Titel: Zum Thema »Revisionismus«
Datum: 1931
Quelle: Entnommen aus: Errico Malatesta „Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften (1892–1931)“, Klassiker der Sozialrevolte Band: 23, Unrast Verlag 2014
Bemerkungen: Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel »L’Adunata de Refrattari«, in: L’Adunata de Refrattari (New York), Nummer 28 (1. August 1931). Die deutsche Übersetzung stammt von Elke Wehr und ist entnommen aus: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 94–98.

[…] [1]

Ich möchte etwas zu den Gründen sagen, aus denen sich einige Genossen, die sicherlich von aufrichtigen Gefühlen und dem brennenden Wunsch nach dem Sieg der Anarchie erfüllt sind, veranlasst sehen, die Grundlagen des Anarchismus erneut zur Diskussion zu stellen.

Ähnliche Erscheinungen treten in sämtlichen Parteien nach einer Niederlage auf, und es wäre nichts Merkwürdiges daran, wenn das Gleiche in unserer Mitte geschehen würde. In unserem Fall scheint mir jedoch diese mühsame Suche nach neuen Wegen nicht so sehr eine Folge neuer, kühnerer und richtigerer Vorstellungen als das Ergebnis beharrlich anhaltender alter Illusionen zu sein, die diese Genossen trotz der langen Erfahrung immer noch sofort verwirklichen zu können glauben, so wie man in den Anfängen der Bewegung glaubte.

Es sind nun mehr als sechzig Jahre her, dass wir dachten, Anarchie und Kommunismus könnten als direkte, unmittelbare Folge aus einer siegreichen Insurrektion hervorgehen. Es geht nicht darum, so sagten wir, eines Tages zur Anarchie und zum Kommunismus zu gelangen, sondern die soziale Revolution mit der Anarchie und dem Kommunismus zu beginnen. Am Abend desselben Tages, so wiederholten wir in unseren Manifesten, an dem die Regierungskräfte geschlagen sein werden, muss ein jeder in vollem Umfang seine wesentlichen Bedürfnisse befriedigen können und unverzüglich die Wohltaten der Revolution zu spüren bekommen.

Es war im Großen und Ganzen die Vorstellung, die sich Kropotkin etwas später zu eigen machte und verbreitete und die dann praktisch als endgültiges Programm des Anarchismus festgeschrieben wurde. [2]

Unser Vertrauen und unser allzu jugendlicher Übermut hatten ihren Ursprung in einigen Irrtümern.

Zunächst einmal glaubten wir, da wir uns wie die meisten Menschen von den vollen Kornspeichern und von unverkauften Waren überquellenden Geschäften täuschen ließen, dass alles zum Leben Notwendige im Überfluss vorhanden sei und man nur die Hand auszustrecken brauche, um alles Nötige zu finden.

Auf der anderen Seite waren wir auch davon überzeugt, dass das Volk in seinem sehnlichen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit auch die Fähigkeit besäße, sich spontan zu organisieren und selbst für seine eigenen Interessen zu sorgen.

Unserer Meinung nach genügte es, die materiellen Hindernisse zu beseitigen, das heißt der bewaffneten Gewalt, die die Besitzenden verteidigt, eine Niederlage zu bereiten, woraufhin sich alles andere von selbst regeln würde.

Und so bemühten wir uns vor allem, unser Ideal zu vervollkommnen, wobei wir uns der Illusion hingaben, dass die Masse uns folge, ja dass wir nur die Ausführenden der verborgensten Instinkte eben dieser Masse seien.

Wir waren nur wenige, doch wir hatten unbegrenztes Vertrauen in die Wirksamkeit der Propaganda. Unsere Überlegungen waren von größter Naivität: wenn, so dachten wir, aus zehn durch Propaganda in einem Monat zwanzig geworden sind, werden wir jetzt, wo wir zwanzig sind, in einem weiteren Monat vierzig sein, dann achtzig usw. Durch die Verdoppelung unserer Zahl von Monat zu Monat hätten wir sehr bald die nötige Stärke gehabt, um die Revolution zu machen.

