#title Der anhaltende Reiz des Nationalismus #author Fredy Perlman #SORTauthors Perlman, Fredy; #SORTtopics Nationalismus, Kolonialismus, 1980-1989, 0riginal: Englisch, #date Winter 1984 #source Entnommen aus Fredy Perlman: „Der anhaltende Reiz des Nationalismus“, Maschinenstürmer Distro, o.O., April 2021, S. 3 – 98. #lang de #pubdate 2022-03-02T21:14:08 #notes Deutsche Übersetzung von April 2021. Originaltitel »The Continuing Appeal of Nationalism«.
Dieser Essay wurde im Winter 1984 in Fifth Estate veröffentlicht.
Diese Übersetzung folgt der Ausgabe von Black & Red von 1985. Der Nationalismus wurde in diesem Jahrhundert bereits mehrere Male für tot erklärt: – nach dem Ersten Weltkrieg, als die letzten Imperien Europas, das österreichische und das türkische, in selbstbestimmte Nationen aufgebrochen wurden und keine Nationalisten ohne Nation übrig blieben, bis auf die Zionisten; – nach dem bolschewistischen Staatsstreich, als gesagt wurde, dass die Kämpfe der Bourgeoisie um Selbstbestimmung fortan von den Kämpfen der Arbeiter abgelöst würden, welche kein Vaterland hätten; – nach der militärischen Niederlage des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands, als die Genozide, Folgeerscheinungen des Nationalismus, für alle sichtbar gemacht worden waren, und man dachte, dass Nationalismus als Credo und als Praxis für immer diskreditiert sei. Doch vierzig Jahre nach der militärischen Niederlage der Faschisten und der Nationalsozialisten können wir sehen, dass der Nationalismus nicht nur überlebt hat, sondern auch wiedergeboren wurde, eine Neubelebung erfahren hat. Der Nationalismus wurde nicht nur von der sogenannten Rechten wiederbelebt, sondern auch und vor allem von der sogenannten Linken. Nach dem nationalsozialistischen Krieg hat der Nationalismus aufgehört an Konservative gebunden zu sein, wurde das Credo und die Praxis von Revolutionären, und erwies sich als einziges revolutionäres Credo, das tatsächlich funktionierte. Linke oder revolutionäre Nationalisten bestehen darauf, dass ihr Nationalismus nichts mit dem Nationalismus der Faschisten und der Nationalsozialisten zu tun hätte, dass der ihre der Nationalismus der Unterdrückten sei, dass dieser sowohl persönliche als auch kulturelle Befreiung böte. Die Behauptungen der revolutionären Nationalisten werden weltweit von den beiden ältesten, anhaltenden hierarchischen Institutionen verbreitet, die bis in unsere Zeit überlebt haben: dem chinesischen Staat und, erst kürzlich, der katholische Kirche[1]. Aktuell wird für Nationalismus als Strategie, Wissenschaft und Theologie der Befreiung geworben, als die Erfüllung des Diktums der Aufklärung, dass Wissen Macht sei, als eine bewiesene Antwort auf die Frage Was muss getan werden? Um diese Behauptungen anzugreifen und sie im Kontext zu betrachten, muss ich fragen, was Nationalismus eigentlich ist – nicht nur der neue, revolutionäre Nationalismus, sondern auch der alte, konservative. Ich kann nicht damit beginnen, diesen Begriff zu definieren, denn Nationalismus ist kein Wort mit einer statischen Definition; er ist ein Begriff, der eine Reihe an verschiedenen historischen Erfahrungen umfasst. Ich werde damit beginnen, einige dieser Erfahrungen grob zu umreißen.
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Einem weitverbreiteten (und leichtgläubigen) Irrglauben zufolge ist Imperialismus relativ neu, besteht aus der Kolonisierung der ganzen Welt und ist das letzte Stadium des Kapitalismus. Diese Diagnose bietet eine spezifische Kur: Nationalismus wird als Gegenmittel gegen Imperialismus angepriesen: nationalen Befreiungskriegen wird nachgesagt, dass sie das kapitalistische Imperium zerschlagen könnten. Diese Diagnose dient einem Zweck, doch sie beschreibt weder irgendein Ereignis noch eine Situation. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir diese Konzeption auf den Kopf stellen und sagen, dass Imperialismus das erste Stadium des Kapitalismus war, dass die Welt Stück für Stück von Nationalstaaten kolonisiert wurde und dass Nationalismus das vorherrschende, aktuelle und (hoffentlich) das letzte Stadium des Kapitalismus ist. Die Eckpfeiler dieser Betrachtung wurden nicht erst gestern entdeckt; sie sind ebenso vertraut wie der Irrglaube, der sie leugnet. Es ist aus verschiedensten guten Gründen bequem gewesen zu vergessen, dass bis in die letzten Jahrhunderte die vorherrschenden Mächte Eurasiens keine Nationalstaaten, sondern Imperien waren. Ein Himmlisches Reich, beherrscht von der Ming-Dynastie, ein islamisches Imperium, beherrscht von der ottomanischen Dynastie, und ein katholisches Imperium, beherrscht von der Dynastie der Habsburger, wetteiferten um den Besitz der bekannten Welt. Von den dreien waren die Katholiken nicht die ersten Imperialisten, sondern die letzten. Das Himmlische Reich der Ming herrschte über fast ganz Ostasien und hatte riesige Handelsflotten nach Übersee entsandt, und das ein Jahrhundert bevor die seefahrenden Katholiken in Mexiko einfielen. Die Zelebranten der katholischen Großtaten vergessen, dass der chinesische imperiale Bürokrat Cheng Ho zwischen 1420 und 1430 Seeexpeditionen mit 70.000 Mann kommandierte und nicht nur zur nahegelegenen Malaiischen Halbinsel, nach Indonesien und Ceylon segelte, sondern auch weit vom heimischen Hafen entfernt in den Persischen Golf, zum Roten Meer und nach Afrika. Die Zelebranten der katholischen Conquistadores reden auch die imperialen Großtaten der Ottomanen klein, die alles bis auf die westlichstgelegenen Provinzen des früheren römischen Reiches eroberten, über Nordafrika, Arabien, den mittleren Osten und halb Europa herrschten, den Mittelmeerraum kontrollierten und an die Tore von Wien hämmerten. Die imperialen Katholiken segelten westwärts, über die Grenzen der bekannten Welt hinaus, um der Einkreisung zu entkommen. Trotzdem waren es die imperialen Katholiken, die »Amerika entdeckten«, und die genozidale Zerstörung und Plünderung ihrer »Entdeckung« veränderte das Kräftegleichgewicht der eurasischen Imperien. Wären imperiale Chinesen oder Türken weniger todbringend gewesen, wenn sie »Amerika entdeckt« hätten? Alle drei Imperien betrachteten Fremde als nicht ganz menschlich und deshalb als legitime Beute. Die Chinesen betrachteten andere als Barbaren; die Muslime und die Katholiken betrachteten andere als Ungläubige. Der Begriff Ungläubiger ist nicht so brutal wie der Begriff Barbar, denn ein Ungläubiger hört durch den simplen Akt der Konvertierung zum wahren Glauben auf legitime Beute zu sein und wird zu einem vollwertigen Menschen, während ein·e Barbar·in Beute bleibt, bis sie oder er durch den Zivilisierer umgemodelt worden ist. Der Begriff Ungläubiger und die Moral dahinter trat mit der Praxis des katholischen Invasoren in Konflikt. Der Widerspruch zwischen Gelübden und Handlungen wurde von einem sehr frühen Kritiker identifiziert, ein Priester namens Las Casas, der bemerkte, dass die Konvertierungszeremonien Vorwände seien, um die Unkonvertierten zu trennen und zu vernichten, und dass die Konvertiten nicht als Mitkatholiken behandelt wurden, sondern als Sklaven. Las Casas' Kritiken bewirkten kaum mehr, als die katholische Kirche und dessen Imperator in Verlegenheit zu bringen. Gesetze wurden erlassen und Ermittler entsandt, aber ohne großen Effekt, denn die beiden Ziele der katholischen Expeditionen, Konvertierung und Plünderungen, waren widersprüchlich. Die meisten Kirchenmänner fanden sich damit ab das Gold zu sichern und die Seelen zu verdammen. Der katholische Imperator wurde immer abhängiger vom erbeuteten Reichtum, um den imperialen Haushalt, die Armee und die Flotten, die die Beute transportierten, zu bezahlen. Plünderung hatte weiterhin Vorrang vor der Konvertierung, doch die Katholiken blieben weiterhin verlegen. Ihre Ideologie passte nicht so ganz zu ihrer Praxis. Die Katholiken hielten viel von ihrer Unterwerfung der Azteken und der Inkas, welche sie als Imperien beschrieben, die ähnliche Institutionen besäßen wie das Habsburger Imperium und religiöse Praktiken hätten, die so dämonisch seien wie jene des offiziellen Feindes, des heidnischen Imperiums der ottomanischen Türken. Jedoch hielten die Katholiken nicht so viel von den Vernichtungskriegen gegen Gemeinschaften, die weder Herrscher noch stehende Armeen besaßen. Solche Großtaten, auch wenn sie regelmäßig verübt wurden, traten mit der Ideologie in Konflikt und waren alles andere als heroisch. Der Widerspruch zwischen den Gelübden der Invasoren und ihren Handlungen wurde von den imperialen Katholiken nicht gelöst. Er wurde von Vorläufern einer neuen sozialen Form, des Nationalstaats, gelöst. Zwei Vorläufer erschienen im selben Jahr, 1561, als einer der Übersee-Abenteurer des Imperators seine Unabhängigkeit vom Imperium verkündete, und mehrere der Bankiers und Versorger des Imperators einen Unabhängigkeitskrieg starteten. Der Übersee-Abenteurer, Lope de Aguirre, versagte darin Unterstützung zu mobilisieren und wurde hingerichtet. Die Bankiers und Versorger des Imperators mobiliserten die Einwohner mehrer imperialer Provinzen und waren erfolgreich darin diese Provinzen vom Imperium abzutrennen (Provinzen, die später Holland genannt wurden). Diese zwei Ereignisse waren noch keine nationalen Befreiungskämpfe. Sie waren Vorboten der Zukunft. Sie waren auch ein Andenken aus der Vergangenheit. Im vergangenen Römischen Imperium waren Prätorianergarden eingestellt worden, um den Imperator zu beschützen; die Garden hatten immer mehr die Funktionen des Imperators übernommen und hatten letzten Endes anstatt des Imperators die imperiale Macht ausgeübt. Im Arabischen Islamischen Reich hatte der Kalif türkische Leibwächter eingestellt, um seine Person zu beschützen; die türkischen Garden, wie die früheren Prätorianer, hatten immer mehr die Funktionen des Kalifen übernommen und hatten schlussendlich den imperialen Palast übernommen, ebenso wie das imperiale Amt. Lope de Aguirre und die holländischen Granden waren nicht die Leibwächter des Habsburger Monarchen, doch der andine koloniale Abenteurer und die holländischen Kommerz- und Finanzhäuser übten tatsächlich wichtige imperiale Funktionen aus. Diese Rebellen, wie die früheren römischen und türkischen Wächter, wollten sich von der spirituellen Unwürde und der materiellen Last, dem Imperator zu dienen, befreien; sie übten bereits die Macht des Imperators aus; der Imperator war für sie nicht mehr als ein Parasit. Der koloniale Abenteurer Aguirre war als Rebell offensichtlich unfähig; seine Zeit war noch nicht gekommen gewesen. Die holländischen Granden waren nicht unfähig und ihre Zeit war gekommen gewesen. Sie stürzten das Imperium nicht; sie rationalisierten es. Die holländischen Finanz- und Kommerzhäuser besaßen bereits viel des Reichtums aus der Neuen Welt; sie hatten es als Bezahlung für die Versorgung der Flotten, Armeen und des Haushalts des Imperators erhalten. Nun brachen sie auf, um die Kolonien in eigenem Namen und zu ihrem eigenen Profit auszuplündern, befreit von einem parasitären Lehnsherren. Und da sie keine Katholiken waren, sondern calvinistische Protestanten, wurden sie von keinem Widerspruch zwischen Gelübden und Taten in Verlegenheit gebracht. Sie hatten nicht gelobt Seelen zu retten. Ihr Calvinismus hatte ihnen gelehrt, dass ein unergründlicher Gott alle Seelen mit Beginn der Zeit gerettet oder verdammt hätte und dass kein holländischer Priester Gottes Plan verändern könne. Die Holländer waren keine Kreuzritter; sie beschränkten sich auf unheroische, emotionslose, geschäftsmäßige Plünderungen, kalkuliert und regularisiert; die plündernden Flotten fuhren nach Zeitplan ab und kehrten auch nach ihm zurück. Die Tatsache, dass die ausgeraubten Fremden Ungläubige waren, wurde weniger wichtig als die Tatsache, dass sie keine Holländer waren. Westeurasische Wegbereiter des Nationalismus prägten den Begriffe Wilde. Dieser Begriff war ein Synonym des osteurasischen Begriffs Barbaren des Himmlischen Reiches. Beide Begriffe bestimmten Menschen zu legitimer Beute.
