Titel: Kommunismus und Individualismus
Untertitel: Kommentar zu einem Artikel von Max Nettlau
Datum: 1. April 1926
Quelle: Aus: Errico Malatesta, Gesammelte Schriften, Bd.2, Karin Kramer Verlag, Berlin 1980.
Bemerkungen: Veröffentlicht in der Zeitschrift Pensiero e Volontà (Rom, 1. April 1926).

Nettlaus Artikel [1], der vom Geist der Freiheit und der Solidarität und von brennender Liebe für die Sache des Anarchismus erfüllt ist, verdient und erfordert einige Anmerkungen.

Nettlau geht davon aus, daß der Grund, oder zumindest einer der Gründe dafür, daß der Anarchismus nach so vielen Jahren der Propaganda, der Kämpfe, der Opfer noch nicht die großen Massen mobilisieren und zur Erhebung bringen konnte, darin zu suchen ist, daß die Anarchisten beider Tendenzen, nämlich Individualisten und Kommunisten, jeweils eine eigene ökonomische Theorie als einzige Lösung der sozialen Frage vorgebracht haben und es ihnen daher nicht gelungen ist, die Leute von der Durchführbarkeit ihrer Ideen zu überzeugen.

In Wirklichkeit glaube ich, daß der wesentliche Grund unseres geringen Erfolges in der allgemeinen Tatsache liegt, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft, das heißt unter den gegebenen materiellen und moralischen Verhältnissen, in denen sich die Masse der Arbeiter und alle, die zwar keine produktiven Arbeiter, aber doch Opfer der gleichen Gesellschaftsordnung sind, befinden, unsere Propaganda nur von begrenzter Tragweite sein kann und in bestimmten, benachteiligteren Regionen und bestimmten Schichten der Bevölkerung, die mehr als andere unter dem physischen und moralischen Elend leiden, sogar auf wenig oder nichts zusammenschrumpft. Und ich glaube, daß nur in dem Maße, wie sich die Umwelt verändert und uns günstig wird (was besonders in revolutionären Zeiten und durch unseren Ansporn geschehen kann), unsere Ideen eine ständig größere Anzahl von Anhängern und wachsende Möglichkeiten der Verwirklichung finden können. Die Spaltung zwischen Kommunisten und Individualisten spielt nur eine geringe Rolle, denn sie betrifft nur diejenigen, die bereits Anarchisten sind und jene kleine Minderheit, die in der Lage ist, es zu werden.

Doch trotzdem bleibt es wahr, daß die Polemiken zwischen Individualisten und Kommunisten oft einen Großteil unserer Energien beansprucht haben, daß sie eine offene und brüderliche Zusammenarbeit zwischen allen Anarchisten auch dann verhindert haben, wenn sie möglich war und viele von uns ferngehalten haben, die, hätten sie uns alle vereint gesehen, sich von unserer leidenschaftlichen Freiheitsliebe angezogen gefühlt hätten. Und daher tut Nettlau gut daran, wenn er Eintracht propagiert und dabei beweist, daß, wenn es Freiheit, das heißt Anarchie, wirklich geben soll, die Möglichkeit der Wahl bestehen muß und jeder sein eigenes Leben nach seinem Gutdünken einrichten können muß, was die kommunistische oder die individualistische Lösung oder jede andere Stufe oder Mischform zwischen beiden mit einschließt.

Nettlau irrt sich jedoch meiner Meinung nach, wenn er glaubt, daß der Gegensatz zwischen Anarchisten, die sich als kommunistisch bezeichnen und denen, die sich individualistisch nennen, wirklich auf der Vorstellung beruht, die jeder vom ökonomischen Leben (Produktion und Verteilung der Produkte) in einer anarchistischen Gesellschaft hat. Dies sind letztendlich Fragen, die die ferne Zukunft betreffen. Und wenn es zutrifft, daß das Ideal, das Endziel es ist, das dem Verhalten der Menschen als Wegweiser dient oder dienen sollte, dann trifft es umso mehr zu, daß Einstimmigkeit oder Uneinigkeit mehr als von allem anderen davon abhängen, was man heute macht und machen will und nicht davon, was man morgen zu tun gedenkt. Im allgemeinen versteht man sich am besten, hat man das größte Interesse an einer Verständigung mit denjenigen, die den gleichen Weg gehen, obwohl sie an einen anderen Ort wollen und nicht mit denen, die zwar behaupten, sie wollten dorthin, wo auch wir hinwollen, sich dann aber auf die entgegengesetzte Straße begeben! So kam es, daß Anarchisten der unterschiedlichsten Richtungen sowohl im praktischen Leben als auch in der Propaganda in heftigem Gegensatz standen, obwohl sie im Grunde das gleiche wollten.

