Emma Goldman
Plädoyer für die Minderheiten
Wenn man mich nach dem Trend unserer Zeit fragte, würde ich sagen: Quantität. Die Menge, der Geist der Masse, ist überall dominant, auf Kosten der Qualität. Unser ganzes Leben – Produktion, Politik und Bildung – basiert auf Quantität, auf Zahlen. Die ArbeiterInnen, die einmal stolz auf die Gründlichkeit und die Qualität ihrer Arbeit waren, wurden durch gehirnlose, inkompetente Roboter ersetzt, die enorme Mengen an Dingen schaffen, die ihnen selbst nichts wert sind und im Allgemeinen schädlich für den Rest der Menschheit. Quantität hat also das Leiden der Menschen erhöht, anstatt ihr Leben angenehmer und friedlicher zu gestalten.
In der Politik zählt nichts als Quantität. Proportional zu ihrem Anstieg werden hingegen Prinzipien, Ideale, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit gänzlich von Zahlenreihen überschwemmt. Im Kampf um die Vorherrschaft übertreffen sich die politischen Parteien gegenseitig mit ihren Tricks, Täuschungen, Intrigen und zwielichtigen Machenschaften. Sie vertrauen darauf, dass sich die erfolgreichere als Siegerin des Jubels der Massen sicher sein kann. Das ist der einzige Gott: Erfolg. Zu welchem Preis jedoch, welch schrecklichen Schaden der Charakter dabei nimmt, das spielt keine Rolle. Um diese traurige Tatsache zu belegen, müssen wir nicht lange nach Beispielen suchen.
Noch nie zuvor war die Korruption, war die völlige Verdorbenheit unserer Regierung so offensichtlich; nie zuvor war die Bevölkerung der USA in solcher Weise mit dem Judas-Charakter jenes politischen Organs konfrontiert, das jahrelang vorgab, jenseits aller Kritik zu stehen, Hauptstütze unserer Institutionen und wahre Beschützerin der Rechte und Freiheiten der Bevölkerung zu sein.
Aber als die Verbrechen jener Partei so unverfrorene Ausmaße annahmen, dass selbst die Blinden sie sehen konnten, musste sie nur ihre Lakaien um sich scharen und ihre Vormachtstellung war gesichert. Die Opfer selbst also, die Betrogenen, Verratenen, hundertmal Entrüsteten, entschieden sich nicht gegen, sondern für die Siegerin. Befremdet fragten die Wenigen, wie die Traditionen der amerikanischen Freiheit von der Mehrheit derart im Stich gelassen werden konnten. Wo war ihr Urteilsvermögen, ihre Vernunft? Und das ist der Punkt: Die Mehrheit kann nicht vernünftig sein; sie kann nicht urteilen. Da es ihr völlig an Originalität und moralischer Courage mangelt, hat die Mehrheit stets ihr Schicksal in die Hände anderer gelegt. Da sie unfähig ist, Verantwortung auszuhalten, ist sie ihren Anführerinnen bis in die Zerstörung gefolgt. Dr. Stockman[1] hatte recht: »Der gefährlichste Feind von Wahrheit und Gerechtigkeit unter uns ist die kompakte Mehrheit, die verdammte kompakte Mehrheit.« Die kompakte Masse verfügt über keinerlei Ambitionen oder Initiative, sie hasst nichts so sehr wie Neuerungen. Stets hat sie sich gegen Erneuerer und Pionierinnen neuer Wahrheiten gestellt, sie verdammt und verfolgt.
Der oft von PolitikerInnen, selbst von SozialistInnen, wiederholte Slogan unserer Tage bezeichnet unsere Zeit als eine des Individualismus, der Minderheit. Dieser Sicht kann sich nur anschließen, wer nicht unter die Oberfläche schaut. Sind es nicht einige Wenige, die den Reichtum der Erde für sich beanspruchen? Sind sie nicht die Herren, die absoluten Könige der Situation? Ihr Erfolg jedoch ist nicht dem Individualismus geschuldet, sondern der Trägheit, Zurückhaltung, der völligen Selbstaufgabe der Masse. Letztere will dominiert werden, geführt werden, genötigt werden. Was den Individualismus angeht, so hatte er zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit weniger Ausdrucksfreiheit, weniger Möglichkeiten, sich auf normale, gesunde Weise durchzusetzen.
