Erich Mühsam
Prinzipienerklärung
Die Mannheimer Konferenz hat beschlossen, dem internationalen Anarchisten-Kongress in Amsterdam eine vorbildliche Prinzipienerklärung vorzulegen. Auf die Gefahr hin, den Genossen, welche diesem Beschluss zugestimmt haben, ein Missbehagen zu bereiten, gebe ich für mich persönlich folgende Prinzipienerklärung ab.
Anarchismus bedeutet nichts anderes als die Ablehnung jeglicher Herrschaftsform. Positiv ausgedrückt heisst das: die schrankenlose Autonomie des Einzelnen.
Es kann unter Leuten, die diese Tendenz billigen, zweckmässig sein, sich auf eine bestimmte Taktik zu einigen, unter der die rein negative Forderung des Anarchismus, also der revolutionäre Kampf gegen bestehende Herrschaftszustände betrieben wird.
Welcher Art diese Taktik ist, hängt von der jeweiligen Konstellation ab, hat aber mit dem Prinzip des Anarchismus gar nichts zu tun.
Wie konnten die Genossen in Mannheim zu einem so abenteuerlichen Entschluss kommen? Haben sie sich nicht überlegt, dass die Bindung unter eine Prinzipienerklärung, die man ebenso gut ein Parteiprogramm nennen könnte, verbunden mit der Konstituierung einer verdächtig nach Zentralisation riechenden Organisation gar nichts anderes bedeutet als die Gründung einer anarchistischen Partei, die natürlich im direkten Widerspruch steht zu dem einzigen anarchistischen Prinzip, dem der unbedingten Autonomie der Persönlichkeit.
Genossen! Es wird hohe Zeit, die Gründe zu überdenken, die zu einer so bedauerlichen Entgleisung geführt haben. Das Eindringen demokratischer Gelüste in die anarchistische Bewegung scheint nur zurückzuführen zu sein auf ein etwas zu lebhaftes Entgegenkommen gegen Elemente, die, enttäuscht von der sozialdemokratischen Schlappheit, mit ihren radikalen Gesinnungen aus dem Lager der sozialistischen Zentralisten zu den Anarchisten geflüchtet sind.
So erfreulich das Vorgehen Friedebergs innerhalb der sozialdemokratischen Partei war, so gern wir seinem Kampfrufe nach einer besseren und wuchtigeren Arbeitertaktik zustimmen durften, so energisch hätten wir doch von vorne herein Stellung nehmen müssen gegen die von ihm beabsichtigte Verquickung anarchistischer mit sozialdemokratischen Ideen. Der historische Psychismus, den Friedeberg an die Stelle des Marx’schen historischen Materialismus setzen will, ist nichts anderes als der Ersatz einer konstruierten Gesetzmässigkeit durch eine andere sehr ähnliche.
Mit dem Augenblick, wo wir gemeinsam auf ein philosophisches Gesetz schwören, und von diesem Schwur die Zugehörigkeit zum Anarchismus abhängig machen, bekennen wir uns als Dogmatiker.
Ebenso bedenklich wie eine philosophische Prinzipienerklärung wäre die von derselben Seite betriebene prinzipielle Festlegung auf eine bestimmte Taktik. Mögen wir noch so fest von der Notwendigkeit des Generalstreiks, der anti-militaristischen Agitation usw. überzeugt sein, als Attribute ausschliesslich des Anarchismus können wir diese taktischen Einsichten unmöglich in Anspruch nehmen.
Ich warne davor, praktische Massnahmen mit Weltanschauungen zu verwechseln. Und ich muss der Befürchung Ausdruck geben, dass Friedebergs Vortragsthema, die allmählich zum Schlagwort gewordene Redensart „Taktik und Weltanschauung des Proletariats“ schon jetzt mancherlei Verwirrung in den Köpfen unserer Genossen angerichtet hat.
Aber nicht nur die Sorge um die anarchistischen Grundideen diktiert mir diesen Vorstoss gegen den „Anarcho-Sozialismus“; ich befürchte vielmehr von dieser neuen Richtung in unserer Bewegung auch eine Schwächung des revolutionären Temparaments. Schon die neue und höchst unschöne Vokabel verrät ein zages Konzessionieren an gewisse angstvolle Gemüter, denen das gute, kräftige Wort Anarchismus nicht werbungsfähig genug erscheint.
Ein einziges derartiges Einlenken legt den Verdacht nahe, als suchten wir durch Entgegenkommen Anschluss an minder revolutionäre Gruppen. Wie berechtigt diese Befürchtun ist, glaube ich mit einem Hinweis auf Friedebergs Bericht im „Vorwärts“ und in der „Zukunft“ belegen zu können, wo er seine Verhaftung nicht als Symptom der Staatsverhältnisse überhaupt behandelt, sondern sich in moralischer Entrüstung ergeht über die Art, in der die Verhaftung erfolgte, über die unwürdige Behandlung, die er dadurch in noch schwärzeres Licht zu setzen suchte, dass er hervorhob wer er sei. Beginnen wir erst damit, unsere Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft, unseren guten Ruf in der wissenschaftlichen Welt, unsere persönlichen Beziehungen zu hohen Staatsbeamten, bei einer derartigen Gelegenheit hervorzukehren, so begeben wir uns in dieselben Gefahren, in denen die autoritative Sozialdemokratie zu ersticken droht.
Man mag einwenden, diese Bezugnahme auf Friedebergs Publikation habe mit den oben geäusserten Befürchtungen nichts zu tun. Ich wollte damit zeigen, wie sehr selbst freiere Leute, die aus dem Lager der Sozialdemokratie zu uns kommen, noch in dem Wahn befangen sind, die bestehende Gesellschaft müsse sie als Glied in der grossen Kette respektieren.
Einigen wir uns auf ein Programm, so gruppieren wir uns damit selbst in die Reihen der Parteien ein. Das Unterminieren der Gesellschaft durch die anarchistische Arbeit des Einzelnen ersetzen wir, ob wir wollen oder nicht, durch eine positive Arbeit innerhalb der Gesellschaft. Damit hören wir auf, Anarchisten zu sein.
Ich habe gegen die Personen Friedebergs und der Anarchos-Sozialisten nichts einzuwenden. Ich stehe einem gelegentlichen taktischen Zusammenarbeiten mit diesem extremen Flügel der Sozialdemokratie sympathisch gegenüber. Aber ich halte ein Konzessionieren an ihre vom Anarchismus noch weit verschiedenen Ideen für verhängnisvoll. Ein solches Konzessionieren erkenne ich in der Schaffung der geplanten Organisation und noch mehr in der Substituierung einer „rechtskräftigen“ anarchistischen Prinzipienerklärung.
Das geringste Abweichen vom erdenklichsten Radikalismus bedeutet den ersten Schritt zum Einlenken in bürgerliche oder gar sozialdemokratische Bahnen.
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Ich bitte die anarchistischen Blätter um Abdruck und stelle meine Ausführungen zur Diskussion.