Titel: Meine zwei Jahre in Russland
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: 1921 und 1925 in zwei Teilen
Quelle: Entnommen aus "Emma Goldman - Meine zwei Jahre Russland" von V. Lenzer Verlagskollektiv, erschienen Januar 2020.
Bemerkungen: Die englische Originalausgabe erschien 1921 und 1925 in den USA aufgrund eines Versehens in zwei Teilen unter den Titeln My Disillusionment in Russia und My Further Dissillusionment in Russia.

    Vorwort der Übersetzer*innen

      I

      II

    Vorwort zum ersten Teil der amerikanischen Ausgabe

    Vorwort zum zweiten Teil der amerikanischen Ausgabe

    Kapitel 1. Abschiebung nach Russland

    Kapitel 2. Petrograd

    Kapitel 3. Beunruhigende Gedanken

    Kapitel 4. Moskau: Erste Eindrücke

    Kapitel 5. Ich treffe mich mit Leuten

    Kapitel 6: Vorbereitungen für Abgeschobene aus Amerika

    Kapitel 7: Erholungshäuser für Arbeiter*innen

    Kapitel 8: Der Erste Mai in Petrograd

    Kapitel 9: Industrielle Militarisierung

    Kapitel 10: Die britische Arbeiter*innen-Delegation

    Kapitel 11: Ein Besuch aus der Ukraine

    Kapitel 12: Unter der Oberfläche

    Kapitel 13: Ich trete dem Museum der Revolution bei

    Kapitel 14: Petropawlowsk und Schlüsselburg

    Kapitel 15: Die Gewerkschaften

    Kapitel 16: Maria Spiridonowa

    Kapitel 17: Ein weiterer Besuch bei Peter Kropotkin

    Kapitel 18: Unterwegs

    Kapitel 19: In Charkiw

    Kapitel 20: Poltawa

    Kapitel 21: Kiew

    Kapitel 22: Odessa

    Kapitel 23: Rückkehr nach Moskau

    Kapitel 24: Zurück in Petrograd

    Kapitel 25: Archangelsk und Rückkehr

    Kapitel 26: Tod und Beerdigung von Peter Kropotkin

    Kapitel 27: Kronstadt

    Kapitel 28: Die Verfolgung der Anarchist*innen

    Kapitel 29: Handelsreisende der Revolution

    Kapitel 30: Bildung und Kultur

    Kapitel 31: Die Ausnutzung der Hungersnot

    Kapitel 32: Die Sozialistische Republik flüchtet sich in Abschiebungen

    Kapitel 33: Nachwort

      I

      II

      III

      IV

Vorwort der Übersetzer*innen

Rund einhundert Jahre sind vergangen, seit Emma Goldman ihre Eindrücke der damaligen Situation in Russland niedergeschrieben hat. Einhundert Jahre, das ist eine lange Zeit. Vieles hat sich seitdem verändert, aber vieles ist zumindest im Kern gleich geblieben. Bis heute gibt es Verfechter*innen eines Kommunismus, der sich hier und da positiv auf die russische Diktatur ab Oktober 1918 bezieht. Manch eine*r wünscht sich gar ein solches Regime im Ganzen zurück. Letzteres ist zwar eine bedeutungslose Minderheit, zumindest im deutschsprachigen Raum, dennoch arbeiten viele radikale Akteur*innen auch mit Menschen, die solche Ansichten vertreten, zusammen. Andere, nur punktuell positive Bezugnahmen auf das bolschewistische Regime sind dagegen häufiger zu vernehmen und die marxistische Vorstellung einer »Diktatur des Proletariats« ist weitläufig akzeptiert unter Kommunist*innen. Das Paradoxe daran: Zahlreiche Anarchist*innen, deren erklärtes Ziel die Beseitigung jeder Staatlichkeit ist, sehen keinen Widerspruch darin, mit kommunistischen Organisationen zusammenzuarbeiten, sich mit ihnen zu verbünden und gemeinsame Propaganda zu betreiben.

Ähnlich wie vor rund hundert Jahren (und darüber hinaus) scheint es eine vermeintlich ähnliche Analyse zu sein, die Anarchist*innen und Kommunist*innen verbindet: Der kapitalistische Staat muss beseitigt werden, damit anarchistische und kommunistische Konzepte von Freiheit verwirklicht werden können. In dem einen Fall jedoch soll dieser Staat zerstört werden, im anderen Fall geht es zunächst um eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der – aus unserer Sicht unbegründeten – Hoffnung, dass sich dieser neue, kommunistische Staat irgendwann von selbst abschaffen wird. Diese beiden Prinzipien lassen sich unmöglich vereinen: Die Aneignung, Errichtung oder Aufrechterhaltung eines Staates auf der einen Seite kann unmöglich mit der Zerschlagung des Staates auf der anderen Seite in Einklang gebracht werden.

