Gabriel Kuhn, Torkil Lauesen
Linke Theorie und die Universitäten
Ein schwieriges Verhältnis
Torkil Lauesen und Gabriel Kuhn zum Spannungsfeld von Theorie und Praxis
In diesem Artikel geht es um linke Theorie, insbesondere ihr Verhältnis zur universitären Welt. Wir, die Autoren, versuchen seit vielen Jahren zu linker Theoriebildung beizutragen. Wir haben an Universitäten studiert und wir verwenden akademische Quellen und Methoden in manchen unserer Arbeiten. Aber wir verfolgen keine akademische Karriere. Wir sind an theoretischen Fragen interessiert, weil wir unsere politische Praxis verbessern wollen.
Historisch gesehen war der Einfluss von Akademiker*innen auf linke Theoriebildung eher unbedeutend. Die Entwicklung linker Theorie wurde von Menschen getragen, die unmittelbar in politische Kämpfe verwickelt waren. Klare Grenzen lassen sich hier freilich nicht ziehen: es hat immer schon Aktivist*innen mit akademischen Hintergrund gegeben genauso wie Akademiker*innen, die in politischen Kämpfe involviert waren. Aber während politische Kämpfe im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für die Entwicklung linker Theorie prägend waren, sind es heute akademische Debatten.
Das Verhältnis zwischen politischen Kämpfen und akademischen Debatten ist ein kompliziertes. Es gibt Vorurteile auf beiden Seiten, das heißt akademische Überheblichkeit ebenso wie vulgäre Theoriefeindlichkeit. Manchmal scheint es so, als hätten wir es mit zwei getrennten Welten zu tun. Doch eine engere Zusammenarbeit von Theoretiker*innen und Praktiker*innen würde linken Bewegungen sicher gut tun. Ohne persönliches Engagement und politische Erfahrung kann es keine relevante linke Theorie geben. Gleichzeitig helfen uns theoretische Reflexion und wissenschaftliche Analyse, die Bedingungen unserer Kämpfe zu verstehen.
Ein kurzer Blick in die Geschichte
Marx war Akademiker, Doktor der Philosophie. Das spiegelt sich in seinem Zugang zu politischer Theorie wider. Seine ökonomische Theorie beruhte auf wissenschaftlichen Studien und der Kritik an akademischen Paradigmen. Das Kapital lässt so ziemlich jede Doktorarbeit armselig aussehen. Aber Marx widmete sein Leben der Politik, nicht akademischer Anerkennung. Er wollte die Welt ändern, nicht Titel sammeln. Er wurde zu einem politischen Flüchtling, der zuerst nach Frankreich, dann nach England ging. Er genoss niemals die finanzielle Sicherheit, die eine akademische Karriere verspricht.
Lenin studierte Jura. Danach verbrachte er viel Zeit in Bibliotheken. Eine Reihe seiner Texte beruhen auf akademischen Studien. Aber Lenin strebte auch nie nach akademischem Ruhm; er war von jungen Jahren an Revolutionär. Seine einflussreichsten Texte – etwa Staat und Revolution oder Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus – waren klar politisch. Die wichtigste Frage für Lenin war stets: „Was tun?“
Im frühen 20. Jahrhundert wurde marxistische Theorie im Wesentlichen von Politiker*innen mit akademischer Ausbildung getragen; von Menschen wie Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Rudolf Hilferding oder Eduard Bernstein.
Mao war Lehrer, arbeitete als Bibliothekar und studierte nebenbei. Seine Klassenanalysen und philosophischen Texte waren immer eng an politische Praxis gebunden. Anti-koloniale Theorie wurde von führenden Persönlichkeiten in Befreiungsbewegungen vorangetrieben. Auch sie hatten in der Regel eine Universitätsausbildung: Frantz Fanon, Kwame Nkrumah, Amílcar Cabral. Alle waren in erster Linie Revolutionäre und ihr Denken war von politischen Zielen bestimmt. Viele der einflussreichsten Persönlichkeiten des historischen Anarchismus waren Autodidakt*innen. Wenige hatten Universitäten besucht und keine arbeiteten dort.
