Freiheit
In den langen Jahrhunderten aufreibender qualvoll drückender Knechtschaft, die wir hinter uns gebracht haben, hat die Freiheit, dies unbekannte Ziel pilgernder Menschheit, als glänzendes Gestirn, das in Nebelschleier gehüllt war, am Horizont des Menschenhoffens geschwebt. Verhüllt in die bebende Unwissenheit der Menschheit, in ihre nebelhafte dumpfe Angst vor allem, was sich als Macht offenbarte, gleichviel, ob es eine scheinbar unbegreifliche und unüberwindliche Naturkraft war oder das Übergewicht überlegener Stärke oder Geschicklichkeit oder List in der menschlichen Gesellschaft. Die innere Haltung einer sklavisch ergebenen Anbetung vor dem, was sich von außen her als etwas aufspielt und aufzwängt, was über unser Verstehen hinausgehen soll, das ist der Schleier, der die Freiheit vor den Augen der Menschen verbirgt. Manchmal erscheint er in der Gestalt der blinden Furcht des Wilden vor seinem »Medizinmann« oder Fetisch, manchmal als die gleichermaßen blinde Verehrung, die der Arbeiter dem Gebot seiner Herren und die er dem Schein seiner eigenen Zustimmung zu seiner wirtschaftlichen Sklaverei entgegenbringt, einer »Zustimmung«, die ihm mit Hilfe der Posse, die Vertretung heißt, abgelistet wird. Mag jedoch die Form sein, welche sie wolle, die Wirklichkeit ist ein und die nämliche: Unwissenheit, abergläubische Angst, feige Unterwerfung.
Was ist Fortschritt anders als das Steigen der schwellenden Flut der Empörung gegen diese Tyrannei des Gespenstes der unwissenden Furcht, die die Menschen zu Sklaven der äußern Natur, zu Sklaven unter einander, zu Sklaven hier selbst gemacht hat? Wissenschaft und Künste, Kenntnisse und all ihre mannigfaltigen Gestaltungen praktischer Anwendung durch schöpferischen Erfindersinn und technisches Geschick, die bindende und erleuchtende Gewalt der Sympathie und des Sozialgefühls, die Auflehnung von Einzelnen und Völkern gegen religiöse, wirtschaftliche, politische und soziale Unterdrückung, das alles sind Waffen in der Hand der Empörer gegen die Mächte der Dunkelheit, die sich hinter ihrem Wall göttlicher und menschlicher Autorität verschanzt haben. Aber diese Waffen sind nicht zu allen Zeiten gleich wirksam. Jede hat ihre Periode, in der sie ganz besonderen Wert und Bedeutung hat.
Wir leben am Ende einer Epoche, in der das wunderbare Anwachsen des Wissens das Sozialgefühl überschattete, so daß die wenigen die neu eroberte Macht über die Natur zu ihrem Monopol machten und so in Stand gesetzt wurden, eine künstliche Zivilisation zu schaffen, die sich auf ihren ausschließlichen Anspruch gründete, den mächtig angewachsenen Reichtum, der erzeugt worden war, zu ihrem privaten, persönlichen Besitz zu machen.
Das Eigentum — nicht der Anspruch, eine Sache zu benutzen, sondern das Recht, andere von der Benutzung auszuschließen — setzt einzelne Personen, die sich die Produktionsmittel angeeignet haben, in den Stand, alle die in Unterworfenheit zu halten, die nichts weiter besitzen als ihre Lebenskraft und also arbeiten müssen, um zu leben. Keine Arbeit ist möglich ohne Land, Rohstoffe und Werkzeug oder Maschinen; so sind die Herren dieser Dinge auch die Herren der beraubten Arbeiter und können in Untätigkeit von der Arbeit der Tätigen leben, denen sie in Gestalt von Löhnen nur so viel von dem Produkt abgeben, daß sie ihr Leben fristen können, und von denen sie nur so viele beschäftigen als ihrem Profit entspricht, während sie die übrigen ihrem Schicksal überlassen.
Ein solches Unrecht muß nur durchschaut werden, um nicht mehr erträglich zu sein. Das Wissen kann nicht lange monopolisiert bleiben und das Sozialgefühl ist der Menschennatur eingeboren: die beiden zusammen gären im zähen Sumpf unsrer Gesellschaft wie die Hefe im Teig. Unsre Epoche steht vor der Schwelle einer Empörung gegen das Eigentum, im Namen des gemeinsamen Anrechts aller auf einen jedem zustehenden Anteil an den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit aller.
Daher sind die Sozialisten Leugner des Eigentums, Fürsprecher des gleichen Rechts jedes Manns und jeder Frau, für die Gemeinsamkeit so zu arbeiten, wie er oder sie es für richtig hält — ohne jemanden ihren Herrn zu nennen — und des gleichen Rechts eines jeden, seine natürlichen Bedürfnisse, so wie er es für richtig hält, von dem Vorrat des gesellschaftlichen Reichtums zu befriedigen, zu dessen Herstellung er mit seiner Arbeit beigetragen hat. Wir gehen auf diese Vergesellschaftung des Reichtums aus, nicht indem wir dem Eigentum durch die Autorität Schranken auferlegen wollen, sondern um durch die direkte persönliche Aktion der Völker selbst die Schranken zu entfernen, die das Eigentum gegen die Ansprüche des Volksrechts schützen. Denn Autorität und Eigentum sind beide Erscheinungsformen des egoistischen Herrschaftsgeistes, und wir wollen nicht Beelzebub zu Hilfe rufen, um den Teufel auszutreiben.
