt, aber der kann sich über den ganzen Erdball erstrecken... Was eure herkömmlichen Vaterländer betrifft, so haben die Arbeiter kein Interesse an ihnen, sie haben nichts zu verteidigen“. Wer widerspricht sich hier? Der Leser möge entscheiden. Nach dem Krieg bot es sich natürlich an, sich endlich auszusprechen, sich seiner jeweiligen Verantwortung zu stellen, seinen Standpunkt zu verdeutlichen, was auch geschah, sodass die vom Manifest der Sechzehn aufgeworfene Frage des Verhaltens der Anarchisten im Kriegsfall wieder aufs Tapet kam. Wäre diese Debatte fair und in einer Atmosphäre gegenseitiger Toleranz verlaufen, sie hätte dazu beitragen können, eine neuerliche Verständigung zu erzielen. Doch jeder meinte, sich austoben zu müssen und so wurde man Zeuge, wie fleißig schmutzige Wäsche gewaschen wurde, das Ganze mit einigermaßen unfreundlichen, manchmal geradezu boshaften Bezeichnungen garniert. Ein Abgrund tat sich auf, ohne Aussicht auf Versöhnung, und führte zum endgültigen Bruch zwischen Genossen, die, jeder für sich, in verschiedenen Bereichen, mit ihrem Temperament, ihrem Wissen, ihrem Engagement, ihr ganzes Leben einem gemeinsamen Ideal gewidmet hatten. Die Unterzeichner des Manifestes der Sechzehn, die sich moralisch verpflichtet fühlten, sich zu äußern, wollten die Sache „wieder aufrollen“ und um jeden Preis verteidigen, was sie aufgrund außergewöhnlicher Umstände unterzeichnet hatten. Jean Grave, der Initiator der Erklärung, war der Erste, der darauf zurückkam. Er verteidigte seinen Standpunkt und bekräftigte seine Sicht der Dinge in einer klaren und deutlichen Argumentation, die keinen Zweifel an seinem Verständnis des Sachverhalts aufkommen ließ. Nachfolgend ein Text von ihm, datiert auf den 26. September 1922, in dem er einem Kriegsverwundeten, der ihm vorwarf, er habe, Gerüchten zufolge, seine Überzeugungen verleugnet, seine Haltung erklärt und zu rechtfertigen versucht: „Ein letztes Wort: Sie fragen mich nach den Gründen für meine Haltung während des Krieges? In den fünf Jahren, die er dauerte, habe ich in La Bataille nichts anderes getan. Sie werden verstehen, dass mir die Zeit fehlt, damit noch einmal von vorn anzufangen. Ich habe Wichtigeres zu tun. „An meine Genossen“ ist kein Versuch, mein Verhalten zu rechtfertigen, wie Sie es interpretieren, sondern eine Antwort auf gewisse Dummköpfe, die sich zum Echo der Verleumdungen gegen mich machten. Das ist ein Unterschied. Zum anderen bin ich der Meinung, dass ich, entgegen ihrer grundlosen Behauptung, niemals irgendeine meiner Überzeugungen verleugnet und nie anders denn als Anarchist gehandelt habe. Bis zur Kriegserklärung haben ich und meine Gefährten den Militarismus bekämpft, die aberwitzige Aufrüstung, die idiotischen Maßnahmen, die nur zu einem führen konnten: dem abscheulichen Krieg, den es um jeden Preis zu verhindern galt. Ja, bis zum Schluss haben wir der Bevölkerung klarzumachen versucht, dass sie vom Krieg nichts zu gewinnen, sondern im Gegenteil alles zu verlieren hätte. Ohne selbstgefällig zu sein, können meine Kameraden und ich uns rühmen, diese Kampagne besser als irgendjemand sonst geführt zu haben, einschließlich derer, die heute die Empörten spielen. Hätte man auf uns gehört, wäre der Krieg nicht möglich gewesen. Das Einzige, was man uns vorwerfen kann, ist, dass wir immer nur abstrakt diskutierten und nicht in der Lage waren, den Einzelfall zu berücksichtigen, und dass wir so getan haben, als müssten die Anarchisten Herr der Lage sein. Was aber vom Standpunkt der Theorie aus richtig ist, muss es im konkreten Einzelfall nicht immer sein. Das haben uns die Fakten bewiesen, als wir uns mit ihnen konfrontiert sahen. Der Sieg des Militarismus hätte auch, für mindestens ein Jahrhundert, das Ende jeglichen Emanzipationsstrebens in ganz Europa bedeutet, einen unbestreitbaren Rückschritt in der menschlichen Entwicklung. Das war für mich und meine Mitunterzeichner sonnenklar. Und dass einige, um ihre Sichtweise zu rechtfertigen, das abstreiten, ändert nichts an der Tatsache. Abstrakt betrachtet kann man immer behaupten, ohne damit falsch zu liegen, dass vom Standpunkt der absoluten Freiheit eine Regierung genauso schlecht ist wie die andere. In der Praxis hingegen wird man zugeben müssen, dass es unter manchen Regierungen möglich ist, unsere Ideen zu propagieren, wenn auch um den Preis von ein paar Monaten Gefängnis und einiger Schikanen, während es unter anderen Regierungen gänzlich ausgeschlossen ist. Muss man aus der Tatsache, dass wir keinerlei Regierung wollen, den Schluss ziehen, dass die Anarchisten bei einem Versuch, uns beispielsweise ein Regime wie das des Zarismus aufzuzwingen, die Hände in den Schoß legen und zuschauen müssten? Manche Extremisten würden das bejahen. Doch ihre Meinung beweist nur eins: dass sie Dummköpfe sind. Man kann die Summe der Freiheiten, die man genießt, nur erhöhen, wenn man weiß, wie man die bereits errungenen verteidigt. Das stand beim Sieg des Pangermanismus auf dem Spiel. Es ist sehr ehrenwert, nicht kämpfen zu wollen; doch wenn ein Schläger über Sie herfällt, werden Sie dann die Wange hinhalten? Das ist gut für einen Tolstoianer, aber die Revolutionäre haben meines Wissens niemals gepredigt, dass man gegen das Böse keinen Widerstand leisten soll. Wir haben versucht, den Krieg unmöglich zu machen. Man hat nicht auf uns gehört. Der Krieg ist über uns hereingebrochen. Ganze Regionen sind an den Angreifer gefallen, der die Bevölkerung ermordete, ausplünderte, bestahl und misshandelte. Da hätte ich die Anhänger der Widerstandslosigkeit gerne gesehen... Wenn sie mir weiterhin weismachen wollen, dass sie mit ihren Verhalten als Anarchisten und Revolutionäre handelten, dann kann ich ihnen nur antworten, dass sie wie Feiglinge handelten. Es ist höchste Zeit, mit dem aristokratischen Gehabe mancher Anarchisten aufzuräumen, über dem Rest der Bevölkerung zu stehen. Es stimmt nicht, dass man sich von ihr absetzen oder ignorieren kann, was ihr passiert. Was ihr zustößt, das stößt uns zu, was sie erniedrigt, das erniedrigt uns. Und wenn der ganze Egoismus der Nicht-Widerständler keine unmittelbaren Auswirkungen hat, dann weil dieses Denken – das im Übrigen reine Theorie blieb – sich fern der Regionen abspielte, in denen die Bevölkerung von den Besatzern drangsaliert wurde. Sie fragen mich, wie ich mich verhalten würde, wenn ein neuer Krieg ausbräche? Und Sie, was würden Sie tun? Sie wissen es nicht, und ich genauso wenig. Im Prinzip bin ich nach wie vor gegen jeden Militarismus und jeden Krieg. Sollte ein Krieg noch möglich sein, dann werden unsere armseligen Regierenden, davon bin ich überzeugt, ihr Bestes geben, um ihn zu führen. Zum Glück, meine ich zumindest, war der letzte so schrecklich, dass die Völker ein für alle Mal davon kuriert sind und dass es trotz der Dummheit der Herrschenden zu keinem neuen kommen wird. Doch wenn die Drohung noch über unseren Häuptern schwebt, wenn unsere Regierenden so kriminell handeln, wer ist dann daran schuld? Wenn kurz nach dem Krieg jemand das Recht hatte zu sprechen und eine gewisse Aussicht, gehört zu werden, wenn er nur bestimmt genug auftrat, dann waren es jene, die gekämpft, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskiert hatten. Man hatte ihnen versprochen, sie würden für das Ende aller Militarismen, aller Kriege kämpfen. Warum haben sie nicht auf die Einhaltung der gemachten Versprechen bestanden, als sie noch die Gunst der Menge genossen? Was haben sie getan, damit die ganzen Mühen, die sie auf sich genommen hatten, nicht völlig umsonst waren? Nichts. Sobald der Krieg zu Ende war, ist jeder nach Hause gegangen und wollte in Ruhe gelassen werden. Sicher doch! Man hat Veteranenbünde gegründet. Die einen nationalistisch und reaktionär, Schwamm