Giuseppe Ciancabilla
Deklaration der Dissidenten
Wir bekämpfen die Organisation. Deswegen sind wir aber keine Individualisten. Nicht weil uns dieses Wort Angst macht, sondern weil es nicht unserem Denken entspricht, weder als Konzeption der zukünftigen Gesellschaft, noch als Kriterium des Kampfes. Aber verstehen wir uns recht: Wir sind keine Individualisten, insofern diesem Wort für Gewöhnlich die Bedeutung einer anarchistischen Schule oder Strömung gegeben wird. Wir halten aber daran fest, dass die Möglichkeit und Zukunft der Anarchie gerade und ausschliesslich in der möglichst breiten Entwicklung der individuellen Initiative liegt.
Wir nennen uns auch aus einem ganz einfachen Grund nicht Individualisten: weil wir nicht glauben, dass es tatsächlich anarchistische Individualisten geben kann. Es kann sie im Rahmen eines Kampfes für die Verwirklichung des Ideals nicht geben: und zwar deshalb, weil kein Anarchist isoliert auf wirksame Weise gegen das System kämpfen kann. Die anarchistische Konzeption neigt dazu, indem sie eben den Kampf des Individuums gegen das System generalisiert, die Kräfte all jener, die für dasselbe Ziel kämpfen, spontan und notwendigerweise gemeinsam zu vereinigen. Der Individualismus im Kampf ist gleichbedeutend mit Isolierung, einmal abgesehen von den äusserst seltenen Fällen der Propaganda der individuellen Tat, deren tatsächliche Realisierer, während es viele theoretische Anstachler dazu gibt, ziemlich selten sind. Ausserdem kann der Individualismus nicht als System einer zukünftigen Gesellschaft befürwortet werden, die auf Solidarität und Zusammenschluss basieren soll, denn, wenn wir davon ausgehen, die Gesellschaft, so wie sie heute ist, zu verändern, dann kann das Individuum alleine nicht ausreichen, um alle physischen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Von der bourgeoisen, pseudo-anarchistischen Strömung der sogenannten Individualisten, die die Bewahrung des Privateigentums wollen, sprechen wir hier gar nicht erst.
Wir sind also keine Individualisten: und wir bevorzugen es eigentlich, uns einfach Anarchisten zu nennen. Aber da einem dies, umgeben von so viel gegenseitiger- und Selbst-Definitionsmanie, als eine bequeme Ausflucht erscheinen mag, um Erklärungen zu meiden und Unklarheiten zu erhalten, so ist es, ausgehend von der Tatsache, dass wir die Abschaffung des Privateigentums und die Vergesellschaftlichung der Arbeitsgeräte und der Produktions- und Tauschmittel für die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse als notwendig erachten (ohne hier weiter auf die verschiedenen kollektivistischen oder kommunistischen Schulen einzugehen, über die, mehr als ein im Voraus festgelegtes Konzept, die zukünftige Erfahrung entscheiden wird), logisch, dass wir Sozialisten sind. Aber Sozialisten wie es einzig möglich ist, es wirklich zu sein, das heisst, als Anarchisten, da wir die tatsächliche und nicht theoretische Abschaffung jeder und jedwelcher Form von Staat, Regierung, Gesetz und Autorität für notwendig halten und umsetzen wollen.
Wir sind demnach ökonomisch gesehen Sozialisten, politisch gesehen Anarchisten.
Daraus, dass wir also den Sozialismus als Stützpfeiler des zukünftigen ökonomischen Wandels anerkennen, folgt offenkundig, dass wir eine harmonische Gesellschaft unmöglich nicht anerkennen können, die aus Zusammenschlüssen und Kollektivitäten besteht, die organisch funktionieren und mit Richtlinien die verschiedenen sozialen Dienstleistungen ausführen: Zusammenschlüsse von Produzenten und Konsumenten, die ihre Kräfte für das individuelle und kollektive Wohlbefinden zusammenlegen.