Die unverzügliche Organisation der Berufsstände und der Geist der Solidarität unter den für die Befreiung kämpfenden Unterdrückten würden unserer Meinung nach alle schwierigen Probleme lösen. Die Internationale Arbeiterassoziation, die damals gerade auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung war, schien schon bereit, ihre Organisation an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft zu setzen.

Angesichts dieser Vorstellung ist es klar, dass wir glauben mussten, dass die Anarchie unmittelbar bevorstehe, dass sie spontan, durch den Willen und die Fähigkeit der gesamten Bevölkerung oder zumindest des bewussten und aktiven Teils der Bevölkerung entstehen würde, sobald diese von der rohen Gewalt befreit wäre, die sie in Unterwerfung hielt.

Doch im Laufe der Zeit zeigten uns Studium und mehr noch die harten Erfahrungen, dass viele unserer Überzeugungen nur Ergebnis unserer Wünsche und Hoffnungen waren und den wirklichen Tatsachen nicht gerecht wurden.

In der Tat stellten wir fest, dass die verfügbaren Produkte aufgrund des kapitalistischen Produktionssystems normalerweise unzureichend waren und zudem derart ungleich unter den verschiedenen ländlichen und städtischen Gebieten und Ortschaften verteilt, dass eine auch nur kurzfristige Desorganisation der Transporte und Tauschprozesse in den am meisten bevölkerten Zentren zu Mangelzuständen und Hunger geführt hätte.

Und schließlich mussten wir – was noch schlimmer war – feststellen, dass die Masse nicht die Tugenden hatte, die wir ihr zuschrieben. Sie war zu einem Teil – in einigen Gegenden war es die große Mehrheit – durch Elend und Religion abgestumpft und so in den Händen der Unterdrücker zu einem blinden und unbewussten Werkzeug gegen sich selbst und gegen alle, die sich gegen die Unterdrückung auflehnten, geworden. Und der andere, fortgeschrittenere Teil, der günstigere Verhältnisse für sich beanspruchen konnte und am ehesten unserer Propaganda zugänglich war, besaß im allgemeinen weder geistige Unabhängigkeit noch hatte er den brennenden Wunsch nach Freiheit: gewöhnt zu gehorchen, wollte er selbst noch bei seinen revolutionären Bestrebungen und Anstrengungen geführt, gelenkt, kommandiert werden; unfähig, die Initiative zu ergreifen, zog dieser Teil der Bevölkerung es vor, darauf zu warten, dass die Führer sagten, was zu tun sei, anstatt sich der Mühe und der Gefahr auszusetzen, frei zu denken und zu handeln und rührte sich nicht oder war verwirrt, wenn die Führer träge, unfällig oder Verräter waren.

Gewiss gab es in der Masse auch solche, die fähig waren, gute Anarchisten zu werden und Aufgabe der Propaganda war es, diese ausfindig zu machen und heranzubilden. Doch leider hatte die Propaganda nicht die mächtige Kraft, wie wir es im Rausch der ersten raschen Erfolge geglaubt hatten. Die Tatsachen bewiesen uns, dass in einer bestimmten ökonomischen, politischen und sittlich-moralischen Umwelt eine gewisse Anzahl durch besondere Bedingungen vorherbestimmter Personen überzeugt werden konnte, doch dann wurde es immer schwieriger und schließlich fast unmöglich, neue Anhänger zu gewinnen, bis irgendwelche ökonomischen und politischen Ereignisse neue Möglichkeiten schufen. An einem gewissen Punkt angelangt, war ein zahlenmäßiges Wachstum nicht mehr möglich, ohne das Programm abzuschwächen und zu verfälschen, wie es bei den demokratischen Sozialisten geschah, denen es gelang, beeindruckende Massen um sich zu sammeln, wofür sie jedoch aufhören mussten, wirkliche Sozialisten zu sein.

***

Was war angesichts dieser Situation zu tun? Sollte man den Kampf aufgeben, skeptisch und gleichgültig werden oder auf die Anarchie verzichten und einer autoritären Partei beitreten?

