Errico Malatesta
Die Aufgabe der Gewerkschaften in der Revolution
Mein kürzlich erschienener Artikel über Syndikalismus und Anarchismus hat bei einigen Genossen Zweifel hervorgerufen, obwohl sie mit der von mir vertretenen allgemeinen These einverstanden sind. Einer dieser Genossen schrieb mir:
„Wäre es angesichts der Tatsache, daß wir nicht mit einem einzigen Sprung aus der bürgerlichen Gesellschaft in die wohlorganisierte anarchistische Gesellschaft gelangen werden, nicht möglich, daß die Gewerkschaften - dabei denke ich natürlich nur an die nützlichen Berufe, nicht an die von Marmorarbeiter oder Juwelieren - zumindest vorübergehend die Organe sein können, die für den Fortgang von Produktion und Distribution sorgen, die auch in revolutionären Zeiten ohne Unterbrechung weitergehen müssen?“
Ohne weiteres. Gerade weil ich davon überzeugt bin, daß die Gewerkschaften eine sehr nützliche und vielleicht notwendige Aufgabe beim Übergang von der gegenwärtigen Gesellschaft zur egalitären Gesellschaft erfüllen können und müssen, möchte ich, daß man sie richtig einschätzt, das heißt, sich stets ihre naturgemäße Tendenz vor Augen hält, zu geschlossenen Korporationen zu werden, die nur damit beschäftigt sind, die egoistischen Interessen der jeweiligen Berufsgruppe zu vertreten, oder, schlimmer noch, sich zu konservativen Elementen zu entwickeln. Und weil ich überdies die sehr große Nützlichkeit erkenne, die die Genossenschaften haben, weil sie die Arbeiter daran gewöhnen, ihre Angelegenheiten und ihre Arbeit selbst in die Hand zu nehmen und davon ausgehe, daß sie zu Beginn der Revolution als bereits vorhandene Organe die Verteilung der Produkte organisieren und als Anziehungspunkte für die Massen dienen könne, bekämpfe ich den Krämergeist, der sich naturgemäß in ihnen entwickelt und möchte, daß sie allen offen stehen, daß sie ihren Mitgliedern keinerlei Vorrechte einräumen und vor allem, daß sie sich nicht, wie es so oft geschieht, in wahre kapitalistische Aktiengesellschaften verwandeln, die Lohnarbeiter anstellen und ausbeuten und auf die Bedürfnisse der Öffentlichkeit spekulieren.
Meiner Auffassung nach führen Genossenschaften und Gewerkschaften, so wie sie im kapitalistischen System beschaffen sind, nicht naturgemäß kraft ihrer Stärke zur Befreiung der Menschheit (und dies ist der strittige Punkt), sondern können Gutes oder Schlechtes bewirken: sie können heute Organe der Erhaltung oder der Veränderung gesellschaftlicher Zustände sein, sie können morgen der Revolution oder der Reaktion dienen, je nachdem ob sie sich auf ihre besondere Funktion als Schützer der gegenwärtigen Interessen der Mitglieder beschränken oder vom Geist des Anarchismus beseelt sind, der sie diese Interessen zugunsten der Ideale vergessen läßt. Und unter Geist des Anarchismus verstehe ich jenes umfassende menschliche Gefühl, das das Wohl aller, die Freiheit und Gerechtigkeit für alle, die Solidarität und Liebe unter allen anstrebt und nicht ausschließlich die Anarchisten im eigentlichen Sinne kennzeichnet, sondern alle großherzigen, geistig offenen Menschen erfüllt.
Die Arbeiterbewegung allein, die auf den Schutz der gegenwärtigen Interessen der Arbeiter und dabei insbesondere der Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft ausgerichtet ist, tendiert naturgemäß dazu, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu verringern, um den Forderungen der Unternehmer besser widerstehen zu können. Ist die Organisation an eine bestimmte zahlenmäßige Grenze gelangt, versucht man, den Eintritt neuer Mitglieder zu behindern, aus der qualifizierten und daher besser bezahlten Arbeit ein Privileg der organisierten Arbeiter zu machen, kurz und gut, eine neue privilegierte Klasse, eine neue Schicht zu schaffen, die daran interessiert ist, sich mit den Unternehmern zu verständigen und sich durch Gewinnbeteiligung, Aktienbesitz usw. auf Kosten der großen Masse der Enterbten, die zu ausschließlich manuellen Arbeiten verurteilt und zu Sklaven der Maschinen, ja wenig mehr als Teilen der Maschine selbst gemacht werden, zum Komplizen der kapitalistischen Ausbeutung macht.
