Emma Goldman
Sozialismus
Gefangen in der Falle der Politik
In einem Märchen wird uns erzählt, daß gesund geborene Kleinkinder Mißgunst und Haß in bösen Geistern weckten. Bei Abwesenheit der stolzen Mütter stahlen sich diese Bösen in die Häuser, raubten die kleinen Kinder und ließen mißgestaltet und scheußlich aussehende Monster zurück. Dem Sozialismus widerfuhr dasselbe Verhängnis. Jung und kräftig, die Welt lautstark herausfordernd, weckte er die Mißgunst böser Geister. Als der Sozialismus es am wenigsten erwartete, stahlen sie sich heran, brannten mit ihm durch und ließen ein Mißgebilde zurück, das nun unter dem Namen Sozialismus einherstolziert.
Seit seiner Geburt erklärte der Sozialismus allen bestehenden Institutionen den Krieg. Sein Ziel war, jede Ungerechtigkeit zu Boden zu werfen und durch ökonomischen und sozialen Wohlstand und Harmonie zu ersetzen. Zwei wesentliche Prinzipien verliehen dem Sozialismus Leben und Stärke: das Lohnsystem und dessen Herrn, das private Eigentum. Die Grausamkeit, das Verbrechen und Ungerechtigkeit dieser Prinzipien waren die Feinde, denen der Sozialismus seine bittersten Angriffe und Kritiken entgegenschleuderte. Privates Eigentum und Lohnsystem bilden die zuverlässigsten Pfeiler dieser Gesellschaft, und so wurde jeder, der es wagte, ihre Grausamkeit zu enthüllen, als ein Feind der Gesellschaft, als ein gefährlicher Sonderling und ein Revolutionär verschrieen. Es kam die Zeit, daß der Sozialismus diese Beinamen erhobenen Hauptes trug und fühlte, daß der Haß seiner Feinde seine großartigsten Attribute sind.
Nicht so jener Sozialismus, der in der Falle der bösen Geister, der Polit-Monster gefangen wurde. Diese Art Sozialismus hat entweder gänzlich die unentwegten Angriffe auf die Bollwerke des gegenwärtigen Systems aufgegeben oder sein Aussehen zu einer nicht wiederzuerkennenden Gestalt entstellt und geschwächt. Das Ziel des heutigen Sozialismus verläuft sich im unehrlichen Pfad der Politik, der als ein Mittel, den Staat zu erobern, erachtet wird. Doch gerade der Staat stellt die mächtigste Waffe dar, privates Eigentum und unser System des Unrechts und der Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Er ist die Macht, die das System vor jeglichem rebellischen und entschieden revolutionären Angriff schützt. Der Staat: organisierte Ausbeutung, organisiert Gewalt und Verbrechen. Und der Sozialismus wurde der hypnotisierenden Manipulation gerade dieses Monsters ein williges Opfer. Die Repräsentanten des Sozialismus zeigen sich wahrhaftig in ihrem religiösen Glauben an den Staat inbrünstiger als die konservativsten Statisten.
Der sozialistische Streitpunkt ist, der Staat sei nicht genug zentralisiert. Der Staat, sagen sie, sollte nicht nur die politische Ebene der Gesellschaft kontrollieren, sondern genauso der oberste Manager, der einzige Urquell des industriellen Lebens der Bevölkerung werden, denn nur auf diese Weise würden die besonderen Privilegien, die Trusts und Monopole beseitigt werden. Diesen Fehlgeburten einer großen Idee leuchtet niemals ein, daß der Staat der kälteste und unmenschlichste Monopolist ist, und wenn einmal der jetzigen höchsten politischen Gewalt des Staates die ökonomische Alleinherrschaft hinzugefügt würde, dann würde sein Brenneisen tiefer in das Fleisch der Arbeiterklasse einschneiden, als das des heutigen Kapitalismus.
Natürlich wird man mir erklären, daß der Sozialismus nicht nach einem solchen Staat trachte, daß er einen wahren, gerechten, demokratischen und wirklichen Staat anstrebe. Leider steht es mit dem wahren, wirklichen und gerechten Staat wie mit dem wahren, wirklichen und gerechten Gott, der noch nie entdeckt wurde. Laut unseren guten Christen ist der wirkliche Gott gütig und liebend, gerecht und unparteiisch. Doch als was erwies er sich in Wirklichkeit? Als ein Gott der Tyrannei, des Krieges und des Blutvergießens, des Verbrechens und der Ungerechtigkeit. Genau so steht es im Falle des Staates, ob nun republikanischer, demokratischer oder sozialistischer Färbung. Immer und überall bedeutet er, und muß dies auch bedeuten, Obergewalt, und damit Sklaverei, Unterwerfung und Abhängigkeit.