Einige taten dies [3], doch die meisten von uns, jene, die das »heilige Feuer« [4] in sich hatten, waren mehr als je zuvor von der erhabenen Größe der Aufgaben beseelt, die die Anarchisten sich gestellt hatten. Sie waren weiterhin davon überzeugt, dass das Streben nach völliger Freiheit (das man als den Geist des Anarchismus bezeichnen könnte) stets die Ursache jedes individuellen und gesellschaftlichen Fortschritts gewesen ist, dass dagegen alle politischen und ökonomischen Privilegien (die nur verschiedene Aspekte der gleichen Unterdrückung sind) die Menschheit in die finsterste Barbarei zurücktreiben, wenn sie nicht in einem mehr oder weniger bewussten Anarchismus ein entsprechendes Hindernis finden. Sie begriffen, dass die Anarchie nur schrittweise kommen konnte, in dem Maße, wie die Masse imstande ist, sie zu begreifen und zu wünschen, dass sie jedoch nie kommen würde, wenn der Anstoß durch eine mehr oder weniger bewusst anarchistische Minderheit fehlen würde, die durch ihre Taten die nötigen gesellschaftlichen Bedingungen vorbereitet.

Dem Anarchismus treu bleiben, unter allen Umständen als Anarchisten handeln, blieb die von uns frei gewählte und übernommene Pflicht.

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Ich habe weiter oben gesagt, dass meiner Meinung nach die sogenannten Revisionisten, noch unter dem Einfluss bestimmter Fehleinschätzungen des anfänglichen Anarchismus, die Illusion haben, Kommunismus und Anarchie mit einem Schlage verwirklichen zu können. Aber da auch sie begreifen, dass die Masse noch nicht bereit ist, verfallen sie in den absurden Irrtum, sie mit autoritären Methoden vorbereiten zu wollen. Sie drücken sich zwar nicht sehr deutlich aus – womöglich sind sie sich selbst nicht genau im Klaren -, aber mir scheint folgendes klar zu sein:

sie wollen den Kommunismus verwirklichen, indem sie die Freiheit auf später verschieben und das Volk mittels Gewaltherrschaft zur Freiheit erziehen.

Mir scheint – und ich glaube, dass dies nunmehr die Meinung nahezu aller Anarchisten ist -, dass die Revolution nicht mit dem Kommunismus beginnen kann oder dieser wäre, wie in Russland, ein Kommunismus nach Art einer Kaserne und eines Gefängnisses, schlimmer noch als selbst der Kapitalismus. Die Revolution muss sofort das verwirklichen, was ihr möglich ist: für den Anfang würde es genügen, wenn man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die politische Autorität und die ökonomischen Privilegien angreift, die Armee und sämtliche Polizeitruppen auflöst, die ganze Bevölkerung bewaffnet, zum Vorteil aller die Nahrungsmittel beschlagnahmt, die Fortdauer der Versorgung sicherstellt und die Masse, ganz besonders die Masse, dazu bringt, zu handeln, ohne auf Befehle von oben zu warten. Auch darf nur das zerstört werden, was durch etwas Besseres ersetzt werden kann. Dann erst wird man zur Organisation des freiwilligen Kommunismus oder anderer, wahrscheinlich unterschiedlicher und vielfältiger Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens schreiten können, denen die Arbeiter dann aufgrund ihrer Erfahrung den Vorzug geben werden.

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Wollten die Anarchisten allein als Regierung auftreten (wozu sie im Übrigen nicht die erforderliche Stärke hätten) oder, schlimmer noch, sich autoritären Parteien anschließen, um Zwangsgesetze und -vorschriften zu diktieren, täten sie nichts anderes, als Verrat an sich selbst und an der Revolution zu begehen. Und damit würden sie, ob sie nun wollen oder nicht, dazu beitragen, dem Volk die Errungenschaften zu entreißen, die es in der Zeit der Insurrektion erkämpft haben würde, anstatt mit Propaganda und beispielhaftem Verhalten die Entwicklung zur Anarchie voranzutreiben; kurz, sie würden genau das tun, was stets sämtliche Regierungen getan haben.

