Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine ewge Krankheit fort!
Sie schleppen vom Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren, ist,
Von dem ist, leider! nie die Frage.
GOETHE, Faust I.
Es ist notwendig und bestimmt, dass sehr viele arbeiten wollen und nicht können, dass viele, die das Arbeiten vermöchten, das Wollen nicht mehr vermögen; dass sehr viele Keime im Mutterleib, dass sehr viele Kinder nach der Geburt getötet werden; dass sehr Viele, lange Lebensjahre im Zuchthaus oder Arbeitshaus verbringen.
Man hat Zuchthäuser und Gefängnisse bauen, man hat Schaffotte errichten müssen. Das Eigentum und das Leben, die Gesundheit, der heile Körper und die Freiheit der Geschlechtswahl sind von Verkümmerten und Verkommenen immer bedroht. Nicht oft mehr von Empörern und Frevlern, denn es gibt jetzt weniger kühne Räuber als früher; dafür unzählige Diebe, Einbrecher und Betrüger, und Gelegenheitstotschläger, die man Mörder nennt.
Priester und von der Sitte gebändigte Bürgersleute haben es aufgebracht, dass man wie von Tieren von diesen Armen spricht, die für unsere verruchte Unschuld unschuldig Schuldige sind: man nennt sie Vieh, Schwein, Bock und Tier. Ihr Menschen aber ! : seht sie, wie sie als Kinder sind; sehet nach ihnen und schauet inständig lange auf ihre Züge, wenn sie auf dem Leichenschragen liegen, und dann zutiefst in euch hinein. Schonet euch nicht, zu lange habt ihr euch geschont und zu lange eure guten Kleider, eure Haut und eure bis zur Verruchtheit zartfühlenden Herzen gewahrt! sehet auf die Armen, die Elenden, die Gesunkenen, die Verbrecher und die Huren, ihr braven Bürger, ihr eingezogenen und gehaltenen Jünglinge, ihr züchtigen Mädchen und ehrbaren Frauen ; blicket hin, auf dass Ihr erfahret; eure Unschuld ist eure Schuld; ihre Schuld ist euer Leben.
Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus.
In jeder Ortschaft von Bedeutung — und das gilt für alle zivilisierten Länder der Erde steht ein Haus, welches mit dicken, hohen Mauern umgeben und mit reihenweise angeordneten winzigen Fensterchen versehen ist, welche zwischen den massiven Eisenstäben kaum einen Strahl der Sonne durchlassen. Das Haus ist in eine grosse Zahl kleinster Räume eingeteilt, welche äusserst primitiv eingerichtet und nur so gross gehalten sind, dass der in ihnen eingeschlossene Mensch (und es werden tatsächlich Menschen hineingesperrt) nur wenige Schritte machen kann. Ausserdem befinden sich in dem Hause noch einige grössere Räume und immer eine Kirche, deren Sitzplätze jeder für sich so von Holzwänden umgeben sind, dass jeder Zuhörer wohl auf die Kanzel und das Bild Jesu Christi, nicht aber ins Angesicht seines Nachbarn sehen kann. In der Mitte findet sich zumeist ein kahler, steinerner Hof, indem jeder Pflanzenwuchs fehlt.
In diesem Hause leben Menschen. Männer oder Frauen. Sie erheben sich des Morgens auf ein Signal vom Lager, sie treten auf ein zweites Signal aus den aufgeschlossenenen Zellentüren und setzen sich auf ein drittes Signal in Bewegung. So beginnen sie den Tageslauf und so beschliessen sie ihn. Immer schweigend. Und die furchtbare Stille wird nur vom Rasseln der Schlüssel, den Befehlen der Wärter und dann und wann durch eine Ansprache dessen, der den obersten Befehl im Hause führt, oder durch die Predigt eines Pfaffen oder die Töne eines Kirchenliedes unterbrochen. Schweigend wird das Essen eingenommen, schweigend und im Gänsemarsch der «Spaziergang» im Hofe ausgeführt und schweigend die Arbeit verrichtet. So vergeht ein Tag wie der andere in derselben Gleichförmigkeit wie sie die Sträflingskleider zeigen, jahraus, jahrein.
In diesen Häusern gibt es Jünglinge, welche wissen, dass sie als grauhaarige Greise diese Mauern verlassen werden und es gibt Frauen und Männer (sie sind nie in demselben Hause), ja junge Mädchen, welche des Morgens sich vom Lager erheben und des Abends sich zur Ruhe legen mit dem sicheren Bewusstsein, dass sie in diesem Leben nie mehr allein übers Feld gehen werden, nie mehr den Sonnenuntergang betrachten, nie mehr einkaufen und einem Menschen ein Geschenk machen, nie mehr von Mensch zu Mensch freie Worte austauschen werden; dass sie dieses Haus erst als lebloser Körper verlassen werden. –
Und dies alles spielt sich ab mit der Regelmässigkeit eines Uhrwerkes, von Sommer und Winter unberührt und unberührt vom Lachen und Weinen der Menschen. Dies alles gehört als nie fehlender Bestandteil zum Wesen unserer Staaten, zum Leben unserer Städte.
Die Menschen gehen täglich an diesen Häusern vorbei ihren Geschäften nach. Und dabei erfasst sie ein tiefes Gefühl des Grauens, eine unbestimmte Angst und ein unbestimmtes, aber mächtiges Gefühl des schlechten Gewissens. Sie beschleunigen ihre Schritte und erschauern, wenn sich an einem der kleinen Fenster eine blasse Hand, ein Augenpaar zeigt, oder wenn durch die Gitterstäbe ein verdorrter Blumenstock zum Zeichen wird, dass Menschen hier drinnen wohnen, dass es Lebendiges gibt in diesem toten Hause. Und nur sehr wenige Menschen haben in ihren Herzen die Gefühle schon so sehr abgetötet, dass sie gleichmütig und ohne innere Bewegung ihren Weg fortsetzen.
Im Geiste der andern aber steigen — wenn auch nur für einen Augneblick — Fragen auf, durch die sie beängstigt werden, und deren sie sich schämen (die Menschen schämen sich häufiger ob ihrer guten als ihrer schlechten Empfindungen). «Warum gibt es diese schrecklichen Häuser? Wodurch unterscheiden sich eigentlich die Unglücklichen drinnen von mir und meinen Bekannten? Könnte ich nicht eines Tages auch von diesem entsetzlichen Schicksal getroffen werden, oder bin ich ein besserer Mensch? Was heisst das überhaupt «besserer Mensch»? Und sind es wirklich die Schlechten, welche im Zuchthaus eingesperrt und die Guten welche draussen leben? Ist das alles gut so, wie es ist?»
Diese und viele ähnliche Fragen bewegen die Vorübergehenden. Und tauchen dann wieder unter. Denn es braucht viel Anstrengung und Mut, eine Antwort auf diese Fragen zu suchen. Und die Menschen beruhigen sich damit, dass der Lehrer in der Schule und der Pfarrer auf der Kanzel und im Religionsunterricht, und alle angesehenen Leute sagen, dass es wohl traurig, aber vollkommen in Ordnung sei, und dass der Mensch solches nicht fragen dürfe. (Und es sagen dies auch viele Sozialisten, welche an den Behörden teilnehmen, um angeblich für eine bessere Welt zu kämpfen).