Wandel
Vor allem in Nordamerika und Europa kam es in den 1970er Jahren zu einem markanten Wandel. In Folge der Studenten- und Jugendrevolten wurde linke Theorie zu einer universitären Karrieremöglichkeit. Das Jahrzehnt sah einen Boom an akademischen Büchern und Zeitschriften, die Marxist*innen herausgaben. Dieser Trend setzte sich fort, selbst als die Popularität des Marxismus in den 1980er Jahren abnahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine bedeutende Anzahl von Marxist*innen an den Universitäten etabliert. Heute gilt das sogar für Anarchist*innen, von denen es bis in die 1990er Jahre an Universitären kaum welche gab. Die zwei bekanntesten zeitgenössischen Anarchisten, Noam Chomsky und David Graeber, sind beide Akademiker. Nur im Globalen Süden repräsentieren Leute wie Subcommandante Marcos oder Abdullah Öcalan noch die Einheit von Theoretiker und Praktiker.
In Europa kam es das letzte Mal in den frühen 1990er Jahren zu einem schärferen Konflikt rund um linke Akademiker*innen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wandte sich eine immer größere Zahl kritischer Student*innen vom orthodoxen Marxismus ab und sogenannter poststrukturalistischer Theorie zu. Von ihren Gegner*innen wurden die Arbeiten von Michel Foucault, Jacques Derrida, Luce Irigaray, Gilles Deleuze oder Félix Guattari als Angriffe auf Rationalität, Humanismus und Aufklärung verurteilt. Einer der Hauptgründe, warum diese Leute den Missmut von Politiker*innen, konservativen Autor*innen und anderen Akademiker*innen erregten, war jedoch, dass viele von ihnen in politische Kämpfe involviert waren und ihre theoretische Arbeit eng mit diesen verknüpft sahen. Auch Marxist*innen trugen bedauerlicherweise – wenn auch womöglich ungewollt – zum Ausschluss politischer Agitation von den Universitäten bei, indem sie die Glaubwürdigkeit der Poststrukturalist*innen infrage stellten.
Es ist kein Zufall, dass das Ende dieses Konflikts mit dem Beginn des neoliberalen Triumphzugs zusammenfällt. Der Neoliberalismus zementierte den Unterschied zwischen Kampf einerseits und Nachdenken über Kampf andererseits. Universitäten wurden zu Märkten der Selbstdarstellung – kollektive intellektuelle Entwicklung ade. Die Geschichte der Poststrukturalist*innen und ihrer universitären Rezeption macht dies deutlich. Foucault und die anderen sind seit langem in den akademischen Kanon integriert. Es werden ihnen Bücher, Lehrveranstaltungen und Konferenzen gewidmet. Aber ihre Arbeit ist entpolitisiert worden und dient nur noch peinlicher intellektueller Aufgeblasenheit oder irrelevantem akademischen Gezeter.
Wenn die Universität bestimmen darf, verändern sich Form und Inhalt theoretischer Arbeit. Die Begriffe „politisch“ und „wissenschaftlich“ werden heute oft wie Gegensätze gebraucht. Akademiker*innen fürchten, dass politisches Engagement ihre Arbeit diskreditiert und schreiben ausschließlich für andere Akademiker*innen. Auf die Frage „Was tun?“ fehlen nicht nur die Antworten, sie wird nicht einmal mehr gestellt.
Der akademisch-industrielle Komplex
Dass akademische Institutionen in den neoliberalen Kapitalismus integriert worden sind, ist keine großartige Neuigkeit. Es ist in vielerlei Hinsicht offenbar, ob es sich nun um die Finanzierung und Verwaltung akademischer Institutionen handelt oder um ihre Ziele und Intentionen. Natürlich nimmt das auch auf die Arbeit von Akademiker*innen Einfluss. Die universitäre Laufbahn wird bestimmt von der Anzahl an Publikationen, dem Ruf der Verlage und Zeitschriften, in denen es zu solchen kommt, und der Menge der Verweise, die sich in anderen Arbeiten auf die eigenen finden lassen. Worüber werden Akademiker*innen unter diesen Bedingungen schreiben? Und wie werden sie das tun? Und für wen?