Wie sehr grinsen sich die politischen Kulissenschieber eins, wenn sie den Andrang der Menschen auf die neueste Attraktion in der politischen Kino-Show beobachten. Diese armen, getäuschten und kindischen Menschen, die für immer mit der vorzüglichen Medizin Politik versorgt sind – entweder durch den republikanischen Elefanten, die demokratische Kuh oder den sozialistischen Esel, wobei das Grunzen eines jeden von ihnen lediglich einen neuen Rag aus der politischen music-box darstellt. Der Morast des politischen Lebens befindet sich unentwegt in Erregung, während unterdessen das gigantische Ungeheuer der Gier und des Streites, der Verworfenheit und des Zerfalls umgeht und gnadenlos seine Opfer verschlingt. Alle Politiker, gleich wie ernsthaft (falls solch eine Außergewöhnlichkeit überhaupt denkbar ist) sie auch sein mögen, sie sind unbedeutende Reformisten und deshalb die Verewiger des bestehenden Systems.
Der Sozialismus war in seinen Anfängen vollständig und unumstößlich diesem System feindlich gestimmt. Er war anti-autoritär, anti-kapitalistisch, anti-religiös; kurz, er konnte und wollte auch nicht mit nur einer einzigen bestehenden Institution Frieden schließen. Aber durch den bösen Geist der Politik irregeleitet, geriet er in die Falle und hegt nun nur noch einen Wunsch – sich selbst den engen Grenzen seines Käfigs anzupassen, Teil der Autorität, Teil genau der Macht zu werden, die das schöne Kind Sozialismus erschlagen und ein scheußliches Monster hinterlassen hat.
Seit den Tagen der alten Internationalen, seit dem Streit zwischen Bakunin und Marx und Engels, verlor der Sozialismus langsam aber sicher seine Kampfedern – seinen rebellischen Geist und seine starke revolutionäre Richtung – als er selbst mehr und mehr hinnahm, durch politische Ziele und Regierungsämter verführt zu werden; und nach und nach wurde der Sozialismus machtloser, sich selbst aus der politischen Hypnose zu wecken und verbreitete dabei im Verhältnis zu seinen politischen Erfolgen Apathie und Passivität. Die Massen werden gedrillt und für die politische Kühllagerung durch den sozialistischen Wahlfeldzug eingemacht. Jeder direkte, unabhängige und mutige Angriff auf den Kapitalismus und den Staat wird entmutigt oder tabuisiert. Die einfältigen Wähler warten im Repräsentantentheater geduldig von einen politischen Auftritt zum nächsten auf die Genossen Schauspieler, auf daß sie eine Vorstellung geben und vielleicht ein neues Kunststück vorführen.
In der Zwischenzeit bringt der sozialistische Kongreßabgeordnete Meter auf Meter Resolutionen für den Papierkorb ein, was die Verewigung genau der Dinge bewirkt, deren Umsturz der Sozialismus sich einst als Ziel steckte. Die sozialistischen Bürgermeister sichern beflissen die Geschäftsinteressen ihrer Städte, auf daß sie in Frieden ruhen mögen; niemals wird für sie von einem sozialistischen Bürgermeister eine Bedrohung ausgehen. Und werden solche Kasperletheater kritisiert, erheben sich die sozialistischen Anhänger aufgebracht und sagen, wir müßten warten, bis die Sozialisten die Mehrheit hätten.
Die politische Falle führte den Sozialismus aus der stolzen und bedingungslosen Stellung einer revolutionären Minderheit, die um Grundsätzliches kämpfte und die Bollwerke der Reichen und der Macht untergrub, in das Lager der rankeschmiedenden, schlichtenden und schwerfälligen Mehrheit über; er beschäftigt sich mit Unwesentlichem, mit Dingen, die die Oberfläche kaum berühren, Maßnahmen, die von den flauesten Reformisten als politische Köder verwandt werden: Altersversorgung, Petition und Volksentscheid, der Widerruf von Richtern und andere solcher äußerst aufsehenerregender und schrecklicher Dinge.
