Fenrir
Im permanenten Kampf gegen die Gesellschaft und das Phantom der Politik
Eine kritische Analyse der insurrektionellen Methode
„(...) jeder ist völlig frei, sich zu dem Bestehenden nach eigenem Gutdünken zu verhalten, ob Anarchist oder nicht. Es ist aber auch nötig, dass jeder Anarchist, gerade als solcher, sich fragt ob man die bestehende Macht bloss treffen oder wirklich endgültig niederschlagen will. Um diese grundsätzliche Frage kreist all unser Handeln und Verhalten gegenüber dem Bestehenden.
Denn, obwohl Anarchist, kann ein Individuum an die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Revolutionierung in libertärem und selbstbestimmtem Sinne glauben oder nicht. Aber wenn ein Anarchist an die revolutionäre Möglichkeit glaubt, dann muss die Auseinandersetzung mit der bestehenden Macht jene grossen Masse des subalternisierten Sozialen in Betracht ziehen, die in den Kampf miteinbezogen werden muss, nicht nur zum Zwecke der Erreichung einer genügenden Kraft zur Zerstörung des Bestehenden, sondern auch um sie anzuregen, Delegierungen, Enttäuschungen und Passivität zu überwinden und sich der Praxis der direkten Aktion, der Selbstverwaltung des Lebens an sich und der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung anzueignen.
Genau darum sind die individuellen Aktionen zur offenen Bekämpfung der politisch-ökonomischen Macht und ihrer Strukturen und Personen – wenn sie sicherlich auch positiv sind, da sie zumindest die soziale Befriedung verhindern und, entgegen ihrem Anspruch, absolut und unangreifbar zu sein, die Schwäche der Herrschaftsmacht aufzeigen – auf der Ebene der aufständischen Revolution doch völlig ungenügend, wenn sie den Reaktionsweisen der proletarischen Massen auf ihre Ausbeutung und Unterdrückung nicht systematisch innewohnen. Anders gesagt, wenigstens wie ich es sehe, öffnet sich die aufständische Gelegenheit, worin der Anarchismus – bzw. die antiautoritäre Praxis – eine grundlegende soziopolitische Rolle übernehmen kann, nur wenn sich die individuellen Instanzen von Kampf und Angriff mit den Forderungen und Protesten reziprok durchdringen können, die von Fall zu Fall aus mehr oder weniger bedeutenden Massensektoren des unterdrückten Sozialen kommen. Wenn diese Einfügung bzw. diese gegenseitige Durchdringung fehlt, wird sich unser Handeln nicht nur als unverständlich, sondern sogar als weitab jeglicher allgemeinen Wahrnehmung herausstellen, vor allem durch die terroristische Verfälschung, die der Staat und das Kapital bewerkstelligen werden.
Auszug eines Briefes von Costantino Cavalleri an Luca Farris (Nihil, Nr. 3–4, S. 36–37).
Dieser Abschnitt von Costantino Cavalleri drückt die Grundvoraussetzungen der sog. „insurrektionellen Methode“ (oder anders gesagt, der „insurrektionalistischen“ Herangehensweise des Anarchismus) klar aus. Die Bestrebung mit den Massen aufständische Versuche zu unternehmen, die schon seit dem neunzehnten Jahrhundert von einigen AnarchistInnen theoretisiert und experimentiert wurde, wovon der bekannteste Errico Malatesta ist (der auch verschiedene Texte hinterlassen hat, in denen von dem die Rede ist, was die anarchistische Herangehensweise an den Aufstand sein sollte), ist zwischen Ende der ’70 bis Anfang der ’80 Jahre in den Texten von Alfredo Maria Bonanno, Pierleone Porcu, Costantino Cavalleri und anderen GenossInnen wiederaufgenommen und revidiert worden. Diese haben den zentralen Corpus intakt gelassen, wollten aber die organisatorische Strukturen revidieren.
Eine der Grundvoraussetzungen der insurrektionellen Herangehensweise ist der alte Mythos der Sozialen Revolution. Das ist das ideale Ziel, indem eine radikale Transformation der Strukturen der Gesellschaft im anarchistischen Sinne erreicht werden kann, auf dessen Basis die insurrektionellen AnarchistInnen jeden eigenen Eingriff in die Realität betrachten; eine romantisierte Anschauung der ärmsten Klassen, wonach ihnen die marginalisierte soziale Stellung und Vertrautheit mit der Gewalt des täglichen Überlebenskampfes eine potentielle Neigung zur Revolte und eine ideale Komplizität mit denen verleihen würde, die gegen die Autorität kämpfen; folglich ein Glaube in die Erweckung der ausgeschlossenen und ausgebeuteten Massen, der den Veränderungen wenig Rechnung trägt, die in den letzten Jahrzehnten die westlichen menschlichen Gesellschaften in spasmodische Konsumgesellschaften verwandelt haben, die vom Spektakel und der fortgeschrittenen Technologie einer immer stärkeren Entfremdung unterworfen sind, und wo die verschiedenen sozialen Klassen (die auf Grund der ökonomischen Unterschiede fortbestehen) immer mehr dieselben ethischen Werte der Verteidigung des herrschenden Systems und die Bestrebungen zur immer stärkeren Integration teilen, anstatt sie zu zerstören. Folglich hat sich die Situation gegenüber dem neunzehnten Jahrhundert bedeutend verändert. Heutzutage erscheinen die wirklich revolutionären Möglichkeiten immer ferner zu sein. Dieses Vertrauen in eine eines Tages zur Anarchie führende Revolution – was Stirner als ein weiteres der zahlreichen Phantome, die die Wirklichkeit überlagern, identifizieren würde – brachte einige AnarchistInnen zur Entwicklung von Methodologien des Eingriffs ins Soziale, die den revolutionären Prozess beschleunigen oder dann zumindest einige Personengruppen, die aus Gründen ihres täglichen Überlebenskampfes eh schon mit der Autorität im Konflikt stehen, dazu bringen möge, improvisierte Momente der Konfliktualität und der Selbstverwaltung auszudrücken, in der Hoffnung, dass sich der Konflikt danach bis zur Auslösung des allgemeinen Aufstandes verbreite.
Um zur Passage Costantino Cavalleris zurückzukommen, es ist überflüssig sich zu fragen ob man die Macht „wirklich definitiv stürzen“ oder bloss treffen will; klar wollen alle AnarchistInnen die Macht niederschlagen. Das Problem ist, dass der Wille wohl auf einen unendlich fernen Horizont gerichtet werden kann, aber man muss sich mit den aktuellen realen Bedingungen, wogegen sich dieser Wille äussert, ehrlich auseinandersetzen. In Zeiten eines wie heute verbreiteten sozialen Friedens und völlig anderen sozialen Zustandes, bedeutet der Vorschlag einer gegenüber einem Jahrhundert vorher substantiell unveränderten Analyse der Wirklichkeit etwas aufzubauen, das eher einer Religion als einer plausiblen Aktionspraxis gleicht.
