Titel: Gerechtigkeit und Gerichte
Datum: Januar 1890
Bemerkungen: Aus: Die Autonomie. Anarchistisch-communistisches Organ. V. Jahrgang No. 85, 4 Januar 1890 und No. 86, 18. Januar 1890.
I.

„Gerechtigkeit, Autorität! Zwei unvereinbare Begriffe, welche der gewöhnliche Altagsmensch mit Hartnäckigkeit als gleichbedeutend verbindet; wie er Volk und Regierung in „Volksregierung“ verbindet, ohne dabei den innern Widerspruch zu bemerken.“
Woher kommt eine solche Ideenversumpfung?...[1]

An diese Frage wird man unwillkürlich beim Lesen der Reichstagsreden, welche die sogenannten socialistischen Arbeitervertreter in der Socialistengesetzdebatte gehalten, erinnert. Diese Herren verlangten — nach der langen Rede kurzem Sinn — „dass alle „Delicte“ der Socialisten nach dem gemeinen Strafrecht behandelt werden“.

Damit haben die angeblichen „Vertreter des wissenschaftlichen Socialismus“ eine der mächtigsten Waffen der herrschenden Tyrannei principiell und formell als berechtigt anerkannt. Sie bestreiten den herrschenden Classen nicht das Recht, zu richten, zu verurtheilen, in die Kerker oder auf das Schaffot zu schleppen; die Verfolgten mit den raffinirtesten Folterwerkzeugen der modernen Civilisation zu martern; den Menschen seiner Freiheit zu berauben, seine Existenz, seine Gesundheit zu Grunde zu richten; ach nein! Alles, was diese Herren verlangen, ist: dass dies bei den Socialisten auf dem gewöhnlichen Wege, wie bei anderen Unterthanen geschehe. Kurz, wir wollen nicht mehr als specielle Feinde der herrschenden Classe behandelt werden.

In der That hatten die herrschenden Classen sehr Unrecht, diese Herren sammt ihrem getreuen Anhänge als Solche zu betrachten. Diese Ehre gebührt ausschliesslich uns Anarchisten, indem wir die Einzigen sind, welche verächtlich jeden Compromiss mit den herrschenden Classen zurückweisen und mit unversöhnlichem Hasse an deren Vernichtung arbeiten.

Leider haben wir es hier nicht nur mit einer jämmerlichen Ideen Versumpfung corrupter Renegaten zu thun; sondern auch mit einem verderblichen Vorurtheile über Wesen und Bethätigung der Gerechtigkeit, welches in der grossen Masse des Volkes herrscht.

Von frühester Jugend wird unseren armen Schädeln eingepaukt, die Gerichte mitsammt dem Beamtentross repräsentiren die „Gerechtigkeit“. In Poesie und Prosa, Kunst und Literatur wird diese Institution als heilig, unantastbar gefeiert.

Das Alles hat freilich bis zur Stunde nicht vermocht, ihr die Sympathie des Volkes zu erwerben. Mit unwillkürlichem Grauen flieht das Volk die Stätten, welche angeblich der Gerechtigkeit geweiht sind; eine geheimnissvolle Beklemmung beschleicht beim Anblicke der Gerichtsgebäude die Herzen der schlichten Menschen; und diese Gefühle verwandeln sich in banges Entsetzen bei näherer Berührung mit einem Vertreter dieser „Gerechtigkeit“. Und es ist eine allgemein bekannte Thatsache, dass selbst der sonst muthige und gewissenreinste Mensch beim erstmaligen „Erscheinen vor Gericht“ sich einer gewissen bangen Beklommenheit nicht erwehren kann.

Diese Erscheinung, oder besser gesagt, diese physiologische Wirkung, welche das Gerichtswesen auf das Gefühlsleben des Volkes ausübt, beweist mehr wie hundert dicke Bände voll philosophischer Argumente, wie wenig das Gerichtswesen mit dem Wesen und Principien der Gerechtigkeit gemein hat.

Die Gerechtigkeit als solche erweckt im Menschen im Gegentheil Gefühle innerer Freude und Befriedigung, welche Gefühle sich im hingehendsten Vertrauen manifestiren.

