Finimondo

Politische Taktiererei oder Möglichkeiten ergreifen?

Welche Farbe hat dein Mesa?

11.12.2018

Das Gespenst der Klasse als Kollektiv, das für anderthalb Jahrhunderte in Europa umgegangen ist (also der Proletarier), ist im Nichts verschwunden. Heute ist das Kollektiv der Nation als Hauptdarsteller der ideologischen Erzählungen verblieben: das Volk. Ein Volk, das – wie ausnahmslos von allen Seiten behauptet wird – sich immer mehr unterdrückt und erniedrigt fühlt, ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Seine reaktionäreren Freunde regen sich auf weil sie finden es wird bei der Arbeit durch die Steuern geschunden, von den Erhaltungskosten an einem guten Leben gehindert, durch die Immigranten in seiner Identität zugrunde gerichtet, durch die Kriminalität in seiner Sicherheit bedroht, durch die Bürokratie in seiner Karriere behindert.

Seine weniger reaktionären Freunde regen sich auf weil sie finden es wird durch die Logik des Marktes seiner Arbeit beraubt, durch die Erhaltungskosten an einem guten Leben gehindert, durch den Rassismus in seiner Empfindsamkeit beleidigt, durch Grossprojekte in seiner Umwelt bedroht, durch die Bürokratie in seinem Alltag behindert.

Während seine reaktionäreren Freunde die Regierung beschuldigen (wenn diese weniger reaktionär ist) und auch seine weniger reaktionären Freunde die Regierung beschuldigen (wenn sie reaktionärer ist), beschuldigt jede Regierung ihrerseits diejenigen, die Pläne schmieden gegen das geliebte Volk, das sie gewählt hat. Diese kommen bevorzugterweise von aussen: die Europäische Union, die Weltbank, das Grosskapital.

Ab und zu bringt ein Tropfen das Fass des Erträglichen zum Überlaufen und das Volk geht auf die Strasse. Es weiss nicht wirklich was es will, es weiss nicht wirklich was tun, es weiss nicht einmal wirklich wie es soweit gekommen ist. Es weiss nur das Mass ist voll und deshalb explodiert es. In diesen Zeiten, die von der freiwilligen Knechtschaft geprägt sind, ist ein Ende der gesellschaftlichen Resignation dermassen selten geworden, dass – kommt es doch dazu – dies die Begeisterung aller Freunde des Volkes erregt.


Nicht nur bei denen, die sich näher an dem Wasserhahn befinden, aus dem der fehlende Tropfen gefallen ist, sondern auch bei denen, die weiter weg sind. Wenn der leckende Wasserhahn im Tal ist, eilen auch jene herbei, die auf dem Berg leben (was erklärt warum 2005 bei den ersten Auseinandersetzungen im Susatal gegen den TAV-Schnellzug auch Faschisten anwesend waren: offensichtlich wenige und sie verstanden schnell, dass sie nicht willkommen waren). Wenn sich der tropfende Wasserhahn auf dem Berg befindet, stürzen auch die, die im Tal leben, herbei.

Denn wenn das Volk sich bewegt, dann werden seine vorgeblichen Freunde (vor allem die, die es gerne bevormunden möchten) ganz aufgeregt. Für sie hat es keine grosse Bedeutung wer oder was den Startschuss gegeben hat – es ist viel wichtiger wer ihm Rhythmus und Richtung gibt.

Das war also der Grund warum vor fünf Jahren als die Mistgabelbewegung (movimento di Forconi) viele Strassen in Italien gestürmt hat innerhalb der politisch-subversiven Klasse eine theoretisch-praktische Debatte eröffnet wurde: hingehen oder auspfeifen? In einem ähnlichen Kontext – vollkommen von den üblichen Bezugspunkten befreit – wurde gefragt: Muss sich die Bewegung bewegen? „Was für eine Bewegung ist das, die sich nicht bewegt?“, haben sich die einen gefragt. „Was für eine Bewegung ist das, die sich bewegt um hinter Kleinunternehmern herzurennen?“ haben sich die anderen gefragt.