Freilich ist nicht jede*r, die*der sich Kommunist*in nennt, auch Bolschewist*in, befürwortet und verherrlicht (historische) Regime wie das in Russland oder spricht sich für eine »Diktatur des Proletariats« aus. Dennoch: Wer sich heute Kommunist*in nennt, tut das vor dem Hintergrund eines Diskurses, in dem zumindest das autoritäre Prinzip des kommunistischen Staates fest mit diesem Begriff verbunden zu sein scheint. Und es ist eben jenes Prinzip, das unseren anarchistischen Ideen so diametral entgegensteht. Deshalb kommen wir letztlich zu dem Schluss, dass kommunistische Vorstellungen gleich welcher Ausprägung mit unseren anarchistischen Ideen unvereinbar sind.

Indem wir Emma Goldmans Erfahrungsbericht ins Deutsche übersetzen, wollen wir zu einer Debatte darum beitragen. Wir wollen uns klar von jeder Form autoritärer Überzeugungen abgrenzen und das bedeutet für uns auch eine Abgrenzung von allen Ausprägungen kommunistischer Ideen, wie wir sie geschildert haben.

Die Revolution in Russland 1917/1918 verleitete schon damals viele Anarchist*innen dazu, falsche und auch verhängnisvolle Bündnisse mit den kommunistischen Akteur*innen in Russland einzugehen. Statt gemäß ihrer jahrelang vertretenen Positionen jede Form der Regierung, jede Form eines Staates abzulehnen und zu beseitigen, unterstützten viele Anarchist*innen die Bolschewiki bei der Errichtung ihres Staates – was nicht heißt, dass nicht auch viele andere Anarchist*innen weltweit von Beginn an erbittert gegen dieselben gekämpft haben. Auch Emma Goldman gehörte zu den Anarchist*innen, die mit den Bolschewiki paktierten. Noch in Amerika veranstaltete Emma Goldman eine Werbetour für sie und nachdem sie in Russland eingetroffen war, bedurfte es unzähliger Beispiele für die grausame Herrschaft der Bolschewiki, bevor Emma Goldman ihr Vertrauen in die Bolschewiki als »Hüter*innen der Revolution« verlor. Gefängnisse, Erschießungen, Inhaftierungen von Anarchist*innen, Prunk und dekadenter Wohlstand einiger weniger, während die Mehrheit an Hunger leidet und nichts zum Leben besitzt, all das sah Emma Goldman und fragte sich dennoch immer wieder: »Waren die Bolschewiki nicht dazu gezwungen, diese Zustände zu schaffen?« Bei der Niederschrift dieser Erlebnisse rechtfertigt Emma Goldman ihre Zurückhaltung damit, dass sie quasi als neutrale Beobachterin sich ein Gesamtbild verschaffen wollte, bevor sie ein Urteil fällte. Eine Rechtfertigung, die zwar für Goldman zu genügen scheint, die wir so jedoch nur schwer akzeptieren können. Als Anarchist*innen können wir keinen neutralen Standpunkt gegenüber Herrschaft, die sich in Russland überdeutlich äußerte, einnehmen. Uns erscheint es unvorstellbar, die zahlreichen Erlebnisse, die Emma Goldman in ihrer Erzählung beschreibt, von einem neutralen Standpunkt aus zu bewerten und die Beweggründe der Unterdrücker*innen den Interessen der Unterdrückten gegenüberzustellen. Für uns ist es die Existenz von Herrschaft selbst, deren Anwendung durch die Machthaber*innen und jede Bestrebung Herrschaft aufrechtzuerhalten oder zu errichten, die unsere Feindschaft erweckt.

Warum haben wir also Emma Goldmans Erzählung übersetzt? Uns geht es nicht um eine Bewertung von Emma Goldmans Handeln. Wir müssen nicht einverstanden mit all ihren Handlungen und Ansichten sein. Gerade die anfängliche Zurückhaltung Emma Goldmans eröffnet ihr Zugang zu vielen wichtigen kommunistischen Persönlichkeiten, deren Ansichten und Beweggründe in Emma Goldmans Erzählung anschaulich dargestellt werden. Ebenso wie der Widerstand gegen die bolschewistische Diktatur, der in anderen anarchistischen Erzählungen veranschaulicht wird, erscheint uns auch diese Perspektive aufschlussreich und mit Sicherheit angenehmer zu lesen als durch die Lektüre kommunistischer und bolschewistischer Propagandaschriften aus dieser Zeit, die zudem kaum die inneren Widersprüche, in denen sich auch einige der Kommunist*innen befinden, widerspiegeln. Was Emma Goldmans Erzählung unserer Ansicht nach leistet und für uns spannend macht, ist eine Betrachtung der inneren Funktionsweise der kommunistischen Diktatur in Russland. Eine Betrachtung, die die persönlichen Motivationen der Herrscher*innen einschließt, die uns die Herrscher*innen nicht bloß als skrupellose politische Machthaber*innen präsentiert, sondern als – zum Teil – freundliche und liebenswürdige Menschen, die auch einmal mit sich, ihrer Macht und ihren Entscheidungen hardern und diese dennoch treffen. Wir glauben, dass der Wert von Emma Goldmans Betrachtung genau darin liegt. Sie zeigt, wie Herrschaft an sich korrumpiert, wie selbst die Personen mit den »besten Absichten« – was uns freilich durchaus suspekt ist – durch die Zusammenarbeit mit der Herrschaft ihre Ideen verraten statt sie zu verwirklichen, und sie verdeutlicht uns, dass es keine kommunistischen Kompromisse in unserer Ablehnung von Herrschaft geben darf.