Die Geschichte des Gerichtswesens ist allerdings nicht darnach, ein solches Vertrauen im Volke zu erwecken. Privilegium der Fürsten, Pfaffen, Adeligen, Patricier, kurz aller bevorrechteten Stände des Mittelalters, war es stets eine furchtbare Geisel für das Volk. Nach der französischen Revolution wurde dasselbe in allen sogenannten Culturländern dem Staate, als über dem Menschen stehend, mit der Aufgabe anvertraut: allen Menschen ohne Unterschied des Standes mit „gleichem Masse“ zu messen.

Diese „Errungenschaft“ der Bourgeoisie ist ihrer — wie alle ähnlichen „Errungenschaften“ — vollkommen würdig. War das Gerichtswesen vorher ein Streitapfel der verschiedenen bevorrechteten Classen und Stände untereinander sowie ein Mittel particularistischer Tyrannei, so ist dasselbe, vom Staate ausgeübt, eine verheerende Waffe der Tyrannei für alle bevorrechteten Classen und Stände gegen das nach wie vor verachtete Volk geworden. Die Ursache, dass es fatalerweise eine solche werden musste, liegt in der Institution des Gerichtswesens selbst, weil dieselbe eine Verneinung der ewigen Gerechtigkeitsprincipien, als Autorität eine Verneinung der menschlichen Freiheit ist.

Der Staat ist bekanntlich nichts Anderes, als eine mächtige Association der bevorrechteten Classen, zum Schutze ihrer Vorrechte und Interessen; und nur vorgeblich soll er die Interessen aller seiner Mitglieder vertreten. Naturgemäss wird der Gerichtsapparat in der Hand des Staates die Geschäfte Derer besorgen, welche in Wirklichkeit den Staat bilden: das ist der bevorrechteten Classen.

Wer sich einmal darüber im Klaren ist, — und Jedermann vermag sich täglich von dieser Thatsache zn überzeugen — der wird und kann in den Gerichten keine Stätte der Gerechtigkeit, sondern nur eine Richtstätte der Gerechtigkeit erblicken; wo mit dem Urtheile die Gerechtigkeit im Namen der Gerechtigkeit hingerichtet wird.

Ebenso klar ist, dass die Richter mit all ihren Trabanten, als die Lakeien der herrschenden Classe, natürliche Feinde des geknechteten Volkes sind, und es kann dem Letzteren höchst gleichgiltig sein, in welcher Form diese Henkerarbeit verrichtet wird.

Lassen wir auf einen Augenblick die Behauptung als richtig gelten: die Gerichte hätten den Zweck, „das gesellschaftliche Rechtsgefühl zu vertreten, die Gesellschaft vor Uebelthätern zu schützen und dieselben zu züchtigen“, wie dies von der herrschenden Ordnungsmoral in allen Tonarten breitgetreten wird, und wir befinden uns sofort vor einem Chaos von logischen Widersprüchen und Nothzüchtigungen der einfachsten Gerechtigkeitsbegriffe.

In dem Augenblicke, wo die Gerichte das gesellschaftliche Rechtsgefühl und nicht göttliche Offenbarungen vertreten sollen, wird zugegeben, dass das gesammte Rechtswesen ein von allen Gesellschaftsmitgliedern angenommener Vertrag sein soll. Die Basis aller Gerichtsbarkeit sind die Gesetze. Mit welchem Rechte können nun dieselben das gesellschaftliche Rechtsgefühl repräsentiren, nachdem sie zum Theil der dunkelsten barbarischen Vergangenheit entsprungen, im Ganzen von schändlichen Classeninteressen dictirt und der grossen Masse des Volkes gegen ihren freien Willen aufoctroyirt werden ? —

Selbst wenn jedes einzelne Gesetz durch eine sogenannte Urabstimmung, durch die Majorität sanctionirt worden wäre, könnten dieselben nur für alle Jene verbindlich sein, welche für dieselben gestimmt, und nicht für Jene, welche dagegen gestimmt. Wer für ein Gesetz stimmt, macht sich vertragspflichtig, und es wäre logisch, für eine Verletzung eines freiwillig geschlossenen Vertrages verantwortlich gemacht zu werden. Niemals aber Derjenige, der sich zum Vorhinein gegen einen solchen Vertrag durch seine Gegenstimme feierlichst verwahrte. Von einem gesellschaftlichen Rechtsgefühle kann also selbst bei Gesetzen keine Rede sein, welche durch Urabstimmung sanctionirt werden, insoferne nicht Einstimmigkeit herrschte. Wieviel weniger folglich bei Gesetzen, welche, wie gesagt, nichts als ein Ausdruck des abscheulichsten Classeninteresses sind.