Nun, wenn diese Fragen echte Kompagni[1] hier in Italien bereits gequält haben, jenem Land, in dem das Volk schon Mühe hat sich genug aufzuregen für eine Strassenblockade, stelle man sich die Fragezeichen vor, die in den letzten Monaten aufgekommen sein müssen durch die Wut der Gelbwesten in Frankreich.

Aufgekommen um gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise zu protestieren, haben diese Demontrationen angefangen die Kreisverkehre in halb Frankreich zu stürmen und sind dazu übergegangen die Zentren von Paris und anderer Städte zu zertrümmern und in Brand zu stecken.

Und umso mehr Ereignisse im Laufe der letzten Wochen dazu gekommen sind – vier Tote, viele hunderte Festnahmen, gewalttätige Auseinandersetzungen, Brände und ein massiver psychologisch-medialer Terror, der soweit gekommen ist mögliche Putschversuche und bevorstehende Blutbäder auf den Strassen zu fürchten – umso mehr hat diese Debatte, gelinde gesagt, groteske Züge angenommen. Auf der einen Seite diejenigen, die auf die Reaktionären losgehen, die die Kultur des Automobils verteidigen, auf der anderen Seite jene, die ihnen Honig ums Maul schmieren und verlautbaren, dass sie nur einen Schritt davor sind die Regierung lahm zu legen.

Die Ersten, Pessimisten bis zum Äußersten, genießen bereits im Voraus die Vereinnahmung durch den Staat, die ihre politische Weitsicht bestätigen wird. Die Zweiten, Optimistischeren, genießen bereits im Vorraus den Aufstand des Volkes das ihre opportunistische Wette bezahlt machen wird.

Vor fünf Jahren hat es für uns ausgereicht unser mangelndes Interesse für die im Laufen befindliche Debatte über die Natur der Forconi zum Ausdruck zu bringen indem wir lieber die Metapher der Mesa Verde[2] bemühten – die Chance in solchen Momenten mit anderen Möglichkeiten zu spielen. So haben wir gewisse Kompagni wütend gemacht, deren Hände (von der politischen Scheisse) dreckig waren. Die Dinge, die heute in Frankreich passieren, werfen erneut diese Frage auf, was übrigens viele seiner Umrisse in aller Tiefe zeigt. Uns kam es so vor als wäre es an der Zeit darauf zurück zu kommen.

Wie stellen sich diejenigen, die immer noch ein Bedürfnis danach verspüren, den Ausbruch einer Revolution vor? Denken sie, dass sie das Ergebnis eines Zusammenspiels von Sozialen Bewegungen sein wird, von denen jede absolut gerechtfertigte Forderungen mitbringt, geleitet von einstimmigen Entscheidungen, die in Plena getroffen werden, in denen sich die radikalsten Ideen durchsetzen? Es entsteht also eine Bewegung der widerspruchsfreien Motive, an deren Spitze die erleuchtetsten aller Aktivisten[3] stehen, die sie von Schlacht zu Schlacht führen und glorreiche Siege feieren. Sie wird immer stärker, ihr Ruhm verbreitet sich, ihr Vorbild steckt andere an. Weitere Bewegungen ähnlicher Art kommen auf, ihre Kräfte vereinen sich, sie speisen und verstärken sich gegenseitig bis hin zum alles entscheidenden Zusammenstoss, in dem der Staat schliesslich gestürzt wird…

Was für eine schöne Geschichte! Wer hat sie produziert, Netflix? Bei welcher Folge sind wir?

Wenn man das Ganze nun nicht ins Lächerliche ziehen will, kann man natürlich auch ernst bleiben. Und das Problem darüber hinaus wissenschaftlich analysieren. So wie die weitblickenden Bordighisten (Anhänger*innen der Internationalistischen Kommunistischen Partei Italiens), die bereits im August 1936 wussten, dass in Spanien keinerlei Revolution im Gange war. Der Grund dafür war offensichtlich, für alle eindeutig sichtbar, es nervt schon das in Errinnerung zu rufen: Ohne revolutionäre Theorie keine Revolution, ohne revolutionäre Partei keine revolutionäre Theorie. Gab es in Spanien eine revolutionäre Partei (natürlich ihre eigene)? Nein? Na also, wovon konnte dann die Rede sein?