Und doch kann ein aufrichtiger Mensch keine Ruhe finden, weder bei der Arbeit noch nachts auf dem Lager, wenn er sich diese Fragen einmal ernstlich gestellt hat. Und die Bilder, die er gesehen und die Laute, die er gehört, verfolgen ihn; bis er eines Tages zur Erkenntnis kommt, dass der Lehrer und der Pfarrer und alle angesehenen Leute (und vielleicht ist er selbst ein Lehrer oder Pfarrer oder sonst ein angesehener Mann) nicht gut daran tun, wenn sie sagen, dass alles so sein müsse, wie es ist. Und er wird versuchen, sich die Fragen, die ihn quälen, ruhig und der Reihe nach vorzulegen, und wird versuchen die dazugehörigen Antworten zu finden, welche standhalten können vor der Stimme seines Gewissens und der Glut seines Herzens.
Diese Aufgabe haben wir uns für die folgenden Abschnitte gestellt. Wir wollen eine Antwort suchen auf die fünf Fragen:
Ist es wahr, dass diejenigen Menschen, welche Verbrechen begangen haben, durch den Aufenthalt im Zuchthaus gebessert werden können?
Ist es wahr, dass diejenigen Menschen, welche sich gegen die menschliche Gesellschaft vorgehen, eingesperrt werden von jenen, die das Wohl der Menschen vertreten. Geschieht diese Bestrafung nach den Grundsätzen der Moral?
Ist es wahr, dass Zuchthäuser notwendig und nützlich sind, oder sind sie überflüssig oder sogar schädlich?
Wenn sie überflüssig oder schädlich sind, warum gibt es sie dann?
Sollen die Zuchthäuser abgeschafft werden? Ist eine Welt ohne Zuchthaus denkbar, möglich oder wünschenswert?
Wenn wir uns im folgenden diese Fragen vorlegen und sie zu beantworten suchen, so werden wir uns weder von staatswissenschaftlichen noch von theologischen Lehrsätzen leiten lassen (denn diese Lehrsätze lassen vorurteilsloses und logisches Denken gar nicht zu. Und sie schliessen unsere Fragestellungen schon von vorneherein aus). Wir werden uns einzig und allein leiten lassen von den Regeln des logischen Denkens und von den moralischen Forderungen, die wir in uns tragen, d.h. von der Stimme unseres Gewissens.
So wollen wir die Antwort suchen auf die Fragen, welche heute zahllose Menschen (bewusst oder unbewusst) quälen, und wir hoffen, dass wir jene Fragen, die wir nicht beantworten können, ihrer Lösung näher bringen werden.
«Ist es wahr, dass diejenigen Menschen, welche Verbrechen begangen haben, durch den Aufenthalt im Zuchthaus gebessert werden können?»
Wir setzen diese Frage an den Anfäng unserer Untersuchung, weil wir glauben, dass — wenn wir dazu kommen sie zu bejahen — wir damit zugleich einräumen, dass das Zuchthaus nicht nur eine notwendige, sondern eine durchaus nützliche und erfreuliche, also zu fördernde Einrichtung sein würde.
Der kritische Leser wird hier gleich einen ersten Einwand erheben gegen diese Fragestellung überhaupt. Er wird sagen : « Ebenso mannigfaltig wie die Insassen eines Zuchthauses, ebenso mannigfaltig wie die Beweggründe, welche ihren Verbrechen zu Grunde liegen, genauso mannigfach und verschieden sind auch die Wirkungen der Strafe; es geht nicht an, die Frage so allgemein zu stellen. Dazu wäre es notwendig, jede einzelne Kategorie der Verbrecher, jeden Typ, ja jeden einzelnen Fall, auf diese Frage hin zu untersuchen.»
Dieser Einwand ist durchaus berechtigt und vernünftig. Er enthält nämlich ein erstes und wesentliches Argument für die Sinnlosigkeit der Zuchthausstrafe: Wie ist denn ein günstiger Einfluss auf Gemüt und Charakter zu erhoffen von einer Behandlung, welche jedes Eingehen auf die Persönlichkeit des Einzelnen, ihre Nöte und die Art und Weise, wie sie sich damit auseinandersetzt und auseinandersetzte, von vorneherein ausschliesst? Eine Behandlung welche nur Nummern kennt? Schon allein die Tatsache der Massenabstrafung im Zuchthaus schliesst eine Erziehung zum Guten aus. (Und Massenabstrafung bleibt es, auch wenn die Länge der Strafe eine verschiedene ist, je nach der Schwere des Vergehens. Massenabstrafung bleibt es, auch wenn einzelne Gefangene für «gutes Betragen» diese oder jene Vergünstigung und dann und wann ein freundliches Wort der Vorgesetzten oder des Direktors zu hören bekommen, Massenabstrafung bleibt es, wenn ein Direktor, der das Los der Gefangenen mildern will, und der selbst unter den Nöten der Sträflinge leidet — und auch solche gibt es — alles tut, um sie zu bekämpfen. Denn selbst ein solcher Direktor ist Sklave dieser Einrichtung).
Eines aber wird uns der kritische Leser, welcher den oben erwähnten Einwand erhoben hat, einräumen : wenn wir im Laufe unserer Untersuchung finden sollten, dass im Zuchthaus Bedingungen herrschen, welche den guten Einfluss auf die Sträflinge ausschliessen, dass dann die Frage, so allgemein wie sie gestellt wurde, mit gutem Gewissen, und, ohne dass wir uns der Oberflächlichkeit schuldig machen, beantwortet werden darf.
Aber wir sind weit entfernt davon, uns mit obigen Feststellungen zu begnügen. Denn es liegt uns ernstlich daran, der Sache auf den Grund zu gehen.
Der Verbrecher wird nach seiner Verhaftung, nach allen behördlichen Untersuchungen und nach stattgehabtem Prozess für Jahre, oft fürs ganze Leben in ein Milieu versetzt, das gegenüber der Umwelt in der er bis dahin lebte, vollkommen anders geartet ist. Ausgenommen in einer Hinsicht, welche in vielen Fällen den wichtigsten Punkt darstellt: er befindet sich wiederum in der Gesellschaft von Verbrechen. Oder aber: er gerät jetzt zum ersten Male in die Gesellschaft von Verbrechern, erblich belasteteten [sic], verkommenen [sic] und gescheiterten [sic] Menschen.
Der Versuch, den Verbrecher in ein neuartiges, dem bisherigen fremdes Milieu zu versetzen ist in vielen Fällen berechtigt, in andern Fällen verderblich. Wichtig und entscheidend ist aber vor allem die Frage, welcher Art die neue Umgebung ist, in der der Verbrecher zum sozialen, verantwortungsbewussten Menschen umerzogen werden soll.
Einem Menschen, der gewohnt war, durch Raub, Mord oder Diebstahl in der Welt durchzusetzen, soll gezeigt werden, dass das Leben höhere Werte besitzt: die Arbeit in Gemeinschaft der Mitmenschen, die gegenseitige Hilfe und der gemeinsame Genuss des Schönen. Und dass das menschliche Leben erst durch dieses ein fröhliches und harmonisches sein kann. Es gilt vor allem dem Verbrecher das zu geben, was er nicht nicht besass: die Gelegenheit zu solchem Leben.
Kann das Zuchthaus diese, unumstösslich notwendigen Bedingungen erfüllen?
Das Zuchthaus erfüllt in der Tat lückenlos alle Bedingungen, welche notwendig sind, um einen Menschen für immer jedem natürlichen, solidarischen, menschlich wertvollen Leben zu entfremden.
Es wird unsere Aufgabe sein, diese Behauptung, zu belegen.
Das Zuchthaus erfüllt lückenlos alle Bedingungen, welche notwendig sind, um einen Menschen für immer jedem natürlichen, solidarischen, menschlich wertvollen Leben zu entfremden.