Andererseits drängt sich ganz von selbst die Frage auf: hat der Staat — welcher sich anmasst, die Gesellschaft zu repräsentiren — auch seinerseits seine Vertragspflichten erfüllt ? — Der Staat soll nach Dem, was man uns stets erzählt, die Pflicht haben, über das geistige und materielle Wohl seiner Angehörigen zu wachen. Doch sprechen wir nicht vom Staat, sondern von der Gesellschaft überhaupt, in deren Namen der Staat handelt.

Was hat die Gesellschaft gethan, um einen Gesetzes- oder Vertragsbruch der Individuen zu verhüten? — Hat sie denselben die Mittel und Gelegenheit geboten, ihre guten, günstigen und moralischen Fähigkeiten voll und ganz zu entwickeln? — Hat sie denselben die Mittel und Gelegenheit geboten, bei nützlicher Bethätigung eine menschenwürdige Existenz zu fristen ? — Kurz, hat die Gesellschaft dem Individuum gegenüber ihre Pflichten erfüllt, um von diesem einen Respect ihres Vertrages, ja selbst nur das innere Bewusstsein eines „gesellschaftlichen Rechtsgefühles“ von demselben beanspruchen zu können?

Nichts! Absolut nichts von alle dem thut die Gesellschaft für 90 Procent ihrer Mitglieder. Im Gegentheil wird die grosse Masse des Volkes in frühester Jugend bei Noth und Entbehrung des Nöthigsten zum Leben, zum Lastthiere degradirt, physisch und geistig gebrochen Je mehr Reichthümer und Schätze aller Art ihr Fleiss hervorbringt, desto elender wird ihre Lage, desto grösser wird die Legion Derer, welche als „überflüssige Hände“ dem Verderben preisgegeben; während ein kleines Häufchen nichtsnutziger Schelme im Ueberflusse schwelgt!

Diese Gesellschaft, welche in ihrem Systeme nichts als ein monströses Monument der Ungerechtigkeit bildet, welche mit Vergewaltigung, Mord, Raub, Betrug, Fälschung, Heuchelei und Lüge zusammengesetzt ist, welche mit jedem Schritt und Tritt die einfachsten Grundsätze der Gerechtigkeit mit Füssen tritt; welche aus Hab- und Herrschsucht die Menschenwürde der grossen Mehrheit des Volkes raubt, täglich Tausende auf dem Gebiete der Production buchstäblich mordet, das Mark und Blut der Armen vom zartesten Kindesaller an wie Vampyre saugt, welche die höchsten Ideale erstrebenden Menschen mit cannibalischer Grausamkeit verfolgt und zu erwürgen sucht; welche die Quelle aller Gerechtigkeit, das menschliche Selbstbewusstsein mit allen Mitteln der Gewalt und Niedertracht in den Volksmassen zu ersticken trachtet; welche im systematisch gepflegten Massenmenschenmorde die Bestie im Menschen züchtet und so den Respect vor den Menschenleben grausam erwürgt; diese Gesellschaft, welche somit alles auf bietet, das menschliche Rechtsbewusstsein zu ersticken, die abscheulichsten Laster und Leidenschaften systematisch züchtet, diese Gesellschaft wirft sich zum Richter ihrer eigenen Opfer auf, um dieselben mit Schmach zu beladen, oder gar abzuschlachten, weil sie geworden, was sie aus ihnen gem acht! — ? —

Fürwahr, das ist der Gipfelpunkt der Niedertracht! — Und es fehlen uns die Worte, um Jene gebührend zu brandmarken, welche im Namen des nach Erlösung ringenden Volkes, im Namen des Socialismus eine solche namenlose Ungeheuerlichkeit anerkennen und zu deren Erhaltung beitragen.

II.

Wir haben im vorigen Artikel gezeigt, wie das Gerichtswesen der modernen Gesellschaft in seinen Fundamenten eine Institution der empörendsten Ungerechtigkeit und eines der mächtigsten Mittel der Tyrannei der herrschenden Klasse ist. Noch deutlicher wird dies durch seinen inneren und äusseren Organismus illustrirt.