drüber. Die anderen „fortschrittlich“, man hat sich aufs Deklamieren verlegt, auf literarischen Sozialismus, verbales Revoluzzertum, nichts Praktisches. Währenddessen macht die politische Klasse ihre dunklen Geschäfte, bestiehlt und ruiniert die Bevölkerung, lässt sie hungern, zum größten Nutzen der Kriegsgewinnler. Wen kümmert es? Dass es Entschuldigungen gibt, wer zweifelt daran? Die Unwissenheit, die Erschöpfung, die Probleme des Lebens. Und vor allem hat der Krieg seine demoralisierende Wirkung gründlich getan. Allein, all das gibt denen nicht recht, die nichts Besseres zu tun hatten, als hinter denen herzukläffen, die nur ihrem Gewissen folgten und vor allem klarer sahen als jene, die vor den Tatsachen die Augen verschließen, um sich in eine Welt der Phrasen und Dogmen zurückzuziehen“. Neben Jean Grave standen vierzehn weitere Hauptunterzeichner in der Pflicht, sich zu äußern, angesichts der Tatsache, dass die Thematik erneut zur Sprache kam. Mehrere von ihnen waren inzwischen verstorben: Kropotkin, Guérin, Laisant, Tscherkessoff. Nachfolgend, was Paul Reclus im Juli 1928 unter dem Titel „Im Getümmel“ schrieb: „Im Februar 1916 erschien eine Erklärung, an deren Ende mein Name stand, als einer von fünfzehn Unterzeichnern, die damals über Frankreich, Algerien und England verstreut lebten. Die Umstände eigneten sich also kaum für einen regen Meinungsaustausch über die richtige Wahl der Begriffe. Meine Unterschrift sollte lediglich zum Ausdruck bringen: Im Juli 1914 habe ich ohne Zögern Partei ergriffen; ich habe mich ins „Getümmel“ begeben. Das ist natürlich nur eine Redensart. Ich war damals 56 Jahre alt und durch die deutsche Invasion aus Belgien vertrieben worden; ich hatte irgendwo Arbeit gefunden, am Ende in der Kriegsindustrie. Und es ist heikel, mit den Füßen am warmen Kamin, zu denen zu reden, die mit den Füßen im Blut waten. Ich hatte liebe Freunde an vorderster Front. Unter ihnen muss ich immer noch an R.L. zurückdenken, einem der Besten, der Tapfersten, der Hellsichtigsten von allen. Er ist Anfang 1918 gefallen. Ich habe nie etwas geschrieben oder gedacht, was ich ihm nicht anvertraut hätte: „Ich bin voller Zuversicht, dass selbstlose Menschen erscheinen und immer und überall kämpfen werden“. Der Krieg hat, weil er kein Ende nahm, die russische Revolution entfesselt und später den Abtritt zweier Kaiser von der Weltbühne bewirkt; wenn ich meine Gefühle vom Juli 1914 schildere, dann geschieht das jedoch nicht im Hinblick auf diese Ereignisse. Meine damalige Entscheidung wurde ohne Hintergedanken getroffen, ihrer glücklichen Folgen, die ich nicht erhofft hatte, brauche ich mich nicht zu rühmen. Mein vordringlicher Gedanke war der Aufstand gegen den Militarismus; zwar waren alle zwanzig Nationen Europas bis an die Zähne bewaffnet, doch gab die deutsche Armee unbestreitbar den Ton an. Sie war die perfekte Kriegsmaschine und die zwanzig Armeen der anderen tanzten implizit nach der Pfeife des Großen Generalstabs in Berlin. Alles, was von Moltke[57] unternahm, wirkte sich sofort in zwanzig Richtungen aus. Die antimilitaristische Propaganda, die vereinzelt betrieben wurde, in Frankreich, in Italien, in der Schweiz, fand keinerlei Widerhall in Deutschland und war keinen Pfifferling wert, verglichen mit dem unaufhörlich wachsenden Koloss. Nicht nur die Armee perfektionierte ihre wissenschaftliche Organisation, überall, in der Industrie, im Handel, in der Forschung kam auf vier Mann ein Offizier, und diese Hierarchisierung fand immer mehr Bewunderer rund um die Welt. Gegen diesen allgemeinen Autoritarismus habe ich mich zur Wehr gesetzt. Natürlich fanden wir uns auf der gleichen Seite der Barrikade wieder wie die Patrioten und der Zar ... na und? Bei welchen vorherigen Gelegenheiten sind die „reinen“ Revolutionäre ohne die Unterstützung von Leuten mit ganz anderen Ideen ausgekommen? Ich habe die Commune miterlebt. Wie groß war da die Zahl derer, die von einem gesellschaftlichen Ideal geleitet wurden im Vergleich zu denen, die aus patriotischer Entrüstung über die Regierung der „nationalen Verteidigung“ zu den Waffen griffen? Wie viele Varlins[58] auf wie viele Roussels[59]? Und warum haben sich dreißig Jahre später die Anarchisten ins Getümmel gestürzt, um Scheurer-Kestner, Clemenceau und Zola zur Hilfe zu eilen, wegen eines inhaftierten Bourgeois?[60] Niemals vor 1914 habe ich gehört, wir Anarchisten müssten uns zurückhalten für den Fall, dass wir die Einzigen wären, die dem Gegner ein Zugeständnis abringen wollen; zumindest hat im entscheidenden Moment meines Wissens kein Genosse in diesem Sinne argumentiert. Ich bin vom genauen Gegenteil überzeugt: wenn irgendein Konflikt auftaucht und dabei nur die geringste menschliche Idee im Spiel ist, wenn eine winzige Chance besteht, dass ein Atom Fortschritt dabei herausspringt, dann darf man vor der Aufgabe, so gewaltig sie ist, nicht zurückschrecken. Man muss sich mit seinen Kräften auf die Seite der Fraktion schlagen, die die fortschrittlichste Auffassung verkörpert. Ich wende mich gegen die Vorstellung, dass ohne unser Eingreifen im vorhandenen Spiel der Kräfte das Gute aus einer Übersteigerung des Bösen entspringt, mit anderen Worten, dass sich das Gute unweigerlich von selbst einstellt. Selbstverständlich hängt alles davon ab, was man sich unter Fortschritt vorstellt. Ich gestehe ohne Weiteres zu, dass, vom Sirius aus betrachtet, ein bisschen mehr oder weniger Leid auf Erden herzlich wenig ausmacht, dass es egal ist, ob dieses Volk unter einer Diktatur lebt, jenes unter einer kapitalistischen Oligarchie und ein drittes unter dem Stiefel von Militärs, die eine andere Sprache sprechen; ob die Gefängnisse mehr oder weniger voll, das Elend mehr oder weniger groß ist. Ich bin jedoch anderer Meinung, ich glaube, dass es Sinn macht, den Herrschenden kleine Verbesserungen abzutrotzen, als Vorgriff auf die großen Fortschritte. Und zwischen 1914 und 1928 erkenne ich eine Veränderung der allgemeinen Lage zum Besseren. Was haben wir also gewonnen? Dass jetzt wir, Frankreich, die militaristische Nation Europas sind: der Militarismus liegt in unseren Händen. Er ist keine ferne, unerreichbare Gottheit mehr, er hängt von unserem direkten Handeln ab. Zugegeben, die Öffentlichkeit hat noch kein Gefühl dafür, in diese Richtung tätig zu werden. Erkennen wir aber zumindest an, dass sie nicht per se militaristisch ist; für die meisten Franzosen ist das nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit. Ich gebe den Militaristen maximal noch eine Generation. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die skandinavischen Nationen darüber diskutieren, ihre Armeen schlicht und einfach abzuschaffen. Kommen wir zurück zum Krieg von 1914. Die Verantwortung für seinen Ausbruch liegt weder bei einer einzigen Person noch bei einer Handvoll Politiker, noch allein beim Kapitalismus, der auch mit einem bewaffneten Frieden gut auskam. Die Verantwortung für den Krieg liegt bei der weltfremden Vorstellung von der Ehre der Armee, die inzwischen verschwunden ist. Die Kaiser glaubten daran und es hat ihnen kein Glück gebracht. Die französischen Generäle waren davon weniger überzeugt (nach der Dreyfus-Affäre) und die Ereignisse haben sie eine zusätzliche Bescheidenheit gelehrt. Ja, die Unterzeichner der Erklärung von 1916 haben sich in Gesellschaft seltsamer Verbündeter wiedergefunden. Doch wenn ich in mich gehe, kann ich nur sagen, dass „patriotische“ Gefühle für meinen Entschluss keine Rolle gespielt haben. Ich will die Berechtigung solcher Gefühle nicht diskutieren, aber da ich mehr als 25 Jahre meines Lebens in verschiedenen Ländern gelebt habe, ohne darunter besonders zu leiden, kann ich sagen, dass mein Vaterland überall dort ist, wo Menschen mit Herz und Verstand