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Im Lauf der folgenden zwei Jahrhunderte wurden die Invasionen, Unterjochungen und Enteignungen, die von den Habsburgern initiiert worden waren, von anderen europäischen Königshäusern nachgeahmt. Durch die Brille der nationalistischen Historiker sieht es so aus, als seien die ursprünglichen Kolonisatoren ebenso wie ihre späteren Imitatoren Nationen gewesen: Spanien, Holland, England, Frankreich. Aber aus einem Blickwinkel der Vergangenheit gesehen sind die Kolonialmächte die Habsburger, die Tudors, die Stuarts, die Bourbons, die Oranges – und zwar Dynastien, die identisch mit den dynastischen Familien waren, die sich seit dem Untergang des Westlichen Römischen Reiches bekriegten. Die Invasoren können aus zwei Blickwinkeln betrachtet werden, weil ein Wandel stattfand. Die Entitäten waren nicht länger feudale Staaten, aber sie waren auch noch keine vollentwickelten Nationen; sie besaßen bereits einige, aber noch nicht alle Attribute eines Nationalstaats. Das bezeichnendste fehlende Element war die nationale Armee. Die Tudors und Bourbons manipulierten bereits die englische bzw. die französische Identität ihrer Subjekte, insbesondere in Zeiten von Kriegen gegen die Subjekte eines anderen Monarchen. Aber weder Schotten und Iren, noch Korsen und Provençale wurden rekrutiert, um für die »Liebe zu ihrem Vaterland« zu kämpfen und zu sterben. Krieg war eine beschwerliche feudale Bürde, war Fronarbeit; die einzigen Freiwilligen waren Abenteurer, die von Gold träumten; die einzigen Patrioten waren Patrioten des Eldorado. Die Dogmen, die das nationalistische Credo werden würden, reizten die herrschenden Dynasten nicht, die an ihren eigenen, altbewährten Dogmen festhielten. Die neuen Dogmen reizten die höheren Bediensteten des Dynasten, seine Geldleiher, seine Gewürzhändler, Militärversorger und Kolonienplünderer. Diese Menschen, wie Lope de Aguirre und die niederländischen Granden, wie die früheren römischen und türkischen Wachen, übten Schlüsselfunktionen aus, blieben jedoch Bedienstete. Viele, wenn nicht die meisten brannten darauf die Unwürde und die Last abzuschütteln, den parasitären Lehnsherren loszuwerden, die Ausbeutung der Bauern und die Plünderung der Kolonien in ihrem eigenen Namen und zu ihrem eigenen Profit fortzusetzen. Später als Bourgeoisie oder Mittelklasse bekannt, waren diese Menschen seit den Tagen der ersten westwärts-gerichteten Flotten reich und mächtig geworden. Ein Teil ihres Vermögens kam von den geplünderten Kolonien, als Bezahlung für die Dienste, die sie dem Imperator verkauft hatten; diese Vermögenssumme würde später ursprüngliche Akkumulation des Kapitals genannt werden. Ein anderer Teil ihres Vermögens kam von der Plünderung ihrer eigenen lokalen Bauernschaft und Nachbarn, mithilfe einer Methode, die später Kapitalismus genannt werden würde; die Methode war alles in allem nicht neu, aber sie wurde weitverbreitet, nachdem die Mittelklassen das Silber und Gold der Neuen Welt in ihre Hände bekommen hatten. Diese Mittelklassen übten wichtige Macht aus, aber sie waren noch nicht darin geübt die zentrale politische Macht auszuüben. In England stürzten sie einen Monarchen und riefen eine Republik aus, aber aus Angst, dass die Energien der Bevölkerung, die sie gegen die Oberklasse mobilisiert hatten, sich gegen die Mittelklasse richten könnten, setzten sie bald wieder einen anderen Monarchen desselben dynastischen Hauses ein. Der Nationalismus entfaltete sich bis in die späten 1700er Jahre nicht wirklich, ehe zwei Explosionen, dreizehn Jahre voneinander entfernt, die relative Stellung der beiden oberen Klassen umkehrten und für immer die politische Geographie der Erdkugel veränderten. 1776 wiederholten Kolonialhändler und Abenteurer Aguirres Großtat und erklärten ihre Unabhängigkeit vom herrschenden Überseedynasten, übertrafen ihren Vorgänger, indem sie ihre Mitsiedler mobilisierten und waren erfolgreich darin sich vom hannoveranischen British Empire abzuspalten. Und 1789 übertrafen aufgeklärte Kaufleute und Schreiberlinge ihre niederländischen Vorreiter, indem sie nicht nur einige wenige, außenliegende Provinzen mobilisierten, sondern die gesamte Bevölkerung der Untertanen, indem sie den herrschenden bourbonischen Monarchen stürzten und erschlugen und indem sie alle feudalen Bande in nationale Bande umwandelten. Diese beiden Ereignisse markierten das Ende einer Ära. Fortan wurden selbst die überlebenden Dynastien hastig oder allmählich Nationalisten, und die verbleibenden königlichen Ländereien nahmen immer mehr die Attribute von Nationalstaaten an.
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Die zwei Revolutionen im achtzehnten Jahrhundert waren sehr unterschiedlich und sie trugen unterschiedliche und sogar einander widersprechende Elemente zum Credo und der Praxis des Nationalismus bei. Ich habe nicht vor diese Ereignisse hier zu analysieren, sondern lediglich der Leserin einige der Elemente in Erinnerung zu rufen. Beide Revolutionen brachen mit dem Band der Lehnstreue gegenüber einem monarchischen Haus und beide endeten mit der Etablierung von kapitalistischen Nationalstaaten, aber zwischen dem ersten und dem letzten Akt hatten sie wenig gemeinsam. Die Hauptanimateure beider Revolten waren mit den rationalistischen Doktrinen der Aufklärung vertraut, aber die selbsternannten Amerikaner beschränkten sich auf politische Probleme, insbesondere auf das Problem, eine Staatsmaschinerie zu etablieren, die dort aufnehmen konnte, wo König Georg abgegangen war. Viele der Franzosen gingen deutlich weiter; sie warfen das Problem auf, nicht nur den Staat zu restrukturieren, sondern die ganze Gesellschaft; sie griffen nicht nur das Band zwischen Untertan und Monarch an, sondern auch das zwischen Sklave und Herr, ein Band, das den Amerikanern heilig blieb. Beide Gruppen waren unzweifelhaft mit den Beobachtungen von Jean-Jacques Rousseau vertraut, dass Menschen frei geboren wurden, jedoch überall in Ketten gelegt würden, doch die Franzosen verstanden die Ketten tiefgehender und gaben sich mehr Mühe diese zu durchbrechen. Genauso von rationalistischen Doktrinen beeinflusst wie es Rousseau selbst gewesen ist, versuchten die französischen Revolutionäre soziale Vernunft auf die menschliche Umgebung auf dieselbe Art und Weise anzuwenden, wie man auch damit begonnen hatte, die natürliche Vernunft oder Wissenschaft auf die natürliche Umgebung anzuwenden. Rousseau hatte an seinem Schreibtisch gearbeitet; er hatte versucht soziale Gerechtigkeit auf dem Papier zu etablieren, indem er die menschlichen Angelegenheiten einer Entität anvertraute, die den Gemeinwillen verkörperte. Die Revolutionäre machten sich gründlich Gedanken, wie man nicht nur auf dem Papier soziale Gerechtigkeit etablieren kann, aber inmitten von mobilisierten und bewaffneten Menschen erzürnten viele von ihnen, die meisten von ihnen waren arm. Rousseaus abstrakte Entität nahm die konkrete Form eines Komitees für Öffentliche Sicherheit (oder Öffentliche Gesundheit) an, eine Polizeiorganisation, die sich selbst als die Verkörperung des Gemeinwillens betrachtete. Die rechtschaffenen Mitglieder des Komitees wandten gewissenhaft die Entdeckungen der Vernunft auf menschliche Angelegenheiten an. Sie betrachteten sich selbst als die Chirurgen der Nation. Sie schnitten ihre persönlichen Obsessionen mithilfe der staatlichen Rasierklinge in die Gesellschaft. Die Anwendung der Wissenschaft auf die Umwelt nahm die Form von systematischem Terror an. Das Werkzeug der Vernunft und der Gerechtigkeit war die Guillotine. Der Terror enthauptete die ehemaligen Herrscher und wandte sich dann gegen die Revolutionäre. Die Angst beförderte eine Reaktion, die den Terror ebenso wie die Gerechtigkeit fortschwemmte. Die mobilisierte Energie blutdürstiger Patrioten wurde außer Landes geschickt, um die Aufklärung Fremden durch Gewalt aufzuzwingen, um die Nation zu einem Imperium auszuweiten. Die Versorgung nationaler Armeen war weitaus lukrativer, als die Versorgung feudaler Armeen jemals gewesen ist, und frühere Revolutionäre wurden reiche und mächtige Mitglieder der Mittelklasse, welche nun die obersten Klasse war, die herrschende Klasse. Der Terror ebenso wie die Kriege vermachten dem Credo und der Praxis des späteren Nationalismus ein verhängnisvolles Erbe. Das Erbe der Amerikanischen Revolution war von ganz und gar anderer Art. Die Amerikaner waren weniger um Gerechtigkeit besorgt, sondern vielmehr besorgt um Eigentum. Die Siedler-Invasoren der Ostküste des nördlichen Kontinents brauchten Georg von Hannover auch nicht dringender, als Lope de Aguirre Philipp von Habsburg gebraucht hatte. Oder anders, die Reichen und Mächtigen unter den Siedlern brauchten König Georgs Apparat, um ihren Reichtum zu beschützen, aber nicht um ihn zu gewinnen. Wenn sie in der Lage wären einen eigenen Repressionsapparat zu organisieren, würden sie König Georg überhaupt nicht brauchen. Sich ihrer Fähigkeit einen eigenen Apparat ins Leben zu rufen gewiss, fanden die kolonialen Sklavenhalter, Landspekulanten, Produktexporteure und Bankiers die Steuern und Erlasse des Königs unerträglich. Der unerträglichste Erlass des Königs war der Erlass, der zeitweilig das nicht genehmigte Eindringen in die Länder der ursprünglichen Bewohner:innen des Kontinents verbot; die Berater des Königs hatten ein Auge auf die Tierfelle geworfen, die von indigenen Jäger:innen geliefert wurden; die revolutionären Landspekulanten hatten ihres auf das Land der Jäger:innen geworfen. Anders als Aguirre gelang es den föderierten Kolonisatoren des Nordens ihren eigenen unabhängigen Repressionsapparat zu etablieren und sie taten dies, indem sie ein Minimum an Verlangen nach Gerechtigkeit schürten; ihr Ziel war es die Macht des Königs zu stürzen, nicht ihre eigene. Anstatt sich exzessiv auf ihre weniger wohlhabenden Mitsiedler oder Hinterwald-Besetzer zu stützen, ganz zu schweigen von ihren Sklav:innen, stützten sich diese Revolutionäre auf Söldner und auf die unentbehrliche Hilfe des bourbonischen Monarchen, der einige Jahre später durch rechtschaffenere Revolutionäre gestürzt werden sollte. Die nordamerikanischen Kolonisatoren brachen die traditionellen Bande der Lehnstreue und der feudalen Pflicht, allerdings, anders als die Franzosen, ersetzten sie die traditionellen Bande nur allmählich mit Banden des Patriotismus und der nationalen Einheit. Sie waren nicht ganz eine Nation; ihre zurückhaltende Mobilisierung der kolonialen Landbevölkerung hatte sie nicht zu Einem zusammengeschweißt, und die vielsprachige, multikulturelle und sozial gespaltene zugrundeliegende Bevölkerung widerstand einer solchen Verschmelzung. Der neue Repressionsapparat war noch nicht bewährt