Geht man vom Grundprinzip des Anarchismus aus, daß niemand den Willen und die Möglichkeit haben darf, die anderen zu unterwerfen und zu zwingen, für sich zu arbeiten, dann ist klar, daß zum Anarchismus ausschließlich all jene Lebensweisen gehören, die die Freiheit achten und jedem das gleiche Recht zuerkennen, in den Genuß der natürlichen Güter und der eigenen Arbeit zu kommen. Unbestreitbar ist für die Anarchisten das konkrete, reale Wesen, das Wesen, das ein Bewußtsein hat, das fühlt, genießt und leidet, das Individuum, und die Gesellschaft, die bei weitem nicht etwas Übergeordnetes ist, für die das Individuum nur Werkzeug und Sklave ist, darf nur die Gemeinschaft von Menschen sein, die sich zum größten Wohl eines jeden assoziieren. Und so gesehen, könnte man sagen, daß wir alle Individualisten sind.

Um aber Anarchist zu sein, genügt es nicht, die eigene Befreiung zu wollen, genügt es nicht, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen, man muß sich weigern, selbst Unterdrücker zu sein; man muß die Bande der – natürlichen oder willentlichen -Solidarität erkennen, die die Menschen miteinander verbinden, man muß seinesgleichen lieben, am Leid der anderen leiden, sich nicht glücklich fühlen, wenn man weiß, daß andere unglücklich sind. Und das ist keine Frage ökonomischer Ordnungen: es ist eine Frage des Gefühls oder, wie man theoretisch sagt, eine Frage der Ethik. Ausgehend von diesen Grundsätzen und diesen Gefühlen, die trotz unterschiedlicher Sprache allen Anarchisten gemeinsam sind, geht es darum, für die praktischen Probleme des Lebens Lösungen zu finden, die den menschlichen Willen am meisten achten und die Gefühle der Liebe und Solidarität am meisten befriedigen.

Die Anarchisten, die sich als Kommunisten bezeichnen (und dazu zähle ich auch mich selbst), sind nicht deshalb Kommunisten, weil sie den anderen ihre spezielle Sichtweise aufzwingen wollen oder weil sie glauben, daß es außerhalb dieser kein Heil gibt, sondern weil sie bis zum gegenteiligen Beweis überzeugt sind, daß Wohlstand und Freiheit eines jeden umso größer sind, je mehr die Menschen sich verbrüdern und je enger sie in ihrem Streben nach dem Wohle aller assoziierten Menschen zusammenarbeiten. Auch wenn der Mensch, so meinen sie, von der Unterdrückung durch den Menschen befreit ist, bleibt er doch stets den widrigen Kräften der Natur ausgesetzt, die er allein nicht besiegen kann, aber mit Unterstützung der anderen Menschen beherrschen und in Mittel des eigenen Wohlstands verwandeln kann. Ein Mensch, der für seine materiellen Bedürfnisse sorgen wollte, indem er alleine arbeitet, wäre Sklave seiner Arbeit. Ein Bauer zum Beispiel, der allein sein Stück Boden bearbeiten wollte, würde auf alle Vorteile der Kooperation verzichten und sich zu einem elenden Leben verurteilen: er könnte sich keine Ruhezeiten gönnen, keine Reisen, Studien, Kontakte mit dem vielfältigen Leben der verschiedenen menschlichen Gruppierungen ... und würde nicht einmal immer seinen Hunger stillen können.