Die Kritik die ich vorlegen will, bezieht sich vor allem auf einige Versuche der praktischen Anwendung der insurrektionellen Methode, die in den vergangenen Jahren von einigen AnarchistInnen auf Grund einer besonderen Auslegung des Insurrektionalismus gemacht wurden und ein weiteres Gespenst aufkommen liessen, nämlich das der Politik. Wie, das werden wir detaillierter sehen. Aber sie richtet sich auch gegen einige dieser Herangehensweise innewohnenden Grundvoraussetzungen, die meiner Meinung nach, von Anfang an schon problematisch sind und solche Verirrungen möglich machen.
Ich nehme den Denkanstoss aus einem kürzlich erschienen Essay aus dem spanischen Raum „Cuando se señala la luna. A vueltas con el insurreccionalismo“ (Wenn man auf den Mond zeigt. Manchmal mit dem Insurrektionalismus) auf, das von einigen AnarchistInnen geschrieben wurde Ein Buch, das ein für alle Male über die Bedeutung der insurrektionellen Methode Klarheit verschaffen und auf die Kritiken entgegnen möchte, die im Verlaufe der Zeit von verschiedenen Kreisen (vor allem von linken und hauptsächlich von marxistisch-leninistischen) erhoben wurden. Was mich betrifft, bestätigt es bloss einige von mir schon gehegte Zweifel.
In diesem Artikel beziehe ich mich auf das, was als „klassische“ Auslegung des Insurrektionalismus verstanden wird, wie sie fast wortwörtlich seit ihrer anfänglichen Formulierung von einigen AnarchistInnen interpretiert wurde, die einige ihrer heikelsten Aspekte sogar verschärft haben, wie die qualvolle Suche nach sozialem Konsens als Voraussetzung für jeglichen aufständischen Versuch.
Ich bin mir jedoch der Tatsache bewusst, dass der Insurrektionalismus kein Monolith aus Konzepten und Praktiken ist, die im Laufe der Zeit feststehen und gegen jegliche Infragestellung immun sind. Seit Ende der ‚90iger Jahre sind denn auch verschiedene anarchistische Aktionsgruppen in Erscheinung getreten, die, obwohl sie sich theoretisch sehr wohl auf den Insurrektionalismus bezogen haben, demselben eine stark veränderte Interpretation gegeben und einige derselben Aspekte in Frage gestellt haben, womit ich mich in diesem Artikel auseinandersetzen werde: diese Gruppen und Individuen haben sich zum Beginn ihres persönlichen bewaffneten Aufstandes entschieden ohne den Konsens der Massen abzuwarten. In Anbetracht der drastischen Veränderungen, die sie an einigen der Grundvoraussetzungen dieser Herangehensweise vorgenommen haben, stelle ich mir die Frage, ob sie unbedingt die Definition „Insurrektionalismus“ beibehalten mussten? Jedenfalls scheint die Tendenz dieser neuen informellen anarchistischen Gruppen eine progressive Abwendung von diesem Begriff und dessen historischem Erbe zu sein.
Vor allem muss geklärt werden, was man unter insurrektioneller Herangehensweise versteht. Es handelt sich um eine Herangehensweise an den Kampf, die aus Folgendem besteht: „von einer Hypothese des Eingriffs in die soziale Konfliktualität auszugehen um die verschiedenen Mechanismen der Herrschaft – Strukturen, Personen und Mittel – zu erforschen und anzugreifen, mit dem Ziel der Gemeinsamkeit in einem selbstorganisierten und destruktiven Weg, der den Aufstand anspornen kann“ (Cuando se señala la luna S. 140).
Ihre AnhängerInnen legen Wert darauf klarzustellen, dass es sich weder um eine Ideologie noch um eine Theorie handelt, sondern bloss um eine Methode der Organisierung oder des Eingriffs, die sich so oder so mit ihrer praktischen Anwendung auf dem Terrain der Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Da in den von uns bewohnten Gegenden ein spontaner Aufruhr der Bevölkerung eher selten vorkommt, wurde die „insurrektionelle“ Methode in den letzten Jahren zu einer anarchistischen Methode des Eingriffs in schon bestehende soziale Kämpfe, oder zum Maßstab zur Schaffung neuer mit dem Zweck des direkten Miteinbezuges auch von Menschen ohne vorgängigen politischen Weg, von anderen „Ausgebeuteten“, „Ausgeschlossenen“, „ProletarierInnen“ oder „LumpenproletarierInnen“, wie sie im kommunistisch/anarchistischen Sprachgebrauch genannt werden. Selbstverständlich wäre die Absicht des Ganzen, die Rebellion dieser Menschen zu unterstützen oder anzuregen, um gemeinsam aufständische Bewegungen anzustossen. Aber wo, wie so oft der Fall, beim grössten Teil der Menschen der Mangel an rebellischem Geist mit Händen greifbar ist, genügt der Eingriff der AnarchistInnen nicht, um dort eine Revolte anzuregen, wo der Drang danach schon von Anfang an fehlte. Ab und zu sind es dann schlussendlich gerade die AnarchistInnen, die ihre eigenen Tonlagen und Inhalte niedrig halten, um sich der Stimmungslage der Leute anzupassen.
Es geht also nicht nur darum, wie einige meinen, die spontanen aufständischen Momente nicht zu verpassen und sich an ihnen mit schon vorbereiteten spezifischen technischen Kompetenzen und den richtigen Mitteln zu beteiligen, und auch nicht darum, die individuellen und kollektiven Aktionen des Bruches (mit dem System), die andere inspirieren mögen, sofort zu vollziehen um anderen affinen Geistern die Tür offen zu halten. Die insurrektionelle Methode sieht eine langfristige Projektualität und komplexe Strukturen (die jedoch als „fluide“ beschrieben werden), und einerseits Affinitätsgruppen und andererseits Vollversammlungen, Komitees und Koordinierungen vor, im Versuch, Kampfprojekte zu schaffen, die eine anarchistische Minderheit mit anderen sozialen Kategorien vereinen können.
Die in den ‚80er Jahren getätigte theoretische Überprüfung der insurrektionellen Methode entstand aus der Ablehnung vieler AnarchistInnen der vor allem früheren formal starr und synthetisch organisierten Strukturen, die heute in einer immer marginaleren Position überleben. In unserem Land ist die Federazione Anarchica Italiana (FAI) die Bekannteste. Die zwischen den ‚70er und den ‚80iger Jahren stattgefundenen Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise, die Abschwörungen und Reuebekundungen vieler Menschen, die in den Jahren vorher am kollektiven Kampf gegen den Staat teilgenommen hatten und das Gefühl der Niederlage und Befriedung der ‚80ger Jahre analysierend, schlugen einige italienische Genossen zum Eingriff in die Realität der Kämpfe eine Modalität vor, die sich vom schalen Anarchismus der Föderationen und der Grossbuchstaben unterschied.