Denn im Zuchthaus wird der Mensch mit Gewalt daran verhindert, ein solches Leben zu führen. Er wird mit dem Mittel der Gewalt grausam abgeschnitten von all dem, was zu einem natürlichen, solidarischen, menschlich wertvollen Leben gehört.
Dem Sträfling wird jeder Zusammenhang mit der lebendigen Natur grausam verwehrt. Durch diese Massnahme allein schon wird jeder Entwicklung zum Guten ein Hindernis entgegengesetzt. Der Zuchthausinsasse ist gezwungen auf das zu verzichten, was dem menschen der sich in seelischer Not befindet entscheidend helfen kann, sein psychisches Gleichgewicht wieder zu finden und in ein glückliches Verhältnis zu seiner Umgebung zu kommen: der Frühlingswind und der herbstliche Wald, erquickender Regen und der freie Blick auf die Berge, das wunderbare, auf den Menschen mit magischer Kraft wirkende Leben der Tiere und Pflanzen sind ihm versagt. Und das ist keine sentimentale Phrase, sondern es ist eine Wahrheit, die entsetzlich ist für alle, welche ihre Tragweite zu erkennen vermögen.
Die Sehnsucht des Menschen nach der lebendigen Natur ist so gewaltig, dass, wo sie nicht gestillt wird, der Mensch seelisch verkümmert.
Bewusst oder unbewusst leiden die Sträflinge Mangel gerade an dem, was ihnen Hilfe bringen könnte. Und unzählig sind die Mittel, welche sie versuchen um dieser Qual zu entgehen. Wer die Erinnerungen Ernst Tollers kennt, und wer seine Beschreibung gelesen hat, wie er als Zuchthäusler zusehen musste, wie immer von neuem die in seiner Zelle nistenden Schwalben von den Beamten verjagt wurden, wer Ernst Tollers «Schwalbenbuch» kennt, der weiss um diesen verzweifelten Kampf des Sträflings um sein Leben.
Im Zuchthaus einer der fortschrittlichsten Städte der Schweiz waren die Sträflinge durch Zufall in den Besitz einer jungen Katze gelangt. Dieses Tier war ihnen nicht eine willkommene Zerstreuung, eine Abwechslung, sondern ihr Lebensinhalt schlechthin, ihre Welt, der Gegenstand ihrer Sorge und ihrer ganzen Fähigkeit zu lieben und zu betreuen.
Der Direktor, ein als sehr frommer Christ bekannter, hochangesehener Mann (er ist nicht mehr im Amt) erfuhr davon und liess das Tier kurzerhand entfernen. Der Sehnsucht der Gefangenen, Solidarität, Liebe und Menschlichkeit zu üben, ist der pflichtgetrene Beamte entgegengetreten: kein Leben in einem toten Hause! und wäre es nur eine kleine Katze!
‘Vom Absurdesten, vom Unmenschlichsten, vom Unbegreiflichsten haben wir noch nicht esprochen. Wir haben noch kein Wort gesagt davon, dass im Zuchthaus der Mensch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln dem Menschen entfremdet wird.
Befehlen — Gehorchen; an Stelle von freiem Gedankenaustausch.
Befehlen — Gehorchen; statt Freundschaft und gegenseitiger Hilfe,
Befehlen — Gehorchen; statt freier Initiative des Einzelnen.
Befehlen — Gehorchen; statt menschlicher Gemeinschaft.
Befehl: Gehorchen oder bestraft werden!
Das ist das sehr einfache Rezept, nach welchem die Verbrecher in den Zuchthäusern zur Räson gebracht werden sollen. Und kein Spältchen bleibt offen für jene, die in der Verzweiflung ihrer Seele einen Weg suchen zur menschlichen Gemeinschaft, zu menschlichem Verstehen und menschlicher gegenseitiger Solidarität.
Der Mensch wird nicht zum Menschen geführt, sondern er wird vom Menschen getrennt.
Der Mann von der Frau und die Frau vom Mann. Die Mutter vom Kind und das Kind von der Mutter. Der Bruder von der Schwester und der Freund vom Freunde.
Und damit wird Im Menschen jeder Keim zum Guten erstickt. Die Geschlechtsnot führt zu Wahnsinn und Perversität [sic] (diese letztere führt dann wieder ins Zuchthaus zurück).
Die absolute Unmöglichkeit, die Triebe der Liebe, der Zärtlichkeit und der Sorge für andere zu betätigen zwingt den Verbrecher, das zu sein, was er ist und ist ihm eine Bestätigung für die Richtigkeit seines bisherigen Handelns und eine Wegleitung für die Zukunft.
«Wohl gibt es, wird man mir entgegenhalten, Verbrecher, die trotzig und ungebrochen ihre Laufbahn nach der Entlassung fortsetzen; aber warum sprecht ihr nicht von den vielen, denen das Zuchthaus Wohltat war? von denen, die ihre Schuld erkannten, die folgsam, fügsam und zerknirscht auf die ermahnenden Worte der Vorgesetzten hörten, die in Kürze verantwortungsvolle Pflichten in der Anstalt erfüllen durften? War auch ihnen das Zuchthaus vom Übel? »
Und wir sagen darauf das folgende: Jawohl, es war ihnen vom Übel. Zweierlei Wirkungen kann die Zuchthausstrafe haben auf den Menschen, je nachdem, wie er veranlagt ist : Der Mensch mit starkem Willen, und Selbstbewusstsein wird sich in sich selber verschliessen und er wird jede Demütigung und die ganze Qual seiner Haft nur in dem einen Gedanken ertragen: ich werde es heimzahlen, lasst mich nur erst einmal draussen sein. Und er wird als Berufsverbrecher immer schwerere Strafen erhalten und immer grösser wird das Entsetzen des Publikums und die Entrüstung des Staatsanwaltes... Wem aber wird je die Erkenntnis dämmern, dass es die Zuchthausstrafe war, welche ihm den Weg zur Gemeinschaft verrammelte ? Das sind die einen.
Jene aber, von schwachem Willen und voll von innerer Unsicherheit werden im Zuchthaus zu Kriechern. Sie werden innerlich vollends gebrochen und geben sich selbst auf. Sie legen dem Vorgesetzten die Hände unter die Füsse und das Ziel ihres Lebens wird darin bestehen, Gefängniswärter zu sein. Kreaturen, die dem ersten besten stärkeren Willen eines andern verfallen sind, sind sie zu jedem Verbrechen bereit ; das Fehlen jedes eigenen Grundsatzes und freien Willens macht sie unfähig zu Gliedern einer freien menschlichen Gesellschaft. Das Zuchthaus hat sie gezähmt, ihnen ihre Menschenwürde genommen. Jawohl, das Zuchthaus war auch ihnen vom Übel.
Man wird uns erwidern, dass erstens das Zusammenleben von Frauen und Männern, von Familien, kurz von Menschen in freier Gemeinschaft im Zuchthaus unmöglich und vor allem unmoralisch wäre. Und dass zweitens gerade das Alleinsein eine wohltuende Wirkung auf den Verbrecher habe, und seiner Einsicht förderlich sei.
Zum ersten. Es geht uns nicht darum, Verbesserungsvorschläge für moderne Zuchthäuser zu machen, sondern die Frage zu beantworten, ob das Zuchthaus als solches von Nutzen oder vom Übel sei. Unsere positiven Vorschläge werden weiter unten genügend zur Sprache kommen. Und was die sittliche Grundlage der Zuchthausstrafe anbetrifft, so werden wir uns veranlasst sehen, ihr ein besonderes Kapitel einzuräumen, denn darüber muss mancherlei gesagt werden. Die Verteidiger der Sittlichkeit aber sollen wissen, dass die künstliche Geschlechtsnot der Sträflinge kein anderes Resultat als sexuelle Verrohung, Perversität oder schwere seelische Störungen haben kann, all dies wesentliche Ursachen krimineller Handlungen.