Auch wenn wir Emma Goldmans Schilderung ihrer Erlebnisse in Russland insgesamt spannend und aufschlussreich hinsichtlich einer Debatte um die Vereinbarkeit anarchistischer Positionen mit kommunistischen Vorstellungen finden, ist Emma Goldmans Perspektive in diesem Werk vielfach nicht die unsere. Das zeigt sich bereits daran, mit wem Emma Goldman in Russland ihrer Schilderung nach verkehrte. Neben zahlreichen Kommunist*innen der herrschenden Regierung und ihren Sympathisant*innen gehören nur verhältnismäßig wenige Anarchist*innen zu Emma Goldmans Bezugspersonen in Russland. Und der Großteil derjenigen Anarchist*innen, die Emma Goldman trifft, wird von ihr in syndikalistischen Organisationen verortet und/oder arbeitet mit der bolschewistischen Regierung zusammen. Es ist möglich, dass Emma Goldman in ihrer Schilderung viele Treffen bewusst ausspart, um Menschen vor Repression zu schützen, für die in ihrer Erzählung vermittelte Perspektive ist das jedoch einerlei.

Besonders hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die Emma Goldman aus ihren Erfahrungen zieht, ergibt sich stellenweise eine tiefe Kluft zwischen unseren Ideen und den Positionen Emma Goldmans. Es ist nicht so, dass wir allen Schlussfolgerungen Goldmans widersprechen würden, insgeheim haben wir uns zeitweise jedoch überlegt, ob wir das letzte Kapitel, Emma Goldmans Nachwort, das vor allem ihre Schlussfolgerungen darlegt, nicht lieber unterschlagen sollten. Das haben wir natürlich nicht gemacht, wir wollen es jedoch auch nicht einfach unkommentiert stehen lassen, weshalb wir im Folgenden zu zwei Aspekten daraus unsere Sichtweise schildern wollen:


I

In ihrem Nachwort gelangt Emma Goldman zu dem Schluss, dass der Anarchosyndikalismus aus ihrer Sicht erfolgsversprechende Lösungen zur Organisierung einer postrevolutionären Wirtschaft – und damit auch einer postrevolutionären Gesellschaft bereithalte. Auch wenn Emma Goldman betont, dass aus ihrer Sicht eine Neuorganisierung der Wirtschaft alleine keinesfalls ausreichend sein kann und zum Scheitern verurteilt ist, wenn nicht zugleich libertäre Ideen Verbreitung unter den Menschen fänden, können wir nicht nachvollziehen, wie Emma Goldman zu diesem Schluss kommen kann: Zwar stellt der Anarchosyndikalismus die Eigentumsverhältnisse einer Gesellschaft in Frage und will die Wirtschaft auf Basis von Selbstorganisation (durch gewerkschaftliche Organisationen) fortführen, jedoch mangelt es anarchosyndikalistischen Theorien unserer Ansicht nach an der Einsicht, dass die wirtschaftlichen Strukturen, die Produktionsmethoden und die Zentralisierung einer kapitalistischen Gesellschaft an sich in einem Maße herrschaftsvoll sind, sodass sie sich nicht einfach enthierarchisieren lassen. Zu glauben, dass es im Kern nur einer Abschaffung der Chef*innen, bzw. vielmehr ihres Austauschs durch gewählte Repräsentant*innen der Belegschaft bedarf, um eine selbstorganisierte Wirtschaftsweise ohne Hierarchien zu schaffen, ist für uns bestenfalls naiv und zeugt im schlimmsten Fall von den autoritären Sehnsüchten der Verfechter*innen dieser Idee, die sich auffallend oft selbst in der Position derjenigen sehen, die dann die Geschicke des wirtschaftlichen Lebens lenken.