Als Antwort auf diese alten sklerotischen Organisationsformen schlug die insurrektionelle Herangehensweise an die Anarchie vor, die Kämpfe auf einige Grundprinzipien zu gründen: nämlich Selbstorganisierung, permanente Konfliktualität, Affinitätsgruppen und Angriff, mit dem Zweck, bessere Grundvoraussetzungen für einen Massenaufstand zu schaffen. Selbstorganisierung, Konfliktualität, Affinität und Angriff sind jedoch schon immer die Methoden einer bestimmten Art Anarchie zu leben, die am Rande der grossen Organisationen eh schon immer existierte. Es gibt zahllose historische Beispiele, wie FeindInnen der Autorität sich so organisierten um gegen die Macht zu konspirieren, unter anderem ohne die Notwendigkeit der Unterstützung des Volkes und ohne zu viele Theoretisierungen. Wenn überhaupt, dann waren es die grossen Organisationen, die mit ihrer Rigidität an einem gewissen Punkt der Geschichte eingriffen, um einen Teil dieses anarchischen Spontaneismus einzudämmen und abzuwürgen. Daher kommt die Frage auf, woher dieses Bedürfnis kommt, Seiten um Seiten mit Theorien über die Bedeutung der Affinitätsgruppen und der informellen Organisation zu füllen (übrigens oft auf sehr abstrakte Weise), wenn es in Wirklichkeit doch nichts Neues ist und es genug wäre, einige historische Kampferfahrungen der anarchistischen aber auch anderer Bewegungen erneut hervorzuholen, um auf Anhieb verständlich zu machen, was man meint, und um den Sinn des Diskurses erneut praktisch umzusetzen.
Es stimmt, dass diese Basiskonzepte von den am stärksten bürokratisierten Splittergruppen des Anarchismus missachtet wurden, indem sie gewerkschafts- und parteiähnliche stabile Bünde bildeten, die der Einzelinitiative Grenzen setzten. Wohl davon kommt in jenem besonderen historischen Kontext die Notwendigkeit einer Neudefinierung des Insurrektionalismus, um damit den Bruch mit den alten Methoden zu vollziehen und um andere Möglichkeiten der Organisierung, „informellere“ eben, zu stärken. Aber wie wir sehen werden, ist auch die insurrektionelle Methode gerade wegen ihren Zielsetzungen nicht vor der Gefahr gefeit, auf dem richtigen Wege, den es zu beschreiten gilt, Einschränkungen aufzuerlegen und Richtlinien vorzugeben.
Jenseits der zitierten und schon immer auch dem individualistischen Anarchismus eigenen Aspekte (Affinität, Selbstorganisierung, Angriff), ist für die insurrektionelle Herangehensweise der Wunsch charakteristisch, über das insurrektionelle Projekt mit der Gesellschaft zu interagieren. Da die soziale Revolution der ideale Horizont des Insurrektionalismus ist, ist eine seiner Grundvoraussetzungen denn auch die Notwendigkeit, mit den „Leuten“ zusammen zu kämpfen, bzw. mit Menschen ohne schon bestehende Affinität, was eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Gegensätzen mit sich bringt.
Wenn sich die Menschen in Zeiten einer wie heute kargen sozialen Konfliktualität ohne ein erweitertes Bewusstsein der Herrschaftsverhältnisse an einem gewissen Punkt ihres Lebens gegen irgendwas mobilisieren, tun sie es sicher nicht für grosse Ideale, sondern aus rein egoistischen und unvorhergesehenen Gründen. Menschen, die sich nie um die verschiedenen „Ungerechtigkeiten“ in ihrer Umgebung gekümmert haben, sind in einigen Fällen bereit, sich aufs Spiel zu setzen wenn diese Ungerechtigkeiten etwas treffen, was ihre Grundbedürfnisse angeht (Lohn, Wohnung, Arbeit, usw.). In der Mehrheit der Fälle sind diese Menschen nur an der spezifischen und sie betreffenden Frage interessiert, und teilen unsere Analyse der Wirklichkeit, unsere revolutionären Bestrebungen oder unsere Methoden nicht, die sie als zu extrem, kontraproduktiv oder unverständlich betrachten, als mit der Gegenseite zu wenig dialogbereit und, folglich, wenig geeignet um sofortige Resultate zu erzielen.
Diese Gegensätze werden von den AnarchistInnen, die sich mit nicht affinen Personen auf soziale Kämpfe einlassen, in der Regel auf zweierlei Weisen gehandhabt. Selbstverständlich werde ich schematisieren müssen, da die Positionen nicht immer so scharf umrissen sind, sondern es darunter auch Mittelwege geben kann.
In der ersten, meiner Meinung nach einzig akzeptablen Herangehensweise, gibt es die totale Transparenz, indem im Moment der Lancierung eines neuen Kampfes die eigenen Ansichten und Absichten mitgeteilt werden. Durch Diskussionen, Texte, Flugblätter usw. offenbaren die AnarchistInnen klar und deutlich ihre über den von ihnen aufgenommenen spezifischen Kampf hinausgehenden Analysen der Wirklichkeit und der Herrschaftsverhältnisse. Ihr Vorschlag ist klar: weder Vermittlung noch Bevollmächtigung. Das Einzige, was zu tun ist, ist der direkte Angriff auf die Verantwortlichen der Unterdrückung, mit dem Ziel der totalen Subversion dieser Sachlage. In dieser Herangehensweise sehe ich keinerlei Gegensatz. Der Wille, die Tür für eventuell neue KomplizInnen offen zu lassen, ist da, ohne sich selbst und die eigenen Ideen zu kompromittieren. Einige vergangene oder gegenwärtige Beispiele dieser Herangehensweise sind der Kampf gegen das Mega-Gefängnis von Brüssel, der Kampf gegen das Ausschaffungslager „Regina Pacis“ in Lecce und der Kampf gegen die Räumung der „Banc Expropriat“ in Barcelona. Alles Beispiele, die unter anderem im Buch „Cuando se señala la luna“ ausführlicher beschrieben werden.
