Errico Malatesta
Anarchie und Gewalt
Von Beginn an waren sich Anarchisten fast ausnahmslos einig darüber, dass die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft materielle Gewalt erfordert; während die anderen selbsternannten revolutionären Parteien sich in den Sumpf des Parlamentarismus begaben, wurde die anarchistische Idee in gewisser Weise gleichbedeutend mit bewaffnetem Aufstand und gewaltsamer Revolution.
Charakter und Ausmaß solcher Gewalt sind indessen vielleicht nicht hinreichend geklärt worden; wie in vielen anderen Fragen verbergen sich hinter unserem gemeinsamen Namen diesbezüglich ganz unterschiedliche Vorstellungen und Meinungen.
Tatsächlich haben die zahlreichen Gewaltakte, die in jüngster Zeit von Anarchisten und im Namen der Anarchie begangen wurden [1], bislang übersehene oder kaum geahnte Differenzen tiefgreifender Natur ans Licht gebracht.
Abgestoßen von der Brutalität und Sinnlosigkeit einiger dieser Taten haben sich manche Genossen gegen jedwede Gewalt ausgesprochen, sofern es sich nicht um individuelle Selbstverteidigung gegen einen direkten Angriff handelt. Das würde meines Erachtens bedeuten, auf jede revolutionäre Initiative zu verzichten und nur die unbedeutenden und oftmals unfreiwilligen Handlangerdes Staates zu treffen, die Organisatoren und hauptsächlichen Nutznießer der staatlichen und kapitalistischen Ausbeutung aber in Frieden zu lassen.
Mitgerissen vom Rausch des Kampfes, verbittert angesichts der Ruchlosigkeit der herrschenden Klassen und sicherlich auch unter dem fortwirkenden Einfluss der alten jakobinischen Ideen, die für die politische Bildung der heutigen Generation prägend gewesen sind, haben andere Genossen dagegen eilfertig jede Art von Gewalt akzeptiert, solange sie nur im Namen der Anarchie begangen wird; und sie haben damit kaum weniger beansprucht als das Recht über Leben und Tod derer, die keine, oder keinegenau ihren Vorstellungen entsprechenden, Anarchisten sind. Große Teile der Öffentlichkeit wiederum, denen solche Auseinandersetzungen unbekannt sind und die sich von der kapitalistischen Presse täuschen lassen, verbinden mit Anarchie nur Bomben und Dolche und betrachten Anarchisten gewöhnlich als blutrünstige, zerstörungswütige Bestien.
Es ist deshalb notwendig, dass wir uns zur Frage der Gewalt in aller Klarheit äußern und jeder entsprechend Stellung bezieht – notwendig sowohl im Interesse einer praktischen Zusammenarbeit all derer, die sich zum Anarchismus bekennen, wie auch im Interesse unserer allgemeinen Propaganda und unseres Wirkens in der Öffentlichkeit.
Es steht meines Erachtens außer Zweifel, dass die anarchistische Idee als Widersacherin staatlicher Herrschaft ihrer innersten Natur nach eine Ablehnung von Gewalt bedeutet, denn Gewalt ist das Wesen jedes autoritären Systems, die Handlungsweise jeder Regierung.
Anarchie ist Freiheit in Solidarität. Nur durch die Harmonisierung von Interessen, durch freiwillige Zusammenarbeit, durch Liebe, Respekt und gegenseitige Toleranz, durch Überzeugung, gutes Beispiel und den ansteckenden Charakter von Gutmütigkeit kann und muss sie den Sieg davon tragen.
Wir sind Anarchisten, weil wir der Überzeugung sind, dass wir das gemeinsame Wohl aller – das Ziel all unserer Anstrengungen – allein durch eine freie Übereinkunft aller Menschen erreichen können, und nicht dadurch, dass der eine dem anderen gewaltsam seinen Willen aufzwingt.