Zahllos sind die Gesetze, Erlässe, Decrete, Verordnungen, Artikel und Paragraphen allein für das Strafrecht. Diese genügen, wie es scheint, noch lange nicht, denn es werden fortwährend noch solche fabrizirt; selbst die Socialdemokraten fühlen ein solches Bedürfniss — und in vielen Fällen gelten Urtheile und Entscheidungen der oberen Gerichtsinstanzen anstatt der Gesetze; so dass das Studium eines ganzen Menschenalters nicht hinreicht, sich eine complete Kenntniss derselben anzueignen. Allgemeine Grundsätze und Maximen ersetzen die complete Kenntniss. Und um zu beurtheilen, von welcher Qualität dieselben sind, braucht man nur einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen, wo sich die professionellen Gesetzesdeuter über den Sinn der Gesetze in den Haaren liegen. Unwillkürlich glaubt man sich da in eine Vorstellung von Schwarzkünstlern versetzt. Da wird weiss zu schwarz und schwarz zu weiss gemacht, und jeder dieser „Rechtsgelehrten“ vermag gleich einem Bosko aus Nichts Etwas zu machen, und zwar irgend ein Verbrechen, welches einem Menschen den Kopf kosten kann.

Gleich dem Schwarzkünstler gehören alle nur denkbaren Kunstgriffe und Täuschungsmittel zum Gewerbe der Juristen, nur mit dem Unterschiede, dass der Erstere das Publikum darauf aufmerksam macht und keine menschlichen Lebensinteressen als Opfer fordert, während die Letzteren ihre Handlungen mit dem Glorienscheine der Gerechtigkeit umhüllen, ihr trügerisches Spiel vor den profanen Blicken des Volkes mit einem mystischen Schleier verdecken, dem menschlichen Gewissen den Nacken brechen und mit unverfrorener Frechheit dafür die Taschen des Volkes plündern.

Das Alles hindert jedoch diese saubere Gesellschaft nicht, zu erklären: „Unkenntniss der Gesetze entschuldigt nicht!“ Was eine brillante Illustration zu der Thatsache ist, dass fast täglich verschiedene Richter — oder auch dieselben — in gleichen Fällen verschiedene Urtheile fällen; oder, dass eine höhere Instanz ein „Schuldig“ in ein „Nichtschuldig“ oder umgekehrt, verwandelt.

* * *

Man betrachte sich die Legion Gesetzesdeuter: Richter, Staatsanwälte, Advocaten etc., deren ganzes Sein, Wohlstand, Würde und Ansehen auf dem Elend, den Akten der Noth und Verzweiflung, oder der moralischen Verdorbenheit ihrer Mitmenschen beruht; und man wird begreifen, dass die Verbrechen und Gesetzesverletzungen ein, dieser Gesellschaft noth wendiges Lebenselement sind.

Die Progenitur der Bourgeoisie hat einen wahren Abscheu vor productiver, der Gesellschaft nützlicher Thätigkeit. Alles strebt nach einer Parasitenstellung, und der sogenannte „Rechtsboden“ ist einer ihrer Lieblingstummelplätze. Natürlich muss da für viele „Rechtsverletzungen gesorgt werden. Die vielen Millionen, welche jährlich dem arbeitenden Volke vom Staate für das Justizwesen, die Millionen, welche in Form von Geldstrafen herausgepresst werden, sowie die ungezählten Summen, welche die „Rechtsanwälte“ direct von den Parteien ziehen, stehen in gar keinem Verhältniss zu dem scheinbar verursachten materiellen Schaden, zumal, wenn man bedenkt, dass es sich in den meisten Fällen von Raub, Diebstahl, Betrug oder Veruntreuung etc. einfach um einen Familienstreit von Gaunern untereinander oder um eine rechtmässige Befriedigung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse der Opfer dieser Raubgesellschaft handelt.

Der materielle Raub durch das Gerichtswesen am Volke genügt den herrschenden Klassen jedoch nicht; sie raubt dem Menschen das Kostbarste, die persönliche Freiheit, degradirt ihre Opfer in festen Käfigen zu wilden Thieren oder sie mordet sie mit kalter Berechnung.

Und eine solche ungeheuerliche, der Menschheit schmachvolle Institution wird als die Gerechtigkeit betrachtet? — ! —

Ach, ich weiss wohl, man wird hierauf mit der freisinnig klingenden Entgegnung kommen: „Das Alles sei zwar wahr, aber die Schuld liege in der schlechten Organisation des Gerichtswesens; dasselbe müsse gründlich reformirt und auf eine gesunde Basis (?) begründet werden“. Oder Andere, z. B. Socialdemokraten, werden sagen: „Das Gerichtswesen ist der jeweiligen Gesellschaftsform angepasst; mit dem Verschwinden der Classenherrschaft wird auch dieses verschwinden, um einem besseren, gerechteren Platz zu machen“.