Wenn diese Transparenz gepflegt wird, bleiben uns jedoch, leider, die dermassen erwünschten „unterdrückten“ Splittergruppen der Gesellschaft fern. Manchmal nähern sich uns sogar die nicht an, die von den Projekten, die man zu bekämpfen versucht, eigentlich am stärksten bedroht sind, ausser in seltenen und isolierten Fällen, und der Kampf wird dann schlussendlich von derselben anarchistischen Affinitätsgruppe weitergeführt, die ihn begonnen hat. Diese Menschen werden lieber zuhauf jenen Komitees und Vereinigungen beitreten, die klassischer demokratische und weniger radikale Methoden vorschlagen und auf legale und medienwirksame oder hochsymbolische Aktionen ausgerichtet sind.
Wenn der Kampfvorschlag nicht von den AnarchistInnen kommt, sie aber versuchen, sich in einen schon bestehenden Kampf einzufügen, kommt es bei der transparenten Herangehensweise früher oder später mit grosser Wahrscheinlichkeit bisweilen zu unlösbaren Konflikten und Divergenzen mit den anderen teilnehmenden Menschen. Die Diskussionen um dermassen voneinander entfernte Weltanschauungen oder über die Notwendigkeit, diesen oder jenen Kompromiss einzugehen, werden immer reger. In dieser Auseinandersetzung werden die mit der besseren Rhetorik siegen, oder wahrscheinlich die, die mit dem richtigen Schwung die sinnvolleren Dinge (aus der Sicht des herrschenden Gedankengutes) sagen werden. Logischerweise werden die im Lande oder Stadtteil bekannteren Personen etwas mehr Gewicht haben, auf ihre Meinungen wird man eher hören als auf die Meinungen jener, die, wie die AnarchistInnen, extremistisch denken, oder, noch schlichter gesehen, von aussen kommen oder sich schwarz kleiden. Wie aus der Sackgasse herauskommen wenn es keinen Konsens zu dem gibt, was zu tun ist? In einigen Fällen werden die AnarchistInnen versuchen, sich in Beharrlichkeit zu üben um ihre Ideen durchzusetzen und die Dinge überstrapazieren, was die Gefahr birgt, autoritär zu erscheinen, oder sie werden der Versammlung fernbleiben und sich ausserhalb derselben weiter organisieren. In anderen Fällen werden sie schlussendlich einige Kompromisse eingehen, die sie gegenüber sich selbst auf verschiedene Weisen zu rechtfertigen versuchen werden, in der Gewissheit, dass die Zeit ihnen recht geben wird. Wenn eine solche Situation sich eine gewisse Zeit lang hinzieht, wird die Frustration in einem der beiden Lager überhand nehmen und eine grosse Anzahl Menschen die Gruppe verlassen.
Da insurrektionelle AnarchistInnen auf dem Terrain erfahren haben, wie sehr diese Herangehensweise schlussendlich oft scheitern wird, haben einige insurrektionalistische AnarchistInnen in den letzten Jahren eine graduelle Herangehensweise und Verwässerung der eigenen Inhalte bevorzugt. Auf diese Herangehensweise konzentriere ich meine Kritik.
Das Ziel einiger dieser Versuche war, jenseits der spezifischen Ausgangsfrage, mit der Zeit bei den Menschen Konsens und Vertrauen aufzubauen, um ihnen „beizubringen“, anarchistische Methoden zu übernehmen (Selbstorganisierung, Ablehnung der Bevollmächtigungen usw... als könne man die Freiheit lehren) und sie graduell zu einer schärferen Konfliktualität zu treiben. Aber hier schleicht sich der Keim der Politik ein. Tatsächlich heisst Gradualismus die wirklich eigenen Ideen und Absichten anfänglich nicht kundzutun und in Erwartung besserer Zeiten, die bittere Pille einiger inakzeptabler Kompromisse zu schlucken. Das heisst oft die Mittel zu übernehmen, die der traditionellen Politik gehören: Anpreiserei, Halbwahrheiten, Populismus. Das bedeutet, das eigene Langzeitprojekt nicht offenzulegen und die Aufmerksamkeit auf partielle Forderungen zu lenken, mit denen man manchmal nicht einmal einverstanden ist, um den Konsens und das Vertrauen der Anwesenden zu gewinnen und so das wirklich eigene Ziel zu erreichen. Das heisst oft auch über jene zu richten, die nicht die dieselbe Methode anwenden, weil man dann beginnt, einige Praktiken (falls sie nicht zum Zeitpunkt und am Ort angewendet werden, die man für die Richtigen hält) als Störung der langsamen Vertrauensaufbauarbeit zu betrachten, die man im entsprechenden Kontext voranbringt.
Diese Herangehensweise, die in den letzten Jahren in verschiedenen sozialen Kämpfen, an denen die AnarchistInnen in Italien teilgenommen haben, übernommen wurde, weist viele heikle Punkte auf, die ich vertiefen will. Angefangen bei der Frage des Endzieles der Praktizierung dieser Methode, des Horizontes den man erreichen will: den Aufstand, als die höchste Motivation, die alle vorherigen Kompromisse entschuldigen sollte.
Wie sehr die gewichtigsten TheoretikerInnen des aufständischen Anarchismus auch andauernd darauf beharren, dass von einer Methode und nicht von einer Theorie die Rede ist, so ist es doch so, dass auch der Insurrektionalismus von einigen Grundvoraussetzungen, von einigen Hypothesen und mittel- und langfristigen Zielen ausgeht, also eine Theorie ist.
Das mittelfristige Ziel ist die Schaffung von Bruchmomenten und die Verbreitung einer schärferen Konfliktualität. Die spezifischen Kämpfe, auch wenn die Forderungen nicht gänzlich geteilt werden, sind für die aufständischen AnarchistInnen ein Sprungbrett für ein anderes Ziel: die Bildung eines Beziehungsnetzes, die Verbreitung der Praxis der Selbstorganisierung und der Konfliktualität gegen die Macht, die Anhebung der Konfliktebene in einer auf die Zukunft ausgerichteten Perspektive. Die insurrektionelle Methode hat mittelfristig das Ziel, ihre sichtbare Verbreitung zu erleben. „Das Wichtige an einer Methode, und der Möglichkeit, dass ihre Praktizierung sinnvoll ist, ist ihre mögliche Verallgemeinerung“ (Cuando se señala la luna).
In den insurrektionellen Analysen und Praktiken setzt man meiner Meinung nach zu sehr auf die Methode,zum Nachteil der Motivationen die zum Kampf treiben, zum Nachteil der Analysen der Wirklichkeit und deren Herrschaftsverhältnisse, zum Nachteil der uns bewegenden Spannung und Bewusstwerdung. „Was zählt, ist die Methode“ (A.M. Bonanno). Was aber ist eine Methode, wenn sie von der Motivation und den Zielen getrennt ist, die die Hände, das Herz und den Kopf zum handeln bewegen?