leben, Freunde und Genossen. Im Gegensatz zu den hier formulierten Gedanken sind die der Tolstoianer vollkommen logisch und nicht zu kritisieren, genauso wenig wie die bürgerlichen Pazifisten, die die soziale Frage ignorieren oder leugnen. Ich weiß wie sie, dass Gewalt niemals eine Lösung ist; Gewalt gegen Menschen wohlgemerkt, denn der gewaltsame Sturz von Institutionen, die in den Augen aller als überholt gelten, wird weiterhin unerlässlich sein, und es gibt keine zwei Arten von Gewalt, eine hässliche Gewalt, der Krieg, und eine fröhliche, die Revolution. Sie sind nicht zu trennen, sind immer grässlich, wenn auch bisweilen unvermeidlich. Sie vermischen sich häufig: 1789–92 hat zu 1793–94 geführt; umgekehrt hatte 1870 die Commune zur Folge; aus 1914 ergaben sich 1917 in Russland und die revolutionären Situationen von 1920 in verschiedenen Ländern. Schlagen, um sich zu verteidigen, heißt dennoch: schlagen. Wir sind weiter, wenn wir wissen, warum man sich schlägt, wo man zuschlagen muss und was danach passiert“. Philippe Richard, der nicht zu viele Worte machen wollte, begnügte sich mit folgender schriftlicher Mitteilung: „Einverstanden mit den obigen Ausführungen“ (es handelte sich um die von Paul Reclus). Auch Charles Malato erklärte in einem kurzen Brief an Paul Reclus, dass er weiterhin zu den in dessen Artikel ausgedrückten Ideen stehe. M. Pierrot machte sich eine unveröffentlicht gebliebene Rezension über ein Werk des französischen Schriftstellers Julien Benda[61], „Der Verrat der Intellektuellen“, zunutze, um zu erläutern, warum er einer der Unterzeichner des Manifestes der Sechzehn war: Es ging darum, nicht neutral zu bleiben. Doch der soziale Kampf darf uns nicht blind machen und aus dem Blick verlieren lassen, was unser Ziel ist, nämlich die Abschaffung der Klassen und die Befreiung der ganzen Menschheit. Die Anarchisten werfen den Bolschewisten nicht vor, die Autorität bekämpft, sondern sie zu ihren Gunsten wieder aufgerichtet zu haben. Jede Diktatur ist inakzeptabel. Während des Krieges von 1914 hatte der wahrhaft menschliche Standpunkt nichts mit dem von Romain Rolland[62] gemein, denn dieser Standpunkt besteht nicht darin, neutral zu bleiben, sondern richtig Partei zu ergreifen. Er ist auch nicht zu verwechseln mit dem marxistischen Standpunkt, den Wert der Moral zu bestreiten und sich auf den engstirnigen Fanatismus materieller Interessen zurückzuziehen. Viele Anarchisten haben sich den Marxisten angeschlossen und vergessen, dass der menschlichste der moralische Standpunkt ist und der menschliche Fortschritt im Streben nach Freiheit besteht. Korpsgeist, Klassengeist, Nationalismus sind Reaktionen auf ein Minderwertigkeitsgefühl, das die Menschen als unerträglich empfinden. Sie übertragen deshalb die Überlegenheit, die ihnen individuell fehlt, auf die Gruppe, der sie angehören. Nationalismus besteht darin, das eigene Land den anderen als weit überlegen zu betrachten, selbst wenn es sich im Unrecht befindet. Wenn eine solche Moral die Gruppe als Interessengemeinschaft zusammenschweißt, dann geschieht das auf Kosten der menschlichen Entwicklung, denn sie führt zu Egoismus und Dominanzstreben. Jeder Anschlag auf die Überlegenheit des Einzelnen oder der Gruppe, mit anderen Worten, jede Versetzung in einen Zustand der Unterlegenheit, wird als Verbrechen, als Sakrileg angesehen. Diese Beleidigung kann nicht im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit bereinigt werden. Sie verlangt nach Unterwerfung des Gegners, das heißt, nach seiner Demütigung. Die Rache ist ein Gefühl der Befriedigung, das durch Repressalien hergestellt wird. Doch auch unabhängig von jeder Reaktion auf irgendeine Beleidigung, von jeder Rachsucht strebt eine Partei, und zwar jede Partei, nach Herrschaft. Wo Interessen zu verteidigen sind, tendiert sie zur Diktatur. Nach und nach tritt das Ideal in den Hintergrund. Der Partei geht es nur noch um den Sieg, d.h. darum, ihre Führer an die Macht zu bringen und ihre Klientel zu versorgen. Manche Anarchisten wähnen sich im Besitz der Wahrheit. Sie bringen sie auf eine simple Formel, die sie anderen aufzuzwingen versuchen. Sie werden zu Sklaven ihrer eigenen erstarrten Formeln und stehen im Ruch des Fanatismus ... Ein Fortschritt für die Moral wäre die Zurückdrängung der Rachsucht und der Herrschaftsgelüste. Herrschaft bringt besser als das Wort „Autorität“ zum Ausdruck, gegen welches Prinzip sich jede anarchistische Moral erhebt“. Die Antwort von Christian Comelissen sollte dieses Problem noch genauer und deutlicher behandeln: „Die Pflichten der Revolutionäre und der Krieg von 1914–1918“ lautete im Übrigen der Titel seiner Erklärung vom August 1928: „... Als Revolutionäre und Internationalisten hatten wir nicht das Recht, die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie die französische Republik und die westliche Demokratie von den preußischen Junkern zerschlagen wird. Wir bezeichneten uns als Revolutionäre und als solche hatten wir die Pflicht, nicht nur die Zukunft gegen die Gegenwart, sondern auch die Errungenschaften der Gegenwart gegen die Vergangenheit zu verteidigen. Keiner von uns Internationalisten hatte den geringsten Zweifel, dass die europäische, ja die Weltzivilisation um mehr als ein Jahrhundert, auf den Stand des Feudalregimes von 1789 zurückgeworfen würde, sollte Deutschland den Sieg erringen. Nach der Niederwerfung Frankreichs hätte das kaiserliche Deutschland den U-Boot-Krieg gegen England begonnen. Dann wären die Vereinigten Staaten an der Reihe gewesen: das haben die Amerikaner sehr richtig verstanden. Es war nicht einmal Kaiser Wilhelm II selbst, der den von ihm entfesselten Krieg führte: es war die militaristische Junkerkaste, die von einer deutschen Herrschaft über Europa und die ganze Welt träumte. Zweifellos erleben wir derzeit eine soziale Reaktion, vor allem in den Siegerstaaten. Wie hätte es auch anders sein sollen nach einem Krieg, der vier Jahre dauerte? Dennoch wurden in Deutschland 26 Dynastien auf einen Schlag weggefegt, wurde Österreich von seinem Kaiser und sogar Russland von seinem autokratischen Regime befreit: ein unbestreitbarer Fortschritt für die Menschheit. Neben diesen politischen Fortschritten sind die Agrarreformen zu erwähnen, die Aufteilung der großen Feudalgüter in allen Ländern Mittel- und Osteuropas, in Deutschland und Österreich ebenso wie auf dem Balkan und in Russland. Der Weltkrieg hatte Auswirkungen bis hin zur chinesischen Revolution. Andererseits ist die politische und soziale Reaktion in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten sicherlich schwächer ausgefallen, als es dort und auf der ganzen Welt im Falle eines Sieges der alten Kräfte geschehen wäre. Diese Reaktion ist am stärksten in Italien. Jedenfalls könnte, wenn ein neuer Krieg ausbräche, die extreme Linke der Arbeiterbewegung meiner Meinung nach nicht anders handeln, als es die internationalistischen Revolutionäre 1916 taten. Sie müssten die großen Tendenzen der menschlichen Zivilisation im Blick haben und könnten nicht untätig bleiben. ‚Doch dieser Krieg ist nicht unserer, sondern ein kapitalistischer Krieg‘, hat man mir in erregten Versammlungen in Holland entgegengehalten, und einer meiner Widersacher fügte hinzu: ‚Wenn es die soziale Revolution wäre und der Ausgang des Kriegs zur sozialen Revolution führen könnte, würden wir selbstverständlich Partei ergreifen‘. Zunächst einmal ist einer Geißel der Menschheit wie dem Krieg von 1914–1918 nicht mit einigen Floskeln über den „Kapitalismus“ beizukommen. Dieser Krieg, bei dem es um die Herrschaft über Völker und Rassen ging, hatte noch ganz andere Wurzeln als die bloße Gier von Industrie- und Finanzmagnaten, all derer, die aus dem Elend anderer Kapital schlagen. Man darf