Es ist grotesk zu denken, daß Anarchisten, die sich als Kommunisten bezeichnen und Kommunisten sind, wie in einem Kloster leben wollen, unter dem Zwang allgemeiner Regeln, gleichförmiger Nahrung und Kleidung usw. Genauso absurd wäre es jedoch, zu meinen, daß sie nur tun wollen, was ihnen gefällt, ohne die Bedürfnisse der anderen, das Recht aller auf die gleiche Freiheit zu berücksichtigen. Alle wissen, daß Kropotkin zum Beispiel, der unter den Anarchisten einer der leidenschaftlichsten und eloquentesten Verfechter der kommunistischen Ordnung war, gleichzeitig auch großer Verfechter der individuellen Unabhängigkeit war und voller Leidenschaft dafür eintrat, daß alle frei ihre künstlerischen Neigungen entwickeln und befriedigen können, sich wissenschaftlichen Forschungen widmen, Hand- und Kopfarbeit harmonisch miteinander verbinden können, um Menschen im höheren Sinne des Wortes zu werden. [2]

Außerdem glauben die (anarchistischen) Kommunisten, daß es aufgrund der natürlichen Unterschiede in bezug auf Fruchtbarkeit, Qualität und Lage des Bodens unmöglich wäre, jedem individuell gleiche Arbeitsbedingungen zu garantieren und, wenn auch nicht Solidarität, so doch Gerechtigkeit zu verwirklichen. Doch gleichzeitig sind sie sich über die ungeheuerlichen Schwierigkeiten im Klaren, diesen freiwilligen, universellen Kommunismus, den sie als das höchste Ideal der befreiten und verbrüderten Menschheit betrachten, vor einer langen Zeit freier Entwicklung zu praktizieren. Und so kommen sie schließlich zu einem Schluß, den man mit folgender Formel ausdrücken könnte: ein Höchstmaß an Kommunismus, um ein Höchstmaß an Individualismus zu verwirklichen, das heißt ein Höchstmaß an Solidarität, um ein Höchstmaß an Freiheit zu genießen.

Auf der anderen Seite haben die Individualisten (ich spreche natürlich stets von den Anarchisten) als Reaktion auf den autoritären Kommunismus, der in der Geschichte die erste Vorstellung des menschlichen Geistes von einer rationalen und gerechten Gesellschaftsordnung war, die mehr oder weniger alle Utopien und alle revolutionären Versuche beeinflußt hat, angesichts der Tatsache, daß dieser autoritäre Kommunismus im Namen der Gleichheit die menschliche Persönlichkeit einschränkt, ja nahezu zerstört, der abstrakten Idee der Freiheit allergrößte Bedeutung beigemessen und erkannten nicht oder betonten nicht genügend, daß die konkrete Freiheit, die reale Freiheit von Solidarität, Brüderlichkeit und freiwilliger Kooperation abhängt. Es wäre allerdings ungerecht zu glauben, sie wollten auf die Vorteile der Zusammenarbeit verzichten und sich zu einer unmöglichen Isolierung verurteilen. Und sie sind sich sicherlich darüber im Klaren, daß isolierte Arbeit Ohnmacht bedeutet und daß der Mensch, um sich ein menschliches Leben zu sichern und materiell und moralisch in den Genuß sämtlicher Errungenschaften der Zivilisation zu kommen, entweder direkt oder indirekt fremde Arbeit ausbeuten und seinen Wohlstand auf dem Elend der Arbeiter aufbauen muß oder aber sich mit Seinesgleichen assoziieren und mit ihnen die Freuden und Leiden des Lebens teilen muß. Und da sie als Anarchisten nicht die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zulassen können, müssen sie zwangsläufig übereinkommen, daß man irgendeine Stufe und Form von freiwilligem Kommunismus akzeptieren muß, um frei zu sein und als Menschen leben zu können. [3]

Was die ökonomische Frage anbetrifft, die ja anscheinend die Spaltung der Anarchisten in Kommunisten und Individualisten bewirkt, so wäre die Versöhnung sehr rasch vollzogen, indem man gemeinsam für Bedingungen wirklicher Freiheit kämpft und es dann der Erfahrung überläßt, die praktischen Probleme des Lebens zu lösen. Und dann wären die Diskussionen, Untersuchungen, Hypothesen, die heute möglichen Versuche und sogar die Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Tendenzen allesamt nützliche Dinge, die uns helfen, uns selbst auf unsere zukünftigen Aufgaben vorzubereiten.