Das Publizieren akademischer Texte ist heute eine lukrative Industrie. Paywalls trennen ein exklusiv akademisches Publikum vom Rest der Gesellschaft. Um akademische Artikel lesen zu können, gilt pay per view. Die Alternative besteht darin, dass akademische Autor*innen bis zu 3000 US-Dollar bezahlen, um ihre Texte öffentlich zugänglich zu machen. Das ist besonders absurd, wenn wir bedenken, dass die Löhne von Akademiker*innen sowie die Infrastruktur, die sie zu ihrer Arbeit benutzen, großteils von öffentlicher Hand kommen. Während also der Öffentlichkeit Zugang zu der Arbeit, die sie finanziert, verweigert wird, machen private Verlagshäuser gutes Geld mit billig produzierten und überteuerten Publikationen, die auf den Regalen von Universitätsbibliotheken vermodern. Um in respektierten akademischen Zeitschriften und Verlagen veröffentlichen zu können, müssen Akademiker*innen formalen Anforderungen zustimmen, die ihre Arbeit gewöhnlichen Menschen weiter entfremden. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten akademischen Texte im besten Fall unter ein paar Hundert Fachgelehrten zirkulieren und im Wesentlichen nur die ökonomischen Interessen parasitärer Verlagshäuser sowie die Reproduktion einer mit sich selbst beschäftigten intellektuellen Elite befriedigen.
Das impliziert eine Reihe korrumpierter Praktiken. So werden Bücher auf der Basis von Fördergeldern publiziert, deren Verteilung auf politischen Netzwerken, karrieristischem Talent oder schlicht Vetternwirtschaft beruht. Universitäten fühlen sich Firmen, die in die akademische Publikationsindustrie investieren, mehr verpflichtet als den Steuerzahlern, deren Geld ihnen anvertraut wurde. Den Herausgebern von Anthologien ist ihr Name auf dem Umschlag wichtiger als jeder Inhalt – es hat den Anschein, dass selbst die inkohärenteste Mischung aus Artikeln gut genug ist, solange sich nur ein Verlag findet, der einen Gewinn daraus zieht, das Buch zum Druck zu schicken. Schließlich gibt es die zwielichtige Praktik des conference hopping, bei der Akademiker*innen Reisegelder verwenden, um ihre beruflichen Netzwerke zu erweitern, alte Freund*innen zu treffen, neue Städte kennenzulernen und Texte vorzulesen, die sie genauso gut auf eine Website hätten hochladen können.
Linke Akademiker*innen
Es ist nicht einfach, diese Sachen anzusprechen. Wir haben gute Freund*innen, die an Universitäten arbeiten. Vielleicht denken sie, dass wir zu hart urteilen oder dass uns schlicht die Einsicht in ihren Alltag fehlt. Genau wissen wir das nicht, weil diese Themen oft unter den Tisch gewischt werden. Viele scheinen Angst zu haben, anderen auf die Zehen zu steigen. Es gibt einen Korpsgeist in allen sozialen Kreisen, auch akademischen, und linke Akademiker*innen bleiben davon nicht verschont. Niemand wagt den ersten Stein zu werfen, weil alle im selben Glashaus sitzen. Es ist faszinierend, dass Menschen, die leidenschaftlich die commons und open access gegen den Neoliberalismus verteidigen, sehr pragmatisch werden können, wenn es um ihr eigenes Milieu geht.
Wie genau die berufliche und persönliche Situation individueller Akademiker*innen aussieht, wissen wir nicht. Wir können uns daher über ihre individuellen Entscheidungen kein Urteil erlauben. Wir wissen auch nicht, wie sehr sie sich gegen die Tendenzen, die wir in diesem Text ansprechen, auflehnen. Es scheint jedoch kaum gemeinsame Anstrengungen zu geben, diese zu benennen, zu verurteilen und zu verändern. Kollektiven Widerstand sehen wir kaum.
Wir verstehen, dass auch Akademiker*innen etwas zu verlieren haben und dass heute viele von ihnen unter prekären Bedingungen arbeiten. Es ist kein Zufall, dass einer der freimütigsten politischen Akademiker*innen der letzten Jahrzehnte, Ward Churchill, letzten Endes seinen Job verlor. Und doch haben im Laufe der Geschichte Arbeiter*innen, die viel mehr zu verlieren hatten (und ideologisch viel anspruchsloser waren), Wege gefunden, um zu protestieren. Sie haben sich in Gewerkschaften organisiert, öffentliche Kampagnen organisiert, Sabotage und direkte Aktion durchgeführt. Warum scheint das keine Option für linke Akademiker*innen zu sein? Eine gängige Antwort auf linke Kritiken an der akademischen Welt ist, dass der Kampf überall stattfinden müsse, auch dort. Das ist durchaus überzeugend – aber nur solange es tatsächlich einen Kampf gibt.