bezweifeln, antwortete ich meinen Widersachern, ob die Genossen, die es nicht geschafft haben, die Errungenschaften der großen Revolution von 1789, sowie der von 1830 und 1848 zu verteidigen, in der Zukunft die soziale Revolution gegen die kapitalistischen Kräfte von heute besser verteidigen werden. In einer weltrevolutionären Periode könnten die Schwachen auch ihre „Pantoffeln“ anziehen und sich „gegen jede Gewalt“ aussprechen. Ich würde den Nicht-Interventionisten unter unseren Genossen keinerlei Vorwurf machen, wenn wir Anhänger der Gewaltlosigkeit, wenn wir Tolstoianer wären. Doch unser Antimilitarismus ist nur eines der Prinzipien der extremen Linken in den westlichen Ländern, und obendrein ein sekundäres. Wenn es morgen mit einem höherrangigen Prinzip in Konflikt geriete, wenn morgen der gesamte Fortschritt der Zivilisation – wie es 1914–1918 der Fall war – auf dem Spiel stünde, so ist es gut möglich, dass die Genossen ihren Hass auf den Krieg hintanstellen müssten, angesichts der Notwendigkeit, die Errungenschaften der Zivilisation zu verteidigen. Denn letztendlich haben die Völker, ebenso wie die Gesellschaftsklassen, die Zivilisation, die sie verdienen, und wer es nicht schafft, sich zu verteidigen, wird unweigerlich untergehen. Das ist ein Naturgesetz, das zu missachten der Mensch sich nicht leisten kann“. Diese Stellungnahmen waren nicht dazu angetan, den Konflikt zu beschwichtigen. Sie führten vielmehr zu heftigen Polemiken in der internationalen anarchistischen Presse, die bisweilen in einen regelrechten schriftlichen Schlagabtausch ausarteten. Descarsins beteiligte sich an der Debatte mit einem Brief an die Monatsschrift Plus Loin[63] (Nr. 43, Oktober 1928), in dem er das Problem auf einer allgemeineren Ebene ansiedelte: „Sollen wir es zu einem festen Bestandteil anarchistischer Taktik machen, dass wir uns in jeden Krieg einmischen und auf die Seite einer der kriegführenden Parteien schlagen? Wenn wir der Argumentation der Genossen von Plus Loin folgen, müssten wir allerdings eine solche Haltung einnehmen, denn bei jedem zwischenstaatlichen Konflikt wird zwangsläufig der Fall eintreten, dass eine Seite weniger Schuld trägt als die andere, weniger imperialistisch oder revolutionärer ist, usw. usf. Bleibt zu ergründen, welchen Nutzen die Völker von irgendeinem Krieg haben – und ich spreche von den Menschen, die im Krieg umkommen –, bzw. welchen Gewinn er der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung bringt, oder aber, welchen Vorteil die Zivilisation dadurch erlangt. Nicht die mythisch verklärte Zivilisation, sondern die Zivilisation, die sich im Wohlstand der besitzlosen Massen und in einem moralischen Fortschritt der Individuen äußert. Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Sechzehn sich geirrt haben und dass weder ein Anarchist noch überhaupt ein denkender Mensch einen zwischenstaatlichen Konflikt gutheißen oder sich gar an einem solchen beteiligen kann... Der wesentliche Grund für den Rückgang der anarchistischen Bewegung, für den spürbaren Bedeutungsverlust unserer Ideen ist in der Unterzeichnung des Manifestes zu suchen, das gewissermaßen die Anhänger von den Vordenkern trennte, der Bewegung ihre geistigen Führer nahm, die 1914 eine Haltung entnahmen, die ihrem Leben, ihren Taten, ihrer Propaganda, ihren Schriften, ihrem ganzen vorherigen anarchistischen Werk widersprach. Und ohne geistige Leitfiguren wird die Verbreitung unserer Ideen immer weiter zurückgehen, wird die Demagogie einen immer größeren Raum einnehmen und am Ende steht das Nichts. Ein Resultat, das die Unterzeichner des Manifestes nicht vorhergesehen haben. Und ein Rückgang freiheitlicher Gedanken ist nicht gerade ein zivilisatorischer Fortschritt. Als ich die Frage des Manifestes aufwarf, hatte ich gehofft, sie in diesem Sinne lösen zu können ... Eine Haltung zu erklären, heißt bereits, sie nicht mehr einzunehmen. Und sich nicht auf das Manifest zu berufen, bedeutet das nicht, anzuerkennen, dass es unhaltbar geworden ist, dass man sich geirrt hat? Würde dieser große Schritt in der Praxis ebenso vollzogen, wie es meiner Überzeugung nach im Denken bereits geschehen ist, könnten wir Zeugen eines neuen Aufschwungs werden, einer Erneuerung des anarchistischen Prinzips... der Kriegsgegnerschaft“. Pierrot antwortete Descarsins mit einer langen Erläuterung, die die volle Aufmerksamkeit der Anarchisten verdient, weil darin die These des „heiligen Egoismus“[64] widerlegt wird. „… Wir maßen uns an, jede Ungerechtigkeit, jeden Akt der Gewalt gegenüber einem Schwachen, zum Anlass zu nehmen, lautstark zu protestieren und, wenn wir können, tätig zu werden. Wir maßen uns an, gegen das Unrecht anzugehen, dass einem Kommisshengst, einem Offizier der bürgerlichen Armee widerfährt. Wir waren Dreyfusanhänger und wären es wieder, wenn es nötig sein sollte. Wenn wir uns also früher das Recht herausgenommen haben, uns in einen Konflikt zwischen Militärs einzumischen, ohne weiteren Schaden davonzutragen – im Gegenteil –, warum sollte es uns dann verboten sein, in einem Konflikt zwischen Regierenden Partei zu ergreifen, zumal wenn es um den menschlichen Fortschritt, die Vorstellungen von Gerechtigkeit oder die Errungenschaften im Bereich moralischer Freiheit geht? Wenn moralischer Fortschritt, Gerechtigkeit und Freiheit auf dem Spiel stehen, dann zählt keine Klasse oder kein Staatsgebilde mehr, dann hat das Interesse am menschlichen Ideal absoluten Vorrang. Denen, die sich zu sehr davor fürchten, betrogen zu werden und sich in ihrem Misstrauen einschließen, ist nicht zu helfen. Misstrauen ist ein ziemlich erbärmliches Gefühl, das nur zu Ohnmacht und Unvermögen führen kann. Es ist vornehmlich bei denen anzutreffen, die sich zu schwach zum Handeln fühlen oder zu große Angst davor haben. Descarsins behauptet, dass 1914 unser Verhalten im Widerspruch zu unserem Leben, unseren Taten usw. stand. Es wird ihn sicher sehr überraschen zu hören, dass es diesen Widerspruch nicht gegeben hat, dass wir vor, während und nach dem Krieg Antipatrioten und Antimilitaristen waren. Nur muss man begreifen, dass wir gegen die Gefahr des allmächtigen preußischen Militarismus Partei ergriffen haben, dessen Triumph im besiegten Frankreich einen reaktionären Militarismus gefördert hätte. Unser Bekenntnis zur gemeinsamen Verteidigung hatte nie etwas mit einer Glorifizierung des französischen Militarismus zu tun, oder mit Imperialismus, Herrschaft, Nationalstolz, Vergeltungsmaßnahmen oder Demütigungen. Vor dem Krieg haben wir in Frankreich die intensivste Propaganda gegen die nationalistischen Brandstifter, gegen patriotische Vorurteile, gegen die Farce der Militärrenten betrieben. Wir wussten, dass in Deutschland und anderswo unsere zwar weniger zahlreichen, aber ebenso aktiven Genossen die gleiche antimilitaristische Propaganda machten. Wir nahmen zur Kenntnis, dass im Deutschen Reich demokratisches und revolutionäres Gedankengut auf dem Vormarsch war, trotz der Behinderungen des feudalen Staatsapparates. Wir hofften, dass der einstweilen noch schwache Druck demokratischer und revolutionärer Kräfte im Laufe der Zeit stark genug werden würde, um die Militärs daran zu hindern, nach Belieben einen Krieg zu entfesseln. Unser Widerstand gegen die Invasion unter der Führung der feudalen deutschen Militärclique war niemals von Hass auf das deutsche Volk bestimmt oder dem Wunsch, es zu unterjochen. Ich persönlich hatte nie vor, Nettlau[65] auf den Altar des Vaterlandes zu opfern. Ich habe während des Krieges weiterhin in meinem Umfeld den Gedanken der Menschheitsverbrüderung und der Verständigung zwischen Gegnern verbreitet, und zwar auf der Grundlage des einfachen gesunden Menschenverstandes. Als die Gefahr vorüber war, nahmen wir, ohne Scham