Während Emma Goldman in einer anarchosyndikalistischen Organisation der Wirtschaft ein Bindeglied zwischen Stadt und Land sieht, fragen wir uns, ob die damals und in ihrem Wesen bis heute gängige Stadt-Land-Infrastruktur nicht eine herrschaftsvolle Art und Weise des Zusammenlebens ist, ebenso wie Fabriken, die auf Rohstoffe aus völlig anderen Regionen angewiesen sind und die nur in der Zusammenarbeit vieler Fabriken in der Lage sind, ihre (End-)Produkte herzustellen, für uns die Frage danach aufwerfen, inwiefern sich eine solche Wirtschaft überhaupt antiautoritär »organisieren« lässt. Wir haben keine konkreten Vorstellungen davon, wie ein wirtschaftliches Leben in einer postrevolutionären Gesellschaft aussehen könnte, wir wissen nicht einmal ob es unseren Vorstellungen gemäß überhaupt eine postrevolutionäre Gesellschaft – die ja dann irgendwo das Ende der Geschichte, ein unveränderliches Ideal darstellen würde – geschweige denn ein wirtschaftliches Leben darin gibt. Wir sind jedoch überzeugt davon, dass eine mehr oder weniger zentralistische Organisation der Gesellschaft – und im Falle des Anarchosyndikalismus wären das gewerkschaftliche Strukturen zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft, ebenso wie die Fabriken selbst – keine antiautoritäre Form des Zusammenlebens sein kann. Jede solche Organisation wird unseren Vorstellungen zufolge früher oder später autoritäre Strukturen etablieren, jede solche Organisation lässt sich zur Durchsetzung individueller Interessen gegen die Interessen anderer instrumentalisieren. Nach dem, was Emma Goldman über die Wirtschaft unter dem bolschewistischen Regime berichtet hat, sehen wir unsere Ansichten nur bestärkt: Statt dass die Menschen die Belange, die ihr Leben betreffen (und dazu gehört auch die Produktion von Gütern), selbst organisieren, setzte das bolschewistische Regime auf eine autoritäre Wirtschaft, in der Entscheidungen zentral und von oben nach unten getroffen wurden. Der Anarchosyndikalismus stellt zwar das »von oben nach unten« in Frage und strebt nach einer Rätestruktur, die die Anführer*innen wählbar macht und die die Basis grundsätzlich mitbestimmen lässt, er stellt jedoch nicht die Zentralität der Wirtschaft in Frage oder zumindest nicht über ein gewisses Maß hinaus. Dadurch wird unserer Ansicht nach auch im Anarchosyndikalismus faktisch verhindert, dass die Menschen sich gemäß ihrer eigenen Interessen und Bedürfnisse selbst organisieren: Sie müssen ihre Bedürfnisse in einem langwierigen und vor allem politischen Prozess der Repräsentation mit anderen jenseits ihres direkten Umfelds abstimmen, die in den meisten Fällen von ihren Entscheidungen gar nicht betroffen wären. Der Sinn einer solchen Herangehensweise erschließt sich uns nicht, daher können wir nur zu dem Schluss kommen, dass den Ideen des Anarchosyndikalismus etwas Herrschaftsvolles anhaftet. Aber wir wollen uns hier eigentlich nicht an einer Kritik des Anarchosyndikalismus abarbeiten, das wurde bereits an vielen anderen Stellen getan. Uns geht es lediglich darum, Emma Goldmans abschließende Perspektive ihres Erlebnisberichts, die für uns keine ist, nicht unkommentiert stehen zu lassen. Daher belassen wir es hier bei dem Hinweis, dass anarchosyndikalistische Organisationen und Publikationen, von denen einige ja auch in Emma Goldmans Bericht erwähnt werden, nicht zufällig länger als irgendeine andere anarchistische Organisation oder Person mit den Bolschewiki kooperierten und entsprechend von den Bolschewiki auch geduldet wurden. Nicht die Terrorherrschaft der Bolschewiki, sondern vor allem ein Konflikt über das ökonomische Programm der Regierung setzt dieser Zusammenarbeit schließlich ein Ende. Dabei sei nicht gesagt, dass nicht auch Anarchosyndikalist*innen den Methoden der Bolschewiki ablehnend oder zumindest kritisch gegenübergestanden hätten, es ist vielmehr die Prioritätensetzung einiger einflussreicher anarchosyndikalistischer Organisationen, die uns beunruhigt, die, solange sie darin eine Perspektive sehen, ihre Vorstellungen einer Organisierung des ökonomischen Lebens Russlands zu verwirklichen, lieber mit einem Staat, der seine Bevölkerung brutal unterdrückt, zusammenarbeiten, statt diesen selbst und jede Bestrebung ihn am Leben zu erhalten von Anfang an zu sabotieren.


II

Im letzten Teil ihres Nachwortes widmet sich Emma Goldman der Frage, inwiefern mit einer Veränderung der sozialen Verhältnisse im Zuge einer Revolution auch eine Veränderung der Werte einhergehen muss. Ihre Überlegungen sind geprägt davon, dass sie das bolschewistische Motto »Der Zweck heiligt jedes Mittel« ablehnt, das sie zu Recht als problematische Einstellung, die durch die Bolschewiki ja auch zur Rechtfertigung autoritärer Handlungen gebraucht wurde, identifiziert. Dieser Meinung können wir uns anschließen. Der weiteren Schlussfolgerung Emma Goldmans, dass es Aufgabe der Revolution sei, eine neue Ethik zu schaffen, der sich jede Handlung unterzuordnen habe, dagegen keineswegs! Die herrschenden ethischen Prinzipien einer Gesellschaft dienen dazu, die Handlungen der Menschen unter eine bestimmte Norm zu unterwerfen, bestimmten Gefühlen, Empfindungen und Handlungswünschen der Menschen, insbesondere subversiven, keinen Raum zu geben. So wird beispielsweise gängigen ethischen Vorstellungen zufolge Gewalt für unvereinbar mit ethischem Handeln erklärt. Dabei wird jedoch (bewusst) ausgeklammert, dass bestimmte gewaltvolle Zustände, die die Menschen an den ihnen vorgesehenen Platz der Gesellschaft verweisen, sich einer bestimmten Gewalt bedienen und ohne den Einsatz von Gewalt nicht überwunden werden können. Das ist nur ein Beispiel dafür, inwiefern eine feste Moralvorstellung, eine statische Ethik dazu beiträgt, Menschen im Sinne eines Ideals zu unterdrücken.