Da im Laufe der Geschichte der Funke von Aufruhr, Aufständen und Revolutionen fast nie aus tiefgreifenden Gründen entsprungen ist, sondern aus einfachen Vorwänden (ein paar Beispiele: die Verlegung einer Kanonenbatterie hat zur Pariser Kommune geführt, ein Protest gegen das Essen der Marine hat die Spartakus-Revolution entzündet, der Selbstmord eines Strassenhändlers hat den sogenannten Arabischen Frühling eingeleitet, das Fällen von ein paar Bäumen hat die Gezi Park Revolte in der Türkei verursacht), finden wir diejenigen peinlich berührt vor, die vor dem Hintergrund dessen was heute in Frankreich mit den Gelbwesten passiert (oder gestern in Spanien mit den katalanischen Autonomisten) ihren Blick nur schärfen um dort Spuren des Kommunistischen Manifests zu entdecken, oder von anarchistischen Ideen, oder von radikalen Theorien, oder der anti-industriellen Kritik, oder… Mitten in dieser Enttäuschung – weil nicht ausreichend subversive Inhalte auf der Strasse gefunden wurden, weil nicht ausreichend proletarische Ursprünge entdeckt wurden, weil Frauen nicht in einer Anzahl präsent waren, die als ausreichend ausgeglichen betrachtet wird, weil keine ausreichend korrekte Sprache gehört wurde – die Liste könnte bis ins Unendliche weitergeführt werden – bleibt ihm nichts übrig als zu erschaudern und zu fragen wem diese ganze soziale Agitation nutzen könnte. Cui bono?

Wenn es Leute gibt, die die Revolten, die Frankreich im November 2005 erschütterten, einem Vorwahl-Schachzug von Sarkozy zuschreiben, der vorsätzlich Benzin auf eine leicht zu löschende Flamme (eine der vielen Irrtümer der Polizei) geschüttet haben soll um sich dann sehr einfach den Titel des Feuerwehrhauptmanns zu verdienen, dann fällt es heute genauso leicht zu glauben Le Pen hätte ihre Finger im Spiel wenn die Bevölkerung verlangt Macron rauszuwerfen. Heute, da in ganz Europa ein starker Wind für die Rechte weht, warum sollte man warten bis die nächsten Wahlen fällig sind, wenn man diese mit einiger Sicherheit vorwegnehmen kann? Es handelt sich um eine These der politischen Paranoia, deren Formulierung, auch wenn sie in sich folgerichtig ist, vollkommen idiotisch ist. Aber klar, Sarkozy, der Domteur, und Le Pen, die Möchtegern-Zirkusdirektorin, haben heimlich die Raubtiere freigelassen um Panik zu säen damit sie nach dem Notfall gerufen werden um den inkompetenten Vorgänger zu ersetzen, der die Gesellschaft nicht zu beschützen wusste.

Aber auch wenn dem so wäre … na und? Wir alle sind diese Raubtiere und es sind genau diese Momente der Bewegungsfreiheit, in denen die Chance uns für immer aus den Käfigen dieser Welt zu befreien steigt. Solange wir in ihrem Inneren gefangen sind, sind wir machtlos, nur dazu in der Lage zu brüllen und unsere immer kaputteren Zähne zu zeigen. Aber in diesen Tagen der Freiheit, so sehr man auch gejagt wird, wird wieder alles möglich – auch das Unmögliche. Ist unsere Freiheit dazu bestimmt nur provisorisch zu sein, ein flüchtiges Ergebnis einer genauen Berechnung, das kurze Resultat einer mittleren oder längeren Investition? Und wenn dem so sei, es liegt an uns sie doch dazu zu bringen endgültig zu werden indem wir die Pläne derer platzen lassen, die sich sicher waren den heraufbeschworenen Dämon der Revolte befehligen zu können. Wenn jemand den Käfig offen lässt, macht es keinen Sinn sich in kleinlichen Überlegungen darüber zu verlieren was die wirkliche Absicht dahinter ist und drin stehen zu bleiben nur um nicht dunklen Machenschaften zu dienen. Es ist besser herauszustürmen und auf jede erdenkliche Weise zu versuchen nicht wieder eingefangen zu werden.