und schlechtes Gewissen, unsere Propaganda wieder auf, bruchlos wie mir scheint, denn zumindest mein Denken hat keinerlei Veränderung erfahren. Ich muss zugeben, auch wenn es Descarsins vielleicht empört, dass meine Haltung bei einer von Mussolini angeführten Invasion die gleiche wäre, ohne irgendwelchen Hass auf die Italiener. Aber da ich die französischen Royalisten ablehne, wozu sollte ich das Gesetz der Faschisten akzeptieren? Bloß weil die Faschisten Ausländer sind? Und dabei ist der Faschismus viel weniger gefährlich, weil viel weniger mächtig als der Große Deutsche Generalstab. Sein Sieg hätte viel geringere Auswirkungen. Allerdings würde er in Frankreich die triumphale Rückkehr eines chauvinistischen und reaktionären Denkens befördern. Aber ich habe nicht vor, Descarsins meine Meinung aufzuzwingen. Darf ich sagen, dass ich seit dem Krieg freier atme, dass ich größeres Vertrauen in die friedliche Entwicklung der Völker habe, seit Europa von der Last der Kaiserreiche in Deutschland, Österreich und Russland befreit ist? Zwar gibt es jetzt den Faschismus und einige weitere Diktaturen, aber sie sind von minderer Bedeutung und unangenehm vor allem für ihre eigenen Völker. Die stärkste, der italienische Faschismus, hat kein Geld, kann also nichts unternehmen und steht vor dem finanziellen Bankrott. Dennoch sollten die Nachbarländer sich vor den Todeszuckungen der sterbenden Bestie in Acht nehmen. Was spielt es für eine Rolle, wenn die aktuelle anarchistische Bewegung im Nichts verschwindet... Die emanzipatorischen und freiheitlichen Ideen werden in anderer Form und mit neuem Namen zurückkehren. Bei den aktuellen Vertretern der Bewegung sind diese Ideen dabei, zu Negativformeln zu erstarren: Nieder mit der Moral, nieder mit der Familie (es gab sogar vor dem Krieg eine Sekte wissenschaftlicher Anarchisten, Halbverrückte, die die Gefühle bekämpften und verkündeten: Nieder mit der Liebe, nieder mit dem Krieg, mit der Politik, mit dem Eigentum, mit der Gesellschaft, usw.), ganz pauschal, ohne irgendwelche Nuancen in Betracht zu ziehen, aus Angst, sich zu täuschen oder getäuscht zu werden. In Wirklichkeit sind die vermeintlich emanzipierten Anarchisten Sklaven absoluter Prinzipien. Sie haben die Theorie auf einen kleinen Bestand simpler Ideen reduziert, die einigen von ihnen die Illusion der Allwissenheit und ein Gefühl unendlicher Überlegenheit verschaffen“. Ischikawa (Japan) bekräftigte in einem Schreiben an die Redaktion von Plus Loin sein Bekenntnis zum Manifest der Sechzehn folgendermaßen: „Ich bin mit Ihnen absolut einer Meinung. Ich finde vor allem, dass sich das Denken der japanischen Militaristen seit dem europäischen Krieg, d.h. seit dem Debakel des deutschen Militarismus, von Grund auf verändert hat. Ja, das militaristische Japan ist demokratischer geworden, weil es gespürt hat, dass der alte Militarismus der großen demokratischen Massenbewegung nicht länger standhalten kam“. Die jüngsten militärischen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan haben gezeigt, wie sehr es diesem Unterzeichner an Urteilsvermögen fehlt. Und man wundert sich, dass er meint, einer Bewegung oder einzelnen Personen Ratschläge erteilen oder gar Vorschriften machen zu können. Unter den Genossen, die sich an der wieder aufgeflammten Debatte um das Manifest der Sechzehn beteiligten, befindet sich der italienische anarchistische Theoretiker Luigi Fabbri[66], Verfasser von „Diktatur und Revolution“, der in La Protesta[67], der anarchistischen Tageszeitung in Buenos Aires, eine Artikelserie veröffentlichte, in der er darlegte, wie sich die Anarchisten der Gefahr eines neuen Weltenbrandes gegenüber verhalten. Im Folgenden die wesentlichen Passagen: „Zu Beginn des vorigen Krieges, und für die Gesamtheit seiner Dauer, mussten wir nicht nur dem kompletten Zusammenbruch der sozial-demokratischen Zweiten Internationale miterleben, sondern auch das traurige, schmerzliche und entwürdigende Schauspiel, wie Anarchisten, wenige zwar, aber unter ihnen die Bekanntesten, derart die Orientierung verloren, dass sie ihre eigenen internationalistischen und freiheitlichen Prinzipien vergaßen. Darunter das wesentlichste von allen: die Negation des Staates, einschließlich seiner schrecklichen Möglichkeit, den Einzelnen und ganzen Bevölkerungen ihr Recht auf Leben zu nehmen. Wir bekamen es also, was ein grässlicher und ungeheuerlicher Widerspruch in sich ist, mit „Staatsanarchisten“ zu tun, die sich auf die Seite einiger Regierungen schlugen, sich mit ihnen solidarisierten, sich gegenüber den Bevölkerungen für sie verbürgten und gegen die übergroße Mehrheit ihrer Genossen Stellung bezogen. Und all das in der naiven und antianarchistischen Illusion, einige Atome an Freiheit retten zu können, jener demokratischen Freiheit, deren Verlogenheit und Unzulänglichkeit, ja deren schlichtes Nichtvorhandensein für die Mehrheit der ärmsten und bedürftigsten Schichten des Proletariats sie fünfzig Jahre lang angeprangert hatten. Die Errungenschaften des „demokratischen“ Krieges zugunsten der kleinen Völker und zur Beendigung aller Kriege, wir haben sie erlebt. Mehr noch haben wir die Bitterkeit, die sie hinterlassen und die schmerzlichen Wunden, die sie geschlagen haben, am eigenen Leibe erfahren. Die von fremden Mächten unterdrückten Bevölkerungen sind heute zahlreicher als vor dem Krieg, die kleinen Völker stärker unterjocht, die Irredentismen[68] haben sich vermehrt, die demokratischen Freiheiten abgenommen oder sind noch fadenscheiniger geworden. Die Kriegsgründe sind ins Unendliche gewachsen. Heute ist der Krieg eine reale Gefahr, tausend Mal größer als 1914. Der vermeintlich für Freiheit und Frieden geführte Krieg hat ein Monstrum geboren: den Faschismus, der sich wie ein Virus über die ganze Welt verbreitet und selbst die ältesten Wurzeln der Zivilisation bedroht. Das einzige Resultat des Krieges, von dem man sagen kann, dass es nicht verloren gegangen oder nutzlos ist, ist die Tatsache, dass dank seiner die Illusionen über die bürgerliche Demokratie sich endgültig in Luft aufgelöst haben. Wenn die Mittelmächte, bei gleicher Kriegsdauer, am Ende gewonnen hätten, ginge es uns sicher nicht schlechter als momentan. Anstelle der einen Katastrophen hätten wir andere, vielleicht weniger schreckliche erlebt. Doch die damaligen Interventionisten könnten dann an ihren alten Illusionen festhalten und würden mit Sicherheit behaupten: „Ach, wenn die Alliierten gewonnen hätten, wären wir heute glücklich...“. Und wir hätten einen Haufen Arbeit, um den alten, intakt gebliebenen Irrtum zu bekämpfen. Der Sieg der sogenannten demokratischen Staaten, die uns nicht weniger unglücklich gemacht hat, als wir es bei einem Sieg der Gegenseite gewesen wären, hat bewiesen, dass wir Recht hatten und diese unselige Illusion gründlich zerstört: Doch um welchen Preis und welcher Herabwürdigung derer, die sie fünfzig Jahre lang bekämpft und verdammt hatten, um ihr dann aufzusitzen. Die Anarchisten sind gegen den Krieg, gegen jeden Krieg. Sie sind Antimilitaristen, weil der Krieg die logische und unausweichliche Konsequenz des Militarismus ist. Welche auch die Umstände und Folgen eines bewaffneten Konflikts zwischen kapitalistischen Staaten sein mögen und welcher Nation sie auch angehören, die Anarchisten dürfen sich an der Landesverteidigung nicht beteiligen. Und sollten sie dazu gezwungen werden, so dürfen sie diese zumindest nicht aus freiem Stücken unterstützen oder sich mit ihren Landsleuten solidarisch erklären, um sich der Invasion des Landes entgegenzustellen oder es zu befreien, wenn es erobert ist. Ebenso wenig dürfen sie für den einen oder anderen der Kriegsgegner Partei ergreifen oder Überlegungen anstellen, ob der Sieg oder die Niederlage des einen oder