und er verlangte nicht die ungeteilte Loyalität der zugrundeliegenden Bevölkerung, die noch nicht patriotisch war. Etwas anderes wurde benötigt. Sklavenhalter, die ihren König gestürzt hatten, befürchteten, dass ihre Sklav:innen genauso ihre Herr:innen stürzen könnten; der Aufstand in Haiti machte diese Angst weniger hypothetisch. Und auch wenn sie nicht länger befürchteten von den indigenen Einwohner:innen des Kontinents ins Meer zurückgedrängt zu werden, sorgten sich die Kaufleute und Spekulanten um ihre Fähigkeit, weiter in das Innere des Kontinents vorzustoßen. Die amerikanischen Siedler-Invasoren setzten ein Werkzeug ein, das anders als die Guillotine keine neue Erfindung, allerdings genauso tödlich war. Dieses Instrument würde später Rassismus genannt werden und es würde in die nationalistische Praxis eingebettet werden. Rassismus, ebenso wie spätere Produkte der praxisorientierten Amerikaner:innen, war ein pragmatisches Prinzip; sein Inhalt war nicht wichtig; was zählte, war, dass es funktionierte. Menschen wurden in Bezug auf ihre niedrigsten und oberflächlichsten gemeinsamen Nenner mobilisiert und sie reagierten darauf. Menschen, die ihre Dörfer und ihre Familien zurückgelassen hatten, die ihre Sprache vergaßen und ihre Kultur verloren, deren geselliges Wesen beinahe entleert war, wurden manipuliert, ihre Hautfarbe als einen Ersatz für all das anzusehen, was sie verloren hatten. Sie wurden auf etwas stolz gemacht, das weder eine persönliche Leistung noch wenigstens, wie Sprache, eine persönliche Errungenschaft war. Sie wurden zu einer Nation weißer Männer verschmolzen. (Weiße Frauen und Kinder existierten lediglich als skalpierte Opfer, als Beweise für die Bestialität der Jagdbeute.) Das Ausmaß der Entleerung wird durch die Nichtdinge entlarvt, die die weißen Männer miteinander teilten: weißes Blut, weiße Gedanken und Mitgliedschaft in einer weißen Rasse. Schuldner, Besetzer und Angestellte hatten als weiße Männer alles mit Bankiers, Landspekulanten und Plantagenbesitzern gemeinsam und nichts mit Rothäuten, Schwarzhäuten oder Gelbhäuten. Durch ein solches Prinzip zusammengeschweißt konnten sie damit auch mobilisiert werden, in weiße Mobs, Lynchmobs, »Indianerbekämpfer« verwandelt werden. Rassismus war ursprünglich eine von mehreren Methoden zur Mobilisierung kolonialer Armeen gewesen, und auch wenn er in Amerika umfassender ausgenutzt wurde, als es jemals vorher der Fall gewesen war, ersetzte er die anderen Methoden nicht, sondern ergänzte sie eher. Die Opfer der einfallenden Pioniere wurden immer noch als Ungläubige beschrieben, als Heiden. Aber die Pioniere, wie die früheren Niederländer, waren überwiegend protestantische Christen, und sie betrachteten Heidentum als etwas, das bestraft werden musste, nicht geheilt. Die Opfer wurden auch weiterhin als Wilde, Kannibalen und Primitive bezeichnet, aber auch diese Begriffe hörten auf Diagnosen von Zuständen zu sein, die geheilt werden konnten, und neigten dazu Synonyme für nicht-weiß zu werden, ein Zustand, der nicht geheilt werden konnte. Rassismus war eine Ideologie, die perfekt zu einer Praxis der Versklavung und Vernichtung passte. Der Lynchmob-Ansatz, das Zusammenrotten gegen Opfer, die als minderwertig betrachtet wurden, gefiel Bullies, deren Menschlichkeit verkümmert war und denen jeder Begriff von ehrlichem Spiel fehlte. Doch dieser Ansatz gefiel nicht allen. Amerikanische Geschäftsmänner, teils Gauner und teils Hochstapler, boten für jeden etwas. Für die zahlreichen heiligen George[2] mit irgendeinem Begriff von Ehre und einem großen Durst nach Heroismus, wurde der Feind etwas anders skizziert; für sie gab es Nationen, die so reich und mächtig waren wie ihre eigenen, in den Wäldern hinter den Bergen und an den Ufern der Great Lakes. Diejenigen, die die heroischen Heldentaten der imperialen Spanier zelebrierten, hatten Imperien in Zentralmexiko und in den Anden gefunden. Diejenigen, die nationalistische amerikanische Helden feierten, fanden Nationen; sie verwandelten verzweifelte Verteidigungen von an-archischen Dorfbewohner:innen in internationale Verschwörungen, die von militärischen Archonten wie etwa General Pontiac und General Tecumseh ausgeklügelt worden wären; sie bevölkerten die Wälder mit fantastischen nationalen Anführern, effizienten Generalstäben und Armeen unzähliger patriotischer Truppen; sie projizierten ihre eigenen Repressionsstrukturen in das Unbekannte; sie sahen eine exakte Kopie ihrer selbst, in umgekehrten Farben – etwa wie ein fotografisches Negativ. Der Feind wurde so zum Ebenbürtigen im Hinblick auf Struktur, Macht und Ziele. Krieg gegen einen solchen Feind war nicht nur ehrlich; er war eine fürchterliche Notwendigkeit, eine Sache von Leben und Tod. Die anderen Attribute des Feindes – das Heidentum, die Wildheit, der Kannibalismus – machten die Aufgaben der Enteignung, der Versklavung und der Vernichtung umso dringlicher, machten diese Taten umso heroischer. Das Repertoire des nationalistischen Programms war nun mehr oder weniger vollständig. Diese Aussage mag den Leser verblüffen, der noch keine »realen Nationen« im Feld wahrnehmen kann. Die Vereinigten Staaten waren immer noch eine Sammlung vielsprachiger und multikultureller »Ethnizitäten«, und die französische Nation hatte ihre Grenzen überschwemmt und sich selbst in ein napoleonisches Imperium verwandelt. Die Leserin mag versucht sein, eine Definition einer Nation als ein organisiertes Territorium anzulegen, das aus Leuten besteht, die eine gemeinsame Sprache, Religion und Gebräuche teilen, oder zumindest eins von den dreien. Solch eine Definition, klar, oberflächlich und statisch, ist keine Beschreibung des Phänomens, sondern eine Entschuldigung dafür, eine Rechtfertigung. Das Phänomen war keine statische Definition, sondern ein dynamischer Prozess. Die gemeinsame Sprache, Religion und Gebräuche, wie das weiße Blut der amerikanischen Kolonisatoren, waren reine Vorwände, Instrumente zur Mobilisierung von Armeen. Die Krönung des Prozesses war keine Verehrung der Gemeinsamkeiten, sondern eine Entleerung, ein totaler Verlust von Sprache, Religion und Gebräuchen; die Bewohner:innen einer Nation sprachen die Sprache des Kapitals, huldigten dem Altar des Staates und beschränkten ihre Gebräuche auf diejenigen, die von der nationalen Polizei erlaubt wurden.
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Der Nationalismus ist nur im Bereich der Definitionen das Gegenteil des Imperialismus. In der Praxis war der Nationalismus eine Methodologie, um das Imperium des Kapitals zu dirigieren. Das stetige Anwachsen des Kapitals, auf das sich oft als materialistischer Fortschritt, ökonomische Entwicklung oder Industrialisierung bezogen wird, war die Hauptaktivität der Mittelklasse, der sogenannten Bourgeoisie, weil Kapital das war, was sie besaßen, es war ihr Eigentum; die Oberklassen besaßen Ländereien. Die Entdeckung von neuen Welten des Reichtums hatten diese Mittelklassen enorm reich gemacht, hatte sie allerdings auch verletzlich gemacht. Den Königen und Noblen, die ursprünglich den geraubten Reichtum der neuen Welt versammelten, missfiel es, alles bis auf wenigen Trophäen an ihre Mittelklasse-Kaufleute zu verlieren. Das war unvermeidbar. Der Reichtum kam nicht in verwertbarer Form an; die Kaufleute belieferten den König mit Dingen, die er gebrauchen konnte, im Austausch für die geraubten Schätze. Trotzdem hatten die Monarchen, die dabei zusahen, wie sie immer ärmer wurden, während ihre Kaufleute reich wurden, keine Bedenken ihr bewaffnetes Gefolge zu benutzen, um die reichen Kaufleute auszurauben. Die Folge war, dass die Mittelklassen stetige Verletzungen unter dem alten Regime erlitten – Verletzungen ihres Eigentums. Die Armee und Polizei des Königs waren keine verlässlichen Beschützer des Eigentums der Mittelklasse, und die mächtigen Kaufleute, die bereits die Geschäfte des Reiches steuerten, trafen Maßnahmen, um der Instabilität ein Ende zu setzen; sie nahmen die Politik ebenfalls in die Hände. Sie hätten Privatarmeen anstellen können, und sie taten das auch oft. Aber sobald Instrumente zur Mobilisierung von nationalen Armeen und nationalen Polizeikräften am Horizont erschienen, bedienten sich die verletzten Geschäftsmänner ihrer. Die Haupttugend einer nationalen Streitmacht ist, dass sie garantiert, dass ein patriotischer Angestellter Seite an Seite mit seinem eigenen Boss Krieg gegen den Angestellten eines feindlichen Bosses führen wird. Die Stabilität, die durch einen nationalen Repressionsapparat gesichert wurde, verschaffte den Besitzern so etwas wie ein Treibhaus, in welchem ihr Kapital wachsen, sich vermehren, sich vervielfachen konnte. Der Begriff »wachsen« und seine Ableitungen kamen aus dem eigenen Vokabular der Kapitalisten. Diese Personen betrachten eine Einheit des Kapitals als ein Korn oder Samen, den sie in fruchtbaren Boden investieren. Im Frühling sehen sie eine Pflanze aus jedem Samen wachsen. Im Sommer ernten sie so viele Samen von jeder Pflanze, dass, nachdem der Boden, die Sonne und der Regen bezahlt wurden, sie immer noch mehr Samen haben, als sie ursprünglich hatten. Im Folgejahr vergrößern sie ihr Feld und allmählich verbessert sich die ganze Landschaft. In Wirklichkeit sind die ersten »Körner« Geld; der Sonnenschein und der Regen sind die aufgewandten Energien der Arbeiter; die Pflanzen sind Fabriken, Betriebe und Minen, die geernteten Früchte sind Waren, Stückchen einer verarbeiteten Welt; und der Exzess oder die zusätzlichen Körner, die Profite sind Vergütungen, die der Kapitalist selbst behält, anstatt sie unter den Arbeitern aufzuteilen. Der Prozess als Ganzes bestand darin, die natürlichen Materialien in verkäufliche Artikel oder Waren zu verarbeiten und die Lohnarbeiter in den verarbeitenden Pflanzen einzusperren. Die Hochzeit des Kapitals mit der Wissenschaft war für den großen Sprung nach vorn dahin verantwortlich, in was wir heute leben. Reine Wissenschaftler entdeckten die Komponenten, in welche die natürliche Umwelt zerlegt werden konnte; Investoren setzten ihre Pferde auf die verschiedenen Methoden der Zerlegung; angewandte Wissenschaftler oder Manager sorgten dafür, dass die Lohnarbeiter:innen in ihrer Verantwortung die Projekte durchführten. Sozialwissenschaftler suchten nach Wegen, die Arbeiter weniger menschlich, effizienter und maschinenähnlicher zu machen. Dank der Wissenschaft waren Kapitalisten in der Lage viel der natürlichen Umwelt in eine verarbeitete Welt zu verwandeln, in Künstliches, und die meisten Menschen auf effiziente Anbieter des Künstlichen zu reduzieren. Der Prozess der kapitalistischen Produktion wurde von vielen Philosophen und Dichtern analysiert und kritisiert, vor allem von Karl Marx[3], dessen Kritiken militante soziale Bewegungen belebten und weiterhin beleben. Marx hatte einen signifikanten blinden Fleck. Marx war ein enthusiastischer Unterstützer des Kampfes der Bourgeoisie gegen die feudalen Bande – wer war in jenen Tagen kein Enthusiast? Er, der beobachtet hatte, dass die herrrschenden Ideen einer Epoche die der herrschenden Klasse waren, teilte viele der Ideen der neu ermächtigten Mittelklasse. Er war ein Enthusiast der Aufklärung, des Rationalismus, des materiellen Fortschritts. Es war Marx, der aufschlussreich darlegte, dass jedes Mal, wenn der Arbeiter seine Arbeitskraft reproduzierte, jede Minute, die er seiner zugewiesenen Aufgabe widmete, er den materiellen und sozialen Apparat vergrößerte, der ihn entmenschlichte. Doch derselbe Marx war ein Enthusiast der Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion. Marx erstellte eine sorgfältige Analyse des Produktionsprozesses als Ausbeutung der Arbeit, aber er macht nur oberflächliche und zurückhaltende Kommentare zur Grundvoraussetzung der kapitalistischen Produktion, zum ursprünglichen Kapital, das den Prozess möglich machte.