In anderen Parteien gibt es gewiss Menschen, die den Interessen des Volkes nicht weniger aufrichtig verpflichtet sind als die Besten unter uns. Was uns als Anarchisten jedoch auszeichnet und von allen anderen unterscheidet, ist, dass wir uns nicht im Besitz einer absoluten Wahrheit wähnen; wir halten uns für weder unfehlbar noch allwissend – was alle Gesetzgeber und politischen Kandidaten implizit zu sein vorgeben; und folglich halten wir uns nicht für berufen, die Menschen zu lenken und zu führen.
Wir sind die Partei der Freiheit par excellence, die Partei der freien Entfaltung, die Partei gesellschaftlichen Experimentierens. [2]
Gegen diese Freiheit, die wir für alle einfordern, gegen diese experimentelle Suche nach besseren Formen von Gesellschaft, sind jedoch eherne Schranken errichtet worden. Heerscharen von Soldaten und Polizisten stehen bereit, jeden zu massakrieren und ins Gefängnis zu werfen, der sich nicht demütig den von einer Handvoll Privilegierter zum eigenen Nutzen gemachten Gesetzen unterwirft. Und selbst wenn es keine Soldaten und Polizisten gäbe, die ökonomische Verfasstheit der Gesellschaft jedoch dieselbe bliebe, wäre Freiheit unmöglich; denn da die Mittel des Lebens von einer Minderheit kontrolliert werden, muss die große Masse der Menschen für diese Minderheit arbeiten und selbst in Armut und Erniedrigung verharren.
Die erste Maßnahme muss deshalb darin bestehen, die bewaffneten Kräfte abzuschaffen, die die bestehenden Institutionen schützen, und den Boden und alle anderen Produktionsmittel durch Enteignung ihrer heutigen Besitzer unter die Verfügung aller zu bringen. Das ist unseres Erachtens ohne Anwendung materieller Gewalt nicht machbar. Ohnehin führen uns die natürliche Entwicklung der ökonomischen Antagonismen, das erwachende Bewusstsein eines bedeutenden Teils des Proletariats, die beständig zunehmende Zahl der Arbeitslosen, der blinde Widerstand der herrschenden Klassen, kurzum: führt uns die gesamte gegenwärtige Entwicklung unausweichlich dem Ausbruch einer großen Revolution entgegen, deren Gewalt alles Umstürzen wird und deren Vorboten bereits sichtbar sind. Diese Revolution wird eintreten, ob mit oder ohne uns; und die Existenz einer revolutionären Partei, die sich der zu erreichenden Ziele bewusst ist, wird dazu beitragen, der Gewalt eine sinnvolle Richtung zu geben und ihre Exzesse durch die Wirkung eines hohen Ideals einzudämmen.
Deshalb sind wir Revolutionäre. In diesem Sinn, und innerhalb dieser Grenzen, steht Gewalt nicht im Widerspruch zu anarchistischen Prinzipien: Sie ist nicht Ergebnis freier Entscheidung, sondern wird uns notwendig aufgezwungen, wenn wir für missachtete, mit nackter Gewalt unterdrückte Rechte des Menschen einstehen.
Noch einmal: Als Anarchisten können wir keinen Drang zur Gewaltanwendung haben, sofern es nicht uns und andere gegen Unterdrückung zu verteidigen gilt. Dieses Recht auf Verteidigung aber machen wir geltend – und zwar uneingeschränkt, real und wirksam. Wir wollen imstande sein, die materiellen Werkzeuge auszuschalten, die uns verletzen, und sowohl die Hand, die sie fuhrt, als auch den Kopf, der sie dirigiert, anzugreifen. Und wir wollen Zeitpunkt und Terrain unseres Kampfes selbst festlegen, um den Feind unter möglichst günstigen Bedingungen anzugreifen: ob er uns nun gerade tatsächlich herausfordert und attackiert oder aber im Vertrauen auf die Unterordnung des Volkes schlummert und die Hand sinken lässt. Denn in Wirklichkeit fuhrt die Bourgeoisie einen permanenten Krieg gegen das Proletariat, da sie keinen Augenblick lang aufhört, es auszubeuten und zu knechten.