Wie stellen sich diejenigen, die immer noch ein Bedürfnis danach verspüren, also den Ausbruch einer Revolution vor?

In dem Wissen, dass sie wahrscheinlich nur aus einer heterogenen Situation entspringen kann, inmitten gegensätzlicher Interessen und auf verwirrte und widersprüchliche Weise zum Ausdruck gebracht? Bedeutet die Tatsache, dass der Vorwand für Aufruhr, Aufstände und Revolutionen fast immer banal ist, dass man Banalitäten wiederholen muss?

Das ist es was all die Möchtegern-Macchiavellis der Revolution in der Tat denken. Diese kleineren und grösseren Arschlöcher der politischen Strategie, die nicht damit aufhören alle dazu anzuhalten es nicht zu übertreiben sondern sich der Situation anzupassen. Die unschlagbaren Meister im Wellenreiten sind in Frankreich die Neoblanquisten[4] von der immer weniger Imaginären Partei[5]. Sie wedeln – um ihre eigene Unischtbarkeit hervorzuheben – bis zum Gehtnichtmehr neongelbe Fähnchen mit dem Ziel sich einige der aktiveren Aspekte des subversiven Flügels der Revolte zuzuschreiben. Ab hier wird begonnen Analysen, Berichte und Erzählungen wie am Fliessband zu produzieren, alle im Zeichen der Mythenbildung darüber warum man auf keinen Fall darauf verzichten sollte sich mit den Gelbwesten zusammen zu tun.

Wir stehen hier vor einem strapazierfähigen Determinismus, der auf die Unabwendbarkeit gewisser Zusammenkünfte schwört, zu denen es innerhalb der objektiven historischen Mechanismen kommen muss. Nur um das klar zu machen: die praktischen wie Molotov-Ribbentrop oder Mao-Chiang Kai Shek aber auch die theoretischen wie Foucault-Khomeni oder Badiou-Pol Pot. Tatsächlich, mit dieser Methode fällt es viel leichter alles zu verdauen was daherkommt, sogar Scheisse. Diejenigen, die die Machtergreifung der Rechten in Brasilien als Gelegenheit betrachten „seine Meinung zu ändern, reifer zu werden und es in Zukunft ein wenig besser zu machen“, wie wollt ihr die französischen Fahnen mitten in den Gelbwesten gutreden? Wie der Lieblingsherausgeber der Neoblanquisten bemerkt hat: die Anwesenheit von Faschisten stellt kein Problem dar, weil „der Feind meines Feindes ist nicht wirklich mein Freund, aber irgendwie schon ein bisschen.“

Ausserdem ist jedwede akrobatische Einlage für diejenigen erlaubt, die am Konzept des Doublethink festzuhalten wissen, in dem – ganz ungeniert – Ozeanien, Eurasien und Ostasien mal in Konflikt miteinander stehen, mal alliiert sind. Die Möchtegern-Generäle des staatlichen Aufstands sind innerhalb weniger Monate vom Unterstützen der Verhandlungen mit der Regierung um die ZAD zu verteidigen (wer sich widersetzt wird mit Eisenstangen geschlagen!) dazu übergegangen zu poltern, dass „alle, die sich in den nächsten Tagen als Mediatoren zwischen Volk und Regierung hinstellen, gehäutet werden: niemand will mehr repräsentiert werden, wir sind alle groß genug um für uns selbst zu sprechen, um zu sehen wer sich bei uns einschleimen will und wer uns vereinnahmen will. Und auch wenn die Regierung einen Schritt zurück weichen sollte, dann beweisen wir damit, dass das was wir gemacht haben richtig war und unsere Mittel die passenden sind.“ Nachdem sie Interviews zugestimmt haben und bei TV-Konfontationen mit Politikern und Polizisten aufgetreten sind, beteuern sie heute: „wir müssen unter uns reden, nicht mit der Macht. Es ist sehr wichtig damit aufzuhören zu glauben, dass die realen Möglichkeiten auf der Seite der Macht liegen, auf der Seite dessen, was immer schon gemacht wurde. Wir müssen uns der Logik des notwendigen Übels, der sozialen Erpressung, widersetzen.“