[4] Ohne das ursprüngliche Kapital hätte es keine Investitionen geben können, keine Produktion, keinen großen Sprung nach vorn. Diese Grundvoraussetzung wurde vom frühen sowjetischen russischen marxistischen Preobraschenski analysiert, der sich mehrere Einsichten der polnischen Marxistin Rosa Luxemburg lieh, um seine Theorie der ursprünglichen Akkumulation zu formulieren.[5] Mit ursprünglich meinte Preobraschenski das Fundament des kapitalistischen Gebäudes, die Grundvoraussetzung. Diese Grundvoraussetzung kann nicht aus dem kapitalistischen Produktionsprozess selbst hervortreten, denn dieser Prozess ist noch nicht im Gange. Sie muss, was sie auch tut, von außerhalb des Produktionsprozesses kommen. Sie kommt aus den geplünderten Kolonien. Sie kommt von den ausgebeuteten und enteigneten Bevölkerungen der Kolonien. In früheren Zeiten, als es noch keine Überseekolonien gab, war das erste Kapital, die Grundvoraussetzung für die kapitalistische Produktion, aus den internen Kolonien gequetscht worden, aus den ausgeraubten Bauern, deren Land umzäunt und deren Ernte beschlagnahmt wurde, aus den vertriebenen Juden und Muslimen, deren Besitztümer enteignet wurden. Die ursprüngliche Akkumulation von Kapital ist nichts, das einmal passiert ist, in weiter Vergangenheit, und danach nie wieder. Sie ist etwas, das weiterhin den kapitalistischen Produktionsprozess begleitet, und sie ist ein integraler Bestandteil dessen. Der von Marx beschriebene Prozess ist für die regulären und erwarteten Profite verantwortlich; der Prozess, der von Preobraschenski beschrieben wird, ist für die Starts verantwortlich, für die unerwarteten Profite und die großen Sprünge nach vorn. Die regulären Profite werden regelmäßig von Krisen, die im System beheimatet sind, zerstört; neue Injektionen ursprünglichen Kapitals sind das einzig bekannte Heilmittel gegen die Krisen. Ohne eine fortwährende ursprüngliche Akkumulation des Kapitals würde der Produktionsprozess stoppen; jede Krise würde dazu tendieren permanent zu werden. Genozid, die rational kalkulierte Auslöschung menschlicher Bevölkerungen, die als legitime Beute bestimmt werden, ist keine Verirrung in einem ansonsten friedlichen Marsch des Fortschritts. Genozid ist eine Grundvoraussetzung dieses Fortschritts. Deshalb waren nationale Streitkräfte unverzichtbar für die Verwalter des Kapitals. Diese Kräfte beschützten nicht nur die Eigner des Kapitals vor dem aufständischen Ingrimm ihrer eigenen ausgebeuteten Lohnarbeiter. Diese Kräfte erbeuteten auch den Heiligen Gral, die Wunderlampe, das ursprüngliche Kapital, indem sie die Tore widerständiger oder unwiderständiger Außenseiter einrissen, indem sie plünderten, deportierten und ermordeten. Die Fußstapfen der Nationalarmeen sind die Spuren des Marschs des Fortschritts. Diese patriotischen Armeen waren und sind immer noch das siebte Weltwunder. In ihnen liegt der Wolf Seite an Seite mit dem Lamm, die Spinne Seite an Seite mit der Fliege. In ihnen waren ausgebeutete Arbeiter die Kumpanen der Ausbeuter, verschuldete Bauern die Kumpanen der Kreditgeber, die Gutgläubigen die Kumpanen der Betrüger in einer Kameradschaft, die nicht durch Liebe angeregt wird, sondern durch Hass – Hass auf potenzielle Quellen des ursprünglichen Kapitals, die als Ungläubige, Wilde, minderwertige Rassen bestimmt werden. In menschliche Gemeinschaften, so vielfältig in ihren Gepflogenheiten und Anschauungen wie Vögel Federkleider haben, wurde eingefallen, sie wurden beraubt und letztlich jenseits jeglicher Vorstellungskraft ausgelöscht. Die Kleidung und die Artefakte der verschwundenen Gemeinschaften wurden als Trophäen zusammengesammelt und in Museen ausgestellt, als zusätzliche Spuren des Marschs des Fortschritts; die ausgestorbenen Anschauungen und Gepflogenheiten wurden die Kuriositäten einer weiteren der vielen Wissenschaften des Eindringlings. Die enteigneten Felder, Wälder und Tiere wurden als Goldgruben gesammelt, als ursprüngliches Kapital, als die Voraussetzung für den Produktionsprozess, der darin bestand, die Felder in Farmen, die Bäume in Holz, die Tiere in Hüte, die Mineralien in Munition, die menschlichen Überlebenden in billige Arbeitskräfte zu verwanden. Genozid war und ist immer noch die Voraussetzung, der Grundpfeiler und die Grundlage des militaro-industriellen Komplexes, der verarbeiteten Umwelt, der Welt der Büros und der Parkplätze.
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Der Nationalismus war so perfekt für seine doppelte Aufgabe geeignet, die Domestizierung der Arbeiter und die Plünderung der Fremden, dass er allen gefiel – also allen, die eine Portion Kapital handhabten oder anstrebten dieses handzuhaben. Während des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere während dessen zweiter Hälfte entdeckte jeder Eigner von investierbarem Kapital, dass er Wurzeln in der mobilisierbaren Landbevölkerung hatte, die seine Muttersprache sprach und die Götter seiner Väter anbetete. Der Eifer eines solchen Nationalisten war durchsichtig zynisch, da er schließlich der Landsmann war, der keine Wurzeln mehr in der Mutter- oder Vater-Sippe hatte; er fand seine Erlösung in seinen Einsparungen, betete zu seinen Investitionen und sprach die Sprache der Kostenrechnung. Aber er hatte von den Amerikanern und den Franzosen gelernt, dass auch wenn er die Landbevölkerung nicht als loyale Angestellte, Klienten und Kunden mobilisieren konnte, er sie als loyale Mititaliener, Griechen oder Deutsche, als loyale Mitkatholiken, Orthodoxe oder Protestanten mobilisieren konnte. Sprachen, Religionen und Gebräuche wurden Schweißmaterial für die Konstruktion der Nationalstaaten. Die Schweißmaterialien waren Mittel, keine Zwecke. Das Ziel von nationalen Entitäten war nicht Sprachen, Religionen oder Gebräuche zu entwickeln, sondern nationale Ökonomien zu entwickeln, die Landbevölkerung in Arbeiter und Soldaten zu verwandeln, das Vaterland in Minen und Fabriken zu verwandeln, dynastische Besitzungen in kapitalistische Unternehmen zu verwandeln. Ohne das Kapital konnte es keine Munition oder Versorgungsgüter geben, keine nationale Armee, keine Nation. Einsparungen und Investitionen, Marktforschung und Kostenrechnung, die Obsessionen der rationalistischen früheren Mittelklassen wurden die herrschenden Obsessionen. Diese rationalistischen Obsessionen wurden nicht nur souverän, sondern auch exklusiv. Individuen, die andere Obsessionen verkörperten, irrationale, wurden in Tollhäuser weggesteckt, in Irrenanstalten. Die Nationen waren üblicherweise, was sie aber nicht länger sein mussten, monotheistisch; der frühere Gott oder die Götter hatten ihre Wichtigkeit verloren, außer als Schweißmaterial. Die Nationen waren mono-obsessiv, und wenn Monotheismus der herrschenden Obsession diente, dann wurde auch er mobilisiert. Der Erste Weltkrieg markierte das Ende einer Phase des Nationalisierungsprozesses, der Phase, die mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution begonnen hatte, der Phase, die sich deutlich früher durch die Erklärung von Aguirre und der Revolte der niederländischen Granden angekündigt hatte. Die kollidierenden Ansprüche alter und neu konstituierter Nationen waren tatsächlich die Ursachen dieses Krieges. Deutschland, Italien und Japan, ebenso wie Griechenland, Serbien und das koloniale Lateinamerika hatten bereits die meisten Attribute ihrer nationalistischen Vorgänger übernommen, sie waren nationale Reiche, Monarchien und Republiken geworden, und die mächtigeren unter den Neuankömmlingen strebten danach das hauptsächlich fehlende Attribut zu übernehmen, das Kolonialreich. Während dieses Krieges konstituierten sich all die mobilisierbaren Komponenten der beiden überbleibenden dynastischen Imperien, die Ottomanen und die Habsburger, zu Nationen. Wenn Bourgeoisien unterschiedlicher Sprachen und Religionen, so wie die Türken und die Armenier, dasselbe Gebiet beanspruchten, wurde der Schwächere wie die sogenannten Indianer behandelt; sie wurden vernichtet. Nationale Souveränität und Genozid leiteten – und leiten sich immer noch – voneinander ab. Eine gemeinsame Sprache und Religion scheinen die Ableitungen von nationaler Identität zu sein, aber nur aufgrund einer optischen Täuschung. Als Schweißmaterialien wurden Sprachen und Religionen genutzt, wenn sie ihrem Ziel dienten, und verworfen, wenn sie es nicht taten. Weder die vielsprachige Schweiz noch das multi-religiöse Jugoslawien wurden aus der Familie der Nationen verbannt. Nasenformen und die Haarfarbe hätten auch verwendet werden können, um Patrioten zu mobiliseren – was später auch gemacht wurde. Das geteilte Erbe, die Wurzeln und Gemeinsamkeiten musste nur ein Kriterium erfüllen, das Kriterium der pragmatischen Vernunft nach amerikanischer Art: funktionierten sie? Was auch immer funktionierte, wurde verwendet. Die geteilten Züge waren wichtig, nicht wegen ihres kulturellen, historischen oder philosophischen Gehalts, sondern weil sie nützlich für die Organisierung einer Polizei waren, um das nationale Eigentum zu beschützen und um eine Armee zur Plünderung der Kolonien zu mobilisieren. Sobald eine Nation konstituiert war, konnten Menschen, die im nationalen Territorium lebten, aber nicht die nationalen Züge besaßen, in interne Kolonien verwandelt werden, also in Quellen ursprünglichen Kapitals. Ohne ursprüngliches Kapital konnte keine Nation eine große Nation werden, und Nationen, die Größe anstrebten, aber denen adäquate Überseekolonien fehlten, konnten darauf zurückgreifen, diejenigen ihrer Landsleute auszurauben, zu vernichten und zu enteignen, die nicht die nationalen Züge trugen.