Allein in beiden Einwendungen wird die Nothwendigkeit irgend eines ständigen Gerichtswesens anerkannt, während ein solches überhaupt mit den Grundsätzen der Gerechtigkeit unvereinbar ist[2]. Es giebt keine „gesunde Basis“ für ein ständiges Gerichtswesen, weil die gesunde Basis der Gerechtigkeit in dem menschlichen Gewissen beruht; und dieses ist vom Menschen unzertrennlich und untheilbar.

Alle wirklichen Verbrechen oder Akte der Ungerechtigkeit der Individuen lassen sich fast sämmtlich auf Gebrechen der Gesellschaft selbst zurück führen, sei es einer schlechten Organisation, sei es mangelhafter oder falscher cultureller Entwickelung oder Alles zugleich. Die gesammte Gesellschaft ist daher in erster Linie für Fehler ihrer Mitglieder verantwortlich und hat die gebieterische Pflicht, in ihrem eigenen Schoosse die Ursachen zu suchen und zu beseitigen.

Die wenigen Ausnahmen, welche in einer gesunden Gesellschaft auf individuelle Gebrechen zurückzuführen sind, geben der Gesellschaft kein Recht zu strafen, sondern gebieten ihr, solche Individuen wie physisch Gebrechliche zu behandeln.

Die Gesellschaft hat z. B. die Pflicht, dafür zu sorgen, dass in jedem Individuum das Bewusstsein über Recht und Unrecht zur höchstmöglichsten Entwickelung gelangen kann. Das ist aber nur dann möglich, wenn ihr eigener Organismus in allen Beziehungen der Individuen untereinander von dem Geiste der Gerechtigkeit getragen ist, so dass jeder Einzelne den vollen Werth seiner eigenen Würde in Allem, was ihn umgiebt, fühlt und empfindet. Frei und ungehindert im Genüsse der geistigen und materiellen Güter der Gesellschaft, wird im Menschen das Bewusstsein erwachen und erstarken, dass er selbst ein Product der Gesellschaft und als solches mit unzertrennlichen Banden mit seinen Mitmenschen verknüpft ist. Aus diesem Bewusstsein entspringt nothwendigerweise die Erkenntniss der Interessensolidarität, und diese wird dem Menschen zur Basis seines Rechtsgefühles, seines Gewissens werden, von welcher all‘ sein Thun und Lassen geleitet wird.

Dann, und nur dann wird der Mensch ein volles Bewusstsein über Recht und Unrecht erlangen und stets von dem Grundsätze geleitet werden: dass in der Respectirung der Rechte seiner Nebenmenschen die beste Garantie für die Unverletzlichkeit seiner eigenen Rechte zu suchen ist.

Wo immer eine Verletzung dieses Grundsatzes, eine Verletzung der Rechte eines oder aller Gesellschaftsmitglieder stattfindet, wird die persönliche Vertheidigung oder die Vermittlung beiderseitiger Freunde genügen, dem Schuldigen sein begangenes Unrecht klar zu machen, um ihn zur Wiedergutmachung desselben zu bewegen. Die Gefahr einer Ueberwältigung des Schwächeren durch die Stärkeren ist durch das vorhandene Bewusstsein der Interessensolidarität vollkommen ausgeschlossen, da in solchen Fällen sofort Dritte Partei zum Schutze des also Bedrohten ergreifen würden.

* * *

Somit ergiebt sich aus dem hier Ausgeführten abermals, dass die Gerechtigkeit — die wahre, ewige Gerechtigkeit, nach welcher die Menschheit seit ewigen Zeiten strebt — wie alle hohen Ideale der Menschheit nur in einer Gesellschaftsform möglich ist, welche auf der vollsten Autonomie des Individuums, das ist, der Anarchie begründet ist. Darum sei und bleibe unsere Loosung:

Nieder mit jeder Autorität! Selbst auch jener, welche sich unter dem falschen Namen „Gerechtigkeit“ in den Gerichten breit macht.

[1] P. J. Proudhon. Idée générale de la Révolution au X IX siècle. 1851.

[2] Wir empfehlen diesbezüglich die Lectüre der Broschüre „Gesetz und Autorität“ von Genossen P. Krapotkin.