Original auf Italienisch, Originaltitel: "In guerra, tuttiquanti", anonym veröffentlicht auf finimondo.org. Die deutsch Übersetzung erschien auch als Beilage zu "Dissonanz – anarchistische Zeitung", Nr. 15, Zürich, 25. November 2015.
Finimondo
Im Krieg, allesamt
Im Jahr 1997 brachte die Filmindustrie von Hollywood einen Streifen heraus, worin die Planung eines aufsehenerregenden Terroranschlags in New York verbildlicht wurde, als eine Rache für den erfolgten Tod der eigenen Lieben im Verlaufe von einem der vielen Bürgerkriege (im Spezifischen jener von Bosnien-Herzegowina), die von den westlichen Regierungen geschürt werden. Es handelte sich um einen Film, der für die Kinokassen gemacht war, nichts Besonderes, und der bald in Vergessenheit geraten wäre, wenn nicht wäre, was im September 4 Jahre danach passierte. Im Nachhinein versäumte es dieser Film nicht, die Aufmerksamkeit mancher auf sich zu ziehen. Nicht per Zufall. Es kam darin nämlich eine Szene vor, in welcher der Attentäter deutlich die Gründe erklärte, welche ihn dazu angetrieben haben – ihn, als reifen und gebildeten Mann –, eine solche Tat zu begehen. Nun, so sehr sie auch in den Film des Spektakels eingewickelt waren, so hatten diese Gründe überhaupt nichts filmisches. Im Gegenteil, es war leicht zu ahnen, dass diese in der Brust von Dutzenden und Hunderten von Tausenden von auf der Welt verstreuten Menschen in Fleisch und Blut pochten.
«Angesichts von meiner Tat würdet ihr sagen: „ist ja klar, wieso nicht? Das ist eine Herde von Tieren. Die massakrieren sich gegenseitig seit Jahrhunderten“. Aber die Wahrheit ist... dass ich kein Monster bin. Ich bin ein Mensch genauso wie ihr, ob es euch gefällt oder nicht. Wir haben während Jahren versucht, zusammen zu leben, bis wir uns im Krieg befunden haben, allesamt. Ein Krieg, den unsere Führer gewollt haben. Aber wer hat die serbischen Streubomben, die kroatischen Panzer, die Munition der [bosnischen] muslimischen Artillerie geliefert, die unsere Kinder töten? Es waren die westlichen Regierungen, welche die Grenzen von unserem Land gezogen haben, manchmal mit Tinte, manchmal mit Blut, dem unseres Volkes. Und jetzt schickt ihr eure Friedenskräfte, um ein weiteres Mal unser Schicksal zu schreiben. Wir können diesen Frieden nicht akzeptieren, der uns nur den Schmerz lässt, jenen Schmerz, den auch die Befrieder empfinden sollten: ihre Frauen, ihre Kinder, ihre Häuser, ihre Kirchen... Hier, jetzt wisst ihr es, jetzt müsst ihr es begreifen. Lasst uns unser Schicksal finden. Möge Gott Erbarmen mit uns allen haben».
Aber Gott existiert nicht und somit hat er kein Erbarmen für niemanden. Die Befrieder wissen es, aber, obwohl sie so einige Informationen haben, begreifen sie es nicht, können sie es nicht begreifen, wollen sie es nicht begreifen. Was ein Drehbuchautor mit der Vorstellungskraft erfasste, das sehen Scharen von Politikern und Journalisten und gewöhnlichen Bürgern nicht einmal dann, wenn sie uns wieder und wieder auf die Fresse schlagen. Sonst würden sie sich heute, am Tag nach den Kriegsakten, die in Paris für ein Blutbad sorgten, nicht so sehr abmühen, sich zu fragen, wie dies geschehen konnte, wie es möglich war, das gute und alte und zivile Europa mit so viel Brutalität zu schänden. Vierzehn Jahre nach jenem 11. September haben diejenigen, die den Krieg zu uns nach Hause bringen kommen, nicht einmal den Skrupel, sich gegen ein strategisches Ziel zu richten. Sie greifen nicht zeitgleich
Symbol-Strukturen der feindlichen Macht an (wie es das Pentagon und das World Trade Center waren), und sie gehen auch nicht auf Schlangennester los (wie die Redaktion des blasphemischen Charlie Hebdo wahrgenommen wurde). Nein, sie metzeln direkt einen jeden beliebigen nieder, blind drauf los, indem sie in die Menge schiessen. Vielleicht versuchen sie, einen Präsidenten der Republik ins Visier zu nehmen, aber dann, wenn er sich im Stadion inmitten von Fans befindet; sie eröffnen das Feuer auf Kunden von Bars und Restaurants, die nur essen und trinken wollen; sie verüben ein wahres Abschlachten von Zuschauern an einem Musikkonzert. Das ist der Schrecken, der heute so bestürzt und niedergeschmettert lässt. „Das ist ein Angriff gegen die Menschheit“, haben viele gesagt, nicht gegen eine feindliche Regierung, nicht gegen eine konkurrierende Wirtschaft, nicht gegen einen rivalisierenden Gott, sondern gegen einfache Menschen, die beabsichtigen, ihren Alltag zu leben. Und es stimmt, es ist ein Angriff gegen die Menschheit. Bleibt sich nur zu fragen, von welcher Menschheit gesprochen wird.