Wenn eine Revolution die alte(n) Ethik(en) durch eine neue Ethik, wie Emma Goldman schreibt, ersetzen soll, stellt sich uns die Frage, wozu dann diese Ethik dienen soll? Unter welches Ideal soll diese Ethik die Menschen unterwerfen? Und ist die Unterwerfung unter ein solches »revolutionäres« Ideal in irgendeiner Weise besser, als die unter das gängige Ideal einer friedlichen, demokratischen Gesellschaft? Zu glauben, dass sich die unterschiedlichen Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Beweggründe, Absichten, Ziele der Menschen und alles andere, was üblicherweise in eine Ethik hineinspielt, verallgemeinern und als eine »ethische« Norm festhalten ließe, folgt unserer Auffassung nach einer Vorstellung, die nicht umhin kann, das soziale Zusammenleben der Menschen zu verallgemeinern und so unter Kontrolle zu bringen. Das mag ein unbewusster Drang sein, der aufgrund dessen, wie die Welt um uns herum funktioniert, auch nicht sonderlich überraschend ist, allerdings ist es ein Drang, den wir bekämpfen müssen, wenn wir autoritäre Prinzipien verneinen wollen.

Wir sind der Auffassung, dass nur eine Zerstörung der alten ethischen Werte ohne die Schaffung neuer Werte, die sie ersetzen, die Grundlage für ein Leben in Freiheit sein kann.

Vorwort zum ersten Teil der amerikanischen Ausgabe

Meine Entscheidung, meine Erfahrungen, Beobachtungen und Reaktionen während meines Aufenthalts in Russland festzuhalten, traf ich lange bevor ich daran dachte, dieses Land zu verlassen. Tatsächlich war das mein Hauptbeweggrund, Abschied von diesem tragisch heroischen Land zu nehmen.

Selbst den Stärksten von uns fällt es schwer, einen lange gehegten Traum aufzugeben. Ich kam nach Russland in der Hoffnung, dass ich ein neugeborenes Land vorfinden würde, in dem die Menschen sich ganz der großartigen, wenngleich äußerst schwierigen Aufgabe des revolutionären Wiederaufbaus verschrieben hätten. Und ich habe inständig gehofft, dass ich bei dieser inspirierenden Tätigkeit eine aktive Rolle spielen würde.

Die Realität, die ich in Russland vorfand, war grotesk, völlig entgegen dem großen Ideal, das mich auf den Gipfel der Hoffnung im gelobten Land getragen hatte. Ich brauchte fünfzehn lange Monate, um mich zurechtzufinden. Jeder Tag, jede Woche, jeder Monat fügte neue Glieder zu der verhängnisvollen Kette hinzu, die mein hoffnungsvolles Gedankengebäude zum Einsturz brachte. Ich kämpfte verzweifelt gegen diese Desillusionierung an. Lange Zeit versuchte ich die leise Stimme in mir zu ignorieren, die mich zwang, die überwältigenden Tatsachen zu sehen. Ich wollte und konnte nicht aufgeben.

Dann kam Kronstadt. Das war der Wendepunkt. Es vervollständigte die furchtbare Erkenntnis, dass die Russische Revolution vorbei war.

Ich sah den bolschewistischen Staat vor mir. Furchterregend, jede konstruktive revolutionäre Errungenschaft vernichtend, unterdrückend, erniedrigend und alles zersetzend. Unfähig und unwillens ein Zahnrad in diesem unheilvollen Getriebe zu werden und mir der Tatsache bewusst, dass ich Russland und seinen Menschen nicht von praktischem Nutzen sein könnte, entschied ich das Land zu verlassen. Sobald ich draußen war, würde ich so ehrlich, offen und objektiv wie mir nur menschenmöglich die Geschichte meines zweijährigen Aufenthalts in Russland erzählen.

Ich verließ das Land im Dezember 1921. Ich hätte damals schreiben können, unter dem frischen Eindruck dieses entsetzlichen Erlebnisses. Aber ich wartete vier Monate, bevor ich mich zwingen konnte, eine Reihe von Artikeln zu schreiben. Ich zögerte weitere vier Monate, bevor ich dieses Buch begann.

Ich möchte nicht so tun, als würde ich Geschichte schreiben. Mit einem Abstand von fünfzig oder hundert Jahren von den Ereignissen, die sie beschreiben, mögen Historiker*innen objektiv erscheinen. Aber die wirkliche Geschichte ist nicht eine Aneinanderreihung von Daten. Sie sind wertlos ohne die menschlichen Elemente, die die Historiker*innen notwendigerweise von den Schriften der Zeitgenoss*innen des fraglichen Ereignisses bekommen. Es sind die persönlichen Reaktionen der Teilnehmer*innen und Beobachter*innen, die aller Geschichte Lebendigkeit verleihen und sie anschaulich und lebendig machen. Entsprechend wurden viele Geschichten der Französischen Revolution geschrieben; nur sehr wenige von ihnen stechen als wahr und überzeugend heraus. Sie sind aufklärend in dem Maße, in dem der*die Historiker*in sein*ihr Subjekt durch das Medium der Dokumente von zeitgenössischen Menschen gefühlt hat.