des anderen den freiheitlichen, auf politische, ökonomische und soziale Emanzipation abzielenden Ideen abträglich ist oder nicht, sofern sich der Gedanke ein für alle Mal durchgesetzt hat, dass Kriege Auseinandersetzungen zwischen kapitalistischen Regierungen sind und die Völker dabei, egal, wer gewinnt, immer die Leidtragenden sein werden. Hüten wir uns davor, uns vom Trugbild des kleineren Übels täuschen oder von Eventualitäten leiten zu lassen. Erinnern wir uns einzig daran, dass das kleinere Übel stets genauso schlecht für die Völker, das Proletariat, die Freiheit und genauso unheilverkündend für die Zukunft sein wird. Auch müssen wir, um die Regierungen und die herrschenden Klassen nicht aus ihrer alleinigen Verantwortung zu entlassen, jede Art von Komplizenschaft mit ihnen vermeiden und stattdessen versuchen, uns darauf vorzubereiten und in der Lage zu sein, um aus den Ereignissen im Sinne unserer revolutionären Sache das Beste zu machen“. Fabbri, der gegen die Unterzeichner der Erklärung der Sechzehn nicht die geringste Abneigung oder gar Feindseligkeit hegte, behandelte das Problem mit seinen exakten und klaren Ausführungen genau in dem ihm angemessenen Rahmen. Um nutzlose oder irrtümliche Einwände gegen seine zuerst in La Protesta erschienenen Artikel zu vermeiden, legte der Autor Wert auf die Feststellung, das aufgrund der doppelten Übersetzung aus dem Italienischen ins Spanische und vom Spanischen ins Französische Missverständnisse gegenüber seinem ursprünglichen Text entstanden sein könnten. Auguste Bertrand kommentierte in Plus Loin (Nr. 39, Juni 1928) den Standpunkt Fabbris folgendermaßen: „Aus Sicht der gläubigen Anarchisten gehöre ich zu einer Kategorie von Verdammten, die zu bekehren unmöglich ist. Gleichwohl bin ich kein Voltairianer, das heißt, auch wenn mir der Glaube fehlt, versuche ich nicht, ihn bei denen zu zerstören, die einen haben. Im Übrigen sind solche Streitereien vollkommen nutzlos, sie führen nur zu Verbitterung, ohne Überzeugungen ins Wanken zu bringen. Ich als Ungläubiger mache also Fabbri keinen Vorwurf für seinen doktrinären Absolutismus, der darauf abzielt, das anarchistische Bewusstsein auf einige sehr einfache Formeln zu reduzieren, außerhalb derer es kein Heil gibt. Ich werde ihm nicht nachzuweisen versuchen, dass im Falle einer europäischen Kriegskoalition gegen Sowjetrussland der Platz der Anarchisten in den Reihen der Roten Armee zu finden ist“. Unter Bezugnahme auf Fabbris Titulierung der Unterzeichner als „Staatsanarchisten“, die dieser zur Veranschaulichung seines Denkens verwendet hatte, versucht Bertrand, die Unangemessenheit dieser Bezeichnung aufzuzeigen: „Die Interventionisten, wie er sie nennt, haben sich nicht mit irgendwelchen Regierungen solidarisiert, sie haben sich nicht den Völkern gegenüber für sie verbürgt, sie haben das genaue Gegenteil getan. Sie haben sich mit den Völkern solidarisiert und statt sich für irgendwelche Staaten zu verbürgen, haben sie das Misstrauen der Völker gegen diese Staaten geweckt. Was ihre Illusion angeht, einige Atome jener demokratischen Freiheit zu retten, an der es vielen Völkern noch so schmerzlich gebricht, und bezüglich derer sie so inkonsequent sind, an ihr festzuhalten und gleichzeitig ihre Verlogenheit und Unzulänglichkeit, ja ihr schlichtes Nichtvorhandensein für die Mehrheit der ärmsten und bedürftigsten Schichten des Proletariats anzuprangem, so sollte sich Fabbri nicht täuschen: diese Illusion hegen sie immer noch, was man vielleicht naiv, aber nicht antianarchistisch nennen kann“. Bertrand legt Wert darauf, noch auf einen zweiten Aspekt von Fabbris These einzugehen und schreibt diesbezüglich: „Das anarchokommunistische Ideal ist zugleich das stolzeste Bekenntnis zur Persönlichkeit und der vollkommenste Ausdruck der Solidarität zwischen Individuen. Ich sage: zugleich, denn bei den zusammenhängenden Begriffen dieser doppelten Definition kann man sich nicht für einen entscheiden. Die Anarchie ist nämlich keine Abstraktion, kein System. Sie ist nicht, ganz in Schwarz und Rot gekleidet, dem Gehirn eines Genies entsprungen. Sie ist ein soziales Phänomen, das sich aus den anfangs noch instinktiven und unbewussten Bemühungen der menschlichen Gemeinschaft allmählich herauskristallisiert und Gestalt annimmt als Streben, allen Menschen die besten materiellen, geistigen und moralischen Existenzbedingungen zu sichern.... Ich möchte nicht behaupten, dass alle Anarchisten diese Auffassung teilen, aber was ihr eine gewisse Kraft verleiht, ist das Tiefgründige der libertären Ideen und die Unmöglichkeit, sie von dem zu trennen, was Fabbri „Eventualitäten“ nennt. Den Anarchisten kommt gerade das Verdienst zu, dieses universelle Streben nach einer besseren Zukunft von Formeln und Systemen befreit und das Ziel, auf das es sich zubewegt, aufgezeigt zu haben. Eben weil sie es deutlich erkennen, sind sie die Vorreiter der Menschheit auf dem Weg dorthin. Und wenn sie dabei unverhofft auf ein Hindernis stoßen, dann haben sie kein Recht, es sich am Wegesrand bequem zu machen und darauf zu warten, bis das Gros der Truppe das Hindernis beseitigt und die Straße freigeräumt hat. Die Anarchisten hatten mehr als alle anderen die Pflicht, gegen den Gewaltstreich des deutschen Militarismus Widerstand zu leisten“. Als Schlusswort seines Beitrages zur Debatte um das Manifest der Sechzehn schrieb August Bertrand: „Das einzige Resultat des Krieges, von dem man sagen kann, dass es nicht umsonst war, ist die Tatsache, dass der Sieg der Alliierten dem deutschen Militarismus den Todesstoß versetzt hat. Was den französischen Militarismus angeht, so bekämpfen wir ihn wie alle Militarismen. Aber seit 1870 ist er niemals stark genug gewesen, um eine Bedrohung des Weltfriedens darzustellen. Wenn es anders käme, dann bezweifle ich, dass sich in diesem Land noch einmal eine solch spontane Einigkeit herstellen ließe wie im August 1914 gegen den deutschen Angreifer, der ich mich als Bürger der angegriffenen Nation und nach besten anarchistischem Wissen und Gewissen verpflichtet fühlte, mich anzuschließen“. Diese Worte Bertrands stimmen uns nachdenklich, denn sie zeigen, wie falsch und voreingenommen manche derer, die sich auf die Anarchie berufen, die internationale Lage einschätzen. Selbst eine rein bürgerliche Betrachtung der Schuldfrage widerspricht dieser Sichtweise. Denn aus dem Studium der Dokumente, die aus den Geheimarchiven mancher untergegangener Regime zutage gefördert wurden, geht inzwischen eindeutig hervor, dass jeder Staat am Krieg von 1914–1918 eine Mitschuld trägt. Es ist folglich ein Unding, sich vom sentimentalen Trugbild der angegriffenen Nation und der Pflicht, sich mit ihr zu solidarisieren, täuschen zu lassen. Die Anarchisten dürfen keine solche Fehler begehen, die sich eines Tages unweigerlich gegen sie wenden und das Vertrauen der Arbeiterklasse in das anarchistische Ideal zerstören werden. Der unermüdliche Fabbri antwortete auf die in Plus Loin erschienenen Artikel über die Kriegsfrage, das Manifest der Sechzehn und das Verhalten der Anarchisten im Falle eines kriegerischen Konflikts mit einem neuen Artikel, in dem er sich bemühte, das Thema durch Rückgriff auf den Leitgedanken zu behandeln, der im Labyrinth der Diskussionen verloren gegangen war. „All dem liegt ein häufig unzureichendes Verständnis des Anarchismus zugrunde. Man betrachtet ihn als von der heutigen Alltagswirklichkeit getrennt, als praktisch nicht anwendbar auf die Probleme des wirklichen Lebens, als etwas, das den unmittelbaren Notwendigkeiten, die Freiheit und die Rechte des Individuums und des Proletariats zu verteidigen, nicht gerecht wird. Daher der Vorwurf an die Adresse derer, die im Einklang mit ihren Prinzipien leben und kämpfen wollen, sich von