Zum zweiten. Jawohl, das Alleinsein ist oft dem erschütterten und verirrten Menschen eine Wohltat. Das Alleinsein unter dem Sternenhimmel oder auf der Bergeshöhe, in seinem Heim, in das er sich verschliesst. Aber ihr nehmt ihm ja nicht nur den Umgang mit Menschen, die er liebt, sondern ihr nehmt ihm auch das Recht, allein zu sein um sich zu besinnen. Finden sich nicht Gucklöcher an den Zelltüren, sodass der Sträfling keine Minute, weder bei Tage noch bei Nacht sich den Blicken des Wärters entziehen kann? Hört er nicht Tag Nacht die Schritte der Männer, die ihm den Weg zu all dem versperren, was seinem Leben einen Wert geben könnte? Ihr wisst es, und wagte doch die Wohltat des Alleinseins zu preisen! Un wenn dies alles nicht so wäre : ist es nicht ein erzwungenes Alleinsein, vielleicht gerade in dem Moment wo der Mensch nach dem Wort eines Mitmenschen lechzt, oder sich in Not verzehrt, die er einem andern anvertrauen möchte? —
Unseren Ausführungen könnte noch manches Wesentliche beigefügt werden. Aber das Gesagte ist genug, und würde in keiner Weise geschwächt werden können, sondern durch all das Weiterhinzugefügte würde die Antwort auf unsere Frage immer deutlicher, klarer und entschiedener lauten müssen:
«Es ist nicht möglich, dass diejenigen Menschen, welche Verbrechen begangen haben durch den Aufenthalt im Zuchthaus gebessert werden können.»
Mit der Beantwortung. dieser Frage ist unsere Arbeit keineswegs abgeschlossen. Im zweiten Kapitel werden wir uns der weiteren Frage zuwenden: «Ist es wahr, dass diejenigen Menschen, welche sich gegen die menschliche Gesellschaft vergehen, eingesperrt werden von jenen‚ die das Wohl der Menschen vertreten? Geschieht diese Bestrafung nach den Grundsätzen der Moral?»
Was will, was soll, was heisset denn das Recht?
Hast du die Macht, da hast das Recht auf Erden.
Selbstsüchtig schuf der Stärkre das Gesetz,
Ein Schlächterbeil zugleich und Fangenetz
Für Schwächere zu werden.
Der Herrschaft Zauber aber ist das Geld….
v. Chamisso: «Die Giftmischerin»
Ist es wahr, dass Menschen, die sich gegen die Gesellschaft vergehen, eingesperrt werden von solchen, die das Wohl der Menschen vertreten? Geschieht diese Bestrafung nach den Grundsätzen der Moral?
Nach der von Staat, Schule und Kirche gepflegten öffentlichen Meinung erfüllt der Staat die Aufgabe, die Rechte des Menschen zu schützen, dadurch dass er gemäss den Gesetzen jene Menschen mit Gefängnis oder dem Tode bestraft, die sich an Eigentum, Freiheit, Leib und Leben ihrer Mitmenschen vergangen haben. Die Gesetze, die diese Prozeduren festlegen, betrachtet man als Ausdruck der Moral.
Der Glaube an die Sittlichkeit des Staates wird den Menschen so frühzeitig und so nachdrücklich eingeprägt, dass nur besondere Erlebnisse und besondere Veranlagung zur Kritik ihn untergraben kann. Das ist umso merkwürdiger, als die Haltlosigkeit dieser Auffassung von Vorgängen, die jeder Mensch Tag für Tag beobachten kann, bewiesen ist.
Das tägliche Leben zeigt eines klar: Es gibt keine «strafbaren» Handlungen, die der Staat nicht selber planmässig betreibt, vom Raub bis zum Mord.
Der Staatsbürger, der in materieller oder seelischer Zwangslage einen Menschen tötet, verfällt der Strafe. Ein anderer, der seine geistigen und körperlichen Eignungen systematisch darauf verwendet, den Massenmord zu organisieren, gelangt zu grossen Ehren und bedeutenden Ämtern. Ein dritter endlich, der es ablehnt, Männer und Frauen, die ihm nichts zuleide getan, zu töten, verfällt der grausamsten Strafe.
Diese Tatsachen sind allen bekannt. Warum glauben sie dennoch an die Moralität des Staates? Weil man ihnen von Kindheit an die Sinne verwirrte, indem man ihnen sagte, dass das Töten eines Menschen Mord ist, wenn es ein Mensch selbständig und im eigenen Interesse unternimmt, und bass das Töten vieler, ja möglichst vieler Menschen, nicht Mord, sondern die edelste Tat ist, wenn alle, die es tun, gleiche Kleider tragen, im gleichen Schritt gehen und es nicht selbst wollen, sondern auf Befehl des Staates tun.
Wenn ein Mensch dem andern einen Gegenstand stiehlt, verfällt er der Bestrafung durch den Staat. Den Schutz der Staatlichen Macht und das höchste Ansehen geniesst aber wer andere für sich arbeiten lässt, ihre Not ausnützend, und der Staat selbst nimmt den Menschen mit dem Mittel der Gewalt Geld weg, für Zwecke, die sie verabscheuen oder, mit denen sie nichts zu schaffen haben.
Und die Strafen, welche der Staat im Namen der Sittlichkeit verhängt, sind eben dieselben Dinge, welche er angeblich zum Verschwinden Bringen will: Freiheitsberaubung, Gewalt, Tötung.
Unter dem Vorwand, moralisch verwerfliche Handlungen zu unterdrücken, fordert der Staat für sich allein das Recht, alle diese Handlungen zu begehen; er macht das Verbrechen zum Staatsmonopol. Hochtrabende Bezeichnungen werden geprägt und eine besondere Sprache wird gesprochen und gedruckt, wenn der Staat seine Existenz auf Handlungen gründet, deren jede einzelne derselbe Staat mit Zuchthaus und mit dem Tode ahndet, wenn ein Mensch sie auf Grund seines eigenen Willens begeht.
Kein Staat der Welt hat bis heute einem sittlichen Gesetz konsequent Geltung verschafft. Die geschriebenen Gesetze sind nicht Ausdruck moralischer Grundsätze, sondern der Macht. Deshalb finden sie ihre Befolgung nie in Achtung, in Überzeugung, sondern in der Furcht.
Rechtsbewusstsein, das heisst, das Wissen um das, was richtig und das, was verwerflich ist, kann neben dem Gesetz, trotz dem Gesetz, kann trotz dem, was sich öffentlich «Recht» nennt, in den Hirnen und Herzen der Menschen bestehen. Aber die Staatsgesetze können dem nicht Ausdruck verleihen, denn sie entspringen der Macht. (so entspricht die Tatsache, dass hungernde deutsche Kinder an der Schweizergrenze von schweizerischen Beamten gejagt werden wie Verbrecher, nicht dem Rechtsempfinden der schweizerischen Bevölkerung, wohl aber dem «Recht» der schweizerischen Demokratie).
Die Beamten des Staates, welche Menschen ins Zuchthaus einschliessen, handeln also nicht nach moralischen Forderungen, sondern ihrem Vorgehen liegen einzig die Gesetze des Staates zu Grunde, und diese verfolgen auf mannigfache Art dasselbe Ziel: Schutz, Vermehrung und Behauptung der Macht des Staates. Diesem Zweck dienen auch alle Scheinbar das Individuum schützende Gesetze.
Dient nun der Staat dem Wohle der Menschen?
