Fernweh
Ich bin nicht Charlie
In letzter Zeit war das Thema beinahe so unumgänglich wie nach dem berüchtigten elften September: der Terrorismus steht wieder ganz oben auf der Agenda des Dreigespanns aus Presse, Politik und demokratie- treuen Bürgern. Nach den islamistisch motivierten Anschlägen auf das französische Satireblatt „Charlie Hebdo“ und dem blutigen Ende einer Geiselnahme zwei Tage darauf ist es nun wieder weltweit an der Zeit für Solidaritätsbekundungen wie „Ich bin Charlie“ (oder auch „Ich bin Charlie, Polizist, Jude“) die stark an das obligatorische „Wir sind alle Amerikaner“ von 2001 erinnern. In Frankreich, Europa und vielen weiteren Ländern steht man „zusammen gegen den Terror“, alle gemeinsam für Demokratie, Toleranz und „Freiheit“.
Alle an einem Strang
Es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass sich die internationale Brigade der Politiker von den Anschlägen ebenso angegriffen fühlt wie die Presse selbst, ist letztere doch schließlich eines der Mittel zur Konsensschaffung innerhalb der demokratischen Gesellschaft. (Dazu findest du in der 10. Ausgabe der Fernweh den Artikel „die Freiheit zum Gehorsam“.) In dieser Situation der kollektiven „Trauer“ werden Zusammenhalt und -arbeit der verschiedenen Pfeiler des bestehenden Systems auf nationaler Ebene wieder deutlich, genau wie auf internationaler Ebene jene der demokratischen Regierungen, die ihre gemeinsamen „Werte“ als angegriffen sehen. Der Zusammenhalt eines „Volkes“ sowie der „Völkergemeinschaft“ soll in Momenten wie diesen gestärkt werden, ganz im Interesse der Herrschenden, denn dieser Zusammenhalt hat das Potential über die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft hinweg zu täuschen, die auf dem Privileg einiger und der Ausbeutung und Unterdrückung anderer aufgebaut ist. In Zeiten der Krise und der überall auf der Welt immer wieder entflammenden Brandherde der Wut gegen diese Gesellschaft und diejenigen die sie aufrecht erhalten sind die kollektiven Momente der konstruierten Gemeinschaft (z.B. auch EM, WM…) wichtig für die Aufrechterhaltung des Bestehenden. Gleichzeitig zieht die internationale Zusammenarbeit gegen alles, was dem System feindlich gegenüber steht ihre Rechtfertigung zum Teil aus der Ausschlachtung einer „internationalen Bedrohung“ durch den Terrorismus.
Terrorismus in den Händen des Staates
So wurden seit dem 11.09.2001 weltweit die Terrorismus-Gesetze verschärft und das geschlossene Vorgehen der verschiedenen Regierungen gegen alles, was als Bedrohung wahrgenommen wird intensiviert, ja, ganze Kriege geführt. Terrorist ist in diesem Spektakel nicht nur wer Geiseln nimmt oder Journalisten erschießt sondern auch wer Sabotage an irgendeinem der Projekte der Macht verübt, wer Angriffe auf eine ihrer Institutionen, Gebäude, oder Menschen verübt, ungeachtet dessen, ob dabei das „Volk“, das diese Macht angeblich vertritt und schützt zu Schaden kommt oder auch nur geängstigt wird. Kurzum, die Drohung, als Terrorist eingestuft zu werden und damit Haftstrafen in x-facher wie für das Vergehen an sich üblicher Länge zu riskieren schwebt über allen, die sich entschließen, die eigene Unterdrückung nicht länger zu akzeptieren und die einzige Möglichkeit erkennen und ergreifen, dieser ein Ende zu bereiten: dem direkten Angriff gegen das, was sie aufrecht erhält. Der Staat, jeder Staat, nutzt diese Anschuldigung um sein eigenes Fortbestehen zu sichern und das „harte Durchgreifen“ vor den Bürgern zu rechtfertigen in dem er Ängste schürt und vorgibt, in ihrem Interesse, zu ihrem Schutze zu handeln. Diese Illusion beruht einzig auf der Identifikation Vieler mit dem Staat, der Erfolg der repräsentativen Demokratie.
Und nun eben konsequenter Weise auch die Identifikation mit einem Satiremagazin und allen Opfern der Anschläge, den Bullen eingeschlossen die sonst diejenigen sind, die Leute erschießen oder mit dem rechtlich abgesicherten Begriff der Haft zu Geiseln nehmen.
Es ist zu erwarten dass auch die jüngsten Ereignisse wieder eine ganze Welle von Verschärfungen und neuen Gesetzen, wenn nicht Kriegseinsätzen und was sonst noch alles im Repertoire der „Friedenssicherung“ liegt, nach sich ziehen werden. Schon jetzt lassen die Innenminister verschiedener Länder anklingen, die Daten von Fluggästen auszutauschen (was bisher zumindest offiziell nicht geschah), die Zusammenarbeit der Geheimdienste zu verstärken und den Kampf gegen den Terror zu „beschleunigen und zu vertiefen“, in Frankreich wird ein Gesetz über „nationale Unwürde“ diskutiert durch das der Entzug von Bürgerrechten legitimiert werden soll und auch hier zu Lande kann endlich die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung wieder aufgerollt werden, nach der die staatlichen Überwachungsorgane schon so lange lechzen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich die Konsequenzen auf im Namen religiöser Ideologien mordende Glaubenskrieger beschränken würden, die außer den Bullenschweinen auch Menschen zu töten bereit sind, deren Hintergrund sie nicht kennen bzw. die sie nur aufgrund ihrer rassistischen und religiösen Verblendung verabscheuen. Bereits in der Vergangenheit wurde der Terrorismus-Vorwurf auch gegen Anarchist*innen und andere soziale Rebellen vorgebracht, die den mediatisierten demokratischen Diskurs verweigern und zum Angriff übergehen, selbst dann, wenn die Bevölkerung zur Abwechslung mal hinter ihnen steht. Ein schönes Beispiel ist Norditalien, wo die Saboteure der Baustelle eines von weiten Teilen der lokalen Bevölkerung verachteten Hochgeschwindigkeitszuges unter der Anklage des Terrorismus über ein Jahr teilweise in Isolation im Knast saßen um nun kürzlich doch „nur“ zu 3 ½ Jahren Hausarrest verurteilt zu werden (statt der c.a. 10 Jahre Knast die das Terrorismus-Urteil bedeutet hätte) obwohl die Menschen vor Ort beinahe geschlossen aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Mitteln (von denen einige leider auch sehr wohl im demokratischen Rahmen gefangen bleiben) dieses Zugprojekt bekämpfen und mit dem Angriff solidarisch waren. Obgleich in diesem einen Fall der ursprüngliche Vorwurf gefallen ist, zeigt sich hier deutlich, in welche Richtung Gesetzgebung und Justizapparat nicht nur in Italien tendieren.