Mit den Hinterbacken schon auf den Bänken der lokalen Institutionen präzisieren sie nun „die Revolution hat nur ein einziges Ziel: aus den bestehenden Strukturen heraustreten um etwas anderes aufzubauen“. (Hier in Italien hat ein gescheitereter Parlamentarier der linken Partei Potere al Popolo (Das Volk an die Macht) die Gelbwesten begrüsst und diejenigen kritisiert, die nicht dazu in der Lage sind zu „verstehen, dass der Bruch mit dem Bestehenden die Vorraussetzung dafür ist, dass etwas Neues aufkommen kann.“) Diese Sprache, die unempfindlich ist für die Bedeutung ihrer Wörter, weil sie nur darauf achtet wie sie kurzfristig ankommen, hat keine Skrupel auf die aufständische Tugend der Absetzung schwören obwohl sie in Wirklichkeit die politische Entsprechung der Entlassung darstellt, bzw. eine Verdrängung, die von oben entschieden wird (und darum für die Gelbwesten einfach zu akzeptieren). Die Absetzung, die von den Neoblanquisten gefordert wird, die „offensichtlich nicht bedeutet, neue Repräsentaten zu wählen“ sondern „die gesamte materielle und symbolische Organisation des Lebens wieder in die eigene Hand zu nehmen, auf lokaler Ebene, Kanton für Kanton“ (wie ein Freund der Gemeinderäte sagt) ist wahrscheinlich wie … Prostitution, die „offensichtlich“ nicht bedeutet Sex gegen Geld anzubieten, sondern in vollster Autonomie und umsonst mit der Liebe zu experimentieren; oder eine Polizei, die „offensichtlich“ kein repressiver Apparat des Staates ist, sondern Selbstverteidigung gegen mögliche Gefahren, die die eigene Existenz bedrohen (wie der Kunde irgendeines Zuhälters, oder ein Bullenfreund sagen würden).

Wenn die Sprache der Revolte das Risiko birgt, dass unsere potenziellen Komplizen uns nicht verstehen, dann birgt die Sprache des Staates das Risiko allzu gut verstanden zu werden und bei unseren eindeutigen Feinden Verbreitung zu finden. Uns ist klar, dass das kein Problem für diejenigen darstellt, die nur eine Neuordnung des Bestehenden erreichen wollen. Wer aber nach einer vollkommen anderen menschlichen Existenz strebt, hat keine Zweifel daran was zu wählen ist zwischen der Poesie des Unbekannten und der Propaganda des Gewöhnlichen. Erstere führt woanders hin, weg von der Herrschaft der Autorität und des Geldes, letztere schlendert höchstens um sie herum.

Das ist keine formale Spielerei, sondern eine grundlegende Frage. Man kann nicht verheimlichen, dass für sich genommen das Adrenalin der sozialen Ausbrüche nicht ausreicht um die Rückkehr zur Normalität zu verhindern. Der Karneval, bei dem alles geht, ist nur eine zeitliche Klammer. Ist sie geschlossen, kehrt man zur Disziplin zurück. Die Trunkenheit des Moments muss begleitet werden von der Klarheit der Perspektive. Das ist die unglaubliche Herausforderung, der sich die Anarchisten stellen müssen – eine Sache, um die sich nur sie alleine kümmern. Den autoritären Revolutionären dient die Barrikade ausschließlich als Sprungbrett auf den Verhandlungstisch, wo es Ordnung braucht um die Gespräche weiter zu bringen. Die Anarchisten hingegen dürfen sich nicht erlauben auch nur einen Stein der alten Welt auf dem anderen zu lassen. Ihre Wiederherstellung muss undenkbar werden.