Die vornehmste Aufgabe jeden Staates ist die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Die bestehende Ordnung bedeutet: Soziale Ungerechtigkeit, Unfreiheit des Denkens, Bevormundung, Privileg der Bildung und vor allem, während des Krieges und während der Friedenszeit: Anwendung von Gewalt in jeder erdenklichen Form, Brutalität in der Behandlung der Kinder, Brutalität in der Erziehung der Erwachsenen, Brutalität in der Behandlung der Angehörigen anderer Staatswesen, der Fremden und Flüchtlinge. All dies betrachten wir als dem menschlichen Wohl entgegengesetzt.
Der Dieb wird von einer Macht ins Gefängnis gesetzt, die nur das Eigentums und Lebensrecht der Reichen anerkennt. Und der Mörder wird von einer Macht eingespert, weiche die Tötung von Menschen zum obersten Gesetz erhoben hat.
Nicht von Menschen, welche das wohl der Menschheit vertreten (mögen es auch viele im guten Glauben annehmen), werden die Gesetzesübertreter gefangengehalten, sondern von solchen, die den Interessen der menschlichen Gesellschaft bewusst oder unbewusst, immer aber systematisch und planmässig, entgegenarbeiten.
Und so kommt es, dass für viele Menschen die Zuchthausmauern nicht die Scheidewand zwischen guten und schlechten Menschen, Übeltätern und ehrbaren Bürgern, bedeutet, sondern die Mauer, die Unglückliche von Glücklichen trennt, Armselige, Schwache, Ungeschickte von Geschickten, Mächtigen und Starken; drinnen die Menschen der Not (nicht allein der materiellen), und über ihnen die körperlich und geistig Satten; und wie oft: drinnen die Menschen des Gewissens, der Aufrichtigkeit und der Aufopferung und über ihnen die Anbeter der Macht, die Kriecher und Charakterlosen, die Geschöpfe kalter, grausamer «Ordnung».
So betrachten Menschen die «Sittlichkeit» der Zuchthausstrafe, sofern in ihnen die Menschlichkeit nicht getötet und ihre Sinne nicht getrübt sind durch die Furcht und die lügnerische Moral die da heisst: Macht durch Gewalt – Gehorsam aus Furcht.
Ist es wahr, dass Zuchthäuser notwendig und nützlich sind, oder sind sie überflüssig oder sogar schädlich?
Unsere bisherige Arbeit erlaubt es uns, diese Fragen weitgehend zu beantworten; endgültig werden wir uns aber erst im letzten Kapitel mit der Frage der Notwendigkeit des Zuchthauses befassen können.
Wir haben erkannt, dass Zuchthäuser ihren Insassen keinen Nutzen bringen können, weil sie keine der Bedingungen erfüllen, welche notwendig sind, einen Menschen zu gegenseitiger Hilfe zu erziehen. Sie sind dadurch höchstens geeignet aus Zufallsverbrechern Gewohnheitsverbrecher zu machen. Sie garantieren gewissermassen den Verbrechernachwuchs. Und deshalb sind sie auch den draussen Lebenden nicht von Nutzen, Millionen von Zuchthäusern können die Kriminalität nicht verringern und den Menschen nicht zu einem sittlichen Zusammenleben führen. Die moderne Technik hat die vollendetsten Zuchthäuser und die raffinierteste Polizei geschaffen, und trotzdem kann kaum eine Zeit der Geschichte der heutigen gleichgestellt werden, was Vergewaltigung, Tötung, Raub, Grausamkeiten anbelangt. Die Justiz mit ihren Mitteln brutaler Gewalt ist machtlos. Allen bekannt ist es, wie die Justiz selbst, eingeschaltet in die furchtbarsten Verbrechen zum Instrument der Kriminalität wurde.
Im letzten Kapitel haben wir erkannt, woher diese Ohnmacht der Justiz stammt: Sie kennt selbst kein Mittel als Brutalität, als Dressur. Sie nimmt selbst Teil an der Gewalt und sie ist unfähig und verzichtet von vornherein darauf, einen anderen Weg einzuschlagen, tiefer zu schürfen und ihr Ohr der Wissenschaft der Psychologen und Denker zu leihen. Der Staat und seine Dienerin, die Justiz, leisten jahraus jahrein eine Sisyphusarbeit gegen die Kriminalität, welche von vornherein zur Ergebnislosigkeit verurteilt ist. Aber in der Maschine, welche diese Arbeit leistet, werden jährlich unzählige Menschen zermalmt und aufgerieben, Männer und Frauen und Kinder, Opfer dieser vom Staatsapparat getriebenen Sittlichkeitsmaschine, die da arbeitet, Tag und Nacht, ohne Sinn und Zweck.
Sisyphusarbeit ohne Sinn und ohne Zweck? Dankst du ihr nicht den Schutz deines Hauses, deines Lebens, deines Weibes und deiner Kinder? Dankst du nicht alles dieser Ordnung, welche nun einmal nicht anders erhalten werden kann als durch die Gewalt?
Beifällig nicken die körperlich und geistig Satten.
Aber die hungrig sind nach der Nahrung des Geistes und des Körpers verharren stumm. Und Stumme, Hungernde gibt es millionenfach mehr als Satte, Redende. Aber die Satten reden. Ihre Stimmen werden durch Radiosender und Druckpressen in die Welt gesandt, und bilden die «öffentliche Meinung». Das Schweigen der Hungrigen aber ist so gewaltig, das die Stimmen der Satten und der tosende Beifall, der sie begleitet, es nicht zuzudecken vermögen.
Das grosse Schweigen aber klagt an.
Eure Ordnung ist auf der Lüge erbaut. Sie schützt die Häuser derer die sie besitzen und sie schützt die Kinder und die Weiber der Satten. Sie sorgt dafür, dass der Besitzlose Stück für Stück seines Lebens dem Reichen geben muss, um Wohnung, Nahrung und Kleidung zu haben. Eure Ordnung zwingt die Kinder in die Kandarre der Schule, damit sie euch nachher umso besser als Werkzeuge dienen werden. Eure Ordnung sammelt die Kinder zum Kriegsdienst und führt sie in den Tod, im Namen der Gerechtigkeit und der Freiheit.
Eure Ordnung führt hinter der Fassade der Sittlichkeit und der Heuchelei die Frauen und Mädchen dahin, wo sie ihren Leib verkaufen, weil ihr ihnen die Menschenwürde genommen habt.
Ihr «Gebildeten»! warum führt ihr interessante Gespräche über die «Umerziehung» ganzer Völker und einzelner Menschen zu «nützlichen Gliedern der Gesellschaft», statt dass ihr euch ein einziges Mal die Frage vorlegtet, was menschliche Gesellschaft ist? Ihr mögt Viele zurückführen, zu eurer «Ordnung» mit Hilfe von Offizieren und Zuchthausstrafen, und ihr werdet Sisyphusarbeit leisten, solange ihr als «Umerzieher» eure eigene Autorität und eure staatliche Ordnung als heilig betrachtet; solange ihr nicht als Menschen dem Menschen begegnet.
Wem es gelingt, den Zauber der Staatsreligion zu durchbrechen, wer die Frage des menschlichen Zusammenlebens ehrlich prüft, ohne Ehrfurcht vor der «öffentlichen Meinung», dem muss es klar vor Augen treten: das Alte war unnütz, überflüssig, und schädlich! Und diese Erkenntnis ist es, welche neue lichte Wege weist, diese Erkenntnis erst ist es, welche nach der Trostlosigkeit der bisherigen Arbeit die Kraft verleiht, zu wirklichem Beginnen!