Einzelne Pädagoglnnen, die sich ernsthaft bemühen, KünstlerInnen oder AutorInnen voll origineller Ideen, unabhängige WissenschaftlerInnen oder ForscherInnen, die fest entschlossenen Pioniere gesellschaftlichen Wandels, werden Tag für Tag von Menschen an die Wand gedrückt, deren kreative Anlage und Auffassungsgabe mit der Zeit verkümmert ist.
Pädagogen wie Ferrer werden nirgends toleriert, während Spezialisten für vorgekautes Wissen wie die Professoren Eliot und Butler erfolgreiche Vertreter eines Zeitalters von Nichtigkeiten, von Robotern, sind. In der Welt der Literatur und des Theaters sind Humphrey Wards und Clyde Fitch die Idole der Masse, während nur wenige die Schönheit und das Genie eines Emerson, Thoreau oder Whitman kennen oder zu schätzen wissen, eines Ibsen, Hauptmann, Butler Yeats oder Stephen Phillips. Sie sind wie vereinzelte Sterne, die weit jenseits des Horizonts der Menge scheinen.
HerausgeberInnen, TheaterdirektorInnen und KritikerInnen fragen nicht nach der Qualität, die der kreativen Kunst innewohnt, sondern, ob sie sich gut verkaufen wird, ob sie den Geschmack der Leute treffen wird. Leider gleicht ihr Geschmack einer Müllhalde; ihnen gefällt alles, was nicht mental verarbeitet werden muss. Im Ergebnis sind daher die meisten literarischen Werke mittelmäßig, gewöhnlich, abgedroschen.
Muss ich hinzufügen, dass wir es auch in der Kunst mit diesen traurigen Tatsachen zu tun haben? Man sehe sich nur einmal unsere Parks und Straßen an, um die Abscheulichkeit und Geschmacklosigkeit der Kunsterzeugnisse zu bemerken. Nur der Geschmack einer Mehrheit ist in der Lage, einen solchen Frevel an der Kunst zu ertragen. Falsche Konzepte, grobe Ausführung – die Statuen, mit denen US-amerikanische Städte verschandelt werden, haben so viel mit wahrer Kunst zu tun wie ein Totem mit Michelangelo. Dennoch ist diese Kunst erfolgreich. Das wahre Künstlergenie, das keine Erwartungen erfüllt, das Originalität praktiziert und danach strebt, authentisch im Leben zu sein, führt eine dunkle und elende Existenz. Eines Tages mag seine Arbeit vielleicht zur Mode des Mobs werden, aber nicht bevor sein Herzblut aufgebraucht ist; nicht bevor der Wegbereiter den Geist aufgegeben und ein Mob ohne jegliche Ideen und Visionen das Erbe des Meisters zu Grabe getragen hat.
Es heißt, Künstlerinnen von heute könnten nicht kreativ sein, weil sie wie Prometheus an den Fels der wirtschaftlichen Notwendigkeiten gekettet sind. Das gilt allerdings für die Kunst aller Epochen. Michelangelo war von seinem Gönner abhängig, nicht weniger als die BildhauerInnen oder MalerInnen von heute, nur dass die Kunstmäzene jener Tage weit entfernt waren von der tollwütigen Menge. Für sie war es eine Ehre, dem Schrein des Meisters dienen zu dürfen.
Kunstprotektoren unserer Tage kennen nur ein Kriterium, einen Wert: den Dollar. Die Qualität einer großartigen Arbeit interessiert sie nicht, sondern die Menge an Dollars, die deren Verkauf einbringt. So wie der Finanzier in Mirbeau’s Les Affaires sont les Affaires auf ein verschmiertes Arrangement in allen Farben zeigt und sagt: »Sieh nur, wie großartig es ist; es kostet 50.000 Franc.« So wie unsere eigenen Neureichen. Die fabulösen Gestalten, die für ihre großartigen Entdeckungen in der Kunst bezahlt werden, müssen die Armut ihres Geschmacks kompensieren.