Es ist die Menschheit, die ausser sich gerät nach einem Tor, die Menschheit, die rülpst nach einem üppigen Mahl, die Menschheit, die den ganzen Abend lang sorgenfrei tanzt. Nichts Schlimmes, das wäre ja noch. Aber diese Menschheit, welche zahlt und beansprucht, ihr Recht auf die Schwelgerei des Wochenendes zu geniessen, und welche es deshalb schaudert ab den 129 Toten eines Freitagabends in Paris, das ist dieselbe Menschheit, welche schnauft und sich langweilt, wenn sie jemand daran erinnert, dass der Krieg in Syrien innert 4 Jahren 300′000 Tote verursacht hat (das sind etwa 200 pro Tag, jeden Tag), oder dass die Toten im Irak seit Beginn der Feindlichkeiten auf 500′000 geschätzt werden (das sind mehr als 100 pro Tag, jeden Tag). Es ist dieselbe Menschheit, die am Tag zuvor das Massaker, welches in Beirut von denselben Gottesbesessenen begangen wurde, fast gar nicht bemerkte. Es ist dieselbe Menschheit, die am vergangenen 3. Oktober zuerst über die Bombardierung eines afghanischen Spitals durch die amerikanische Luftwaffe klagte, und sie anschliessend wieder vergass, kaum dass die Regierung mit den Sternen und Streifen ihre Entschuldigungen präsentierte. Damals haben die vom Geruch des Blutes aufgebrachten Journalisten nicht gegen die christlichen Bastarde gedonnert, haben die Schöngeister keine Mahnwachen organisiert, keine Kerzen auf den Plätzen, keine Schriftzüge mit “Je suis Kunduz” überall.
Die Menschheit, von der gesprochen wird, ist die zivile, gebildete, tolerante Menschheit, oder anders gesagt, diejenige, die in einer mehr oder weniger laizistischen kapitalistischen Gesellschaft lebt. Wer in einer fundamentalistischen theokratischen Gesellschaft lebt, ist nicht Teil der Menschheit, ist bloss ein Monster. Denn man muss Monster sein, um auf diese Weise hunderte von unschuldigen Personen niederzumetzeln. Die zivilen Wesen, welche die Menschheit bilden, drücken, wenn sie unterschiedslose Massaker begehen wollen, auf einen Knopf. Monströs ist es, sich die Hände mit Blut zu beschmutzen, zivil ist es, mittels von Maschinen abgeworfenen Sprengkörpern Massaker zu begehen. Monströs ist es, mit zwanzig Jahren freiwillig dem Tod entgegenzutreten, zivil ist es, bis achtzig freiwillig der Agonie zu gehorchen. Monströs ist es, auf Befehl von religiösen Führern auf französische Passanten zu schiessen, zivil ist es, auf Befehl von politischen Führern auf arme brasilianische Kinder zu schiessen (es war just die UNO, nur einen Monat her, welche die laufende “erhöhte Anzahl von Standhinrichtungen von Kindern” durch die brasilianische Polizei anprangerte, aber spricht jemand davon?). Monströs ist es, seinen Feind abzuschlachten, zivil ist es, ihn aus Distanz zu töten oder ihn ein Leben lang hinter vier Mauern einzusperren. Monströs ist es, zu glauben, dass den Kriegsmärtyrer im Paradies zweiundsiebzig Jungfrauen erwarten, zivil ist es, zu glauben, dass den Märtyrer der Arbeit im Alter die Pension erwartet (der vielleicht nicht zögert, an den Sohn Gottes zu glauben, welcher Wunder bewirkt und von einer Jungfrau geboren wurde). Monströs ist es, zu fordern, dass die Frau unterworfen ist und dass sie herumgeht, ohne ein Stückchen Haut zu zeigen, zivil ist es, anzustreben, dass die Frau unterworfen ist und dass sie möglichst entkleidet herumgehen kann. Monströs ist es, die Religion der Wüste zu predigen, zivil ist es, die Religion der Börse zu predigen. Monströs ist es, sich mit der Kriegsplünderung zu bereichern, zivil ist es, sich mit dem Waffenhandel zu bereichern. Monströs ist der Islamische Staat, welcher Kriegsakte gegen diejenigen bekennt, die lachen und sich vergnügen, zivil ist der demokratische Staat, der Kriegsakte gegen diejenigen rechtfertigt, die weinen und leiden.