Das Leid aller Aktivisten ist – ob sie nun niedergeschmettert oder begeistert sind – wenn es in der Bevölkerung knallt, richten sich ihre Gedanken auf nur eine Frage, und zwar welche direkten und produktiven Beziehungen sie mit den Protestbewegungen aufnehmen sollen. Wenn sich das Volk bewegt, greift bei ihnen automatisch ein antrainierter Reflex sich ganz eng an seine Seite zu stellen. Die gleiche Luft zu atmen, die gleichen Sachen Kleider anzuziehen, das gleiche Brot zu essen, die gleichen Sprüche zu rufen, präsent zu sein. Wenn man es nicht begleitet, wenn man es nicht berät, wenn man sich nicht seinen Respekt verdient, wie ist es dann denkbar es in die richtige Richtung zu lenken.

Wenn sich also auch nur erahnen lässt, dass das Volk sich erhebt, stürzen sich alle Aktivisten sofort darauf. Es gibt welche, die erst den Schädel vermessen, den Hintern beschnuppern und den Stammbaum überprüfen, bevor sie es umarmen. Und es gibt welche, die viel offener sind und mitten in jede Kloake reinspringen um auf der Welle zu reiten.

Wie man es dreht und wendet, alle Diskussionen über hingehen oder auspfeifen drehen sich um diesen Unterschied.

Wären sie keine Aktivisten hätten sie vor einiger Zeit bemerkt, dass sie niemand braucht um sich zu erheben (die Immigranten, die die Abschiebelager dem Erdboden gleich machen, zum Beispiel, brauchen die Antirassisten überhaupt nicht. Es sind die Antirassisten, die Beifall klatschen und zu diesen Aufständen aufrufen, die die Immigranten brauchen). Aber da sie Aktivisten sind, sind sie besessen von der Suche nach dem Revolutionären Subjekt, in dessen Dienst sie sich stellen können. Ist das da das richtige? Es wird doch nicht das falsche sein? Und wenn es dieses andere ist? Gehen wir mit den verschwitzten Gelbwesten mit oder doch mit den wohlriechenden Studenten?

Zum Glück sind nicht alle Aktivisten. Es gibt auch welche, die sich auch nicht im Geringsten die Frage stellen, was die anderen wirklich erreichen wollen, weil sie eine ganz andere Frage haben, die sie beschäftigt: Was wollen wir wirklich erreichen? Wie kann man aus der Unordnung, die geschaffen wurde, ziemlich unwichtig aus welchem Grund, einen Vorteil ziehen? Was verlangsamt inmitten dieses Chaos das repressive Eingreifen und erleichtert Hit-and-Run-Aktionen, können sich Möglichkeiten eröffnen, die sonst verschlossen sind? Kann man weit weg von dem Chaos, auf das sich die repressiven Kontrollen konzentrieren, ansonsten unangreifbare Ziele erreichen?

Hier kommen wir zurück auf die Anspielung der Mesa Verde.

Wenn die Berichte in den Zeitungen stimmen, dann ist es bei der Demonstration am 24. November in Paris zu einem aufsehenerregenden Beispiel dafür gekommen. Während die Champs-Elyées Bühne waren für gewalttätige Zusammenstöße, wurde die Boutique Dior, die sich ebenso auf der „Schönsten Strasse der Welt“ befindet, geplündert – Schmuck im Wert von 500.000 Euro war sofort gestohlen. Während wir diejenigen zutiefst bemitleiden, die denken, dass „eine solche Tat aus revolutionärer Perspektive vollkommen unnütz ist“, möchten wir um Missverständnisse zu vermeiden verdeutlichen, dass es sich nur um einen von vielen möglichen Beiträgen in solchen Szenarien handelt, um nur eine der vielen Hypothesen, die erforscht werden können. Um das zu tun macht es keinen Sinn die Klassenzusammensetzung einer Bewegung, die im Gange ist, wissenschaftlich zu untersuchen. Es ist besser auf phantasievolle Weise die Karte des Gebiets zu erkunden.

Wäre man nun versucht nicht vom Protest zu profitieren, sondern ihn zu beeinflussen, dann gibt es auch hier einen tiefgreifenden Unterschied dazwischen eine Bewegung zu begleiten um die Führung zu übernehmen und sie abstürzen zu lassen. Zwei kleine banale Beispiele: An sich braucht man sich nicht auf die Bewegung zu beziehen um während Zusammenstössen seinen Hass auf den Staat und die Faschisten zum Ausdruck zu bringen, ebenso wenig um die angehenden Vertreter zu bedrohen, die dazu ernannt wurden Verhandlungen zu führen. Im ersten wie im zweiten Fall geht man gegen die Forderungen der Bewegung vor sowie gegen das, was sich der Staat wünscht.