Wir versuchten zu sagen, was unnütz und verlogen, was schändlich und was unmenschlich ist. Wir haben damit nichts anderes ausgesprochen, als das, was wir alle im Grunde unseres Herzens wissen. Und all das, was wir wissen, legt uns mit unerbittlicher Härte die Frage vor: Was sollen wir beginnen?
Wie ohne die Erkenntnis des Unnützen, Verlogenen und Unmenschlichen alles Beginnen im Alten befangen zur Farce wird, ebenso gibt allein das begründete Wissen um den Weg, den wir einzuschlagen haben, Kraft und Berechtigung das Alte total zu verwerfen. Nur wenn wir das, was wir als unnütz, verlogen und unmenschlich erkannt haben, aus tiefsten Herzen und mit ganzer Kraft kompromisslos hassen, werden wir neues schaffen.
Ihr haltet uns für unberechtigt, eine solche Sprache zu führen. Und fragt und mit Recht: Wo steht ihr? Was wollt ihr?
Wenn es uns gelungen wäre, unsere Empfindungen und unsere Gedanken, welche wach wurden beim Anblick der Heuchelei und der Vergewaltigung in Worten zu sagen, ihr wüsstet, was wir wollen.
Auf welchem Boden stehen wir?
Haben wir festen Boden unter den Füssen? — In der Auseinandersetzung mit den Verfechtern des Glaubens an die «Sühne», welche sagen, dass eine Gewalttat durch eine zweite aufgehoben und dass menschliche Qual durch menschliche Qual aufgehoben werde; dass folglich nicht Erziehung, Schutz der Umgebung der Zweck der Strafe sei, sondern allein die Erfüllung eines heiligen Gesetzes; und die in dogmatischen Glauben ob ihrer heiligen Grundsätze zu Verteidigern des absurdetsten Wahnsinns, werden, den die Geschichte kennt, zu Verfechtern der Todesstrafe?
Haben wir festen Boden unter den Füssen, jenen andern gegenüber, die im Namen der Menschlichkeit zu uns sprechen, die der «bedingten» Verurteilung und der «Zuchthausreform » das Wort reden, und welche Menschen sind, die kein Neuanfangen kennen, weil sie nicht den Mut haben, das Menschenunwürdige von Grund auf zu hassen, und die deshalb der Heuchelei verfallen?
Und welche Worte sagen wir endlich jenen, die unsere Abscheu vor der Justiz und ihren Instrumenten teilen, sich aber an die Einrichtungen der Vergangenheit und der Gegenwart klammern, weil sie kein Besseres zu sehen vermögen und nicht im Stande sind, ein Besseres zu denken?
Lebt eine bessere Wirklichkeit in unseren Gedanken, wenn wir das Grauenhafte der Gegenwart messen und verwerfen? —
Jetzt muss ein Wort geschrieben werden, das missverstanden wird. Missverstanden von seinen glühendsten Anhängern nicht weniger als von seinen entschlossensten Feinden.
Wir stehen auf dem Boden des Sozialismus.
Damit soll gesagt sein, dass wir die Lösung dieser Frage nur in grösserem Zusammenhang denken können. Uns sind alle Reformen und Milderungen juristischer Praxis Trug und Schein. Ohne eine tiefgreifende Veränderung des menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns, ohne menschliches Zusammenleben, ist nicht nur kein Ausweg, sondern auch keine Besserung zu erhoffen.
Denn die Brutalität der Justiz findet Aufgabe, Nahrung, viele sagen «Daseinsberechtigung» in der sozialen Not der Menschen, der Apparat der Justiz ist seinerseits das Instrument zur Konservierung der sozialen Not, indem er das Denken der Menschen zur Brutalität, zur Selbstbehauptung gegenüber dem Schwächeren und zur Kriecherei vor dem Starken zwingt.
Soziale Not ist nicht wirtschaftliche Not. Die Tatsache, dass die Lebensgüter der Erde Wenigen an und dass die Meisten hungern, ist ein Teil der allgemeinen sozialen Not. Die soziale Not beherrscht die Häuser der Reichen und der Armen. Die soziale Not beherrscht das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Zwischen Frau und Mann, und von Mensch zu Mensch überhaupt. Mit sozialer Not bezeichnen wir die Tatsache, dass die Menschen der Gegenwart kein gesellschaftliches Leben besitzen, dass ihr gegenseitiges Verhältnis — wohl verborgen unter dem Firnis der Etikette und lügnerischer Sitten — bestimmt ist durch Hass, Brutalität und namenloses Leiden.
Als Sozialisten Sagen wir, dass einzig der Wille zur menschlichen Gesellschaft dem Wahnsinn der Strafjustiz ein Ende bereiten kann.
«Nachdem ihr — so sagt man uns — die Tätigkeit der Behörden und der Justiz in allen Einzelheiten als schändlich geschildert habt, drückt ihr Euch nun vor der Pflicht, eurerseits konkrete Vorschläge zu bringen durch hohle Phrasen. «Menschliche Gesellschaft» ist ein schönes Wort, das zu nichts verpflichtet, besonders, wenn mans in die Zukunft verlegt, wie ihr es tut. Ist das Eurer Weisheit letzter Schluss, dass wir den Anbruch des Paradieses zu erwarten haben, und dass dann mit aller Not auch die Zuchthäuser’ verschwinden werden — wenn das alles ist, so hättet ihr besser geschwiegen.»
Solches sagen uns die, welche im Denken der «Sozialisten» befangen sind. Und deshalb muss hier scheinbar abschweifend, tatsächlich aber den Kern unserer Frage treffend —- den Sozialisten, ein Wort vom Sozialismus gesagt werden.
Der Sozialismus wird und wurde von seinen Feinden weniger geschändet als von denen, die in seinem Namen sprechen, und ihn zum Namen politischer Fraktionen und ihres Machtkampfes gemacht haben.
Ähnlich der Kirche, welche die klaren Forderungen des Jesus von Nazareth in seinem Namen getötet, den Ausdruck und Sinn seiner Worte gefälscht hat und sein Wollen im Schosse der Kirche begrub, — haben die Sozialisten die ursprüngliche Kraft des Sozialistischen Wortes mit nationalökonomischen «Gesetzen» erwürgt und seine Werte in ferne Zukunft gebannt.
«Dermaleinst», so sagen die Priester des Sozialismus, — «wird eine Zeit anbrechen, da wird notwendig, gemäss den ehernen Gesetzten der Wirtschaftslehre, die nur wir verstehen können, die Not der Menschheit schwinden. Nur Narren und Demagogen empören sich gegen das Unangenehme unserer Zeit. Am Tage, da die sozialistische Planwirtschaft ins Leben treten wird, wird nur Friede und Freude herrschen; alsdann werden Gefängnis und Zuchthäuser, Prostitution. und alle Übel unserer Zeit nur noch in der Erinnerung leben. Heute aber, sagen sie, sind alle diese Einrichtungen notwendige Bestandteile unserer Gesellschaftsordnung. Lasset uns also Zuchthäuser bauen, als Staatsanwälte und Untersuchungsrichter, als Polizisten und Polizeidirektoren unseres Amtes walten. Dem der Tag ist noch nicht angebrochen!»
So oder ähnlich sprechen sie und — handeln darnach.
Und durch ebendas, was sie tun, und andere auffordern zu tun, sorgen sie dafür, dass der Tag, von dem sie reden nie anbrechen wird, sondern dass die verbrecherischen Institutionen der Brutalität im Namen des Sozialismus verewigt werden.