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Die Etablierung der Nationalstaaten wurde mit euphorischem Enthusiasmus von Dichtern ebenso wie von Bauern begrüßt, die dachten, dass ihre Musen oder ihre Götter endlich auf die Erde herabgestiegen waren. Die Haupt-Spaßbremsen inmitten der wehenden Banner und fliegenden Konfettis waren die alten Herrscher, die Kolonisierten und die Jünger von Karl Marx. Die Gestürzten und die Kolonisierten waren aus offensichtlichen Gründen unenthusiastisch. Die Jünger von Marx waren unenthusiastisch, weil sie vom Meister gelernt hatten, dass nationale Befreiung nationale Ausbeutung bedeutete, dass die nationale Regierung das Exekutivkomitee der nationalen Klasse der Kapitalisten war, dass die Nation nichts für Arbeiter hatte als Ketten. Diese Strategen für die Arbeiter, die selbst keine Arbeiter waren, waren so bourgeois wie die herrschenden Kapitalisten, erklärten, dass die Arbeiter kein Land hätten und organisierten sich in einer Internationale. Diese Internationale teilte sich in drei, und jede dieser Internationalen bewegte sich mehr und mehr in das Feld von Marx' blindem Fleck. Die Erste Internationale wurde von Marx' einmaligem russischen Übersetzer und dann Antagonisten Bakunin davongetragen, ein unverbesserlicher Rebell, der ein glühender Nationalist gewesen war, bis er durch Marx von Ausbeutung hörte. Bakunin und seine Gefährt:innen, Rebellen gegen jede Autorität, rebellierten auch gegen die Autorität von Marx; sie verdächtigten Marx des Versuchs die Internationale in einen Staat zu verwandeln, der so repressiv wäre wie der feudale und nationale zusammen. Bakunin und seine Anhänger waren eindeutig in ihrer Ablehnung aller Staaten, aber sie waren zweideutig bei kapitalistischen Unternehmen. Sogar mehr als Marx glorifizierten sie die Wissenschaft, feierten materiellen Fortschritt und begrüßten die Industrialisierung. Da sie Rebellen waren, betrachteten sie jeden Kampf als einen guten Kampf, aber der beste aller Kämpfe war der gegen die alten Feinde der Bourgeoisie, der Kampf gegen feudale Gutsherren und die katholische Kirche. Deshalb blühte die bakuninistische Internationale in Orten wie Spanien, wo die Bourgeoisie ihren Unabhängigkeitskampf noch nicht vollendet hatte, sich jedoch stattdessen mit feudalen Baronen und der Kirche zusammengetan hatte, um sich vor aufständischen Arbeitern und Bauern zu schützen. Die Bakuninisten kämpften, um die bourgeoise Revolution ohne und gegen die Bourgeoisie zu vollenden. Sie nannten sich selbst Anarchisten und verachteten alle Staaten, aber fingen nicht damit an zu erklären, wie sie die erste oder die darauffolgende Industrie, den Fortschritt und die Wissenschaft, also das Kapital, ohne eine Armee und eine Polizei beschaffen würden. Sie hatten nie eine reale Chance ihren Widerspruch in der Praxis aufzulösen, und heutige Bakuninisten haben ihn immer noch nicht aufgelöst, ihnen ist noch nicht einmal bewusst geworden, dass es einen Widerspruch zwischen Anarchie und Industrie gibt. Die Zweite Internationale, weniger rebellisch als die erste, arrangierte sich schnell mit dem Kapital ebenso wie mit dem Staat. Solide in Marx' blindem Fleck verschanzt, wurden die Professoren dieser Organisation nicht in irgendeinen bakuninistischen Widerspruch verstrickt. Für sie war es offensichtlich, dass die Ausbeutung und die Plünderung notwendige Bedingungen für den materiellen Fortschritt waren, und sie versöhnten sich realistischerweise mit dem, was man nicht ändern konnte. Alles, wonach sie fragten, war ein größerer Anteil an den Erträgen für die Arbeiter und Büros im politischen Establishment für sich selbst, als Repräsentanten der Arbeiter. Wie die guten Gewerkschafter, die ihnen vorangegangen waren und die ihnen nachfolgten, waren die sozialistischen Professoren von »der kolonialen Frage« unangenehm berührt, aber ihr Unbehagen, wie das von Philipp Habsburg, verschaffte ihnen lediglich ein schlechtes Gewissen. Mit der Zeit hörten imperiale deutsche Sozialisten, royale dänische Sozialisten und republikanische französischen Sozialisten sogar auf, Internationalisten zu sein. Die Dritte Internationale arrangierte sich nicht nur mit dem Kapital und dem Staat; sie machte sie zu ihrem Ziel. Diese Internationale war nicht von rebellischen oder andersdenkenden Intellektuellen gebildet worden; sie wurde von einem Staat erschaffen, dem russischen Staat, nachdem die Bolschewistische Partei sich in den Staatsbüros eingerichtet hatte. Die Hauptbeschäftigung dieser Internationale war die Großtaten des renovierten russischen Staates, seiner herrschenden Partei und des Parteigründers, einen Mann, der sich Lenin nannte, anzupreisen. Die Großtaten dieser Partei und des Gründers waren tatsächlich überragend, doch die Anpreiser taten ihr Bestes, um zu verstecken, was am überragendsten daran war.
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Der Erste Weltkrieg hatte zwei große Imperien in einer Zwickmühle zurückgelassen. Das Himmlische Reich von China, der älteste durchgängige Staat auf der Welt und das Zarenreich, eine deutlich jüngere Angelegenheit, schwankten bebend zwischen der Aussicht sich in Nationalstaaten zu verwandeln und der Aussicht sich in kleinere Einheiten aufzulösen, wie es ihre ottomanischen und habsburgerischen Gegenstücke getan hatten. Lenin löste diese Zwickmühle für Russland. Ist eine solche Sache möglich? Marx hatte beobachtet, dass ein einzelnes Individuum keine Umstände ändern konnte; es konnte sie sich nur zunutze machen. Marx hatte vermutlich recht. Lenins Großtat war es nicht die Umstände zu ändern, sondern sie sich auf eine außergewöhnliche Weise zunutze zu machen. Die Großtat war monumental in ihrem Opportunismus. Lenin war ein russischer Bourgeois, der die Schwäche und Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie verfluchte.[6] Ein Enthusiast der kapitalistischen Entwicklung, ein glühender Verehrer des Fortschritts nach amerikanischer Art, er machte nicht gemeinsame Sache mit jenen, die er verfluchte, sondern mit ihren Feinden, mit den antikapitalistischen Jüngern von Marx. Er macht sich Marx' blinden Fleck zunutze, um Marx' Kritik am kapitalistischen Produktionsprozess in eine Gebrauchsanweisung für die Entwicklung von Kapital zu verwandeln, einen »Wie-man-es-macht«-Ratgeber. Marx' Studien über die Ausbeutung und Verelendung wurden zu Nahrung für die Verhungerten, ein Tischlein-Deck-Dich, ein wahrliches Füllhorn. Amerikanische Geschäftsleute hatten schon Urin als Quellwasser verkauft, aber kein amerikanischer Hochstapler hatte bisher eine Umkehrung einer solchen Größe hinbekommen. Keine Umstände wurden verändert. Jeder Schritt der Inversion wurde mit erhältlichen Umständen ausgeführt, mit altbewährten Methoden. Russische Menschen vom Land konnten nicht im Hinblick auf ihr Russischsein oder ihre Orthodoxie oder ihr Weißsein mobilisiert werden, aber sie konnten und wurden im Hinblick auf ihre Ausbeutung, ihre Unterdrückung, die Jahrhunderte des Leids unter dem Despotismus der Zaren mobilisiert. Unterdrückung und Ausbeutung wurden Schweißmaterialien. Das lange Leiden unter den Zaren wurde auf dieselbe Weise und für denselben Zweck verwendet, wie das Skalpieren der weißen Frauen und Kinder von den Amerikanern benutzt worden war; sie wurden verwendet, um Menschen in Kampfeinheiten zu organisieren, in Embryonen der nationalen Armee und der nationalen Polizei. Die Präsentation des Diktators und des Zentralkomitees der Partei als eine Diktatur des befreiten Proletariats schien etwas Neues zu sein, aber sogar das war nur in den Worten neu, die dabei gebraucht wurden. Sie war etwas so Altes wie die Pharaonen und die Lugals des alten Ägyptens und Mesopotamiens, die von Gott auserwählt worden waren, um die Menschen anzuführen, die die Menschen in ihren Gesprächen mit dem Gott verkörperten. Das war ein altbewährter Kunstgriff der Herrschenden. Auch wenn die antiken Vorgänger zeitweise vergessen waren, war ein deutlich jüngerer Vorgänger vom Französischen Komitee für Öffentliche Gesundheit geboten worden, das sich als Verkörperung des Gemeinwillens der Nation präsentiert hatte. Das Ziel, Kommunismus, der Sturz und die Ablösung des Kapitalismus schien auch etwas Neues zu sein, schien eine Veränderung der Umstände zu sein. Aber nur das Wort war neu. Das Ziel des Diktators des Proletariats war immer noch Fortschritt nach amerikanischer Art, kapitalistische Entwicklung, Elektrifizierung, schneller Massentransport, Wissenschaft, die Verarbeitung der natürlichen Umwelt. Das Ziel war der Kapitalismus, den die schwache und unfähige russische Bourgeoisie nicht hatte entwickeln können. Mit Marx' Kapital als ihr Licht und Ratgeber würden der Diktator und seine Partei den Kapitalismus in Russland entwickeln; sie würden als Ersatzbourgeoisie dienen und sie würden die Macht des Staates nicht nur dazu nutzen den Prozess zu kontrollieren, sondern auch um ihn zu starten und zu verwalten. Lenin lebte nicht lange genug, um seine Virtuosität als allgemeiner Manager des russischen Kapitals unter Beweis zu stellen, aber sein Nachfolger Stalin bewies umfänglich die Macht der Maschine des Gründers. Der erste Schritt war die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Wenn Marx nicht besonders klar darüber gewesen ist, so war Preobraschenski äußerst klar. Preobraschenski wurde ins Gefängnis gesperrt, aber seine Beschreibung der altbewährten Methoden zur Beschaffung ursprünglichen Kapitals wurde auf das weitläufige Russland angewendet. Das ursprüngliche Kapital englischer, amerikanischer, belgischer und anderer Kapitalisten war von geplünderten Überseekolonien gekommen. Russland hatte keine Überseekolonien. Dieses Manko war kein Hindernis. Die gesamten russischen ländlichen Gegenden wurden in eine Kolonie verwandelt. Die ersten Quellen ursprünglichen Kapitals waren Kulaks, Bauern, die Dinge besaßen, die es wert waren geraubt zu werden. Diese Aktion war so erfolgreich, dass sie auch auf die restlichen Bauern angewendet wurde, mit der rationalen Erwartung, dass aus kleinen geraubten Summen von vielen Menschen ein beachtlicher Schatz herausspringen würde. Die Bauern waren nicht die einzigen Kolonisierten. Die alte herrschende Klasse war bereits sorgfältig ihres Reichtums und ihres Eigentums enteignet worden, aber es wurden noch andere Quellen ursprünglichen Kapitals gefunden. Mit der Totalität der Staatsmacht in ihren Händen konzentriert entdeckten die Diktatoren bald, dass sie Quellen der ursprünglichen Akkumulation erschaffen konnten. Erfolgreiche Unternehmer, unzufriedene Arbeiter und Bauern, Militante konkurrierender Organisationen, sogar desillusionierte Parteimitglieder konnten zu Konterrevolutionären erklärt, zusammengetrieben, enteignet und in Arbeitslager verschippert werden. All die Deportationen, Massenhinrichtungen und Enteignungen früherer Kolonisatoren wurden in Russland wiederholt. Früherere Konolisatoren, da sie Pioniere waren, mussten herumprobieren. Die russischen Diktatoren mussten nicht herumprobieren. Zu ihrer Zeit waren alle Methoden zur Beschaffung ursprünglichen Kapitals bereits geprüft und erprobt und konnten wissenschaftlich angewandt werden. Russisches Kapital entwickelte sich in einer vollkommen kontrollierten Umgebung, einem Treibhaus; jeder Hebel, jede Variable wurde von der nationalen Polizei kontrolliert. Funktionen, die dem Zufall oder anderen Körpern in weniger kontrollierten Umgebungen überlassen worden waren, fielen der Polizei im russischen Treibhaus zu. Der Fakt, dass die Konolisierten sich nicht außerhalb, sondern innen befanden und deshalb nicht der Eroberung, sondern der Verhaftung ausgesetzt waren, steigerte die Rolle und die Größe der Polizei noch mehr. Mit der Zeit wurde die allmächtige und allgegenwärtige Polizei die sichtbare Ausdünstung und Verkörperung des Proletariats, und Kommunismus wurde ein Synonym für totale Polizeiorganisation und -kontrolle.