Viele AnarchistInnen werden von der Zentralität des insurrektionellen Projekts bewegt, an partiellen und spezifischen Kämpfen teilzunehmen um mit anderen sozialen Splittergruppen in Kontakt zu treten. Wenn das klare, exoterische und unvorhergesehene Ziel einer gewissen Mobilisierung mit diesen kleinen oder grossen Personengruppen geteilt wird, mit denen man sich organisiert (gegen Hausräumungen, den Bau einer Hochgeschwindigkeitslinie oder einer Müllverbrennungsanlage, die Neubestimmung eines Stadtteils, Entlassungen, usw.), hat es andere mittel- und langfristige Ziele, die denselben Menschen, mit denen man kämpft, unbekannt sind, aber den eigentlichen Antrieb des insurrektionellen Projektes darstellen.
Es stimmt, dass diese Kämpfe auch zu konfliktuellen Momenten führen können, aber diese bleiben kurzlebig wenn die Beteiligten keine weitergehendere und vertieftendere Kritik des Bestehenden entwickeln – wozu es oft genau kommt nicht, weil die AnarchistInnen „praktisch bleiben“ wollen und sich nicht allzuviel Sympathien verscherzen möchten. Sich mit etwelchen sporadischen „Bruchmomenten“ zufriedenstellen zu lassen, wo auch einige StadtteilbewohnerInnen oder Landsleute (eine oft minderheitliche und passive Präsenz) dabei sind, bedeutet nach Monaten oder Jahren an leeren Vollversammlungen und Kompromissen aller Art ein Spiel mit immer tieferem Einsatz zu betreiben. Das einem Zufall zu verdankende Konfliktmoment wird bald enden wenn sich zwischenzeitlich keinerlei weitere Reflektion und Bewusstwerdung im Kopf der TeilnehmerInnen entwickelt hat, und wer daran teilgenommen hat, wird, ohne allzuviele Fragen zu stellen, zum vorherigen Leben als Rädchen des Systems zurückkehren.
Übrigens ist das alles unvermeidlich, wenn der Akzent einzig auf die Methode und nicht auf die tiefsten Gründe gelegt wird, für die es sich zu kämpfen lohnt. Hier taucht ganz offensichtlich das Erbe der linken Mentalität und des historischen Materialismus in den Kämpfen mit aufständischen Bestrebungen auf, die auf der Suche nach Konsens um jeden Preis verlaufen. Die Wahl des Eingriffsbereiches bezieht sich oft auf die Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse der in den grössten Schwierigkeiten steckenden Menschen, wie etwa ihr Bedarf nach einem Dach über dem Kopf, einer Arbeit, einer Aufenthaltsbewilligung. Kämpfe, die in eher zwielichtige Positionen münden können, wenn sie nicht von einem Diskurs der ausdrücklichen Ablehnung der Arbeit, des Staates und seiner Gesetze, der Identitätskarten usw., also des Systems als Ganzes münden, was sicher nicht von allen beteiligten Menschen geteilt wird. Das scheint nicht als unüberwindliches Problem betrachtet zu werden, mit dem Ergebnis einer grundlegenden Zweideutigkeit in den Forderungen, die oft die Idee zu bestätigen oder zu bekräftigen scheinen, dass das Problem nicht so sehr der Staat, sondern eher dessen Ineffizienz in der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen sei. So endet man in der unfreiwilligen Förderung einer stärkeren Abhängigkeit vom System, anstatt für die Freiheit aller die Notwendigkeit seiner Zerstörung zu unterstützen.
Oft werden diese Kämpfe auf die Beziehung zu den Menschen ausgerichtet, die von den materiellen Privilegien der üppigen westlichen Gesellschaften ausgeschlossen sind. Das nicht so sehr, und nicht nur, weil man dieselben sozialen Probleme teilt, oder sie empathisch fühlt obwohl man sie nicht selbst erlebt, sondern weil sie auf Grund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage als potentielle revolutionäre Subjekte (oder „insurrektionelle“) betrachtet werden und man, folglich, ihr Vertrauen gewinnen will.
Darüber hinaus stellt sich in dieser Art von Kämpfen von der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse einmal abgesehen folgende Frage: wieviel Raum wird denn den Reflektionen über die Wünsche, die existentiellen Bedürfnisse, die Lust nach einem vollen und erfüllenden Leben auch auf der persönlichen und beziehungsmässigen Ebene gelassen? Fast keiner.
In der Praxis sieht diese Art sich zu organisieren kleinere Gruppen aus wenigen Menschen vor, die von einer tiefen Bekanntschaft und einem grossen Vertrauen vereint sind (Affinitätsgruppen), und grössere Gruppen, die sowohl AnarchistInnen als auch „andere Ausgebeutete“ miteinbeziehen (Basiszellen, Koordinierungen). Sie drückt sich in einer langen Reihe von mehr oder weniger breiteren Versammlungen und Treffen aus, die oft die typisch schädlichen Mechanismen der Vollversammlung reproduzieren: Leadership, Machteifer, Weitschweifigkeiten und Zeitverschwendung... Dermassen, dass man sich manchmal fragen kann, was in einer solchen Struktur an Informellem überhaupt noch übrig bleibt.
Das langzeitliche Ziel, das Exoterische, Stillschweigende, der sich vielleicht nie realisierende Traum ist der allgemeine Aufstand, der bestenfalls zur dermassen ersehnten Sozialen Revolution führen könnte. Oder, als Alternative, falls er unabhängig von unserem Willen stattfände, zur Anführung des Aufstandes mit einem zuvor ausgearbeiteten Projekt ausgerüstet zu sein – um so zu versuchen, das Rennen mit anderen politischen Gruppen zu gewinnen, die sich die Strasse (und die Macht) nehmen wollen. Die anarchistische Spannung wird so zu einer weiteren politischen Partei unter allen anderen.
„Diese Momente sind der mächtige Reflektor, der ein revolutionäres und anarchistisches Projekt umsetzbar macht, aber dieses Projekt, wenn auch nur in seinen methodologischen Linien, muss vo vorneherein bestehen, muss vorher ausgearbeitet werden und, wenn auch nicht in allen Details, soweit wie möglich erprobt werden“ (A.M. Bonanno „insurrektionalistischer Anarchismus“).
Man kämpft heute, ohne unnötige Warterei, in auch minderheitlichen Fragen mit Bezug zu den realen strategischen Knoten der Herrschaft, aber „auf eine mögliche zukünftige Verwirklichung“ ausgerichtet. „Es gibt kein Projekt ohne einen Glauben in die Zukunft“. „Der anarchistische Insurrektionalismus als Projekt und als Aktion, der sich nie vervollständigen wird, weil er sich permanent auf die Zukunft ausrichtet“ (A.M. Bonanno).