Wir haben keinen Glauben an die Methode der Reformen auf dem Wege der Gesetzgebung. Das festgesetzte und willkürliche geschriebene Gesetz ist und war von jeher das Werkzeug, das unsoziale Individuen handhabten, um ihre autoritäte Gewalt entweder in Form der Vertretung oder der Usurpation zu sichern, wenn die Aufrechterhaltung dieser Autorität durch offene Gewalt gefährlich geworden war. Das Sozialgefühl und die sozialen Bräuche, wie sie durch gemeinsame Erfahrung gestaltet und verbessert werden, sind in Wahrheit der Kitt des Gemeinschaftslebens. Nur dadurch, daß ein Teil dieser sozialen Gewohnheit ohne Zweifel in das Gesetz einverleibt wurde, ist das Gesetz in den Augen des Volkes erträglich und sogar geheiligt worden, in den Augen des Volkes, zu dessen Unterdrückung das Gesetz in Wahrheit bestimmt ist. Aber in dem Maße, wie der Zwang des Gesetzes verschwindet, wird die echte bindende Kraft des Einflusses des Sozialgefühls auf die individuelle Verantwortlichkeit offenbar und wird immer stärker. Wir gehen auf die Zerstörung des Monopols aus, nicht durch die Auferlegung frischer künstlicher Schranken, sondern durch die Abschaffung aller Schranken der Willkür überhaupt. Ohne das Gesetz wäre das Eigentum nicht möglich, und Arbeit und Genuß wären frei.
Daher sind wir Anarchisten, Leugner der Regierung des Menschen durch den Menschen in jeder Gestalt und jeder Maske. Die Menschenfreiheit, nach der wir ausblicken, ist keine negative Abstraktion für die Zügellosigkeit des individuellen Egoismus, gleichviel ob er sich in Massen zusammenballt in Form der Mehrheitsherrschaft oder isoliert bleibt als persönliche Tyrannei. Wir träumen von der positiven Freiheit, die im Wesen eins ist mit dem Sozialgefühl; von freiem Spielraum für die sozialen Triebe, die jetzt durch das Eigentum und seinen Wächter, das Gesetz, verderbt, verfälscht und geknebelt sind; von freiem Spielraum für den Sinn der persönlichen Verantwortung, der Achtung vor sich und andern, die durch jedwede Einmischung der Gesamtheit, von erzwungenen Verträgen bis zur Hinrichtung der Verbrecher, verstümmelt und ertötet wird; von freiem Spielraum für die Ursprünglichkeit und Individualität jedes lebendigen Menschen, wie er unmöglich ist, wenn jedes Verhalten über einen Kamm geschoren wird. Die Wissenschaft lehrt uns, daß das Verbrechen, sofern es nicht das eigene Produkt unseres niederträchtigen wirtschaftlichen und juristischen Systems ist, nach Maßgabe der Vernunft und der Menschlichkeit nur durch brüderlichen Umgang und Pflege behandelt werden kann, denn es entspringt aus Degeneration oder Krankheit [sic!], und ein hartes und strenges Leben, wie es durch schablonenhafte Bestrafung auferlegt wird, ist weder zur Lenkung noch zur Heilung geeignet, sondern lediglich eine immerwährende Quelle der Ungerechtigkeit zwischen den Menschen.
Wir glauben, daß jeder gesunde erwachsene Mensch [sic!] den gleichen und unveräußerlichen Anspruch hat, sein Leben von innen her durch das Licht seines eigenen Bewußtseins zu lenken, und daß er keine andere Verantwortung hat, als sein eigenes Handeln so zu lenken, wie er seine eigenen Anschauungen bildet. Ferner glauben wir, daß die Anerkennung dieses Anspruchs für jede vernünftige freie Vereinbarung, d. h. für die einzige dauernde Grundlage eines harmonischen Gemeinschaftslebens, die notwendige Voraussetzung bildet. Darum verwerfen wir jede Methode von erzwungener Übereinstimmung, weil sie an sich ein Hindernis wirklichen Zusammenwirkens und ferner ein Anreiz zu antisozialem Fühlen sein muß. Wir verwerfen jede Anwendung von Gewalt zu dem Zweck, andere zu zwingen, gehe sie von Einzelnen oder von einer Gesamtheit aus, als ein Unrecht gegen die menschliche Natur; aber wir treten für die soziale Pflicht eines jeden ein, seine Würde als freier Mensch und eben diese Würde in andern gegen jede Art von Einschränkung und Unterdrückung mit Entschiedenheit zu verteidigen.
Wir verlangen für all und jeden das persönliche Recht und die soziale Pflicht: frei zu sein. Wir halten dafür, daß die uneingeschränkte soziale Anerkennung dieses Anspruchs das Ziel des Fortschritts der Menschheit in der Zukunft ist, wie sein Wachstum das Maß des Gangs der Gesellschaft in der Vergangenheit, der Entwicklung des Menschen vom blinden sozialen Trieb des Herdentieres zum bewußten Sozialgefühl des freien Menschen gewesen ist.