Die unverzeihlichste Sünde der Gesellschaft ist unabhängiges Denken. Dass dies in einem Land, dessen Symbol die Demokratie ist, so schrecklich offensichtlich sein kann, spricht deutlich für die enorme Macht der Mehrheit.
Vor 50 Jahren sagte Wendell Phillips: »In unserem Land der absoluten, demokratischen Gleichheit ist die öffentliche Meinung nicht nur omnipotent, sondern omnipräsent. Vor ihrer Tyrannei gibt es keine Zuflucht, es gibt kein Entrinnen vor ihrem Zugriff, mit dem Ergebnis, dass, wenn man die alte Laterne des Diogenes nimmt und sich unter Hunderten auf die Suche begibt, man keinen einzigen US-Amerikaner finden wird, der nicht für den Ehrgeiz, seine gesellschaftliche Existenz oder sein Geschäft etwas aufgrund der guten Meinung und der Stimmen derer, die ihn umgeben, zu gewinnen oder verlieren hat oder dies wenigstens glaubt. Infolgedessen sind wir, statt eine Masse von Individuen zu sein, in der alle ohne Angst ihre eigenen Überzeugungen vertreten können, als Land verglichen mit anderen Ländern eine Masse von Feiglingen. Mehr als in jedem anderen Land fürchten wir uns voreinander.« Offenbar haben wir seit jener Zeit, verglichen mit den Bedingungen, denen sich Wendell Phillips ausgesetzt sah, kaum Fortschritte gemacht.
Heute wie damals ist die öffentliche Meinung der stets präsente Tyrann; heute wie damals ist die Mehrheit eine Masse von Feiglingen, bereit, diesen Tyrann zu akzeptieren, der die Armut ihrer eigenen Seele und ihres eigenen Geistes widerspiegelt. So erklärt sich auch der beispiellose Aufstieg eines Mannes wie Roosevelt. Er ist der Inbegriff der schlimmsten Elemente der Psychologie des Mobs. Als Politiker weiß er, dass sich die Mehrheit wenig um Ideale oder Integrität schert. Sie möchte eine Show sehen, ganz gleich ob eine Hundeschau, einen Boxkampf, das Lynchen eines ›Niggers‹, die Verhaftung eines unbedeutenden Verbrechers, die Ankündigung der Hochzeit einer reichen Erbin oder die akrobatischen Kunststücke eines Ex-Präsidenten. Je abscheulicher die geistigen Verzerrungen, desto größer die Freude und der Applaus der Masse. Und so bleibt Roosevelt trotz seiner fehlenden Ideale und seines trivialen Wesens der Mann der Stunde.
Andererseits werden jene, die hoch über solche politischen Zwerge hinausragen, gebildete, kultivierte Menschen, die Fähigkeiten haben, wie Weichlinge ausgelacht, bis sie schweigen. Es ist absurd, zu behaupten, wir würden im Zeitalter des Individualismus leben. Unsere Zeit ist nur eine schmerzlichere Wiederholung des Phänomens, das die komplette Geschichte charakterisiert: Nicht die Masse ist es, die sich für Fortschritt, Erleuchtung, für Wissenschaft, für religiöse, politische und wirtschaftliche Freiheit einsetzt, sondern die Minderheit. Auch heute werden diese Wenigen, wie zu allen Zeiten, missverstanden, verfolgt, eingesperrt, gefoltert, getötet.
Das Prinzip der Brüderlichkeit, wie es der Agitator von Nazareth erklärt hat, barg in sich den Keim des Lebens, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, solange es ein Leuchtfeuer der Wenigen war. In dem Moment, als die Mehrheit es sich aneignete, wurde aus diesem großartigen Prinzip eine Plattitüde und der Vorbote von Blut und Feuer, der Leid und Unheil verbreitete. Der Angriff auf die Allmacht Roms durch die kolossalen Gestalten Hus, Calvin und Luther war wie ein Sonnenaufgang inmitten der nächtlichen Finsternis. Aber sobald Luther und Calvin zu Politikern wurden und damit begannen, auf die kleinen Potentaten, den Adel und den Geist der Masse einzugehen, gefährdeten sie die großartigen Möglichkeiten der Reformation. Sie waren erfolgreich und gewannen die Mehrheit für sich, aber diese Mehrheit stellte sich als nicht weniger grausam und blutrünstig bei der Verfolgung des Denkens und der Vernunft heraus als das katholische Monster. Welch ein Leid für die KetzerInnen, für die Minderheit, die sich diesem Diktat nicht beugte. Nach unendlichem Eifer, nach langer Ausdauer und vielen Opfern ist der menschliche Geist endlich vom Phantom der Religion befreit; die Minderheit hat sich zu neuen Eroberungen aufgemacht, und die Mehrheit bleibt zurück, behindert von einer Wahrheit, die mit der Zeit falsch geworden ist.