Wenn jedoch die Unterschiede in der ökonomischen Frage wirklich mehr dem Schein nach als tatsächlich bestehen und in jedem Fall leicht zu überwinden sind, warum dann dieser ewige Streit, diese Verbissenheit, die manchmal in wahre Feindschaft zwischen Menschen ausartet, die, wie Nettlau sagt, einander doch nah und von den gleichen Leidenschaften und Idealen beseelt sind? Das liegt daran, daß, wie ich schon sagte, der Unterschied zwischen den Plänen und Hypothesen in bezug auf die zukünftige ökonomische Organisation der herbeigesehnten Gesellschaft nicht der wahre Grund für die anhaltende Spaltung ist: diese ist Folge bedeutenderer und vor allem aktuellerer moralischer und politischer Meinungsverschiedenheiten.

Ich werde hier nicht von denen sprechen, die sich zwar als anarchistische Individualisten bezeichnen, aber voller Verachtung für die Menschheit, voller Gefühllosigkeit gegenüber dem Leid anderer und voller Herrschsucht sind, also äußerst bürgerliche Gefühle an den Tag legen. Ich werde auch nicht von denen sprechen, die sich als anarchistische Kommunisten bezeichnen und im Grunde genommen nur Autoritäre sind, die glauben, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein und sich das Recht nehmen, sie den anderen aufzuzwingen. Kommunisten und Individualisten haben oft das Unrecht begangen, in ihre Reihen Personen aufzunehmen und als Genossen zu akzeptieren, die mit ihnen nichts weiter als einige verbale Ausdrücke und äußerliche Erscheinungen gemeinsam hatten. Ich möchte also nur von denen sprechen, die ich als wahre Anarchisten betrachte. Diese sind in vielen wichtigen und aktuellen Fragen geteilter Meinung und bezeichnen sich – im allgemeinen aus Tradition – als Kommunisten oder Individualisten, ohne daß die Dinge, die sie tatsächlich voneinander trennen, etwas mit den Fragen der zukünftigen Gesellschaft zu tun haben.

Unter den Anarchisten gibt es Revolutionäre, die glauben, daß man mit Gewalt die Gewalt zerschlagen muß, die die gegenwärtige Ordnung aufrechterhält, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der die freie Entwicklung der Individuen und der Gemeinschaften möglich ist – und es gibt die Erziehungsgläubigen, die meinen, daß man die Veränderung der Gesellschaft nur erreichen kann, wenn man zuvor die Menschen mittels erzieherischer Aufklärung und Propaganda verändert. Es gibt die Verfechter der Gewaltlosigkeit oder des passiven Widerstandes, die die Gewalt fliehen, auch wenn sie dazu dient, sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen, und es gibt jene, die die Notwendigkeit der Gewalt gelten lassen, aber wiederum geteilter Meinung in bezug auf Art, Umfang und Grenzen der erlaubten Gewalt sind. Es gibt Meinungsverschiedenheiten in der Haltung der Anarchisten gegenüber dem Syndikalismus, Differenzen in bezug auf Organisation oder Nicht-Organisation der Anarchisten, ständige oder gelegentliche Meinungsverschiedenheiten über die Beziehungen der Anarchisten zu den anderen revolutionären Parteien.

Über diese und andere Fragen gilt es sich zu einigen, oder wenn, wie es den Anschein hat, eine Verständigung nicht möglich ist, sich gegenseitig zu tolerieren. Man muß gemeinsam arbeiten, wenn man sich einig ist und wenn nicht, jedem die Freiheit lassen, nach eigenem Gutdünken zu handeln, ohne sich gegenseitig zu behindern. Denn alles in allem betrachtet, kann niemand absolut sicher sein, im Besitz der Wahrheit zu sein, ist niemand stets im Recht.

 

[1] Malatestas Ausführungen lag ein Artikel zugrunde, von dem er dachte, dass Nettlau ihn neu verfasst hatte, der jedoch schon auf das Jahr 1914 datierte. Die Entgegnung Nettlaus auf Malatesta, sowie eine weitere Antwort von Malatesta findet sich in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 34–48.

[2] Siehe hierzu z.B. das Kapitel „Gesitige Arbeit und körperliche Arbeit“ in Kropotkins Landwirtschaft, Industrie und Handwerk (1898).

[3] Max Stirner (1806–1856), einer der zentralen Referenzautoren des individualistischen Anarchismus, hatte betont: „Es ist (…) immer fördersam, dass Wir Uns über die menschlichen Arbeiten einigen, damit sie nicht, wie unter der Konkurrenz, alle unsere Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. Insoweit wird der Kommunismus seine Früchte tragen.“ (Der Einzige und sein Eigentum (1844). Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2009: 272).