Lassen wir die Funktionäre der Macht und der Gegenmacht ruhig ihr Erstaunen über die Entdeckung des längst Bekannten zum Ausdruck bringen: Die Wut kann nichts mit Parteien und Gewerkschaften anfangen. Wenn sie ohne Vertretung und Forderungen ist, kann sie nicht vereinnahmt werden und es wird schwierig sie einzudämmen, wenn sie vom Zentrum zur Peripherie überspringt. Wer die Macht in Frankreich in Händen hält und an jene mahnenden Worte erinnert wonach „die Politik nicht heisst Probleme zu lösen, sondern diejenigen zum Schweigen zu bringen, die sie aufwerfen“, der hat gerade im Fernsehen eine Ansprache gehalten an die Herzen des Publikums, beziehungsweise an ihre Brieftaschen. Wer die Macht in Frankreich an sich reißen will und an jenen Leitsatz erinnert nachdem „die Politik nichts anderes ist als das Volk aufzuschaukeln bevor man ihm dient“ wird nun entscheiden müssen ob er sich mit dem politischen Erfolg begnügen möchte, den er aus dem Protest herausgeholt hat, oder weiter zu gehen um noch höhere Ziele anzupeilen.

Wer aber die Macht zerstören möchte, in Frankreich und überall sonst, weiss genau was man nicht vergessen darf.

„Halte dich fern von denen, die alles im Griff haben.

Passe deinen Schritt der Stärke des Sturms an.“

[1] Compagni = Gefährten, Genossen, Kameraden; hier wie im ital. Original mit K geschrieben, ein Hinweis auf die kommunistische Gesinnung der Gemeinten.

[2] Hier handelt es sich um eine cinematographische Anspielung: Im Film Giú la Testa (deutsch: Todesmelodie von Sergio Leone, 1971) versucht eine Gruppe von Banditen während der Mexikanischen Revolution in den 1910ern eine Bank namens Mesa Verde auszurauben. Der ursprüngliche Artikel, der die Metapher etabliert, beginnt mit dem Zitat: „Wo es eine Revolution gibt, gibt es Verwirrung. Wo es Verwirrung gibt, kann ein Mann, der weiß was er will, alles gewinnen.“

[3] Wie militanti übersetzt werden soll hat eine größere Diskussion ausgelöst. Dem Begriff Militante fehlt einigen zufolge in der deutschsprachigen Diskussion eine wichtige Konnotation: nämlich, dass in ihrer Praxis unterschiedlich vorgehende, politisch Aktive gemeint sind, die ständig auf der Suche sind nach etwas Höherstehendem (also etwa einem Revolutionären Subjekt), dem sie sich mit ihren Aktionen unterwerfen können. Deshalb wurde für diese Übersetzung der Begriff Aktivisten gewählt. Hier ist dieser aber eher im engeren, linksradikalen Sinne gemeint. Der Text bezieht sich also nicht auf Sammler von Unterschriften oder Mitarbeiter von NGOs, die sich vielleicht auch als Aktivisten verstehen.

[4] Louis Auguste Blanqui (1805-81): französischer Sozialist, der meinte die Revolution müsse von einer kleinen, putschistischen Gruppe ausgehen, die eine vorübergehende Diktatur etabliert.

[5] Gemeint ist die als Unsichtbares Komitee bzw. Tiqqun veröffentlichende Gruppe der Appellisten.


Entnommen am 30.1.2019 von: https://finimondo.org/node/2277
Originaltitel: "Di che colore è la tua Mesa?", übersetzt aus dem Italienischen. Eine gekürzte Übersetzung wurde in "In der Tat - Anarchistische Zeitschrift", Nr. 2, Januar 2019 veröffentlicht. In der Einleitung zur gekürzten Übersetzung wurde angekündigt, dass der vollständige Text online veröffentlicht werden wird.