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Lenins Erwartungen waren nichtsdestotrotz nicht vollständig durch das russische Treibhaus verwirklicht. Die Polizei-als-Kapitalistin wirkte Wunder bei der Beschaffung ursprünglichen Kapitals von enteigneten Konterrevolutionären, aber sie schlug sich nicht annähernd so gut bei der Verwaltung des kapitalistischen Produktionsprozesses. Es mag noch etwas früh sein, um das sicher sagen zu können, aber bis heute ist die Polizeibürokratie mindestens genauso unfähig in dieser Rolle gewesen wie die Bourgeoisie, die Lenin so verflucht hatte; ihre Fähigkeit immer neue Quellen ursprünglichen Kapitals zu entdecken, scheint alles zu sein, das das Ganze am Leben hält. Auch der Reiz dieses Apparates ist nicht auf der Höhe von Lenins Erwartungen. Der leninistische Polizeiapparat übte keinen Reiz auf Geschäftsleute oder etablierte Politiker aus; er hat sich nicht als überlegene Methode zur Verwaltung des Produktionsprozesses anempfohlen. Er übt seinen Reiz auf eine etwas andere soziale Klasse aus, eine Klasse, die ich knapp zu beschreiben versuchen werde, und er hat sich dieser Klasse hauptrangig als eine Methode anempfohlen, um die nationale Macht zu ergreifen und nachrangig als eine Methode zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Die Erben von Lenin und Stalin sind nicht die aktuellen prätorianischen Wachen, die aktuellen Ausüber ökonomischer und politischer Macht im Namen oder zum Profit eines überflüssigen Monarchen; sie sind Stellvertreter-Prätorianer gewesen, Studierende ökonomischer und politischer Macht, die daran verzweifelten jemals sogar eine niedrigere Machtposition zu erreichen. Das leninistische Modell hat solchen Menschen die Aussicht ermöglicht, die niedrigen Positionen zu überspringen und direkt in den Zentralpalast zu gelangen. Die Erben von Lenin waren Beamte und unwichtige Funktionäre, Menschen wie Mussolini, Mao Zedong und Hitler, Menschen, die, wie Lenin selbst, ihre schwachen und unfähigen Bourgeoisien dafür verfluchten darin versagt zu haben, die Größe ihrer Nationen herzustellen. (Ich zähle die Zionisten als Erben Lenins nicht mit, weil sie zu einer früheren Generation gehören. Sie waren Lenins Zeitgenossen, die, vielleicht unabhängig, die Macht der Verfolgung und des Leids als Schweißmaterialien für die Mobilisierung einer nationalen Armee und Polizei entdeckt hatten. Die Zionisten trugen ihr Eigenes dazu bei. Ihre Behandlung einer verstreuten religiösen Bevölkerung als eine Nation, ihre Auferlegung des kapitalistischen Nationalstaates als A und O dieser Bevölkerung, und ihre Reduzierung eines religiösen Erbes auf ein rassisches Erbe, trugen signifikante Elemente zur nationalistischen Methodologie bei und hatten verhängnisvolle Konsequenzen, als sie von einer Bevölkerung, die als »Deutsche Rasse« zusammengeschweißt wurde, auf eine Bevölkerung an Juden, die nicht alle Zionisten waren, angewendet wurde.) Mussolini, Mao Zedong und Hitler durchschnitten den Vorhang der Slogans und sahen Lenins und Stalins Großtaten als das, was sie waren: erfolgreiche Methoden zur Ergreifung und Aufrechterhaltung der Staatsmacht. Alle drei trimmten die Methodologie auf ihre Essenz herunter. Der erste Schritt war sich mit gleichgesinnten Studierenden der Macht zu verbünden und den Kern der Polizeiorganisation zu bilden, eine Truppe, die nach Lenin Die Partei genannt wurde. Der nächste Schritt war eine Massenbasis zu rekrutieren, die verfügbaren Truppen und Truppenversorger. Der dritte Schritt war den Staatsapparat zu erobern, den Theoretiker im Amt des Duce, Vorsitzenden und des Führers einzurichten, Polizei- und Verwaltungsfunktionen unter der Elite oder dem Kader aufzuteilen und die Massenbasis zur Arbeit zu schicken. Der vierte Schritt war das ursprüngliche Kapital zu sichern, das nötig war, um einen militaro-industriellen Komplex zu reparieren oder zu starten, der in der Lage war, den nationalen Anführer und den Kader, die Polizei und die Armee, die industriellen Manager zu unterstützen; ohne dieses Kapital konnte es keine Waffen geben, keine Macht, keine Nation. Lenins Erben trimmten die Methodologie noch weiter, in ihren Rekrutierungskampagnen, indem sie die kapitalistische Ausbeutung minimierten und sich auf die nationale Unterdrückung konzentrierten. Von Ausbeutung zu reden diente nicht länger einem Zweck und war tatsächlich peinlich geworden, da es für alle offensichtlich war, insbesondere für Lohnarbeiter, dass erfolgreiche Revolutionäre die Lohnarbeit nicht beendet, sondern ihre Domäne sogar ausgeweitet hatten. Da sie so pragmatisch wie amerikanische Geschäftsleute waren, sprachen die neuen Revolutionäre nicht von Befreiung von der Lohnarbeit, sondern von nationaler Befreiung.[7] Diese Art Befreiung war nicht der Traum romantischer Utopisten; sie war präzise das, was möglich war, und alles, das in der existierenden Welt möglich war; man musste sich lediglich bereits existierende Umstände zunutze machen, um sie zu realisieren. Nationale Befreiung bestand aus der Befreiung des nationalen Vorsitzenden und der nationalen Polizei von den Ketten der Machtlosigkeit; die Amtseinsetzung des Vorsitzenden und die Etablierung der Polizei waren keine Luftschlösser, sondern Komponenten einer bewährten Strategie, einer Wissenschaft. Faschistische und nationalsozialistische Parteien waren die ersten, die bewiesen, dass diese Strategie funktionierte, dass die Großtat der Bolschewistischen Partei wiederholt werden konnte. Die nationalen Vorsitzenden und ihre Stäbe richteten sich an der Macht ein und zogen aus, das ursprüngliche Kapital für die nationale Größe zu beschaffen. Die Faschisten stießen in eine der letzten uneroberten Regionen Afrikas vor und pressten sie so aus, wie frühere Industrialisierer ihre kolonialen Imperien ausgepresst hatten. Die Nationalsozialisten nahmen die Juden, eine innere Bevölkerung, die ebenso lange Mitglied des »geeinten Deutschlands« gewesen war wie alle anderen Deutschen, als erste Quelle der ursprünglichen Akkumulation ins Visier, weil viele Juden, wie viele von Stalins Kulaks, Dinge besaßen, die es wert waren geraubt zu werden. Die Zionisten waren den Nationalsozialisten vorausgegangen, als sie eine Religion auf eine Rasse reduzierten, und die Nationalsozialisten konnten auf die amerikanischen Pioniere zurückblicken, um Wege zu finden, wie man das Instrument des Rassismus benutzte. Hitlers Elite musste nur den Korpus der amerikanischen rassistischen Forschung übersetzen, um ihre wissenschaftlichen Institute mit umfangreichen Bibliotheken auszustatten. Die Nationalsozialisten gingen mit den Juden ziemlich auf die gleiche Weise um, wie die Amerikaner früher mit der indigenen Bevölkerung in Nordamerika umgegangen sind, außer dass die Nationalsozialisten eine spätere und deutlich mächtigere Technologie für die Aufgabe Menschen zu deportieren, zu enteignen und zu vernichten, anwendeten. Darin waren die späteren Vernichter aber keine Innovatoren; sie machten sich bloß die Umstände innerhalb ihrer Reichweite zunutze. Zu den Faschisten und den Nationalsozialisten stießen die japanischen Reichserbauer, die befürchteten, dass das sich auflösende Himmlische Reich eine Quelle ursprünglichen Kapitals für russische oder revolutionäre chinesische Industrialisierer werden würde. Sie formten eine Achse und die drei zogen aus, um die Kontinente dieser Welt in Quellen der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu verwandeln. Sie wurden von anderen Nationen nicht gestört, bis sie anfingen in den Kolonien und Heimatländern von etablierten kapitalistischen Mächten zu wildern. Die Reduzierung bereits etablierter Kapitalisten zu kolonisierter Beute konnte intern praktiziert werden, wo es immer legal war, da die Herrscher der Nation ihre Gesetze machen – und war auch intern bereits von Leninisten und Stalinisten praktiziert worden. Aber solch eine Praxis hätte zu einer Veränderung der Umstände geführt, und sie konnte nicht außerhalb ausgeführt werden, ohne einen Weltkrieg zu provozieren. Die Achsenmächte übernahmen sich und verloren. Nach dem Krieg sprachen viele vernünftige Menschen über die Ziele der Achse als irrational und von Hitler als Wahnsinnigem. Jedoch betrachteten dieselben vernünftigen Menschen Männer wie George Washington und Thomas Jefferson als geistig gesund und rational, auch wenn diese Männer die Eroberung eines weitläufigen Kontinents, die Deportation und Vernichtung der Bevölkerung dieses Kontinents zu einer Zeit planten und begannen auszuführen, als solch ein Projekt noch viel weniger machbar war als das Projekt der Achse.[8] Es ist wahr, dass sich die Technologien ebenso wie die physikalischen, chemischen, biologischen und Sozialwissenschaften, die von Washington und Jefferson angewandt wurden, ziemlich von denen, die von den Nationalsozialisten angewandt wurden, unterschieden. Aber wenn Wissen Macht ist, wenn es für die früheren Pioniere rational war in Zeiten von Pferdekutschen mithilfe von Schießpulver zu verstümmeln und zu töten, warum war es von den Nationalsozialisten irrational mithilfe von Sprengstoffen, Gas und chemischen Wirkstoffen in Zeiten von Raketen, U-Booten und »Autobahnen« zu verstümmeln und zu töten? Die Nazis waren, wenn überhaupt, sogar wissenschaftsorientierter als die Amerikaner. Zu ihrer Zeit waren sie ein Synonym für wissenschaftliche Effizienz für den Großteil der Welt. Sie führten Buch über alles, tabellierten und kreuztabellierten ihre Entdeckungen, veröffentlichten ihre Tabellierung in wissenschaftlichen Journalen. Unter ihnen war sogar Rassismus nicht die Domäne der Grenz-Aufwiegler, sondern die hochdotierter Institute. Viele vernünftige Menschen scheinen Wahnsinn mit Scheitern gleichzusetzen. Das wäre nicht das erste Mal. Viele nannten Napoleon einen Wahnsinnigen, als er im Gefängnis oder im Exil war, aber als Napoleon als Kaiser wiederkehrte, sprachen dieselben Leute mit Respekt über ihn, sogar Ehrfurcht. Einkerkerung und Exil werden nicht nur als Heilmittel gegen Wahnsinn betrachtet, sondern auch als seine Symptome. Scheitern ist Narrheit.