 

[1] Ohne dies kenntlich zu machen, fehlt in der Kramer-Ausgabe der erste Teil des Artikels, in dem sich Malatesta mit einer Kritik des Anarchisten Pardaillan (d.i. R Tavani) an seinen Positionen auseinandersetzt. Der komplette Artikel findet sich, in englischer Übersetzung, in: Davide Turcato (Hg.): The Method of Freedom. Oakland: AK Press, 2014: 523–530.

[2] Siehe hierzu Kropotkins einflussreiche Grundlagentexte: die Textsammlung Worte eines Rebellen (1885) und das Buch Die Eroberung des Brotes (1892).

[3] Als Beispiele von Anarchisten, mit denen Malatesta zur Zeit der Ersten Internationale zu tun hatte, und die sich dann vom Anarchismus abwandten, können genannt werden: Paul Brousse (1844–1912), Jules Guesde (1845–1922) oder – für Malatesta und die italienische anarchistische Bewegung besonders verheerend – Andrea Costa (1851- 1910). Zu Letzterem schrieb Malatesta an seinem Lebensende, als er die Frühzeit der anarchistischen Bewegung Italiens Revue passieren ließ: »Das Bestehen einer anderen sozialistischen Partei [i.S. von Gruppierung, Anm. P.K.] mit von der italienischen Internationale abweichenden Tendenzen wäre kein großes Unglück gewesen, ja hätte sogar von Vorteil sein können, denn es hätte dem Sozialismus viele Anhänger zugeführt, die zwar die Notwendigkeit einer radikalen gesellschaftlichen Neugestaltung erkannten, jedoch aus Veranlagung und Überzeugung keine Revolutionäre sein konnten und niemals zu uns gekommen wären. Das Unglück war jedoch, daß diejenigen, die in Italien eine neue Richtung begründeten (...) gerade aus unseren eigenen Reihen kamen. Einige der einflußreichsten und beliebtesten Mitglieder der Internationale (ich kann nicht umhin, den Namen Andrea Costas zu nennen) bevorzugten, beeindruckt von den scheinbaren Erfolgen des Sozialismus in Deutschland [der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Anm. P.K.], überdrüssig eines Kampfes, der ohne unmittelbare Ergebnisse war oder zu sein schien und vielleicht der Verfolgungen müde, die nunmehr sehr viel heftiger geworden waren, gegen ihre frühere Genossen und gegen ihre ganze Vergangenheit jetzt eine Taktik [den Parlamentarismus, Anm. P.K.], die relative Ruhe und rasche persönliche Sicherheit versprach.« (Vorwort zu >Bakunin und die Internationale in Italien von Max Nettlau< (1928), in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 17–32. Hier: S.30).

[4] Die Rede vom »heiligen Feuer« ist erkennbar der Sprache Bakunins entlehnt, der immer wieder diesen und ähnliche Ausdrücke verwandte: »Und nicht nur in Frankreich, Genossen, ist die Bourgeoisie verfault, moralisch und geistig vernichtet, sie ist dies überall in Europa, und in allen Ländern Europas hat nur das Proletariat das heilige Feuer bewahrt. Nur das Proletariat hält heute die Fahne der Menschheit hoch.« (Michael Bakunin: Drei Vorträge vor den Arbeitern des Tals von St.Imier im Schweizer Jura, Mai 1871 (1871), in: ders.: Gesammelte Werke. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1975: 236–266. Hier: S.265) Auf Bakunin kommt Malatesta in diesem Zusammenhang an anderer Stelle direkt zu sprechen: »[V]or allem dies war Bakunins großes Verdienst: den Glauben, das Fieber der Aktion und des Opfermuts all jenen zu verleihen, die das Glück hatten, in seine Nähe zu kommen. Er selbst pflegte zu sagen, daß man den Teufel im Leib haben müsse (le diable au corps), und er hatte ihn wirklich, im Leib und in der Seele, den rebellischen Satan der Mythologie, der keine Götter kennt und keine Herren und niemals im Kampf gegen alles, was Denken und Handeln hemmt, innehält.« (Michail Bakunin (1926), in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 49–51. Hier: S.50)