Ich selbst – und ich glaube die meisten Student*innen der Geschichte – habe die Große Französische Revolution sehr viel lebhafter durch die Briefe und Tagebücher von Zeitgenoss*innen wie Madame Roland, Mirabeau und anderen Augenzeug*innen, nachempfinden und mir ein Bild von machen können, als durch die sogenannten objektiven Schilderungen von Historiker*innen. Durch einen seltsamen Zufall fiel mir gerade während der kritischsten Periode meiner russischen Erlebnisse eine Sammlung von Briefen in die Hände, die während der französischen Revolution verfasst worden waren und von dem fähigen deutschen anarchistischen Publizisten Gustav Landauer zusammengestellt worden waren. Ich las diese Briefe just in dem Moment, als ich hörte, wie die bolschewistische Artillerie das Bombardement der Rebell*innen von Kronstadt[1] begann. Diese Briefe verschafften mir einen äußerst lebhaften Einblick in die Ereignisse der Französischen Revolution. Wie niemals zuvor brachten sie mir die Erkenntnis, dass das bolschewistische Regime in Russland im Großen und Ganzen eine detailgetreue Replik dessen war, was vor mehr als einem Jahrhundert in Frankreich passiert war.

Große Interpret*innen der Französischen Revolution, wie Thomas Carlyle und Peter Kropotkin, zogen ihr Verständnis und ihre Inspiration aus den Aufzeichnungen von Menschen aus dieser Periode. Ähnlich werden auch zukünftige Historiker*innen der Großen Russischen Revolution – wenn sie denn echte Geschichte schreiben und nicht nur eine Zusammenstellung von Fakten – aus den Impressionen und Reaktionen derer zehren, die während der Russischen Revolution gelebt haben, die das Leid und die Mühsal der Menschen geteilt haben und die tatsächlich an dem tragischen Panorama in seiner täglichen Entfaltung teilgenommen haben oder es bezeugen können.

Während ich mich in Russland befand, war mir nicht klar, wie viel bereits zur Russischen Revolution geschrieben worden war. Aber die wenigen Bücher, die mich erreichten, haben sich mir als völlig unzureichend eingeprägt. Sie waren von Personen geschrieben worden, die die Situation nicht aus erster Hand beurteilen konnten und sie waren leider völlig oberflächlich. Einige der Autor*innen hatten zwischen zwei Wochen und zwei Monaten in Russland verbracht, verstanden die Sprache des Landes nicht und waren in den meisten Fällen von offiziellen Reiseführer*innen und Dolmetscher*innen begleitet worden. Ich beziehe mich hier nicht auf die Autor*innen innerhalb und außerhalb von Russland, die die Rolle bolschewistischer Propaganda-Funktionär*innen einnehmen. Sie sind eine Klasse für sich. Mit ihnen beschäftige ich mich im Kapitel über die »Handlungsreisenden der Revolution«. Hier meine ich die aufrichtigen Freund*innen der Russischen Revolution. Die Arbeit der meisten von ihnen resultierte in einem unermesslichen Durcheinander und Unfug. Sie halfen dabei, den Mythos, dass Bolschewiki und die Revolution Synonyme seien, aufrechtzuerhalten. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt.

Die eigentliche Russische Revolution fand in den Sommermonaten des Jahres 1917 statt. In dieser Zeit eigneten sich die Bäuer*innen das Land an und die Arbeiter*innen die Fabriken. Damit demonstrierten sie, dass sie sehr wohl die Bedeutung von sozialer Revolution kannten. Die Machtergreifung im Oktober war der letzte Schliff der sechs Monate zuvor begonnenen Arbeit. Während des großen Aufstands erschlichen sich die Bolschewiki die Stimme der Menschen. Sie schmückten sich mit den landwirtschaftlichen Programmen der Sozialrevolutionär*innen und der Strategien des Arbeitskampfs der Anarchist*innen. Aber nachdem die große Welle an revolutionärem Enthusiasmus ihnen Macht verliehen hatte, legten die Bolschewiki ihren Schafspelz ab. Das war der Moment, in dem die geistige Trennung zwischen Bolschewiki und der Russischen Revolution einsetzte. Mit jedem Tag wurde der Abstand größer, ihre Interessen traten zunehmend in Konflikt zueinander. Heute ist es keine Übertreibung zu behaupten, dass die Bolschewiki die Erzfeinde der Russischen Revolution sind.

Aberglaube ist schwer zu beseitigen. Im Falle dieses modernen Aberglaubens ist der Prozess doppelt schwierig, weil er durch verschiedene Faktoren gemeinsam künstlich am Leben gehalten wird. Internationale Intervention, die Blockade und die sehr effiziente, weltweite Propaganda der kommunistischen Partei haben den bolschewistischen Mythos am Leben erhalten. Sogar die schreckliche Hungersnot[2] wird zu diesem Zweck instrumentalisiert.