Manche linke Akademiker*innen versuchen, die Widersprüche, in denen sie sich befinden, damit zu lösen, dass sie ihr akademisches Ich von ihrem politischen trennen. Sie schreiben dann – manchmal unter Pseudonymen – für Blätter der Bewegung neben akademischen Zeitschriften. Damit leisten sie wichtige Beiträge und lösen innere Konflikte, doch kollektive Anstrengungen ersetzt das nicht.
Andere linke Akademiker*innen sind prominent genug, um als Celebrities soziale Bewegungen zu unterstützen oder gar als deren inoffizielle Sprecher*innen zu fungieren. Zu den Beispielen gehören die oben genannten Noam Chomsky und David Graeber ebenso wie Judith Butler, Slavoj Žižek oder Vandana Shiva. Linke Celebrities erfüllen einen Zweck und es freut uns, dass sie mediale Plattformen haben. Aber Celebrities sind per Definition Ausnahmen der Regel. Das Muster ändern sie nicht. Und manchmal können sie gar von den wirklichen Problemen ablenken.
Wir sind der Meinung, dass es mehr Bewusstsein und kritischer Debatte bedarf, was die Rolle linker Akademiker*innen für linke Theorie und Praxis betrifft. Als Linke müssen wir unsere eigene Position in dem System reflektieren, das wir anzugreifen beanspruchen. Niemand ist immun gegen dessen Einfluss. Je nachdem, was unsere persönlichen Hintergründe und Möglichkeiten sind, setzt das System unserem Handeln Grenzen. Doch das bestätigt nur, dass wir Formen des Widerstands entwickeln müssen, wo auch immer wir uns befinden.
Aussicht
Wir wollen mit einigen konkreten Punkten abschließen. Wir sind der Meinung, dass diese helfen können, die Kluft zwischen Theorie und Praxis einzudämmen. Manche Punkte mögen nicht besonders originell erscheinen. Das ist okay. Offenbar müssen sie wiederholt werden.
1. Es gibt keine linke Theorie ohne praktische Erfahrung. Fruchtbare theoretische Arbeit kann nicht ohne Bewegungen gegen den Kapitalismus und Imperialismus geleistet werden. Linke Theorie muss Antworten auf die Fragen politischer Kämpfe stellen. Wir können uns keine praxisfeindliche Theorie leisten.
2. Es gibt keine linke Praxis ohne theoretische Reflexion. Wir müssen unsere politischen Kämpfe und unsere Erfahrungen auswerten. Wir können uns keine theoriefeindliche Praxis leisten.
3. Linke Theorie muss zu linker Praxis beitragen. Ihre schlussendliches Ziel ist es nicht, Dinge zu verstehen, sondern zu verändern. Das verlangt eine Entwicklung von Strategien und Taktiken.
4. Wir müssen unseren Blick heben. Das Außen der Universitäten ist viel interessanter und wichtiger als das Innen. Linke Theorie darf nicht begrenzt werden von akademischen Konventionen, Disziplinen und Normen.
5. Wir müssen uns auf nicht-akademische Quellen beziehen. Viel Wissen bleibt aus dem akademischen Rahmen ausgeschlossen aufgrund geografischer, kultureller und sprachlicher Bedingungen.
6. Wir müssen den formalen Begrenzungen trotzen, die akademischer Arbeit auferlegt werden. Diese begrenzen auch die Inhalte.
7. Wir müssen das akademische Milieu verändern. Es muss befreit werden von der Geißel des Staates und des Kapitals. Universitäten müssen als die Herrschaftsinstitutionen analysiert werden, die sie heute sind. „Akademische Freiheit“ bezieht sich inzwischen primär auf relative persönliche Privilegien, nicht auf einen Raum intellektueller Entwicklung.
8. Wir müssen uns der Hierarchien von Klasse, Geschlecht und Ethnizität bewusst sein, die Theoriebildung, auch linke, prägen, und wir müssen diese Hierarchien bekämpfen. Diese Kämpfe werden von den Betroffenen selbst angeführt.
9. Akademische Arbeiten müssen für alle zugänglich sein. Es bedarf eines freien Zugangs zu Bibliotheken und Konferenzen sowie der freien Verbreitung akademischer Schriften.
10. Wir müssen Gegeninstitutionen etablieren, das heißt, Orte und Netzwerke, die theoretische Arbeit jenseits akademischer Begrenzungen zulassen.
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