Methode und Strategie haben keine Existenzberechtigung ausser als pragmatische Hypothese zur Erreichung eines Zieles. Und das Ziel ist in diesem Falle die gute alte Soziale Revolution oder zumindest der Aufstand (der manchmal nicht als Vorbote einer möglichen Revolution betrachtet wird und die, die nicht mehr daran glauben, würden sich mit ein bisschen gesunder nihilistischer Zerstörung begnügen). Aber Aufstand von wem gegen wen? Zu welchem Zwecke? Mit welchen Motivationen? Das scheint der insurrektionalistischen Analyse nicht so wichtig zu sein. Die dem Aufstand gewidmeten Seiten sind in vielen anarchistischen Texten reine Poesie, choralische Höhenflüge der Phantasie darüber, wie jeder Moment des Aufstandes mit jeglichem etablierten sozialen Verhältnis, mit jeglicher mentalen Barriere zu brechen bedeute und die unendliche Gelegenheit zur Rache sei.
Man will hier die Freude nicht bestreiten wenn man, und sei es auch nur einen Tag lang, mit hunderten anderen Menschen Auseinandersetzungen mit der Polizei oder die Brandschatzung von Stadtfetzen erlebt und daran teilnimmt. Aber etwas anderes ist es, sich der Illusion hinzugeben, es könne zu einer sozialen Veränderung in libertärem Sinne führen. Viele der insurrektionellen Momente, die in den letzten Jahren in den westlichen Metropolen u.a. immer seltener ausgebrochen sind, haben eher als improvisiertes Ventil für sehr viele ausgeschlossene, ausgebeutete oder diskriminierte Menschen funktioniert, bevor sie nach der ersten Dosis Repression wieder völlig zum Alltag der Herrschaftsverhältnisse zurückgekehrt sind.
Andererseits kann ein Geschehnis nicht von seinen ursächlichen Motivationen abgespaltet werden, und doch ist das der Fehler, den viele AnarchistInnen machen, wenn sie den Akzent weiterhin einzig auf die Methode und nicht auf die Motivationen setzen, die zur Aktion treiben. Wie würden wir uns verhalten, wenn der Aufstand gegen die Regierung ausbrechen würde weil sie als nicht präsent genug betrachtet wird (die Grundvoraussetzung derjenigen, die z.B. das „Recht auf Wohnraum“ einfordern)? Ist das Bild von lumpenproletarischen Massen negativ oder positiv, die Elektronikgeschäfte plündern weil auch sie einen der neusten Computer oder das neueste Handy haben wollen? Und wenn wirtschaftlich benachteiligte Personengruppen zum Aufstand bewegt werden weil sie rassistisch ablehnen, Immigrierte in ihrem Territorium aufzunehmen, da sie diese als Bedrohung im Wettstreit um Arbeit betrachten? Was soll man denn zum Aufstand vor einigen Jahren gegen die Regierung in der Ukraine sagen, der wohl von einer allgemeinen sozialen Frustration, aber auch von überhaupt nicht zu teilenden pro EU Bestrebungen ausgelöst wurde, und Arm in Arm mit neonazistischen und rechtsextremistischen Gruppen verlief? Denken wir wirklich, der Aufstand habe unbedingt eine anarchistische Seele oder sei leicht in diesem Sinne zu kanalisieren?
Abgesehen von ihren Motivationen, läuft die insurrektionalistische Analyse manchmal die grosse Gefahr, einer Verherrlichung der rebellischen Geste an sich zu verfallen; vor allem einer Verherrlichung der rebellischen Geste, wenn sie von vielen Menschen gleichzeitig vollbracht wird. Doch wenn heutzutage in der westlichen Welt Aufruhr ausbricht, handelt es sich oft um die Reaktion auf eine erneute Situation von Gewalt, Diskriminierung und Missbrauch, die eine bestimmte soziale Kategorie trifft, oder um den unerfüllten Wunsch der Ausgeschlossenen nach einem Zugang zur schillernden Welt der Waren, des Geldes und des materiellen Wohlstandes, die anderen sozialen Klassen zugänglich ist. Substantiell ist es der Wunsch nach einem Miteinbezug in die verrottete kapitalistische Welt, die wir hingegen zerstören möchten.
Wie uns verschiedene historische und zeitgenössische Beispiele zeigen, können Aufstände aus völlig unterschiedlichen Motivationen ausbrechen und eine libertäre sowie reaktionäre Schubkraft haben. Jedenfalls sind es in der Regel spontane und unvorhersehbare Bewegungen, die, in Zeiten ohne etwelche soziale Gärung, nicht von einer Minderheit vom grünen Tisch aus verursacht werden. Das Projekt, sich nicht unvorbereitet überraschen zu lassen und schon klare Ideen darüber zu haben, was zu tun ist, falls und warum auch immer eine Volksbewegung im eigenen Territorium ausbricht, ist richtig und stichhaltig. Aber hier ist von etwas anderem die Rede.
Die Entscheidung, alle eigenen Energien in Kämpfe einer bestimmter Art zu investieren, die gegenüber anderen vorgezogen werden weil man denkt, sie könnten mehr Menschen mobilisieren und die besseren Chancen bieten, kurzfristig lokale Konflikte mit der Autorität und zukünftig vielleicht einen breiteren Aufstand zu verursachen, bleibt oft eine nicht diskutierte und nie in Frage gestellte Selbstverständlichkeit. Das nicht explizit genannte ideale Ziel ist, den Grossen Tag einer anerkannten Massgeblichkeit bei „den ausgebeuteten Menschen“ zu erreichen, um den Aufstand dank der Präsenz eines breiteren Kreises von miteinander bekannten Menschen, die so zur Befolgung unserer Weisungen bereit sind, anführen zu können.