Wenn die Parteiorganisatoren glauben, uns auf diesem Terrain zu bekämpfen, und uns vorwerfen, keine Organisierung der zukünftigen Gesellschaft zu wollen, liegen sie falsch und bekämpfen schlichtwegs das, was wir nicht denken.
Wir können der Existenz einer anarchistischen Partei nicht zustimmen, da sie sich in die vordefinierten Linien eines Programmes zwängen will, welches von einem Individuum diktiert oder von einer Gruppe formuliert wird. Die anarchistische Bewegung kann sich nicht in die systematischen und dogmatischen Richtlinien einreihen, die sich Programme nennen. Im Unterschied zu den Sozialdemokraten, die darin von den organisatorischen Anarchisten imitiert werden, denken wir, dass, wenn eine gemeinsame Zielsetzung – also das, was wir wollen – vorhanden ist, diese Zielsetzung von sich aus die Kräfte jener um sich bündelt, die für dasselbe Ziel kämpfen, ohne dass dies die verbindliche Zustimmung von Individuen, welche aufgrund ihres Temperaments, ihrer Auffassungs-, Seh- und Fühlweise verschieden sind, zu einem gemeinsamen Kampfprogramm impliziert, das unmöglich verfolgt werden kann, ohne sich auf gegenseitige Zugeständnisse und Zurücksteckungen zu Ehren der Mehrheit einzulassen.
Partei bedeutet für uns Sekte; und weil die Aufnahme, der Ausschluss und das Exklusivitätsverständnis – verhängnisvolle Konsequenzen dieser Sekte – aus jahrhundertealter Erfahrung stets Verhalten mit sich bringen, die die Tragweite des grandiosen Kampfes, den wir für das Ideal führen, verkleinern und schwächen, schliessen wir nirgendwen bezüglich überhaupt keiner Partei ein oder aus, formulieren wir keine Dogmen und absoluten Programme; stattdessen streben wir mit all unseren Kräften, durch die spontane Vereinigung zwischen jenen, die den Kampf auf die affinste Weise empfinden und verstehen, durch die grösst mögliche Entwicklung der individuellen Intitiativen, die nicht durch Mehrheitshiebe erstickt werden, durch die Bildung autonomer Gruppen, die nicht an den eingeschränkten Kreis nutzloser und hinderlicher Föderationen gebunden sind, nicht damit beschäftigt sind, ihre Bestehensfunktion in die Hände von zentralisierten Kommissionen zu delegieren, nicht einem lästigen bürokratischen Regime verpflichtet sind und nicht mit Autoritarismus infisziert sind, streben wir danach, und wir sind überzeugt, dass wir auf die nützlichste, praktischste und effizienteste Weise danach streben, jene essenziell libertäre Bildung zu verbreiten, die das Fundament der zukünftigen anarchistischen Gesellschaft bilden soll.
Wir haben des weiteren eine andere Konzeption der Bewegung. Angesichts der unwissenden und unbewussten Masse kann unsere Aktion als Anarchisten nur eine sein: anarchistisches Bewusstsein bilden. Es mit allen Mitteln der Propaganda bilden, die von Parteiorganisatoren und Nicht-Parteiorganisatoren schon immer angewandt wurden: Konferenzen, Veröffentlichung von Büchern, Brochüren und Zeitungen, gesprochene Propaganda und Propaganda der Tat.