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Der Gedanke aber, dass die Menschen auf der Grundlage gegenseitiger Vereinbarung, unter Ächtung der Gewaltanwendung in jeder erdenklichen Form, leben können und der Wille, diesen Gedanken zu verwirklichen, ist älter als das Wort «Sozialismus». Und dieses Denken und Wollen wurde nicht ausgelöscht; weder durch die Schändung der Begriffe und der Worte noch durch die offenen Gegner und Unterdrücker. Aber es ist den Menschen, die diesen Willen bewahrt haben schwer gemacht, zu andern zu reden, weil die Sprache missbraucht und zur Lüge geworden ist.
Sozialismus ist für uns keine Theologie, keine nationalökonomische, juristische, pädagogische oder psychologische Lehre, welche alle Probleme des Menschlichen Lebens löst durch die Lösung eines einzigen, wie das die Marxisten glauben. Der Satz, dass der Sozialismus alle Probleme lösen werde, ist leer. Der Sozialismus wird eben dadurch und einzig dadurch seiner Verwirklichung näher gebracht, dass Menschen auf allen Lebensgebieten ihr ethisches Wollen zu verwirklichen streben. Es gibt in diesem Kampf keine «untergeordneten Sektoren», welche «später» in Angriff genommen werden können. Bestrafung und Dressur der Kinder, Prostitution, Ausbeutung des Armen durch den Reichen, der Frau durch den Mann, Patriotismus und Krieg, Massendeportationen und Strafjustiz sind Erscheinungen, deren eine durch die andere wechselseitig bedingt ist; deren jede zugleich Ursache und Wirkung, untrennbar mit der andern verbunden und deshalb niemals isoliert beseitigt werden kann.
Wir bezeichnen mit Sozialismus nichts anderes als den Willen jede Not des Menschen unmittelbar und ohne Aufschub aufzuheben. Wir glauben, dass dieser Willen nur auf der Grundlage freiwilliger Gemeinschaftlichkeit, unter Verwerfung jeglichen Machtmittels sinnvoll sein kann. Das Schicksal der Menschen hängt davon ab, wie sie sich mit den Nöten, unter denen sie leiden, auseinandersetzen.
In diesem Zusammenhang stellt sich uns die Beseitigung des Justizapparates und seiner Machtmittel als Aufgabe, als Ausdruck und Teil des ethischen Wollens, das wir Sozialismus nennen.
«Können denn aber die Menschen leben ohne die Einrichtungen, die wegzuräumen ihr euch entschlossen habt? Wird die Menschheit nicht zu Grunde gehen, wenn nicht Gefängnisse und Schergen, Galgen und die Würde der Herren vom Gericht ihre gegenseitigen Beziehungen ordnen und das öffentliche Leben beherrschen? Ist euer Traum einer besseren Welt nicht ein gefährliches: Phantom, das uns ins Chaos führt, weil ihr nicht real zu denken vermögt? «So sagen uns viele, die sich «Realisten » nennen und die die Wirklichkeit nicht sehen. «Realisten» nennen sich alle Menschen, welche die Realität der Gegenwart fälschen, damit alles bleibe wie es ist, Menschen, die keine Zukunft kennen. «Realisten» glauben an die tollsten Wunder: so z.B. dass geschickte Diplomatie dauerhaften Frieden schaffen könne; dass es Armeen gäbe, die «nur zur Verteidigung und deshalb im Dienste des Friedens» operierten und dergleichen Unsinn mehr. Sie glauben auch, dass ein Mensch dadurch zum sozialen Wesen gemacht werden könne, dass er vom Zusammenleben mit andern getrennt eingesperrt werde. Das glauben sie. Die Wirklichkeit aber sehen sie nicht.
Wirklichkeit ist aber, dass die Folter des Justizapparates deshalb besteht, weil es kein soziales Zusammenleben von Menschen gibt, und wenn es irgendwo im Keim zu erstehen scheint, von der Staatsjustiz ausgerottet wird.
Wenn die Menschen es zustande bringen, ihr gemeinsames Leben so zu ordnen, dass die Lebensbedürfnisse jedes Einzelnen befriedigt werden können, So werden keine Verbrechen mehr begangen aus wirtschaftlicher Not. Die Züchtung der Brutalität durch den Terror der Staatsmaschine wird ein Ende haben. Aber es wird auch dann noch Menschen geben, die aus einer bestimmten psychischen Verfassung sich gegen Leben und Lebensrecht anderer Menschen vergehen werden. Diese Menschen gehören nicht in die Hände von Leuten‚ welche Gesetze auswendig gelernt haben, sondern in die Behandlung von Ärzten [sic], welche sich ernsthaft mit dem Seelenleben des Menschen befassen.
Entscheidend aber wird sein, das öffentliche Leben nach sozialen Grundsätzen regeln damit einzelne abnorm veranlagte Menschen nie anderen gefährlich werden können.
Mitleid wird das Gefühl sein, das dem Verbrecher entgegengebracht werden wird und Hilfe an die Stelle der Strafe treten.
Es gab eine Zeit, da wurden geisteskranke Menschen zu Tode gefoltert. Das Treiben der heutigen Strafjustiz erscheint uns nicht weniger sinnlos und grauenvoll.
Wozu ausmalen, was jedem Menschen die Vernunft sagt?
Ist es nicht notwendiger als letztes noch ein Wort darüber zu sagen, was wir tun können in einer Gegenwart, in der nichts zu entscheiden scheint als Gummiknüppel und Atombombe?
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Lasst uns vor allem aufhören zu lügen!
Lasst uns die innere Freiheit gewinnen, auf die Stimme unseres Gewissens zu hören und gemäss unserer Vernunft zu denken.
Dann werden wir aufhören, das Gespenst der öffentlichen Meinung anzubeten.
Wir wollen unsere Kräfte aufbieten, der Empörung unserer Herzen Ausdruck zu geben. Das bedeutet nichts geringeres, als dass wir den Bann, der auf allen liegt durchbrechen wollen, den Bann des Patriotismus, der «Frömmigkeit», der Disziplin. «Im Anfang war das Wort». Am Anfang jedes wirklichen Handelns steht der oft zitierte, selten verstandene freie Gedanke und der Mut, der Regung des eigenen Herzens Ausdruck zu geben. —
Scheinbar steht uns die Öffentlichkeit als erdrückende Macht gegenüber, wenn wir Mit-Leid zeigen, wo Härte verlangt wird; wenn Empörung uns erfasst im Begeisterungstaumel der anderen; wenn wir weinen, wo offiziell gelacht wird und lachen, wenn offiziell geweint wird. Aber wir werden die Entdeckung machen, dass viele in ihrem Innerm mit uns lachen und weinen und dass unsere Worte vielen auf dem Herzen gebrannt haben. –
Das ist der erste Schritt, den wir zugehen haben, wenn wir aufhören wollen, Werkzeuge des öffentlichen Verbrechens zu sein.
Wir wollen aufhören unsere Kinder zu vergiften.
Wir werden ihnen nicht mehr die Angst vor mächtigen Menschen und die Ehrfurcht vor Uniformen, nicht mehr die Verachtung anderer Völker und Sprachen beibringen. Wir werden ihnen nicht mehr sagen, dass durch die Bestrafung von Bösewichtern die Polizei die Gerechtigkeit auf Erden schützt. Sondern wir werden sie lehren, nach dem eigenen wissen zu leben, und dass Gerechtigkeit nur in der gegenseitigen Hilfe besteht. Dass Gewaltausübung das schrecklichste und überflüssigste ist, vor allem wenn es Männer in Uniformen tun.
Immer wieder werden wir sie lehren, furchtlos zu sein gegen alle, die ihr Mit-Leid verachten.