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Mao Zedong, der dritte wegweisende nationale Sozialist (oder nationale Kommunist; das zweite Wort hat keinerlei Bedeutung mehr, denn es ist nicht mehr als ein historisches Relikt; der Ausdruck »linker Faschist« wäre auch brauchbar, aber er enthält sogar noch weniger Bedeutung als die nationalistischen Ausdrücke) war erfolgreich darin, das für das Himmlische Reich zu tun, was Lenin für das Zarenreich getan hatte. Der älteste bürokratische Apparat der Welt löste sich nicht in kleinere Einheiten auf, noch in Kolonien anderer Industrialisierer; er erhob sich wieder, außerordentlich verändert, als Volksrepublik, als ein Leuchtfeuer für »unterdrückte Nationen«. Der Vorsitzende und sein Kader folgten den Fußstapfen einer langen Linie an Vorgängern und verwandelten das Himmlische Reich in eine weitläufige Quelle ursprünglichen Kapitals, inklusive Säuberungen, Verfolgungen und den daraus folgenden großen Sprüngen nach vorn. Die nächste Stufe, das Starten des kapitalistischen Produktionsprozesses, wurde nach dem russischen Modell durchgeführt, nämlich von der nationalen Polizei. Das funktionierte in China nicht besser, als es in Russland funktioniert hatte. Offenbar muss die unternehmerische Funktion Hochstaplern oder Gaunern, die in der Lage sind andere Menschen zu täuschen, anvertraut werden, und Bullen flößen normalerweise nicht das nötige Vertrauen ein. Das war jedoch für Maoisten weniger wichtig als für Leninisten. Der kapitalistische Produktionsprozess bleibt wichtig, zumindest so wichtig wie die geregelten Expeditionen zur ursprünglichen Akkumulation, da es schließlich ohne das Kapital keine Macht und keine Nation gibt. Doch die Maoisten behaupten selten und sogar immer seltener, dass ihr Modell die überlegene Industrialisierungsmethode ist, und darin sind sie bescheidener als die Russen und weniger enttäuscht von den Ergebnissen ihrer industriellen Polizei. Das maoistische Modell präsentiert sich den Leibwächtern und Studenten auf der ganzen Welt als eine altbewährte Methodologie der Macht, als eine wissenschaftliche Strategie zur nationalen Befreiung. Üblicherweise als Maoismus[9] bekannt, bietet diese Wissenschaft aufstrebenden Vorsitzenden und Kadern die Aussicht auf noch nie dagewesene Macht über Lebewesen, menschliche Aktivitäten und sogar Gedanken. Der Papst und die Priester der katholischen Kirche, mit all ihren Inquisitionen und Beichten, hatten nie eine solche Macht, nicht weil sie diese abgelehnt hätten, sondern weil ihnen die Instrumente fehlten, die durch die moderne Wissenschaft und Technologie zugänglich gemacht wurden. Die Befreiung der Nation ist das letzte Stadium der Eliminierung von Parasiten. Der Kapitalismus hat bereits früher die Natur von Parasiten bereinigt und das meiste der restlichen Natur zu Rohmaterialien für die verarbeitenden Industrien reduziert. Moderner nationaler Sozialismus oder sozialer Nationalismus hält das Vorhaben hoch Parasiten der menschlichen Gesellschaft ebenfalls zu eliminieren. Die menschlichen Parasiten sind normalerweise Quellen ursprünglichen Kapitals, doch das Kapital ist nicht immer »materiell«; es kann auch kulturell oder »spirituell« sein. Die Gepflogenheiten, Mythen, Poesie und Musik der Menschen werden als Selbstverständlichkeit ausgerottet; einiges der Musik und Gebräuche der früheren »Volkskultur« taucht anschließend wieder auf, verarbeitet und verpackt, als Elemente des nationalen Spektakels, als Dekorationen für die nationalen Akkumulationsexpeditionen; Die Gepflogenheiten und Mythen werden Rohmaterialien für die Verarbeitung durch eine oder mehrere der »Geisteswissenschaften«. Sogar die unnütze Feindseligkeit der Arbeiter gegenüber ihrer entfremdeten Lohnarbeit wird ausgerottet. Wenn die Nation befreit ist, hört die Lohnarbeit auf eine beschwerliche Last zu sein und wird eine nationale Pflicht, die mit Freude ausgeführt werden muss. Die Insassen einer total befreiten Nation lesen Orwells 1984 wie eine anthropologische Studie, die Beschreibung eines früheren Zeitalters. Es ist nicht länger möglich diese Sachlage satirisch darzustellen. Jede Satire riskiert eine Bibel für noch eine weiter nationale Befreiungsfront zu werden.[10] Jeder Satiriker riskiert der Begründer einer neuen Religion zu werden, ein Buddha, Zarathustra, Jesus, Mohammed oder Marx. Jede Bloßstellung der Verwüstungen des herrschenden Systems, jede Kritik am Funktionieren des Systems wird zu Futter für die Pferde der Befreier, zu Schweißmaterialien für die Aufbauer von Armeen. Maoismus in seinen zahlreichen Versionen und Revisionen ist ebenso eine totale Wissenschaft, wie er eine totale Theologie ist; er ist sowohl Sozialwissenschaft als auch kosmische Metaphysik. Das französische Komitee für Nationale Gesundheit beanspruchte den Gemeinwillen der französischen Nation zu verkörpern. Die Revisionen des Maoismus beanspruchen den Gemeinwillen aller Unterdrückten auf der ganzen Welt zu verkörpern. Die konstanten Revisionen dieser Gedanken[11] sind notwendig, weil die ursprünglichen Formulierungen nicht auf alle anwendbar waren, oder tatsächlich auf keine der kolonisierten Bevölkerungen der Welt. Keine*r der Kolonisierten teilte das chinesische Erbe, die letzten zweitausend Jahre einen Staatsapparat ertragen zu haben. Wenige der Unterdrückten der Welt hatten auch nur ein Attribut einer Nation in der nahen oder fernen Vergangenheit besessen. Die Gedanken mussten an Menschen angepasst werden, deren Vorfahren ohne nationale Vorsitzende, Armeen oder Polizeien gelebt hatten, ohne kapitalistische Produktionsprozesse und deshalb ohne Bedarf an ursprünglichem Kapital. Diese Revisionen wurden durch die Anreicherung der ursprünglichen Gedanken mit Leihnahmen von Mussolini, Hitler und dem zionistischen Staat Israel vollendet. Mussolinis Theorie über die Erfüllung der Nation im Staat war ein zentraler Eckpfeiler. Alle Gruppen an Menschen, ob klein oder groß, industriell oder nicht-industriell, konzentriert oder verstreut, wurden als Nationen betrachtet, nicht im Hinblick auf ihre Vergangenheit, sondern im Hinblick auf ihre Aura, ihre Potenzialität, eine Potenzialität, die in ihre nationalen Befreiungsfronten eingebettet war. Hitlers Behandlung (wie auch die der Zionisten) der Nation als rassische Einheit war ein anderer zentraler Grundsatz. Die Kader wurden unter Leuten rekrutiert, die von der Sippschaft und den Gebräuchen ihrer Vorfahren entleert waren und in der Konsequenz waren die Befreier ununterscheidbar von den Unterdrückern im Hinblick auf Sprache, Glaube, Gebräuche oder Waffen; das einzige Schweißmaterial, das sie aneinander und an ihre Massenbasis hielt, war das Schweißmaterial, das weiße Angestellte mit weißen Bossen an der amerikanischen Grenze hielt; das »rassische Band« gab denen eine Identität, die keine hatten, denjenigen Sippschaft, die keine Sippe hatten, denjenigen Gemeinschaft, die ihre Gemeinschaft verloren hatten; es war das letzte Band der kulturell Entleerten.
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Die überarbeiteten Gedanken konnten nun ebenso auf Afrikaner wie auf Navahos, Apaches oder Palästinenser angewendet werden.[12] Die Leihnahmen von Mussolini, Hitler und den Zionisten werden sorgfältig versteckt, weil Mussolini und Hitler darin versagten ihre ergriffene Macht zu behalten, und weil die erfolgreichen Zionisten ihren Staat in einen Weltpolizisten gegen alle anderen nationalen Befreiungsfronten verwandelt haben. Lenin, Stalin und Mao Zedong muss sogar mehr zugute gehalten werden, als sie verdienen. Die überarbeiteten und universell anwendbaren Modelle arbeiten ziemlich gleich wie die Originale, aber geschmeidiger; nationale Befreiung ist eine angewandte Wissenschaft geworden; der Apparat ist vielfach getestet worden; die zahlreichen Macken in den Originalen sind mittlerweile ausgemerzt worden. Alles, das benötigt wird, um den Apparat ins Laufen zu bringen, ist ein Fahrer, ein Keilriemen und Treibstoff. Der Fahrer ist natürlich der Theoretiker selbst oder sein engster Jünger. Der Keilriemen ist der Generalstab, die Organisation, auch die Partei oder die kommunistische Partei genannt. Diese kommunistische Partei mit einem kleinen k ist genau das, was im üblichen Sprachgebrauch darunter verstanden wird. Sie ist der Kern einer Polizeiorganisation, die die Säuberungen übernimmt und die selbst gesäubert werden wird, sobald der Anführer Nationaler Führer geworden ist und die unveränderlichen Gedanken überarbeiten muss, während er sich an die Familie der Nationen anpasst, oder zumindest an die Familien der Bankiers, der Munitionszulieferer und der Investoren. Und der Treibstoff: die unterdrückte Nation, die leidenden Massen, das befreite Volk ist und wird weiterhin der Treibstoff sein. Der Anführer und der Generalstab werden nicht von außerhalb eingeflogen; sie sind keine ausländischen Agitatoren. Sie sind integrale Produkte des kapitalistischen Produktionsprozesses. Dieser Produktionsprozess wurde unverändert von Rassismus begleitet. Rassismus ist kein notwendiger Bestandteil der Produktion, aber Rassismus (in gewisser Form) ist ein notwendiger Bestandteil des Prozesses der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals gewesen und er ist fast immer in den Produktionsprozess getropft. Industrialisierte Nationen haben ihr ursprüngliches Kapital durch Enteignung, Deportation, Verfolgung und Segregation, wenn nicht gar immer durch Vernichtung von Menschen, die als legitime Beute bestimmt werden, beschafft. Sippschaften wurden gebrochen, Umgebungen wurden zerstört, kulturelle Orientierungen und Gepflogenheiten wurden ausgerottet. Nachkommen der Überlebenden solcher Angriffe haben Glück, wenn sie auch nur das kleinste Relikt bewahren können, den fliehendsten Schatten der Kulturen ihrer Vorfahren. Viele der Nachfahren behalten nicht einmal Schatten; sie sind vollkommen entleert; sie gehen arbeiten; sie vergrößern weiterhin den Apparat, der die Kultur ihrer Vorfahren zerstört hat. Und in der Welt der Arbeit sind sie an den Rand verbannt, zu den unangenehmsten und am schlechtesten bezahlten Jobs. Das macht sie wahnsinnig. Ein Supermarktpacker beispielsweise kann mehr über das Lager und die Bestellungen wissen als der Manager, kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass nicht er der Manager ist und der Manager kein Packer. Ein Security kann wissen, dass Rassismus der einzige Grund dafür ist, dass er kein Polizeichef ist. Es ist unter Menschen, die all ihre Wurzeln verloren haben, die davon träumen Supermarktmanager und Polizeichef zu werden, wo die nationale Befreiung ihre Wurzeln schlägt; das ist der Ort, an dem Anführer und Generalstab geformt werden. Der Nationalismus übt weiterhin seinen Reiz auf die Entleerten aus, weil andere Aussichten trostloser erscheinen. Die Kultur der Vorfahren wurde zerstört; daraus lässt sich schließen, anhand pragmatischer Standards gemessen, dass sie versagt hat; die einzigen Vorfahren, die überlebt haben, waren jene, die sich an das System der Invasoren angepasst haben, und sie überlebten an den Rändern von Mülldeponien. Die unterschiedlichen Utopien der Dichter und Träumer und die zahlreichen »Mythologien des Proletariats« haben auch versagt; sie haben sich in der Praxis nicht bewährt; sie sind nichts gewesen als heiße Luft, Tagträume, Luftschlösser; das aktuelle Proletariat ist genauso rassistisch gewesen wie die Bosse und die Polizei. Der Packer und der Security haben den Kontakt zur alten Kultur verloren; Tagträume und Utopien interessieren sie nicht, sind tatsächlich abgewehrt durch die Geringschätzung des Geschäftsmannes gegenüber Dichtern, Herumtreibern und Träumern. Der Nationalismus bietet ihnen etwas Konkretes, etwas, das seit Langem erprobt ist und von dem bekannt ist, dass es funktioniert. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für die Nachfahren der Verfolgten verfolgt zu bleiben, wenn der Nationalismus ihnen die Aussicht bietet, Verfolger zu werden. Nahe und entfernte Verwandte von Opfern können ein rassistischer Nationalstaat werden; sie können selbst Menschen in Konzentrationslager pferchen, andere Menschen nach Lust und Laune herumschubsen, genozidalen Krieg gegen sie führen, ursprüngliches Kapital beschaffen, indem sie diese enteignen. Und wenn »rassische Verwandte« von Hitlers Opfern das tun können, so können das auch nahe und entfernte Verwandte der Opfer von Washington, Jackson, Reagan oder Begin. Jede unterdrückte Bevölkerung kann eine Nation werden, ein fotografisches Negativ der Unterdrückernation, ein Platz, wo der ehemalige Packer der Supermarktmanager ist, wo der ehemalige Security Polizeichef ist. Indem man die korrekte Strategie anwendet, kann jeder Security dem Beispiel der prätorianischen Wachen des antiken Roms folgen. Die Sicherheitspolizei eines ausländischen Minenkartells kann sich als Republik ausrufen, das Volk befreien und dieses weiterhin befreien, bis ihm nichts anderes übrig bleibt als zu beten, dass die Befreiung irgendwann enden möge. Sogar vor der Machtergreifung kann eine Gang sich eine Front nennen und heftig besteuerten und konstant kontrollierten armen Menschen etwas anbieten, das ihnen noch fehlt: eine tributeintreibende Organisation und ein Mordkommando, genauer zusätzliche Steuerpächter und eine Polizei, eine, die diesen Menschen gehört. Auf diese Weise können Menschen von den Zügen ihrer viktimisierten Vorfahren befreit werden; all die Relikte, die immer noch aus präindustriellen Zeiten und nicht-kapitalistischen Kulturen überleben, können endlich permanent ausgerottet werden. Die Vorstellung, dass ein Verständnis des Genozids, eine Erinnerung an die Holocauste, Menschen nur dazu bringen kann, das System niederzureißen, ist irrtümlich. Der anhaltende Reiz des Nationalismus legt nahe, dass das Gegenteil wahrer ist, nämlich dass ein Verständnis der Genozide Menschen dazu gebracht hat genozidale Armeen zu mobilisieren, dass die Erinnerung an Holocauste Menschen dazu gebracht hat Holocauste zu begehen. Die sensiblen Dichter, die sich der Verluste erinnerten, die Forscher, die diese dokumentiert haben, sind wie die reinen Wissenschaftler gewesen, die die Struktur des Atoms entdeckt haben. Angewandte Wissenschaftler verwendeten die Entdeckung, wie man den Atomkern spaltet, dazu Waffen zu produzieren, die jeden Atomkern spalten konnten; Nationalisten verwendeten die Poesie, um menschliche Bevölkerungen zu spalten und zu fusionieren, genozidale Armeen zu mobilisieren, neue Holocauste zu begehen. Die reinen Wissenschaftler, die Poeten und Forscher betrachten sich als unschuldig im Hinblick auf die verwüsteten Landschaften und die verkohlten Körper. Sind sie unschuldig? Mir scheint es, dass zumindest eine von Marx' Beobachtungen wahr ist: jede Minute, die dem kapitalistischen Produktionsprozess gewidmet ist, jeder Gedanke, der zum industriellen System beigetragen wird, vergrößert weiterhin eine Macht, die der Natur, der Kultur, dem Leben feindselig entgegen steht. Angewandte Wissenschaft ist nichts Fremdes; sie ist integraler Bestandteil des kapitalistischen Produktionsprozesses. Nationalismus wird nicht von außerhalb eingeflogen. Er ist ein Produkt des kapitalistischen Produktionsprozesses, wie die chemischen Wirkstoffe, die die Seen, die Luft, die Tiere und die Menschen vergiften, wie die Kernkraftwerke, die die Mikro-Umgebungen radioaktiv verseuchen, in Vorbereitung darauf, die Makro-Umgebung radioaktiv zu verseuchen. Als ein Postskriptum würde ich gerne eine Frage beantworten, ehe sie gestellt werden wird. Die Frage lautet: »Denkst du nicht, dass der Nachfahre von unterdrückten Menschen als Supermarktmanager oder Polizeichef besser dran ist?« Meine Antwort ist eine andere Frage: Welcher Verwalter eines Konzentrationslagers, nationaler Exekutierer oder Folterer ist nicht der Nachfahre von unterdrückten Menschen? Detroit, Dezember 1984.
[1] [Hier wird auf die überwiegend katholisch geprägte »Befreiungstheologie« angespielt, die Anfang der 60er Jahre in Lateinamerika entwickelt und durch das von 1962 bis 1965 tagende Zweite Vatikanische Konzil vertieft wurde und in Folge weite Verbreitung fand. Im Mittelpunkt der Befreiungstheologie steht die Solidarität mit den Armen und mit der »politischen Befreiung unterdrückter Völker«. Auch in Südafrika, den USA (als »Schwarze Theologie«) und in einigen Ländern Asiens entwickelten sich spezifische Befreiungstheologien. Anm. d. Übs.] [2] [Der heilige Georg ist ein christlicher Märtyrer und Schutzpatron von England. Der Legende nach erschlug er einen Drachen und rettete eine Prinzessin. Anm. d. Übs.] [3] Der Untertitel des ersten Bandes des Kapitals ist Kritik der politischen Ökonomie: Der Produktionsprozess des Kapitals (auf englisch von Charles H. Kerr & Co. 1906 herausgegeben; von Random House, New York wiederveröffentlicht [das deutsche Original erschien 1867, Anm. d. Übs.]). [4] Ebd., S. 784-850 [der englischen Ausgabe, Anm. d. Übs.]: Teil VIII [im deutschen Original Siebenter Abschnitt, 24. Kapitel]: »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«. [5] E. Preobraschenski, Die neue Ökonomik (Moskau, 1926; englische Übersetzung veröffentlicht von Clarendon Press, Oxford, 1965 [deutsche Übersetzung Verlag Neuer Kurs GmbH, Berlin, 1971, Anm. d. Übs.]). [6] Vgl. V. I. Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland (Moskau; Progress Publishers, 1964 [englische Ausgabe, Anm. d. Übs.]; zuerst 1899 veröffentlicht). Ich zitiere ab Seite 599 [der englischen Ausgabe, Anm. d. Übs.]: »Wenn … wir die aktuelle Entwicklungsgeschwindigkeit mit der, die wir mit dem allgemeinen Niveau an Technik und Kultur, wie wir sie heute vorfinden, erreichten könnten, vergleichen, muss die aktuelle Entwicklungsrate des Kapitalismus in Russland als langsam betrachtet werden. Und sie kann nicht anders als langsam sein, denn in keinem einzigen kapitalistischen Land hat es solch ein reichliches Überleben altertümlicher Institutionen, die mit dem Kapitalismus unvereinbar sind, die seine Entwicklung verlangsamen und die die Bedingungen der Produzenten unermesslich verschlimmern…« [7] Oder die Befreiung des Staates: »Unser Mythos ist die Nation, unser Mythos ist die Größe der Nation«; »Es ist der Staat, der die Nation kreiert, den Willen übertragend und damit das reale Leben auf ein Volk, das seiner moralischen Einheit bewusst gemacht worden ist«; »Das Maximum an Freiheit fällt immer mit dem Maximum an Kraft des Staates zusammen«; »Alles für den Staat; nichts gegen den Staat; nichts außerhalb des Staates«. Von Che cosa è il fascismo und La dottrina del fascimo, [auf Englisch, Anm. d. Übs.] zitiert von G. H. Sabine, A History of Political Theory (New York, 1955), S. 872-878. [8] »… die allmähliche Ausweitung unserer Siedlungen wird sehr sicherlich den Wilden als auch den Wolf zum Rückzug zwingen; da sie beide Raubtiere sind, wenn sie sich auch in der Gestalt unterscheiden« (G. Washington 1783). »… wenn wir je gezwungen sind das Kriegsbeil gegen irgendeinen Stamm zu erheben, werden wir es nie mehr sinken lassen, bis dieser Stamm ausgelöscht ist oder vertrieben…« (T. Jefferson 1807). »… die grausamen Massaker, die sie mithilfe eines Überraschungsangriffs an den Frauen und Kindern an unseren Grenzen verübt haben, werden uns nun zwingen sie bis zur Vernichtung zu verfolgen oder sie an neue Orte außerhalb unserer Reichweite zu vertreiben.« (T. Jefferson 1813). [Auf Englisch, Anm. d. Übs.] von Richard Drinnon zitiert in Facing West: The Metaphysics of Indian-Hating and Empire Building (New York: New American Library, 1980), S. 65, 96, 98. [9] Bequem als Taschenbuch erhältlich als Worte des Vorsitzenden Mao [Tsetung] (Peking: Politische Abteilung der Volksbefreiungsarmee, 1966 [für die englische Ausgabe, auf deutsch erschien sie erstmals 1967 in der Fischer Bücherei und ist den meisten wohl als »Mao-Bibel« oder »Das kleine rote Buch« bekannt, Anm. d. Übs.]) [10] Black & Red hat vor über zehn Jahren versucht diese Situation mit einem gefälschten Handbuch für revolutionäre Anführer [Manual for Revolutionary Leaders; dieses Buch wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt, Anm. d. Übs.] satirisch darzustellen, eine »Wie-man-es-macht«-Gebrauchsanweisung, deren Autor, Michael Velli, anbot, für den modernen revolutionären Prinzen dasselben zu tun wie Macchiavelli für den feudalen Prinzen. Dieses gefälschte »Handbuch« verschmolz Maoismus mit den Gedanken Lenins, Stalins, Mussolinis, Hitlers und ihrer modernen Nachfolger, und bot grässliche Rezepte zur Vorbereitung revolutionärer Organisationen und die Ergreifung totaler Macht. Verstörenderweise kam mindestens die Hälfte aller Anfragen für dieses »Handbuch« von aufstrebenden nationalen Befreiern, und es ist möglich, dass einige der aktuellen Versionen nationalistischer Metaphysiken Rezepte von Michael Velli enthalten. [11] [Die wortwörtliche Übersetzung des Begriffs »Maoismus« im Chinesischen ist »Mao-Zedong-Gedanke«. Im Englischen ist neben »Maoism« auch die Bezeichnung »Mao Zedong Thought« gebräuchlich, die in diesem Text Verwendung findet, Anm. d. Übs.] [12] Ich übertreibe nicht. Ich habe ein buchlanges Pamphlet vor mir mit dem Titel The Mythology of the White Proletariat; A Short Course for Understanding Babylone [Die Mythologie des weißen Proletariats: Ein kurzer Kurs, um Babylon zu verstehen] von J. Sakai (Chicago: Morningstar Press, 1983). Als eine Anwendung des Maoismus auf die amerikanische Geschichte ist es das sensibelste maoistische Werk, das ich bisher gesehen habe. Der*die Autor*in dokumentiert und beschreibt, manchmal lebhaft, die Unterdrückung der versklavten Afrikaner:innen in Amerika, die Deportationen und Vernichtungen an den indigenen Bewohner:innen des amerikanischen Kontinents, die rassistische Ausbeutung der Chines:innen, die Einsperrung von Japano-Amerikaner:innen in Konzentrationslager. Die*der Autor*in mobilisiert all diese Erfahrungen des totalen Terrors nicht, um nach Wegen zu suchen, um das System abzulösen, das diesen verübte, sondern um die Opfer zu drängen dieses System unter ihnen zu reproduzieren. Gespickt mit Bildern und Zitaten der Vorsitzenden Lenin, Stalin, Mao Zedong und Ho-Chi Minh macht diese Arbeit keinen Versuch deren repressive Ziele zu verstecken oder zu verschleiern; sie drängt die Afrikaner:innen ebenso wie die Navahos, Apaches ebenso wie die Palästinenser eine Partei zu organisieren, die Staatsmacht zu ergreifen und Parasiten zu liquidieren.