Dies kann nicht geschehen, wenn der Geist der Auflehnung in der Masse vorhanden ist und das Licht des Ideals gerade die begabtesten Arbeiter erfüllt, die aufgrund günstiger Umstände in der Lage wären, die neue privilegierte Klasse zu bilden. Es steht jedoch unzweifelbar fest, daß, bleibt man bei der Verteidigung der gegenwärtigen Interessen, dem spezifischen Terrain der Gewerkschaften, der Kampf zwischen den Arbeitern eine natürliche Sache ist - denn im System des Kapitalismus sind die Interessen nicht gleich noch können sie ausgeglichen werden - und unter bestimmten Umständen und zwischen bestimmten Berufsgruppen sogar erbitterter sein kann als zwischen Arbeitern und Ausbeutern.
Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die größten Arbeiterorganisationen in den Ländern anzusschauen, in denen der Grad der Organisation hoch, die revolutionäre Propaganda oder Tradition jedoch gering ist.
Sehen wir uns die Föderation der Arbeit in den Vereinigten Staaten von Amerika an. Sie führt den Kampf gegen die Unternehmer nur in dem Sinne, wie zwei Kaufleute miteinander streiten, die die Bedingungen eines Kontraktes aushandeln. Den eigentlichen Kampf führt sie gegen die - ausländischen oder einheimischen - Neuankömmlinge, die für die Arbeit in irgendeinem Industriezweig zugelassen werden möchten; gegen die Streikbrecher wider Willen, die in den Fabriken, die die Organisation anerkennen, keine Arbeit finden können, weil die Organisierten sich dem widersetzen, und daher gezwungen sind, ihre Arbeitskraft in den open shops anzubieten, den Unternehmen also, die die Richtlinien der Arbeiterorganisationen nicht anerkennen, nicht organisierte Arbeiter anstellen und von diesem Umstand profitieren, um sie noch unmenschlicher als die anderen auszubeuten. Haben diese nordamerikanischen Gewerkschaften eine Mitgliederzahl erreicht, die sie als ausreichend betrachten, um mit den Unternehmern gleichberechtigt zu verhandeln, dann versuchen sie sogleich, die Aufnahme neuer Mitglieder durch unerschwingliche Aufnahmegebühren zu verhindern oder sie schließen geradewegs die Register und nehmen keine neuen Anträge mehr an. Sie nehmen eine strenge Begrenzung des Berufs oder der Berufssparte vor, die jeder Gewerkschaft zusteht und verbieten, daß eine Gewerkschaft auch nur minimal in den Bereich der „Arbeit der anderen“ eindringt. Die qualifizierten Arbeiter blicken auf die Handarbeiter herab; die Weißen verachten und unterdrücken die Schwarzen; die „richtigen Amerikaner“ halten die Chinesen, Italiener usw. für minderwertig.
Sollte in den Vereinigten Staaten eine Revolution stattfinden, dann wären die mächtigen und reichen Gewerkschaften mit Sicherheit gegen die Bewegung, denn sie würden um ihre Kassen und ihre privilegierte Position fürchten. Und das würde vielleicht auch in England und anderswo geschehen.
Das ist kein Syndikalismus, ich weiß, und die Syndikalisten kämpfen ständig gegen diese Tendenz der Gewerkschaften, zum Werkzeug niedriger, egoistischer Beweggründe zu werden und vollbringen ein höchst nützliches Werk. Doch diese Tendenz ist vorhanden und kann nur korrigiert werden, wenn man über die rein syndikalistischen Methoden hinausgeht.
Die Gewerkschaften werden in der Zeit der Revolution von allergrößtem Nutzen sein, aber unter der Voraussetzung, daß sie ... so wenig „syndikalistisch“ wie möglich sind.
Ich werde noch auf das Thema zurückkommen.
(Umanita Nova, 13. April 1922)