Was den Kindern, sagen wir auch den Erwachsenen. Und wir wollen unser Handeln nach dem Gedachten und Gesagten richten. Wir werden aufhören, unsere Beziehung zu den Mitmenschen durch bewaffnete Männer in Uniform regeln zu lassen und durch Almosen gewährende, das menschliche Selbstbewusstsein tötende Behörden.
Dafür aber werden wir alle unsere Kräfte für gegenseitige Hilfe aufbieten. Jeder wird dabei eigene Gedanken und Pläne zur Verwirklichung bringen, denn die staatliche Gesellschaftsorganisation ist unfähig zur Verwirklichung solidarischer Hilfe. «Es besteht eine gewisse Ordnung in unserer Gesellschaft, nicht etwa weil man diejenigen, welche sie stören, bestraft, sondern weil die Menschen sich trotz des schlechten Einflusses, den die Strafe auf sie ausübt, gegenseitig lieben und Mitleid haben miteinander» so schrieb L. Tolstoj in seinen Aufzeichnungen,
In «fortschrittlichen» Kreisen wird gerne und oft die Tage der «Reform der Strafjustiz» diskutiert. Beginnend mit den schärfsten Anklagen und offener Darlegung der geltenden Sinnwidrigkeiten pflegen sich solche Aussprachen im Kreise zu drehen und in Resignation oder den üblichen, nichtssagenden Reformvorschlägen zu versanden. Basis solcher Versuche bleibt gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst der Glaube an eine Gerechtigkeit durch die Strafe, ihr Grundstein die Jurisprudenz. Der Widerspruch zwischen edlem Wollen und dem Verhaftetbleiben im alten Wahn ist deshalb unlösbar, weil die öffentliche Strafe ihre einzige Wurzel im Sinnlos-brutalen Rachegefühl hat. Sämtliche Darlegungen ihrer Nützlichkeit, ihres moralischen und erzieherischen Wertes und was immer im Lauf der Jahrhunderte und vor allem in aufgeklärten und «fortschrittlichen» Zeiten geschrieben wurde, um das Unsinnige vernünftig erscheinen zu lassen — dieses kunstvolle Gebäude juristischer und theologischer Gelehrsamkeit zerfällt zu Staub vor dem fragenden Blick eines Kindes, vor dem Wort eines Menschen, dass die Vergewaltigung eines Menschen durch die Wiederholung des Furchtbaren nicht getilgt, sondern fortgepflanzt wird.
Hier und nur hier kann der schlimme Kreis durchbrochen werden, durch die Erkenntnis, dass die Mutter der Ordnung allein die Freiheit ist, weil nur in der Freiheit der Mensch Mensch sein kann.
Man möge die Fenster der Gefängnisse grösser machen, und die Gefangenen häufiger an die frische Luft führen, man möge die Gerichtsurteile mildern und «bedingte Strafen» aussprechen, man möge all das, was heute in aller Munde ist, tun — aber man denke daran, dass man damit das Verbrechen der Justiz nicht verkleinert hat.
Man spricht bereits davon, die Zuchthäuser allmählich abzubauen, wenn Gewähr gegeben sei für eine «bessere Lösung». Tränenden Auges vernichten die Staatsanwälte menschliches Leben und beteuern ihr innigstes Verständnis für alle Vorschläge zum Besseren. Und sie waschen ihre blutigen Hände in — Unschuld.
Aber wir sehen in ihren Handlungen und Instrumenten nicht das «Kleinere Übel», dessen wir froh sein können, bis wirs durch ein noch kleineres ersetzen können, sondern schlechthin die Verkörperung der Brutalität. Die Verkörperung des Wahnes, dass Menschen durch körperlichen Zwang zu dem getrieben werden sollen, was andere für gut und recht halten, die Verkörperung des Wahnes, der zur Vernichtung ganzer Völker im Krieg und im «Frieden» geführt hat. Nichts anderes. —
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Ich glaube, dass ein gewissenhafter und aufrichtiger Mensch nach allem, was wir gesagt haben, keine andere Antwort geben kann auf die Frage, was nun zu geschehen habe, als diese: dass alles unternommen werden muss, um alle Zuchthäuser auf der ganzen Erde abzubrechen und ihren Insassen die Freiheit zu geben.
Im Jahre 1917 wurden — im Verlaufe der grossen russischen Revolution in den sibirischen Städten Nertschinsk und Tschita sämtliche Gefängnisse in die Luft gesprengt und den Gefangenen die Freiheit gegeben. Es geschah dies auf Veranlassung von Maria Spiridonowa [1].
Der Protest, welcher sich erhebt, wenn dieser Gedanke laut geworden, pflegt sehr laut und misstönend, aber arm an Gedanken zu sein, denn er ist vor allem der Ausdruck der Angst, der Angst vor dem Ungewohnten. An das Schrecklichste haben sich viele gewöhnt — Sie fürchten es zu verlieren.
Was auch immer geschehen mag, wenn die Strafanstalten, die Besserungsanstalten, die Korrektionshäuser, die Jugendstrafanstalten, die Untersuchungsgefängnisse, welche die Länder bedecken — wenn alle diese Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden sind — was dann auch immer geschehen möge, es wird nicht schrecklicher sein, als was sich hinter diesen Mauern abspielt und was sich im Schutze dieser Mauern in der Welt abspielen konnte. Aber es werden Wege gangbar werden. Und es werden Wege begangen werden, Wege der Hilfe in Freiheit.
Der Mut, solches zu denken, fehlt. Es auszusprechen heisst geächtet sein. Schule, Kirche, Militär und Presse haben die Menschen so weit gebracht, dass sie — wohl die Wahrheit erkennend — sich ihrer schämen. Wenn sie den Mut finden werden, aus ihren Herzen keine Mördergrube mehr zu machen, wenn Frauen und Männer das Gefühl des Mit-Leids nicht mehr als hochverräterisch unterdrücken, dann werden die tönernen Füsse des grossen Polizisten, vor dem sie in Furcht und Schauern knien, in Staub zerfallen.
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Im obigen Artikel wurde bewusst auf eine Ausarbeitung im einzelnen verzichtet, weil es dem Verfasser Hauptsache scheint, die Rolle der Strafjustiz grundsätzlich zu brandmarken. Eine Auseinandersetzung mit zahlreichen, von verschiedenen Geistesrichtungen herkommenden Einwänden hätte die Skizzierung des Grundgedankens in den Hintergrund treten lassen müssen. Sie wird sich vielleicht in der Diskussion ergeben.
Beiträge und Entgegnungen werden im F.S. zum Abdruck gelangen.
[1] Maria Spiridonowa, bekannte russische Spezialrevolutionärin, wurde 1906 nach einem auf den russischen General Luschenowski verübten Attentat als 18jährige nach schwersten Misshandlungen zum Tode verurteilt, unter dem Drucke der Agitation in Russland und im Auslande zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Während ihrer Gefangenschaft bildete die Schwerkranke das moralische Zentrum der eingekerkerten Kameraden. 1917 durch die Revolution befreit, wurde ihr die Führung der linken Fraktion der Sozialrevolutionäre übertragen. Kampf gegen Krieg und Kerenski-Regierung. Die Oktoberrevolution stellte sie an die Spitze der Bauernbewegung. Ihre Kraft steht im Dienste der Sozialisierung des Bodens. Von 1918 an den schärfsten Verfolgungen durch das bolschewistische Regime ausgesetzt, mit kurzen Unterbrechungen in Gefängnissen inhaftiert und in der Verbannung in Sibirien. 1921 vergeblicher Versuch der ausländischen Delegierten am III. Gewerkschaftskongress in Moskau. 1922 ebenso erfolglose Intervention des Roten Kreuzes für die Schwerkranke.