Wie machtvoll sich dieser Aberglaube am Leben erhält, erfuhr ich durch meine eigene Erfahrung. Ich wusste immer, dass die Bolschewiki Marxisten sind. Dreißig Jahre lang kämpfte ich gegen die marxistische Theorie, die in meinen Augen eine kalte, mechanische, versklavende Formel ist. In Pamphleten, Vorträgen und Debatten argumentierte ich gegen sie. Ich hätte demnach wissen müssen, was von den Bolschewiki zu erwarten war. Aber die vereinten Angriffe gegen sie machten sie zum Symbol der Russischen Revolution und brachten mich dazu, sie zu verteidigen.

Von November 1917 bis Februar 1918, als ich gegen Kaution frei war – wegen meiner Haltung gegen den Krieg – tourte ich durch Amerika, um die Bolschewiki zu verteidigen. Ich veröffentlichte ein Pamphlet zur Aufklärung über die Russische Revolution und zur Rechtfertigung der Bolschewiki. Ich verteidigte sie damit, dass sie den Geist der Rovolution in der Praxis verkörperten, ungeachtet ihres theoretischen Marxismus. Meine Einstellung ihnen gegenüber zu dieser Zeit wird im folgenden Absatz meines Pamphlets »Die Wahrheit über die Bolschewiki«[3] deutlich:

Die Russische Revolution ist ein Wunder in mehr als einer Hinsicht. Neben anderen, außergewöhnlichen Paradoxien präsentiert sie das Phänomen der marxistischen Sozialdemokraten Lenin und Trotzki, die revolutionäre anarchistische Taktiken übernehmen, während die Anarchist*innen Kropotkin, Tscherkessow und Tschaikowski diese Taktiken ablehnen und in marxistische Denkweisen verfallen, die sie ihr Leben lang als »Deutsche Metaphysik« bezeichnet haben.

Obwohl sie Revolutionär*innen waren, hielten die Bolschewiki 1903 an der marxschen Doktrin, betreffend der Industrialisierung Russlands und der historischen Mission der Bourgeoisie als notwendigem evolutionären Prozess, bevor die russischen Massen zu ihrem Recht kommen könnten, fest. 1917 glaubten die Bolschewiki nicht länger an die wegbereitende Funktion der Bourgeoisie. Sie wurden vorangetragen auf der Welle Bakunins, nämlich, dass in dem Moment, in dem sich die Massen ihrer ökonomischen Macht bewusst werden, sie ihre eigene Geschichte schreiben und sich nicht an Traditionen und Prozesse einer toten Vergangenheit gebunden fühlen, die wie geheime Staatsverträge an einem runden Tisch gemacht werden und nicht vom Leben selbst diktiert werden.

Im Jahr 1918 besuchte Madame Breschko-Breschkowskaja die Vereinigten Staaten und startete ihre Kampagne gegen die Bolschewiki. Ich befand mich damals in der Strafanstalt von Missouri. Bekümmert und geschockt von der Arbeit der »Kleinen Großmutter der Russischen Revolution« schrieb ich ihr und flehte sie an, sich zu besinnen und nicht die Sache, der sie ihr Leben gewidmet hatte, zu verraten. Bei dieser Gelegenheit betonte ich die Tatsache, dass während keine*r von uns die Theorie der Bolschewiki teile, wir jetzt dennoch eins mit ihnen sein sollten, um die Russische Revolution zu verteidigen.

Als die Gerichte des Staates New York die betrügerischen Methoden bestätigten, mit denen ich entrechtet und mir meine zweiunddreißigjährige amerikanische Staatsbürger*innenschaft aberkannt worden war[4], verzichtete ich auf mein Recht auf Berufung, um nach Russland zurückzukehren und bei der Bewältigung der großen Aufgabe zu helfen. Ich glaubte leidenschaftlich daran, dass die Bolschewiki die Revolution fördern und sich zugunsten der Menschen einsetzen würden. Ich klammerte mich noch für mehr als ein Jahr, nachdem ich nach Russland gekommen war, an mein Vertrauen und meinen Glauben.

Beobachtungen und Studien, ausgedehnte Reisen durch verschiedene Teile des Landes, Treffen mit Angehörigen aller Schattierungen politischer Ansichten und jeder Form von Freund*in und Feind*in der Bolschewiki – All das überzeugte mich von der entsetzlichen Illusion, die auf der ganzen Welt verbreitet worden war.

Ich beziehe mich auf diese Umstände, um zu zeigen, dass mein Umdenken im Kopf und Herzen ein schmerzlicher und schwieriger Prozess war und dass meine Entscheidung das auszusprechen einzig aus dem Grund zustande kam, dass die Menschen überall lernen mögen, zwischen den Bolschewiki und der Russischen Revolution zu unterscheiden.