den Realitäten zu entfernen, die dringenden Interessen der menschlichen Zivilisation aus dem Blick zu verlieren und sie einer sterilen und abstrakten Formel zu opfern. Genau diesen Vorwurf machten die Befürworter der Intervention uns Anarchisten, die wir angesichts des großen Krieges auf dem Standpunkt der Revolution, des Proletariats, der Freiheit beharrten. Ihr Fehler war eine grundlegend falsche Einschätzung. Die Anarchie ist nicht nur das Ideal einer fernen Zukunftsgesellschaft oder eine geistige Abstraktion, die über den prosaischen Dingen des menschlichen Lebens steht. Sie ist all das, aber sie ist auch noch etwas Anderes, Weitergehendes: eine Lebens- und Kampfpraxis, eine bewusste Entwicklungs-, Vorbereitungs- und Revolutionsmethode, ein Bewegungsansatz und ein Aktionskonzept, ein Ideal, das dabei ist, sich ständig zu verwirklichen. Indem wir in der Praxis der anarchistischen Idee treu bleiben, indem wir uns im Kampf so eng wie möglich an sie halten, tragen wir dazu bei, die Probleme der Freiheit und der menschlichen Zivilisation besser und schneller zu lösen, als wenn wir uns in Widerspruch zu ihr begeben würden. Dieser Auffassung zuwider zu handeln, bedeutet, der Zivilisation, der Freiheit und jeder guten Sache, der man dienen möchte, zu schaden. Wenn man die anarchistische Idee und die anarchistische Bewegung auf diese Weise versteht, dann hätte, wie mir scheint, die Haltung, die wir während des Krieges von 1914–1918 eingenommen haben – Gegner aller Staaten, solidarisch mit allen Völkern – kaum anders ausfallen können. Eine kämpferische Haltung, keine des Verzichts, die uns nicht weniger Leiden, Gefahren und Opfer eintrug als jede andere; eine Haltung, mit der wir uns nicht aus allem heraushielten, sondern uns mitten ins Getümmel stürzten und uns zu Fürsprechern der leidenschaftlichsten Bestrebungen und sehnlichsten Gefühle der großen Masse der Kämpfenden machten, die man überall gegen ihren Willen ins Gemetzel schickte. Diese Haltung war weder individualistisch noch pazifistisch, noch neutralistisch, sondern „solidaristisch“, anarchistisch und revolutionär; sie war die menschlichste von allen und diejenige, die der Sache der Zivilisation am ehesten gerecht wurde. In allen Ländern wurden Menschlichkeit und Zivilisation Tag für Tag vom Krieg mit Füßen getreten, materiell und moralisch zugrunde gerichtet und mit Vernichtung bedroht, und zwar mehr durch die Dauer des Krieges als durch seinen möglichen Ausgang. Die Katastrophe war in allen Lagern so groß, dass es keinen Grund gab, egal zu welchem Zeitpunkt und mit welchem möglichen Sieger, sie auch nur eine Minute zu verlängern, keinen einzigen, außer den Interessen des Kapitalismus und der verschiedenen Imperialismen. Und es war die Pflicht der Anarchisten, nicht nur aus Konsequenz gegenüber ihren Prinzipien, sondern mehr noch aus menschlicher Solidarität und im Interesse der Zivilisation, ihr Möglichstes zu tun und alle Mittel zu mobilisieren, um dem Massaker, koste es, was es wolle, ein Ende zu setzen. Dieser Pflicht haben die ihren Prinzipien treu gebliebenen Anarchisten so gut nachzukommen versucht, wie sie eben konnten. Dass sie leider viel zu wenig zustande gebracht haben, um eine sichtbare Wirkung zu erzielen, ist wohl wahr. Aber das ist kein guter Grund, um zu behaupten, dass es diejenigen besser gemacht hätten... die das Gegenteil getan haben, mit den Ergebnissen, die wir alle kennen“ (Reveil Anarchiste[69], Genf, 26. Januar 1929). Diese lange Polemik, die zu Spaltungen in anarchistischen Kreisen führte und einige gute Genossen dazu veranlasste, alle Beziehungen untereinander abzubrechen, ist insofern aufschlussreich, als sie gezeigt hat, wie ein vollkommenes Einverständnis, das aus nahezu einem halben Jahrhundert der Propaganda für ein gemeinsames Ideal resultierte, angesichts eines Ereignisses von außerordentlicher Tragweite plötzlich zu Bruch gehen konnte. Es war unser Anliegen, dem Leser, so ausgewogen wie möglich, die wesentlichen Dokumente dieser Kontroverse zu unterbreiten. Wir sind der Meinung, dass die aufmerksame Lektüre dieser Dokumente, in denen die beiden gegensätzlichen Standpunkte klar und unmissverständlich zum Ausdruck kommen, einen dreifachen Nutzen hat: 1.) jedem zu ermöglichen, die von den Unterzeichnern des berühmten Manifestes der Sechzehn eingenommene Position klug und sachkundig zu beurteilen; 2.) allen zu verdeutlichen, dass die anarchistische Bewegung insgesamt dieser Position ablehnend gegenüberstand; 3.) die Libertären, vor allem die Jungen, vor der Versuchung zu warnen, sich in einen neuen Krieg hineinziehen zu lassen, unter dem trügerischen Vorwand, sie müssten den italienischen oder deutschen Faschismus bekämpfen, um die Demokratie zu retten, oder das bolschewistische Russland verteidigen, um die Revolution zu retten. [1] Eine von Jean Grave von 1920–1936 herausgegebene Heftreihe. [2] La Libre Fédération, herausgegeben Jean Wintsch (1880–1943), erschien von 1915–1919 in 41 Nummern und war gewissermaßen das Organ der „Bellizisten“ innerhalb der anarchistischen Bewegung. [3] In einem „Aufruf an die Kulturwelt“ vom Oktober 1914 verteidigten die Unterzeichner, 93 bekannte deutsche Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, den Überfall auf das neutrale Belgien und die dortigen Zerstörungen und Repressalien gegen die Zivilbevölkerung als Notwehr. [4] Die erste Nummer von Freedom, der bis heute erscheinenden und damit langlebigsten anarchistischen Zeitschrift, wurde im September 1886 veröffentlicht. Charlotte Wilson (1854–1944) fungierte als Herausgeberin (und Sponsorin), Kropotkin (1842–1921) als Hauptautor und theoretischer Ideengeber. [5] Waarlam Tscherkesoff (oder Tscherkessischwili, 1846–1925), aus georgischer Adelsfamlie stammender Anarchist und enger Weggefährte Kropotkins. [6] Jean Grave (1854–1939), Herausgeber der Zeitschriften „La Revolte“ (1885–1894) und „Les Temps nouveaux“ (1895–1914). Als Publizist und Propagandist kropotkinscher Ideen einer der einflussreichsten französischen Anarchisten vor dem Ersten Weltkrieg. [7] Errico Malatesta (1853–1932), Mitbegründer des Anarchismus in Italien und zu Lebzeiten eines der bekanntesten und populärsten Figuren des internationalen Anarchismus. [8] Tatsächlich hatte sich Kropotkin bereits bei dem von ihm angedeuteten vorherigen Parisaufenthalt im Oktober 1905 in ähnlicher Weise geäußert, allerdings mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass er von einer revolutionären Situation ausging: „Wenn Frankreich von irgendeiner Militärmacht angegriffen ist, ist die Pflicht der Revolutionäre nicht, untätig zu bleiben und dem Angreifer freie Hand zu lassen, sondern die soziale Revolution zu beginnen und das Territorium der Revolution zu verteidigen, um sie fortzusetzen“ (Les Temps nouveaux, Nr. 26, 28. Oktober 1905, zit. n. Jean Maitron, Le mouvement anarchiste en France, Band 1, Paris 1975, S. 377, Hervorhebung im Original). [9] La Grande Revolution. 