Diese Annahmen setzen Entscheide voraus. In der praktisch auf einem messianischen Glauben in die Zukunft basierenden insurrektionellen Perspektive (aber ist denn wirklich wahrscheinlich, dass gerade wir eine aufständische Bewegung ins Leben rufen werden? oder dass sie genau im Stadtteil geschehen wird, wo wir jahrelang unsere Beziehungen aufgebaut haben?), fällt der Entscheid zum bestmöglichen Einsatz der eigenen Energien auf die kontinuierliche Teilnahme mit nicht affinen Menschen an einigen bestimmten Arten von Kämpfen – die, unter anderem, keinerlei Garantie bieten, die erhofften Resultaten zu erzielen – anstatt die eigenen Energien in ein individuelles Angriffsprojekt gegen die Herrschaft oder in die eigene Affinitätsgruppe zu investieren, deren Bedeutung hingegen herabgewürdigt wird:
„Das charakterisierende Element dieses Projektes ist jenseits der Worte oder der Motivationen, die es analytisch mehr oder weniger vertiefen und praktisch wirksam machen, durch die Präsenz der Ausgeschlossenen, also der Leute oder der mehr oder weniger zahlreichen Massen gegeben (…). Die Teilnahme der Massen ist also das grundlegende Element des insurrektionellen Projekts und, da Letzteres von einem Zustand der Affinität der einzelnen teilnehmenden anarchistischen Gruppen ausgeht, ist es auch das grundlegende Element dieser Affinität selbst, die armselige elitäre Kameraderie bleiben würde, falls sie sich auf die gegenseitige Suche nach einer vertiefteren persönlichen Bekanntschaft unter Genossen beschränken würde“ (A.M. Bonanno)
Jenseits von allem, wieso sollten ein oder mehrere Tage allgemeiner Auseinandersetzungen, die man (bestenfalls) nach Jahren zunehmender Mobilisierung erreicht, mehr wert sein als hunderte von direkten Aktionen, die von verschiedenen Affinitätsgruppen kapillar durchgeführt wurden? Könnten die von anarchistischen Individuen und Gruppen durchgeführten Projekte, ausser ihrem Wert an sich, nicht ebenfalls andere Menschen mit rebellischem Geist zum handeln inspirieren? Was mir keine unwahrscheinlichere Annahme zu sein scheint als zu denken, dass sich aus einem Stadtteilkampf heraus ein Aufstand entwickeln kann, der zur Anarchie führen wird.
Manchmal entsteht der Eindruck, dass viele AnarchistInnen unter einem Minderwertigkeitskomplex leiden, der sie veranlasst, den Wert einer direkten Aktion mit anderen Maßstäben einzuschätzen wenn sie von AnarchistInnen anstatt von „jedermann“ durchgeführt wird, und der zweiten Annahme ein enorm grösseres Gewicht zuzuschreiben. Dieselben konfliktuellen Praktiken, die kollektiv oder individuell schon lange und dauerhaft von sich als AnarchistInnen definierenden Leuten umgesetzt werden, scheinen einen enormen Mehrwert anzunehmen, wenn sie von der Präsenz etwelcher weiterer Individuen angereichert werden, die nicht in diesem Sinne definiert werden können. Und schon wieder verfällt man der Idealisierung der ausgebeuteten sozialen Klasse... Und wenn dann vielleicht endlich mal etwelche unerwartete KomplizInnen auftauchen, werden sie auf ein Podest erhöht anstatt sie uns als ebenbürtig zu betrachten, womit die unter rebellischen Leuten bestehende Trennung erneuert wird, die man aufheben wollte.
Ein weiteres extrem wichtiges Grundproblem der insurrektionellen Herangehensweise ist die Beziehung zu den Menschen, mit denen man anscheinend um eine Frage, die ihnen nahegeht, gemeinsam kämpft. Die insurrektionelle Methode betrachtet diese Menschen eigentlich als Handlanger eines grösseren Spieles. Aber wissen denn diese Menschen, dass sie Teil eines uns gehörenden, weiterreichenden und langzeitlichen Projektes sind? Teilen sie es? Instrumentalisiert man nicht etwa ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten? Betreibt man nicht etwa Politik und Avantgardismus, wenn man in Wirklichkeit andere Zwecke verfolgt, auch wenn man denkt, sie seien „zum Besten“ des Volkes? Stellt man sich nicht etwa über diese Menschen, wenn man sie als zu ignorant betrachtet um zu verstehen, was wirklich auf dem Spiel steht, und man sich verhält, als müsse man ihnen etwas beibringen (wie man sich selbst organisiert, wie man kämpft, was für sie besser ist)? Wir erleben hier die Spaltung zwischen Ethik und Politik, mit einer klaren Vorherrschaft des Zweiten.
Für mich heisst Anarchie leben fraglos nach der totalen Subversion dieser Welt und der Zerstörung jeglicher Herrschaftsform zu streben, ohne die utopischen Bestrebungen – die „Phantome“ – über die Wirklichkeit und meine individuelle Integrität obsiegen zu lassen. Wichtig ist mit der praktischen Umsetzung der Anarchie sofort zu beginnen, sich als Individuen anerkennen, die anderen als Individuen anerkennen, sich von den Ketten der sozialen Zwänge zu befreien, andere Beziehungen auf der Basis der Transparenz und der gleichen Augenhöhe zu schaffen, sich in die Lage zu versetzen, autonom Entscheidungen zu treffen und aufhören unsere eigenen Leben zu delegieren, den Bruch mit der eigenen Abhängigkeit vom System in Gang zu setzen, KomplizInnen zu finden und die Macht mit allen Mitteln anzugreifen... Das beinhaltet, sich selbst von der Politik, von den falschen und heuchlerischen Beziehungen, von der hinterlistigen Berechnung zu befreien und aus dem eigenen Leben ein nachhaltiges Kampfterrain zu machen, wo es keine Trennung zwischen Kampf und Leben gibt, also genau das Gegenteil einer Logik des Kampfes als Spezialisierung und Politik.
Wenn die Mittel, die wir uns geben, auch unsere Zwecke widerspiegeln sollen, dann ist die Gründung unserer Beziehungen aufs Ungesagte, auf Falschheiten und Opportunismen sicher keine gute Visitenkarte zur Illustrierung unserer Vorstellung von Anarchie. Die in einer gewissen Art des Eingriffs in soziale Kämpfe implizit vorhandene Heuchelei, die von einer nicht erklärten und daher den „Ausgebeuteten“ obskur bleibenden Absicht diktiert wird, ist in einem Übergang wie diesem offensichtlich und bestätigt auch einige der vorhergehenden Kritikpunkte:
„Andererseits, wenn wir in Massenkämpfe und Auseinandersetzungen um mittelfristige Forderungen eingreifen, machen wir das etwa nicht fast nur um unser methodologisches Erbe zu empfehlen? Dass die Arbeiter einer Fabrik Arbeit fordern und Entlassungen zu verhindern suchen, dass eine Gruppe von Obdachlosen versucht, sich eine Unterkunft geben zu lassen, dass die Gefangenen für ein besseres Leben in den Gefängnissen streiken, dass die Studenten gegen eine Schule ohne Kultur rebellieren, das alles interessiert uns bis zu einem gewissen Punkt. Wir wissen sehr wohl, dass, wenn wir an diesen Kämpfen als Anarchisten teilnehmen, das quantitative Ergebnis – abgesehen davon, wie diese Kämpfe auch enden mögen – im Sinne eines Wachstums unserer Bewegung sehr relativ ist. Die Ausgeschlossenen vergessen oft auch wer wir sind, und es gibt keinerlei Grund um sich an uns zu erinnern, und noch viel weniger einen auf Anerkennung basierenden Grund. Tatsächlich haben wir uns mehrmals gefragt, was wir, als Anarchisten und folglich Revolutionäre, inmitten dieser Forderungskämpfe zu tun haben, wir, die gegen die Arbeit, die Schule, gegen jegliche Konzession des Staates, gegen das Eigentum und gar gegen jegliche Art von Vereinbarungen sind, die in den Knästen netterweise zu einem besseren Leben führen. Die Antwort ist einfach. Wir sind dabei, weil wir Überbringer einer anderen Methode sind.“ (Alfredo M. Bonanno).