Um aber all die Terroristen auch gebührend bestrafen zu können müssen sie erst mal geschnappt werden und dafür sind immer neue und bessere Überwachungsstrukturen notwendig. Von neuen Personalausweisen bis zur eben nun wieder neu diskutierten Vorratsdatenspeicherung, vom Ausbau der Kameraüberwachung zu ersten Versuchen der „zivilen Nutzung“ von Drohnen im öffentlichen Nahverkehrsnetz, von der ständigen Ortbarkeit durch Smartphone etc. zur automatischen Analyse deiner Interessen und Verhaltensweisen durch die Benutzung von Google, Facebook& Co.: die Erfordernisse „unserer Sicherheit“ machen vor niemandes Leben Halt. Denn potenziell ist jeder Terrorist, jeder Staatsfeind und wird deshalb folgerichtig auch jeder „präventiv“ überwacht, damit es gar nicht erst soweit kommt. Im demokratischen Jargon heißt das Herumschnüffeln der Hunde von Vaterstaat dann „Gefahrenprävention“ und passiert zum Gemeinwohl, das zu schätzen oberste Bürgerpflicht ist.
Angst, aber wovor?
Die Gewalt gegen Menschen, die zwar durch ihre Akzeptanz zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse beitragen, diese aber nicht direkt verteidigen und durchsetzen widerstrebt einer Idee der Zerstörung des Bestehenden als sozialen Akt und endet bei einer stumpfen militärischen Auffassung des Konfliktes mit der Gesellschaft. Ganz abgesehen davon dass im Fall von Frankreich offensichtlich die Absichten der Attentäter nicht im geringsten Befreiende waren sondern im Gegenteil ein religiöser Fanatismus, der für den Willen einer diesmal göttlichen statt irdischen Autorität über Leichen geht (in der guten Tradition auch der christlichen Kirche, die dies bis vor nicht allzu langer Zeit auf institutioneller Ebene betrieb) und wie jeder Glaube und Autoritätsgehorsam zerstört werden muss um frei leben zu können.
Dennoch sind die akuten und existenziellen Bedrohungen für die Bevölkerungen – und nicht die Völker oder Nationen, diese Konstrukte der Macht! – wohl eher die dauernden und immer gigantischeren Projekte ebendieser Macht und nicht die vereinzelten Anschläge.
„Terror“ wird vielmehr vom Staat geübt, der Menschen zu Hunderttausenden lebendig begräbt in Knästen oder Fabriken, Psychiatrien oder Schulen, die sich alle immer ähnlicher werden und letztlich kaum mehr von den überall wachsenden Wohnblocks unterscheiden lassen. Der für die wirtschaftliche Stabilität und sein eigenes Fortbestehen Kriege führt. Der zu Gunsten des Fortschritts riesige Landstriche zerstört und die dort wohnenden Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Der für größere Erträge die Produktion von Lebensmitteln subventioniert, die uns statt uns zu ernähren langsam vergiften. Der die Entwicklung von immer neuen und für „normale“ Menschen immer unverständlicheren Technologien fördert, die zu einem so machtvollen Instrument in den Händen derer werden, die sie kontrollieren, dass alles darauf zuzusteuern scheint, dass wir mehr und mehr die Möglichkeit verlieren, sie zu bekämpfen oder auch nur die lächerlichsten Entscheidungen unseres Lebens selbst zu treffen weil letztlich auch die, die wir selbst zu treffen denken, von unseren durch die ständige Benutzung dieser Technologien veränderten Verhaltens- Reaktions- und Denkmustern gesteuert sind.
All diese Tendenzen sind es, die eigentlich wesentlich erschreckender sein müssten aber durch die Überflutung mit Informationen der wir ständig ausgesetzt sind gar nicht mehr wahrgenommen bzw. einfach nicht verstanden werden. Da aber, wie jemand mal so ähnlich sagte, die Angst diejenige Leidenschaft ist, die am wenigsten zum revoltieren veranlasst, sollten wir uns, statt uns vor dieser scheinbaren Übermacht zu ducken, noch heute beginnen nach Wegen zu suchen, sie anzugreifen. Strukturen, Personen und Institutionen die zur Aufrechterhaltung des Bestehenden beitragen gibt es unzählige und mit zerstörerischer Kreativität und dem Versuch, uns ein Verständnis über darüber anzueignen, wer diese Verantwortlichen sind und wie sie zusammenhängen, haben wir die Möglichkeit, sie ins Wanken zu bringen ohne dabei in die Logik eines militärischen Kampfes gegen Alles und Jeden zu verfallen.