Unter den im Namen der Anarchie begangenen Taten gab es leider einige, die, obwohl nichts an ihnen anarchistisch ist, zu Unrecht mit anderen, offenkundig anarchistisch inspirierten Taten durcheinandergebracht worden sind.
Ich für meinen Teil protestiere gegen diese Vermengung von Taten, deren moralischer Wert und praktische Folgen vollkommen unterschiedlich sind.
Ungeachtet der Exkommunikation und Beleidigung durch bestimmte Leute halte ich es für wesentlich, den Unterschied zu erkennen zwischen der heldenhaften Tat eines Mannes, der im Glauben, Gutes zu bewirken, sein Leben opfert, und der fast schon unfreiwilligen Tat eines unglücklichen, von der Gesellschaft zur Verzweiflung getriebenen Mannes, oder auch der barbarischen Tat eines Mannes, dessen Leid ihn auf Abwege geführt hat und der von der uns alle umgebenden zivilisierten Barbarei infiziert wurde; zwischen der intelligenten Tat von einem, der zuvor den zu erwartenden Nutzen und Schaden für seine Sache abwägt, und der gedankenlosen Tat des blind Dreinschlagenden; zwischen der großmütigen Tat desjenigen, der Gefahren auf sichnimmt, um seinen Mitmenschen Leid zu ersparen, und der bürgerlichen Tat eines anderen, der zum eigenen Vorteil Leid über andere bringt; zwischen der anarchistischen Tat desjenigen, der die Hindernisse zerstören will, die der Umgestaltung der Gesellschaft auf Grundlage einer freien Übereinkunft aller im Wege stehen, und der autoritären Tat eines anderen, dessen Absichtes ist, die Menge für ihre Dummheit zu bestrafen, sie zu terrorisieren (was sie noch dümmer macht) und ihr die eigenen Ideen aufzuzwingen.
Die Bourgeoisie hat ganz gewiss kein Recht, die Gewalt ihrer Feinde zu beklagen, denn ihre gesamte Geschichte als Klasse ist eine Geschichte des Blutvergießens, und das Ausbeutungssystem, das ihr Lebensgesetz darstellt, produziert tagtäglich Hekatomben[3] unschuldiger Opfer. Auch die politischen Parteien sollten – gewiss nicht über Gewalt klagen, nicht sie, die eine wie die andere Blut an den Händen kleben haben, das unnötig und allein in ihrem Interesse vergossen wurde; die die Jugend, Generation um Generation, im Kult der siegreichen Kraft aufgezogen haben; die wenn nicht gar Apologeten der Inquisition[4], dann doch beigeisterte Anhänger jenes Roten Terrors sind, der Ende des letzten Jahrhunderts den großartigen revolutionären Impuls zum Halt brachte[5] und dem Kaiserreich, der Restauration und dem Weißen Terror den Weg bahnte.
Der Anfall von Milde, der manche Bürger nun, da ihr Leben und ihre Geldbörse in Gefahr sind, plötzlich überkommt, ist unseres Erachtens höchst unglaubwürdig. Doch wir richten unser Verhalten nicht danach aus, wie viel Freud oder Leid es dem Bürger bringen mag. Wir müssen uns nach unseren Prinzipien und dem Interesse unserer Sache richten, in der wir die der gesamten Menschheit erkennen.
Da uns die bisherige Geschichte zur Notwendigkeit von Gewalt getrieben hat, lasst uns Gewalt anwenden; doch vergessen wir nie, dass es sich um einen Fall von unentrinnbarer Notwendigkeit handelt und dass Gewalt ihrem Wesen nach unseren Bestrebungen widerspricht. Vergessen wir nicht, dass die gesamte Geschichte eine traurige Tatsache bezeugt: Wann immer Widerstand gegen Unterdrückung siegreich war, brachte er neue Unterdrückung hervor. Das ermahnt uns zu der Einsicht, dass es sich immer so verhalten wird, bis mit der blutigen Tradition ein für alle Mal gebrochen und Gewalt auf das strengstens Notwendige begrenzt wird.