Die Massen unterschiedslos befreien zu können, ist eine vergebliche Illusion. Einige Individuen haben einen Geist, der sich nicht domestizieren lässt und leiden stärker an den Ketten, die von der Macht um ihre Glieder geschmiedet wurden. Sie sehnen sich nach Freiheit und Wildheit. Andere Individuen lieben ihre Ketten und halten es auch zum Preise der Freiheit selbst nicht aus, ohne jemanden zu leben, der sie anführt, der ihnen Sicherheit, Stabilität, Gewissheiten und Routine gewährt. Diese Menschen haben, auch wenn sie dazu fähig wären, keinen Willen zur Veränderung ihre Lage und bevorzugen die Verteidigung des Systems, das sie unterwirft, weil ihnen ein Leben in Sklaverei lieber ist als die Unwägbarkeit der Revolte. Diese Menschen werden wir im Moment der Rebellion immer gegen uns haben. Was uns aufs Spiel zu setzen treibt, ist nicht ein philanthropischer Instinkt, sondern vor allem die Lust, uns selbst von unseren eigenen Ketten zu befreien. Darum bekennen wir uns dazu, anti-sozial und nihilistisch zu sein.
Welchen Raum hat unsere Individualität in einem politischen Projekt, das, wie der Insurrektionalismus, auf Berechnung gründet? Wirklich wenig. Wir sollten unsere Individualität beiseite legen um für die allgemeinen Leuten verständlicher zu werden, denn, so wird uns gesagt, müssen die Dinge graduell gemacht werden, ansonsten würde man uns nicht verstehen. Wir müssten unsere höchsten Bestrebungen beiseite legen und uns wieder nur ums Fressen kümmern. In der Perspektive eines mit dem Rest der Gesellschaft geführten Kampfes, werden Fragen wie die technologisch-industrielle Herrschaft, die Umweltzerstörung und die Ausbeutung der Tiere üblicherweise total weggelassen. Vielleicht weil sie angesichts der wirtschaftlichen Unterdrückung und der Klassenunterdrückung als Fragen von Privilegierten betrachtet werden, oder weil sie für den als ignorant und unsensibel eingestuften Pöbel als allzu schwer verständlich eingeschätzt werden.
Als wäre unser existentielles und materielles Elend nicht auch damit verbunden, und als würde der menschliche soziale Bereich in einer Blase über dem Planeten, auf dem er angesiedelt ist, und über den Beziehungen zu anderen Lebewesen, von denen er abhängig ist, hängen. Man sagt uns, wir sollten unsere Diskurse der Trostlosigkeit der aktuellen Wirklichkeit anpassen und realistisch sein, da es die einzige Art und Weise sei, um uns verständlich zu machen. Unser wirkliches Ich, unsere wirklichen Gedanken können wir immer noch in unseren Vorstellungen ausleben, am Abend, im Halbschlaf, vor dem Einschlafen, sobald der Tag der „wahren“ Militanz vorbei ist.
Wir sollten auch auf unsere unmittelbarsten Wünsche verzichten, nämlich auf den Angriff auf das Bestehende, der vom Bedürfnis nach Befriedigung eines innerlichen Wunsches und nicht von etwelchen langfristigen politischen Berechnungen bestimmt wird. Gemäss der Theorie des diffusen Angriffs muss die direkte Aktion anonym und mit einfachen Mitteln ausgeführt werden, mit einem für alle verständlichem Ziel, und umso besser innerhalb des Kontextes eines schon laufenden sozialen Kampfes, weil sie nur so „von allen Ausgebeuteten“ (vergebliche Hoffnung) „übernommen und reproduziert werden kann“. Einige AnarchistInnen, die in Dogma verwandelt haben, was eigentlich ein Vorschlag der insurrektionalistischen Herangehensweise war um eventuell eine grössere Wirksamkeit der Aktion zu haben, sind soweit gegangen zu meinen, dass eine Aktion, die nicht in diese Parameter fällt, also als zu früh, oder als ausserhalb des Kontextes stehend durchgeführt, oder für nicht anarchistische Menschen als unverständlich betrachtet wird, sogar kontraproduktiv sei.
„Diese Angriffe müssen Ziele der alltäglichen Unterdrückung wählen, die allen offensichtlich sind und leicht verständlich sein. Daraus ergibt sich eine interessante Kritik der Bekennungsschreiben und Derartigem: wenn ein Angriff, eine Sabotage, irgend eine Aktion mit langen Bekennungen (die in der Regel die gegenteilige Wirkung haben, da sie in einer Sprache geschrieben sind, die sogar den eigenen GenossInnen unverständlich ist) erklärt werden muss, dann eindeutig weil das jeweilige Ziel nicht gut ausgewählt wurde, da eine Aktion für sich selbst sprechen sollte und das direkt (d.h. nicht mediatisiert). Dasselbe kann man von der Notwendigkeit sagen, dass der Angriff anonym sei: er gehört niemandem, sondern allen Menschen, die ihn beklatschen, teilen, selbst auch machen würden“ (Cuando se señala la luna).
Wie sinnvoll ist es, im eigenen Handeln, in der Wahl der zu treffenden Ziele, in der Zeit seiner Ausführung, in der Bedeutung, die man ihm verleiht, darauf zu achten, dass mehr Menschen uns beklatschen können? Der im zitierten Buch gebrauchte Ausdruck ist zutreffend, denn man hat den Eindruck, dass die gross herausposaunten Resultate von gewissen sozialen Kämpfen sich oft genau auf das reduzieren – nicht auf mehr Menschen, die sich langzeitig in einer konfliktuellen Praxis radikalisieren und sich in erster Person aufs Spiel setzen, sondern auf mehr Personen, die mal kurz das beklatschen, was die AnarchistInnen tun, schon immer taten und jedenfalls tun würden (und manchmal machen sie es schlechter gerade weil sie sich von der eigenen Suche nach Konsens limitieren lassen) – um dann kurz danach wieder an die Urne zu gehen und Gerichte zu bemühen. Das Bedürfnis nach sozialer Legitimation um die Macht anzugreifen ist vielleicht ein weiteres Symptom jenes Mangels an Selbstvertrauen und jenes Minderwertigkeitsgefühls, unter denen ein Teil der anarchistischen Bewegung weiter leidet. Das abzuschütteln ist höchste Zeit, um wieder anzufangen, wirklich Nadeln im Fleisch zu sein.