Politisch gesehen würde die Menschheit wohl noch immer in völliger Sklaverei leben, wenn da nicht die John Balls, die Wat Tylers, die Tells, die unzähligen großartigen Individuen gewesen wären, die Zentimeter für Zentimeter gegen die Macht von Königen und Tyrannen ankämpften. Hätte es nicht die einzelnen Pioniere und Pionierinnen gegeben, wäre die Welt nicht bis ins Mark von jener riesigen Welle erschüttert worden: der Französischen Revolution. Große Ereignisse kündigen sich gewöhnlich durch scheinbar kleine Dinge an. So waren beim Angriff auf die Bastille, jenes Wahrzeichen von Folter, Missbrauch und Horror, die Eloquenz und das Feuer der Worte von Camille Desmoulins wie die Trompeten von Jericho.
Immer, zu jeder Zeit, waren es Wenige, die das Banner einer großen Idee trugen, die sich für Befreiung einsetzten, nicht aber die Masse, die durch ihr eigenes bleiernes Gewicht bewegungsunfähig ist. Diese Wahrheit zeigt sich in Russland deutlicher als anderswo. Das blutrünstige Regime hat schon tausende Leben verschlungen, aber das Monster auf dem Thron ist noch immer nicht gesättigt. Wie ist so etwas möglich, wenn Ideen, Kultur, Literatur, wenn die tiefsten und großartigsten Emotionen unter dem eisernen Joch stöhnen? Die Mehrheit, jene kompakte, unbewegliche, schläfrige Masse – der russische Kleinbauer: Auch nach einem Jahrhundert des Kampfes, des Opfers, des unaussprechlichen Leidens glaubt er noch immer, dass der Strick, der ›den Mann mit den sauberen Händen‹[2] erdrosselt, Glück bringt.
Im amerikanischen Freiheitskampf war die Mehrheit lediglich ein stolpernder Klotz. Noch bis zum heutigen Tag werden die Ideen von Jefferson, Patrick Henry und Thomas Paine von deren Nachwelt dementiert und verkauft. Die Masse will nichts von ihnen wissen. Die Größe und den Mut, die man in Lincoln verehrte, vergaß man bei den Männern, die im Hintergrund das Panorama jener Zeit schufen. Die wahren SchirmherrInnen der Schwarzen waren eine Handvoll von KämpferInnen in Boston: Lloyd Garrison, Wendell Phillips, Thoreau, Margaret Fuller und Theodore Parker. Deren großartiger Mut und ihre Entschlossenheit gipfelten in jenem düsteren Giganten John Brown. Ihr unermüdlicher Eifer, ihre Eloquenz und Ausdauer untergruben die Festungen der Herren im Süden. Lincoln und seine Lakaien folgten erst nach, als die Abschaffung der Sklaverei bereits eine allseits anerkannte Tatsache geworden war.