Um diese ‚revolutionären‘ Maßnahmen auszuführen, sinkt die Elite in den sozialistischen Reihen vor der Mehrheit auf die Knie und streckt das Siegesblatt des Kompromisses empor und sorgt eich um jeden Aberglauben, um jedes Vorurteil und um jede dümmliche Tradition. Selbst die sozialistischen Politiker wissen, daß die wählende Mehrheit in Unwissenheit getränkt ist, daß ihr nicht einmal das ABC des Sozialismus geläufig ist. Man sollte deshalb annehmen, das Ziel dieser ‚wissenschaftlichen‘ Sozialisten liege darin, die Masse auf ihre intellektuellen Höhepunkte emporzuheben. Doch keineswegs! Dies würde die Gefühle der Mehrheit zu sehr verletzen. Folglich müssen die Führer auf den niederen Stand ihrer Wählerschaft niedersinken und damit für die Unwissenheit und das Vorurteil der Wähler sorgen. Und genau so verhielt sich der Sozialismus, seitdem er in der politischen Falle gefangen ist.
Einer der Gemeinplätze des heutigen Sozialismus ist die Vorstellung der Evolution. Um Himmels willen! Keine Revolution! Wir sind freiheitsliebende Menschen, wir wollen Evolution! Ich werde jetzt nicht versuchen zu beweisen, daß Evolution Wachstum von einem niederen zu einem höheren Bewußtseinsstand bedeuten muß, und daß somit die Sozialisten aus ihrem eigenen evolutionären Standpunkt heraus erbärmlich versagt haben, da sie jedem einzelnen ihrer ursprünglichen Prinzipien den Rücken kehrten. Untersuchen will ich nur diese wunderbare Sache, sozialistische Evolution.
Dank Karl Marx und Friedrich Engels wissen wir, daß der Sozialismus sich von einer Utopie zu einer Wissenschaft entwickelt hat. Langsam, meine Herren! Utopischer Sozialismus ist nicht von jener Art, die sich selbst in der Falle der Politik fangen ließe, er ist vielmehr von der Art, die Enthusiasmus, Begeisterung, Mut und Idealismus verliehen hat und noch weiterhin verleiht. Er ist die Art Sozialismus, die nichts vom ekelhaft kriecherischen Kompromiß eines Berger, eines Hillquit, eines Ghent oder eines anderen derartiger ‚wissenschaftlicher‘ Herren aufweist. Jeder kühne Versuch, eine große Umwälzung in den bestehenden Zuständen zu bewirken, jede erhabene Vision neuer Möglichkeiten für die menschliche Rasse wurde mit der Auszeichnung Utopisch versehen. Wenn der wissenschaftliche Sozialismus Stagnation anstelle von Aktivität, Feigheit anstelle von Mut, Ergebung anstelle von Kühnheit, unterwerfung anstelle von Herausforderung setzt, dann hätten Marx und Engels besser nie gelebt, trotz allen Diensten, die sie für den Sozialismus leisteten.
Doch ich widerspreche, daß der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus seine Überlegenheit über den utopischen Sozialismus unter Beweis gestellt hat. Wenn wir die Fehler einiger durch die großen Propheten getroffenen Voraussagen überprüfen, werden wir mit Sicherheit sehen, wie arrogant und anmaßend die wissenschaftlichen Wortgefechte waren.Marx war sich dessen sicher, daß die Mittelschicht vom Handlungsort verschwinden und nur noch zwei kämpfende Kräfte zurücklassen würde: die kapitalistische und die proletarische Klasse. Doch die Mittelschicht besaß die Frechheit, dem Genossen Marx diesen Gefallen nicht zu tun. Die Mittelschicht wächst überall an und ist tatsächlich der stärkste Verbündete des Kapitalismus. Und wirklich war die Mittelschicht noch nie mächtiger als heute, was durch tausend Fakten belegt werden kann, doch in der Hauptsache durch gerade die Herren in den sozialistischen Rängen – die Rechtsanwälte, Minister und kleinen Geschäftsleute – die die Bewegung heimsuchen. Sie formen den Sozialismus zu einer anständigen, mittelständischen, friedlichen und ordnungsliebenden Ausgabe um, da sie selbst diese bestimmte Richtung vertreten. Sie müssen sich unvermeidlich der Methoden der Werbung bedienen, um die Neigungen Aller anzugleichen und das System des Diebstahls und der Ausbeutung zu stärken.
Marx sagte voraus, daß die Arbeiter im Verhältnis zu dem Zuwachs des Reichtums ärmer werden würden. Auch dies traf nicht in der von Marx erhofften Weise ein. Die Massen der Arbeiter werden wirklich immer ärmer, doch verhindert dies nicht das Emporkommen einer Arbeiteraristokratie innerhalb der eigenen Reihen der Arbeiterklasse. Eine Klasse von Großtuern, die – aufgrund höherer Löhne und angeseheneren Positionen, doch hauptsächlich aufgrund dessen, daß sie ein wenig sparen und ein kleines Vermögen erlangen konnten – Sympathien zu den Ihren verloren und nun die lautesten Schreihälse gegen revolutionäre Mittel sind.