Gewalt erzeugt Gewalt, Autorität erzeugt Unterdrückung und Sklaverei. Die guten Absichten Einzelner können daran nichtdas Geringste ändern. Der Fanatiker, der durch Gewalt und auf seine eigene Weise Menschen zu retten können meint, ist stets ein aufrichtiger Mann, aber ein furchtbares Werkzeug der Unterdrückung und Reaktion. Robespierre[6] war, in furchtbar gutem Glauben und mit einem reinen und grausamen Gewissen, genauso verhängnisvoll für die Revolution wie die persönlichen Ambitionen Bonapartes[7]. Der Feuereifer Torquemadas[8] bei der Rettung von Seelen schadete der Freiheit des Denkens und dem Fortschritt des menschlichen Geistes weitaus mehr als der Skeptizismus und die Korruption von Leo X.[9] und seinem Hof.
Theorien, Prinzipienerklärungen und große Worte können gegen die natürliche Verkettung der Tatsachen nichts ausrichten. Viele Märtyrer sind für die Freiheit gestorben, viele Schlachten wurden im Namen des Wohles aller Menschen geschlagen und gewonnen, und doch hat sich die Freiheit am Ende als nichts weiter denn die unbegrenzte Unterdrückung und Ausbeutung der Armen durch die Reichen entpuppt.
Die anarchistische Idee ist ebenso wenig gegen Entstellung gefeit wie es die liberale Idee erwiesenermaßen war, doch wir können eine solche Entstellung schon in den Anfängen feststellen, wenn wir die von manchen Anarchisten an den Tag gelegte Verachtung der Massen, ihre Intoleranz und ihren Drang, Terror zu verbreiten, wahrnehmen.
Anarchisten! Lasst uns die Anarchie retten! Unsere Lehre ist eine Lehre der Liebe. Wir können und wir dürfen weder Rächer noch Richter sein. Unsere Aufgabe, unser Ziel ist es, die Gerechtigkeit zu verwirklichen.
[1] Hier denkt Malatesta vor allem an die unter dem Begriff „Propaganda der Tat“ bekannt gewordenen Anschläge von Anarchisten auf (zumeist) führende Repräsentanten de herrschenden Gesellschaft.
[2] Der Begriff der Partei wird von Malatesta nicht in dem heute geläufigen Sinn gebraucht (parlamentarische Partei etc.) – was aus anarchistischer Sicht auch einen Widerspruch in sich darstellen würde -, sondern meint eine auf bestimmten Grundüberzeugungen basierende Interessen- und/oder Kampfgemeinschaft.
[3] Synonym für eine überaus große Zahl.
[4] Im Mittelalter von der Kirche geschaffene Institution zur Überprüig des Glaubens und der Bekämpfung von Häresien (von der offizien Lehrmeinung der Kirche abweichenden Meinungen).
[5] Anspielung auf die »Schreckensherrschaft« des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses (1793/1794) während der Französischen Revolution.
[6] Maximilien de Robespierre (1758–1794): Führender Jakobiner während der Französischen Revolution und Synonym für die tugendterroristische Politik des Wohlfahrtsausschusses von 1793/94.
[7] Napoleon Bonaparte (1769–1821): General während der Französischen Revolution, nach dem von ihm angeführten Staatsstreich von 1799 erster Konsul der französischen Republik, dann von 1804–1814 französischer Kaiser.
[8] Tomás de Torquemada: (1420–1498): Erster Großinquisitor Spaniens, führend im Aufbau der spanischen Inquisition.
[9] Leo X. (1475–1521): Zwischen 1513 und 1521 Papst aus der Florentiner Familie der Medici. Sein von Ausschweifungen und weltlichen Machtansprüchen gekennzeichnetes Pontifikat war mit Grund für die damaligen antikirchlichen Stimmungen und den Beginn der Reformation.