Vor etwa 50 Jahren zeigte sich eine Idee am gesellschaftlichen Horizont der Welt, einer Sternschnuppe gleich – eine Idee, die so weit reichte, so revolutionär war, so allumfassend, dass die Herzen der Tyrannen allerorts von Entsetzen erfasst wurden. Auf der anderen Seite war diese Idee Vorbotin von Freude, von Beifall, von Hoffnung für Millionen. Die Pioniere und Pionierinnen kannten die Schwierigkeiten, die vor ihnen lagen, sie kannten die Opposition, die Verfolgung, die Nöte, die ihnen begegnen würden, aber stolz und ohne Angst begannen sie ihren Marsch nach vorn, schritten immer weiter voran. Inzwischen ist diese Idee zu einem allseits beliebten Slogan geworden. Heute sind fast alle Menschen SozialistInnen: die Reichen ebenso wie ihre armen Opfer; die VerfechterInnen von Recht und Autorität ebenso wie ihre unglückseligen Schuldigen; die FreidenkerInnen ebenso wie die Verfechter und Verfechterinnen religiöser Unwahrheiten; die modebewusste Frau ebenso wie das Mädchen im Hemdkleid. Warum auch nicht? Nun, dass die Wahrheit von vor 50 Jahren zur Lüge geworden ist, nun, dass sie von all ihrer jugendlichen Einbildungskraft gekappt und ihrer Energie, ihrer Stärke, ihres revolutionären Ideals beraubt wurde – warum auch nicht? Nun ist sie nicht länger eine wunderbare Vision, sondern ein »praktisches, durchführbares Projekt«, das auf dem Willen der Mehrheit beruht, warum auch nicht? Politische Gerissenheit weiß stets die Masse zu schätzen: die arme Mehrheit, die Empörten, die Missbrauchten; die riesige Mehrheit, wenn sie uns doch nur folgen würde.
Wer hat diese Litanei nicht schon einmal gehört? Wer kennt ; nicht diesen immer gleichen Refrain aller PolitikerInnen? Dass die Masse blutet, dass sie bestohlen und ausgebeutet wird, weiß ich ebenso gut wie unsere Stimmenfänger. Aber ich bestehe darauf, dass nicht die Handvoll von Parasiten für den schrecklichen Stand der Dinge verantwortlich ist, sondern die Masse selbst. Sie klammert sich an ihre Herren, sie liebt die Peitsche und ist die erste, die nach Kreuzigung schreit, wenn sich eine Stimme zum Protest gegen die Heiligkeit der kapitalistischen Autorität oder irgendeine andere vermoderte Institution erhebt. Wie lange könnten aber Autorität und Privateigentum bestehen, wenn nicht die Masse bereit wäre, Soldaten, Polizisten, Gefängnisaufseher und Henker zu stellen. Die sozialistischen Demagoginnen und Demagogen wissen das ebenso gut wie ich, aber sie erhalten den Mythos der Vorzüge der Mehrheit aufrecht, denn nur dieses Lebenssystem garantiert ihnen das Andauern ihrer Macht. Und wie wäre dies ohne Zahlen möglich? Ja, Autorität, Zwang und Abhängigkeit beruhen auf der Masse, niemals jedoch Freiheit und die freie Entfaltung des Individuums, niemals die Geburt einer freien Gesellschaft.
Ich lehne die Mehrheit als schöpferische Kraft des Guten nicht ab, weil ich nicht mit den Unterdrückten, den Entrechteten der Erde fühle oder weil ich nicht die Schande, den Horror, die Demütigung des Lebens der Menschen kenne, oh nein, nein! Der Grund ist, dass ich so deutlich sehe, dass die Mehrheit als kompakte Masse niemals für Gerechtigkeit oder Gleichheit gestanden hat. Sie hat die menschliche Stimme unterdrückt, den menschlichen Geist unterworfen, den menschlichen Körper in Ketten gelegt. Als Masse war ihr Ziel stets, das Leben uniform, grau und monoton zu machen wie die Wüste. Als Masse wird sie stets das Ende der Individualität, der freien Initiative, der Originalität bedeuten. Daher glaube ich mit Emerson, dass »die Massen grob, lahm, in ihren Forderungen und ihrem Einfluss schädlich sind und nicht umschmeichelt werden dürfen, sondern erzogen werden müssen. Ich möchte ihnen nichts gewähren, sondern sie drillen, spalten und aufbrechen, Individuen aus ihnen herausziehen. Massen! Katastrophen sind die Massen. Ich möchte überhaupt keine Masse, sondern nur ehrliche Männer, nur schöne, liebliche, tüchtige Frauen.«
Mit anderen Worten, die lebendige, unabdingbare Wahrheit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohlergehens kann nur durch Eifer, Mut und die unnachgiebige Entschlossenheit der intelligenten Minderheiten Wirklichkeit werden, nicht durch die Masse.
[1] Hauptfigur in Henrik Ibsens Drama Ein Volksfeind
[2] Der Intellektuelle