Die Wahrheit ist, daß sich die Sozialistische Partei von heute nur aus diesen Arbeiteraristokraten zusammensetzt; daher kommt es, weshalb diese nichts mit denen, die sich für revolutionäre, d.h., anti-parlamentarische Methoden einsetzen, zu schaffen haben wollen. Die Möglichkeit, Bürgermeister, Kongreßabgeordneter oder irgendein anderer höherer Beamter zu werden, ist zu verlockend, diesen Emporkömmlingen zu erlauben, irgendetwas zu tun, das solch eine prächtige Aussicht aufs Spiel setzen würde.
Doch wie steht es mit dem vielgepriesenen Klassenbewußtsein der Arbeiter, das wie ein besonderes Gärmittel wirken soll? Wo und wie erklärt es sich? Wäre es eine angeborene Eigenschaft, dann hätten die Arbeiter zweifellos bereits vor langer Zeit dieses Faktum demonstriert und ihre erste Handlung hätte darin bestanden, Rechtsanwälte, Minister und die Gauner des Immobilienwesens, die schmarotzerischsten Typen in unserer Gesellschaft, aus den sozialistischen Reihen hinwegzufegen. Klassenbewußtsein kann niemals in der Arena der Politik demonstriert werden, da die Interessen des Politikers und des Wählers nicht identisch sind. Der Eine trachtet nach einem Ministersessel, während der Andere die Kosten dafür zu zahlen hat. Wie soll da zwischen ihnen ein Mitgefühl bestehen? Gleichheit der Interessen entwickelt Klassenbewußtsein, wie es in der syndikalistischen und jeder anderen revolutionären Bewegung gezeigt wird; im entschlossenen Versuch, das bestehende System zu stürzen, im großen Krieg, der gegen jede heutige Institution zugunsten eines Neuaufbaus geführt wird.
Die Polit-Sozialisten kümmern sich nicht im geringsten um solch ein Klassenbewußtsein. Im Gegenteil, sie bekämpfen es mit der größten Anstrengung. In Mexiko wurde Klassenbewußtsein in einer Weise demonstriert, wie seit der großen Französischen Revolution nicht mehr. Die wirklichen und wahren Proletarier, die bestohlenen und versklavten Peons (Anm.: Tagelöhner, Leibeigene in Span. sprechenden Ländern) kämpfen um Land und Freiheit. Zwar wissen sie nichts von der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus und schon gar nichts von der materialistischen Geschichtsbetrachtung, wie sie in Marx’ Das Kapital dargelegt ist, doch wissen sie mit mathematischer Folgerichtigkeit, daßsie in die Sklaverei verkauft wurden. Sie wissen auch, daß ihre Interessen die der Landräuber schädigen, und sie erhoben sich gegen diese Klasse, gegen jene Interessen zur Revolte.
Wie begegnen die Monopolisten des Klassenbewußtseins aus dem Lager des wissenschaftlichen Sozialismus diesem wundervollen Aufstand? Mit dem Gezeter: „Banditen, Freibeuter, Anarchisten, Verblendete“ – unfähig, die wirtschaftliche Armut zu verstehen oder zu deuten. Und vorausbestimmt erlaubt die lähmende Wirkung der Falle der Politik keine Sympathie mit der erhabenen Wut der Unterdrückten. Sie hat sich in gradlinigen legalen Grenzen zu bewegen, indessen die Yaqui-Indianer und die mexikanischen Peons alle Gesetze gebrochen und alles Eigentum verletzt haben; sie besaßen sogar die Frechheit, das Land der Enteigner zu enteignen und ihre Tyrannen und Peiniger zu vertreiben. Wie können da noch friedvolle Bewerber um einen Job in der Politik solch ein Verhalten billigen? Dadurch, daß er sein Äußerstes für den Fleischtopf des Staates, den zuverlässigsten Beschützer des Eigentums, gibt, kann der Sozialist sich unmöglich irgendeiner Bewegung, die derart unverschämt das Eigentum angreift, anschließen. Auf der anderen Seite befindet sich dies in vollständiger Übereinstimmung mit den politischen Zielen der Partei, jene zu nötigen, die die Stimmenstärke des klassenbewußten Sozialismus vermehren könnten. Beachte, wie heikel er die Religion behandelt, wie er das Alkoholverbot tätschelt, wie er die anti-asiatischen und Negerprobleme aufgreift, kurz, wie jenes gespenstische Vorurteil mit Samthandschuhen angefaßt wird, um ja nicht seine empfindsamen Seelen zu verletzen.