1789–1793, Paris 1909, erschien noch im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung, herausgegeben von Gustav Landauer, Die französische Revolution 1789 -1793, Leipzig 1909. [10] Biribi: Sammelbezeichnung für Straflager der französischen Armee in Nordafrika. Bekannt geworden durch den gleichnamigen Roman des anarchistischen Schriftstellers Georges Darien von 1890. [11] Tonkin oder Tongking, alte Bezeichnung für Nordvietnam. [12] Leonard D. Abbott (1878–1953), amerikanischer Anarchist und Pädagoge. [13] Alexander Berkman (1870–1936), in Russland geborener amerikanischer Anarchist und Schriftsteller. Bekannt als Verfasser des ABC des Anarchismus. [14] Luigi Bertoni (1872–1947), in der Schweiz aktiver italienischer Anarchist und Publizist. [15] George Barrett (d.i. George Ballard, 1883 oder 1888–1917), englischer Anarchist. [16] Edouard Boudot (1886-?), französischer Anarchist, der sich zu Kriegsbeginn nach England absetzte. [17] Joseph J. Cohen (1878–1953). jüdisch-amerikanischer Anarchist. [18] Henry Combes (1887–1925), französischer Anarchist. [19] Fred William Dünn (1884–1925), englischer Anarchist und Kriegsdienstverweigerung. Floh 1916 aus einem englischen Militärgefängnis in die USA. [20] Carlo Frigerio (1878–1966), italienisch-schweizerischer Anarchosyndikalist. [21] Emma Goldman (1869–1940), amerikanische Anarchistin, eine der „Leitfiguren“ des amerikanischen und internationalen Anarchismus im 20. Jahrhundert. [22] Vicente Garcia (1866–1930), spanischer Anarchist, lebte seit 1912 in London. [23] Hippolyte Havel (1871–1950), tschechisch-amerikanischer Anarchist. [24] Thomas Henry Keell (1866–1938), englischer Anarchist und zeitweiliger Herausgeber von Freedom. [25] Harry Kelly (1871–1953) amerikanischer Anarchist, vor allem in der Modern-School-Bewegung aktiv. [26] Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846–1919), holländischer Anarchist und Antimilitarist. [27] Emidio Recchioni (1864–1934), italienischer Anarchist, seit 1899 in London. [28] Alexander Schapiro (1882–1946) jüdisch-russischstämmiger Anarchist, aktiv in der internationalen anarchistischen Bewegung. [29] Wladimir Sergejevitsch Schatoff (auch William oder Bill Shatoff bzw. Shatov, 1887–1943), russischer Anarchosyndikalist. Emigrierte 1906 in die USA (kehrte 1917 nach Russland zurück). [30] Pedro Vallina Martinez (1879–1970), spanischer Arzt und Anarchist. [31] Lilian Gertrude Woolf (1875–1974), englische Anarchistin, Pazifistin und Feministin. [32] Saul Yanovsky (1864–1939), jüdisch-amerikanischer Anarchist, u.a. Herausgeber der Freien Arbeiter Stimme. [33] Nachdem mit Karl Liebknecht und Otto Rühle Ende 1914/Anfang 1915 die ersten SPD-Reichstagsabgeordneten die Bewilligung von Kriegskrediten abgelehnt hatten, bildete sich sowohl innerhalb der Partei als auch in der SPD-Parlamentsfraktion eine wachsende Opposition gegen den Krieg. [34] Nach dem Tagungsort, dem schweizerischen Dorf Zimmerwald (nahe Bern) benannte sozialistische Konferenz vom 5.-8. September 1915, bei der Kriegsgegner aus verschiedenen sozialdemokratischen Parteien über die Aufkündigung der Burgfriedenspolitik und die Rückkehr zum Klassenkampf als Mittel zur Beendigung zur Krieges berieten. [35] Das ist unrichtig. Tatsächlich war eine deutsche Delegation auf der Konferenz vertreten und zahlenmäßig neben den Exilrussen sogar die stärkste Fraktion. [36] Gemeint ist: seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870–1871. [37] Christiaan Comelissen (1864–1942), holländischer Anarchosyndikalist, Herausgeber des mehrsprachigen „Bulletin International du Mouvement Syndicaliste“ (1907–1914), das eine wichtige Koordinationsfunktion für die internationale syndikalistische Bewegung hatte. [38] Henri Fuss (1885–1964), Setzer und Journalist, vor dem Ersten Weltkrieg eine der aktivsten Figuren in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung Belgiens und Frankreichs. [39] Jacques Guérin (ca. 1884–1920), französischer Anarchist und einer der Herausgeber von „Les Temps Nouveaux“. [40] Charles-Ange Laisant (1841–1920), französischer Offizier, Mathematiker und republikanischer Politiker, der sich in den 1890er Jahren zum Anarchisten wandelte. [41] François Le Levé (1882–1945), bretonischer Anarchosyndikalist. Aktiv in der Hafenarbeitergewerkschaft und der „Arbeitsbörse“ seiner Heimatstadt Lorient. [42] Charles Malato (1857–1938), anarchistischer Schriftsteller und Journalist. [43] Jules Moineau (1857–1934), belgischer Anarchist. [44] Marc Pierrot (1871–1950), französischer Arzt und Anarchist, dem Syndikalismus nahestehend. [45] Paul Reclus (1858–1941), französischer Anarchist, Sohn von Élie und Neffe von Élisée Reclus. [46] Vermutlich Pierre Richard (7-1933/1934), französischer Metallarbeiter, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Algerien niederließ und u.a. als Algerienkorrespondent von „Les Temps Nouveaux“ fungierte. [47] Sanshiro Ishikawa (1876–1956), japanischer Anarchist, hielt sich während des Ersten Weltkriegs in Frankreich auf. [48] Sébastien Faure (1858–1942) französischer Anarchist und Pädagoge. Herausgeber der vierbändigen Encyclopédie anarchiste (1925–1934), in der der vorliegende Text erstmals erschien. [49] Wochenschrift, die zwischen dem 2. April 1916 und dem 22. Dezember 1917 in 83 Nummern erschien. [50] Mauricius (d.i. Maurice Vandamme, 1886–1974), französischer Individualanarchist. [51] Génold (d.i. Eugène Delong, 1882–1954), französischer Anarchist und Publizist. [52] Pierre Martin (1856–1916), einer der „Veteranen“ der anarchistischen Bewegung in Frankreich. [53] Louis Lecoin (1888–1971) gewaltfreier Anarchist, eine der führende Persönlichkeiten des Anarchismus und Pazifismus im 20. Jahrhundert. [54] Pierre Ruff (1877–1945?), französischer Anarchist, im Ersten Weltkrieg ebenso wie Lecoin mehrfach wegen illegaler antimilitaristischer Propaganda in Haft. [55] Die 1895 von Sébastien Faure gegründete Zeitschrift musste 1914 mit Kriegsbeginn eingestellt werden. Während des Krieges erschien im Juni 1917 eine illegale „Sonderausgabe“. Erst ab 1919 war wieder ein reguläres Erscheinen möglich. [56] Gemeint ist offenbar nicht die gewerkschaftliche Tageszeitung La Bataille syndicaliste, die im Oktober 1915 ihr Erscheinen einstellte, sondern das Nachfolgeorgan La Bataille (1915–1920). Graves Artikel erschien demnach am 25. Oktober 1916. [57] Helmuth Johannes Ludwig von Moltke (1848–1916), von 1906 bis September 1914 Chef des Großen Generalstabs. [58] Eugène Varlin (1839–1871), libertärer Sozialist, Mitglied der Ersten Internationale, während der Pariser Commune in deren Rat gewählt und bei der Niederschlagung ermordet. [59] Gemeint ist offenbar Louis Rossel (1844–1871), französischer Offizier, der sich der Pariser Commune zur Verfügung stellte. [60] Der Politiker und Vizepräsident des französischen Senats Auguste Scheurer-Kestner (1833–1899), der Politiker und Publizist Georges Clemenceau (1841–1929) und der Schriftsteller Émile Zola (1840–1902) mit seinem offenem Brief „J’accuse“ hatten wesentlichen Anteil an der Rehabilitierung des wegen angeblichen Landesverrats verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus. [61] Julien Benda (1867–1956), französischer Schriftsteller und Philosoph. „La trahison des clercs“ (1927), deutsch: „Der Verrat der Intellektuellen“ (1978) ist sein bekanntestes Buch. [62] Romain Rolland (1866–1944), französischer Schriftsteller und Pazifist. Mit seinen kriegskritischen Artikeln wurde er zur Symbolfigur der Antikriegsbewegung im Ersten Weltkrieg. [63] Plus loin, herausgegeben von Marc Pierrot, erschien zwischen März 1925 und Juli 1939 in 169 Ausgaben. [64] Im damaligen politischen Diskurs: ausschließliche Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Interessen. [65] Max Nettlau (1865–1944), bedeutender Bakunin-Biograph und Historiker des Anarchismus. [66] Luigi Fabbri (1877–1935), italienischer anarchistischer Schriftsteller und Publizist. Emigrierte angesichts des italienischen Faschismus nach Uruguay. [67] La Protesta, gegründet 1897 als La Protesta Humana, ab 1904 Tageszeitung mit einer Auflage von zwischenzeitlich 100.000 Exemplaren, inoffizielles Organ der Federación Obrera Regional Argentina (FORA) und bedeutendste anarchistische Publikation Lateinamerikas. Erscheint – mit Unterbrechungen – bis heute. [68] Politische Ideologie bzw. Bewegung, die den Anschluss abgetrennter Gebiete an das Mutterland anstrebt. [69] Von Luigi Bertoni gegründetes und geleitetes anarchokommunistisches Zweiwochenblatt, das von 1900–1946 in insgesamt 1054 Nummern erschien.