Wenn sich die Individuen, die zu Anarchisten wurden, von der unbewussten Masse losreissen und sich in den Kampf gegen das Gefüge des bourgeoisen Systemes werfen, werden sie alle aus intuitiver und praktisch nützlicher Notwendigkeit die Hände in brüderlichen Ketten von Anarchist zu Anarchist, von Gefährte zu Gefährte, von Gruppe zu Gruppe um sich herum ausstrecken, und werden sie ihre gebündelten Kräfte vereinigen, um nicht mehr individuell, sondern kollektiv, den gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Dies wurde schon immer getan, dies wird getan und wird immer getan werden, ohne Bedarf an Organisatoren, die predigen, dies müsse aus der Organisation entspringen, ohne Bedarf daran, dass eine unheilbringende Illusion von zahlenmässiger, aufgelisteter und kontrollierter Stärke die Individuen daran gewöhnt, mehr auf die gemeinsamen rhythmischen Bewegungen zu zählen, sich mit vertrauensvoller, aber logischer und unvermeidlicher Unbekümmertheit aufeinander zu verlassen, anstatt auf sich selbst zu zählen, sich der Verantwortung der eigenen Aufgabe und der eigenen Aktion bewusst.
Abgesehen davon, glauben wir nicht an die Lebendigkeit dieser gekünstelten, fiktiven, illusorischen Organisationen: wir glauben in erster Linie nicht an sie, weil sie nicht spontan sind. Nie sehen wir sie frei aufkommen, als Antwort auf ein natürliches und empfundenes Bedürfnis nach solch einem anarchistischen Kampfsystem. Stattdessen wohnen wir vor allem ihrer gewollten, künstlichen Bildung bei, die sich für das innige und enthusiastische Werk von starken Agitatoren vollendet, die im grossmütigen Verlangen, das revolutionäre Werk voranzutreiben, in der fieberhaften Ungeduld, nach langen und beklemmenden Jahren des Kampfes die starke Sehnsucht verwirklichen zu können, das Volk endlich für seine Emanzipation in Aufstand treten zu sehen, unfreiwillig, geblendet vom revolutionären Traum, die anarchistische Konzeption aus der Sicht verlieren, also die libertäre Bildung, ohne welche das Volk, auch wenn es befreit ist, dem Leben in Freiheit nicht gewachsen wäre.
Ebensowenig glauben wir an die Möglichkeit einer anarchistischen Organisation, mit einem stabilen und permanenten Charakter, mit einer Einheitlichkeit von Kampfsystemen, die von ihren Mitgliedern gar nicht akzeptiert werden kann, ohne dass jeder den eigenen Initiativen entsagt, ausser sie werden von der Mehrheit gutgeheissen, ohne dass die Organisierten bereits im Voraus den Geist der Originalität und Unabhängigkeit, der einzig und allein die Individuen zum freien Leben befähigen kann, auf dem Altar der Organisation aufopfern.
Und ebensowenig ist die Parteiorganisation eine Stärke, wie auch die Truppen der Armee keine wirkliche Stärke, bewusste Stärke, geistige Stärke haben, sie haben nur rohe Stärke, unbewusste Stärke, materielle Stärke, einzig durch die Angst vor der Disziplin vereint.
Es wäre angebracht, hier daran zu erinnern, was tiefgehend ein freier Geist, Max Nordau, diesbezüglich schrieb:
„Wenn die Individuen schwach sind, wird sie weder die Disziplin, noch die Vereinigung, noch der Gehorsam jemals gemeinsam stark machen. Wenn wir auch tausend Lämmer im Gedanken der Solidarität vereinigen; sie werden nie einem einzigen Löwen standhalten können, und noch viel weniger, werden sie für ihn jemals eine Gefahr darstellen können.“
Man wird sich sagen: Aber unsere Organisation ist frei und spontan. Es steht jedem frei, sich an ihr zu beteiligen, wer das Programm nicht akzeptiert, dem steht es frei, wieder zu gehen. Das stimmt. Aber selbst die Organisationen der Sozialdemokraten sind so frei und spontan für die willentliche Akzeptanz oder Trennung von jenen, die sich an ihr beteiligen. Dies ändert nichts daran, dass sie autoritär sind.