Dies ist, was die heute so bestürzte Menschheit ist. Die Menschheit, die sich auf Anordnung empört und rührt, für welche die Akte von Terrorismus, die anderswo und gegen die anderen begangen werden, richtig und notwendig sind, während diejenigen, die hier zum eigenen Schaden begangen werden, wahnsinnig und grausam sind. Eine Menschheit, für welche die Massaker enden, sobald die Fernsehnachrichten enden. Nur, in Kriegszeiten wie jenen, die wir durchleben, enden die Massaker nicht. Für jene, die es noch nicht bemerkt haben: sie enden nicht mehr. Wenn die Soldaten von ISIS am vergangenen 10. Oktober in Ankara für hundert Tote zu sorgen vermochten, weshalb sollten sie nicht einen Monat später in Paris noch einige mehr machen können? Etwa, weil die ersteren bereit waren, gegen das Kalifat die Waffen aufzugreifen, während sich die zweiteren darauf beschränkten, aus Distanz dagegen anzufeuern? Oder etwa, weil die islamischen Kopfabschneider im Grunde diesen Regierungen dankbar sein müssten, welche sie viel weniger bekämpfen als sie ankündigen und als sie könnten? Nicht nur bleibt die Hauptfinanzierungsquelle des ISIS von den Luftschlägen “gegen den Terrorismus” ausgenommen, da es sich um recht gewinnbringende Erdölgruben handelt, sondern so, wie im März 1991 diejenigen, die im Irak zum Schall von Bomben Demokratie exportierten, dem Tyrannen Saddam Hussein erlaubten, den im Land ausgebrochenen Aufstand niederzuschlagen (eine Repression, die für 750′000 Opfer sorgte), so hat man heute keinen Finger gerührt, um Assad daran zu hindern, den syrischen Aufstand niederzuschlagen, und tut man alles, nur um die Selbstregierung der Kurden in Rojava zu verhindern.
Lasst uns Schluss machen mit der Entrüstung und der Überraschung. Genug der Heuchelei. Wir befinden uns im Krieg, allesamt. Ein Krieg, den unsere Führer gewollt haben. Wer hat die Phosphorbomben gebaut, die Falludscha niedergebrannt haben, wer hat die Piloten ausgebildet, die Gaza bombardiert haben, wer hat die Geheimdienste mit Informatiktechnologien ausgerüstet, die in Damaskus getötet haben? Es waren die Regierungen, es waren die Multinationalen. Regierungen, die auf demokratische Weise gewählt wurden, Unternehmen, die auf zivile Weise arbeiten. Hier, bei uns zuhause. Man weiss es, aber man begreift es kaum. Dies ist, weshalb es kein Mitleid für niemanden gibt, nicht einmal für uns selber (wir, grosse Revolutionäre, die wir gerne alles auf den Kopf stellen würden, gegen das ganze Bestehende in den Krieg ziehen würden, aber die wir nicht mehr in der Lage sind, jemanden auf den Tod zu hassen, nicht einmal unsere schlimmsten Feinde). Dies ist, weshalb es nunmehr nur noch Raum für den Terrorismus gibt. Nach langen Jahrzehnten der Bewusstseinstrübung, der Intelligenzverdünnung, der Sensibilitätsbetäubung und der Muskellähmung, haben die Katastrophen und die Bürgerkriege schöne Tage vor sich. Die Freiheit und die Revolution viel weniger.
Und es ist nun leicht, vorauszusehen, was geschehen wird. Gegen die eiserne Faust der Sharia, die eiserne Faust des Zivil- und Strafgesetzbuches. Notstand, Ausnahmegesetze, grössere Kontrolle, weniger Freiheit für alle. Gegen die Gefahr, durch islamistische Hand zu sterben, die Sicherheit, durch demokratische Hand dahinzuvegetieren. Und Repressalien, selbstverständlich, welche neue Repressalien schüren werden, in einem endlosen Teufelskreis. Mit der reaktionären Meute, welche dazu anstacheln wird, die Fremden als solche zu hassen, und dem progressistischen Gesocks, welches dazu auffordern wird, die Fremden als solche zu lieben. Und wer keine Position zu ergreifen hat innerhalb von diesen Lagern, wer kein “uns” um sich sieht, worin er sich identifizieren kann, wer diesem hirnverbrannten und terroristischen Krieg desertieren will, weil es ein anderer Krieg ist, den er kämpfen will – gegen jeden Gott, gegen jeden Staat –, der wird sich immer mehr umstellt und überwacht sehen.
Aber nur wir können Mitleid mit uns haben. Ein tiefes Durchatmen, und lasst uns jede Verzweiflung und Erschütterung verlassen. Die Tränen verblenden die Augen noch mehr als das Blut. Allem Schein zum Trotz, wir werden nie völlig ohnmächtig sein in dem Versuch, Unordnung, Sakrileg und Subversion zu verbreiten.