Und autoritär werden fatalerweise alle Parteiorganisationen, auch die anarchistischen. Nicht autoritär, damit wir uns richtig verstehen, wegen der Gefahr der direkten Auferlegung, nicht autoritär wegen der regimehaften Erscheinung, die sie regiert. Sondern autoritär im Geiste, aufgrund der Leichtigkeit, mit welcher die gewandteren, stärkeren und einflussreicheren Individuen, angesichts des Föderations-, Kongress-, Delegations- und Mehrheitssystems, über die anderen dominieren können. Autoritär in der Tatsache, dass die schwachen und unfähigen Individuen keinen Antrieb mehr verspüren, selbst zu handeln, sich stark und fähig zu machen, denn in der bequemen Anordnung dieser Organisationen, in der nur einige alles machen und für die anderen machen, ziehen sich die Schwachen absichtlich zurück und anstatt für die Notwendigkeit des Kampfes den eigenen Willen herauszubilden, sich weiterzuentwickeln, lassen sie ihn letztlich schrumpfen.
Aus diesen grundlegenden Prinzipienbetrachtungen, während wir aus Liebe zur Kürze tausend andere zweitrangige auslassen mussten, leitet sich deutlich ab, dass der Zwist zwischen den beiden Tendenzen des anarchistischen Kampfes, vielmehr als ihn mit Organisation und Anti-Organisation zu definieren – was oft Unklarheiten und falschen Interpretationen Platz gibt –, sich treffender in den zwei Konzepten zusammenfassen lässt, die von den zwei Tendenzen verkörpert werden: die eine, die nach unserer Überzeugung dazu neigt, die Initiativen, die Autonomie und die Unabhängigkeit des Individuums verhängnisvoll zu ersticken, während es ausserdem ein günstiges Terrain kreiert für die unheilvolle Entwicklung des Autoritarismus; die andere, die das Individuum völlig frei lässt, Meister seiner selbst und seiner Initiativen, aus denen sie sich ein ergiebiges Aufputschmittel macht, und die ihren libertären Charakter rein und vollständig erhält.
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Giuseppe Ciancabilla ist 1872 in Rom geboren. Nachdem er vor der Repression nach dem Aufstand von 1898 in Milano aus Italien fl üchten musste, setzte er seine Agitation für eine kurze Zeit in der Schweiz fort. Dort war er einer der einzigen, der mit einem Artikel in seiner in Neuenburg gegründeten Zeitung L‘Agitatore den Anarchisten Luigi Luccheni off en verteidigte, der in Genf die Prinzessin Elisabet von Österreich mit einer Feile ermordete. Dies nahmen die Schweizer Autoritäten dann auch zum Anlass, um ihn zusammen mit 35 anderen italienischen Anarchisten aus dem Land auszuweisen. So reist Ciancabilla für einige Zeit nach England und schliesslich in die Vereinigten Staaten, wo er eine wichtige Figur der migrierten Bewegung war, die sich Ende 19. Jahrhundert dort zusammenfand. Er lässt sich in Paterson, New Jersey, nieder, wo eine grosse Gemeinschaft italienischer Anarchisten lebt. Dort wird er Redakteur von La Questione Sociale, einer zweimonatlichen Zeitung, die gemeinsam mit Errico Malatesta, Carlo Tesca, Luigi Galleani, Aldino Felicano und anderen von der Gruppe Diritto all‘esistenza herausgegeben und von deren Verlagshaus, Era nuova, gedruckt wurde. Er wird die Zeitung L‘aurora gründen, und später in Chicaco in der Zeitung La Protesta umana schreiben, wo er, von der Analyse der Situation in seinem Herkunftsland Italien und auf der Welt, in sozialer Hinsicht, sowie in Bezug auf die anarchistische Bewegung, bis zur Darlegung seiner Perspektiven für die soziale Revolution, von der Kritik des Parlamentarismus, des Organisationismus und der Synthese unter Anarchisten bis zur Verteidigung der Enteignung und der individuellen Angriff e gegen die Macht, wie jene von Gaetano Bresci und Leon Czolgosz, eine Vielfalt von Artikeln verfasst. Am 15. September 1904 stirbt er im Spital von San Francisco, im Alter von 31 Jahren.