Die gängige Konzeption von Dankbarkeit ist, dass eine*r diejenigen, die einer*m geholfen haben, nicht kritisieren darf. Dank dieser Vorstellung versklaven Eltern ihre Kinder noch effizienter als durch körperliche Züchtigung; und auch Freund*innen herrschen dank dieses Konzepts übereinander. Tatsächlich sind heute alle menschlichen Beziehungen von dieser schädlichen Idee geprägt.

Einige Menschen haben mich für meine kritische Einstellung gegenüber den Bolschewiki beschimpft. »Wie undankbar die kommunistische Regierung zu attackieren, nachdem sie eine solche Gastfreundschaft und Freundlichkeit in Russland erfahren hat!« rufen sie empört aus. Ich will nicht leugnen, dass ich in Russland während meines Aufenthalts Privilegien genossen habe. Ich hätte noch eine Menge mehr Privilegien bekommen können, wenn ich bereit gewesen wäre, der Macht zu dienen. Es ist dieser Umstand, der es mir so bitterlich schwer gemacht hat, mich gegen die Übel auszusprechen, die ich Tag für Tag gesehen habe. Aber schließlich habe ich verstanden, dass Schweigen in der Tat ein Zeichen für Zustimmung ist. Nicht gegen den Verrat an der Russischen Revolution anzuschreiben würde mich zu einem Teil dieses Verrats machen. Die Revolution und der Wohlstand der Massen innerhalb und außerhalb von Russland sind viel zu wichtig für mich, um mir eine persönliche Rücksichtnahme gegenüber den Kommunist*innen, die ich kennen und respektieren gelernt habe, zugunsten einer Unterdrückung meines Gerechtigkeitssinnes zu erlauben und der Welt meine zwei Jahre Erfahrungen in Russland vorzuenthalten.

Zweifelsfrei werden Einwände gegen meine Schilderungen erhoben werden, weil ich die Namen der Personen, die ich zitiere, nicht nenne. Einige werden das sogar ausnutzen, um meine Glaubwürdigkeit zu diskreditieren. Aber das ist mir lieber, als diese Personen der liebevollen Gnade der Tscheka[5] auszuliefern, was zwangsläufig passieren würde, würde ich die Namen der Kommunist*innen oder Nicht-Kommunist*innen ausplaudern, die es wagten, mit mir zu sprechen. Diejenigen, die mit der tatsächlichen Situation in Russland vertraut sind und nicht unter dem hypnotischen Einfluss des bolschewistischen Aberglaubens stehen oder sich in Anstellung durch die Kommunist*innen befinden, werden bestätigen, dass ich eine glaubwürdige Darstellung vorlege. Der Rest der Welt wird es über die Zeit selbst lernen.

Freund*innen, deren Meinung ich schätze, waren sich nicht zu schade zu unterstellen, dass mein Zerwürfnis mit den Bolschewiki mehr aus meiner Gesellschaftsphilosophie denn aus dem Scheitern des bolschewistischen Regimes rührt. Als Anarchistin, behaupten sie, würde ich selbstverständlich an der Wichtigkeit des Individuums und der persönlichen Freiheit festhalten, aber in der Periode der Revolution müsste beides dem Gemeinwohl untergeordnet werden. Andere Freund*innen argumentieren, dass Zerstörung, Gewalt und Terror unvermeidbare Faktoren einer Revolution sind. Als Revolutionärin könne ich nicht permanent die Gewalt, die von den Bolschewiki ausgeübt wird, angreifen, sagen sie.

Beide Kritikpunkte wären gerechtfertigt, wenn ich in der Annahme nach Russland gekommen wäre, dort den verwirklichten Anarchismus vorzufinden, oder wenn ich behaupten würde, dass Revolutionen friedlich vonstatten gehen könnten. Anarchismus war für mich niemals eine mechanistische Ordnung sozialer Beziehungen, die von den Menschen durch politische Umwälzungen oder eine Umverteilung der Macht von einer sozialen Klasse auf eine andere erreicht werden könnte. Anarchismus war und ist für mich nicht Kind der Destruktion, sondern der Konstruktion – das Resultat des Wachstums und der Entwicklung der bewussten, kreativen sozialen Bemühungen einer regenerierten Gesellschaft. Deshalb erwarte ich nicht, dass auf Jahrzehnte des Despotismus und der Unterwerfung in direkten Schritten Anarchismus folgt. Und ganz bestimmt erwartete ich nicht, dass Anarchismus durch die marxistische Theorie eingeführt werden würde.

Allerdings hoffte ich in Russland zumindest den Beginn sozialer Veränderungen zu finden, für die die Revolution gekämpft hatte. Als Revolutionärin galt meine hauptsächliche Sorge nicht dem Schicksal des Individuums. Ich wäre zufrieden gewesen, wenn die russischen Arbeiter*innen und Bäuer*innen im Ganzen maßgebliche soziale Verbesserungen durch das bolschewistische Regime erfahren hätten.

Zwei Jahre intensiver Studien, Recherchen und Forschungen überzeugten mich davon, dass die großen Errungenschaften, die die Bolschewiki den Menschen in Russland gebracht hatten, nur auf dem Papier existierten: in strahlenden Lettern von der bolschewistischen Propaganda an die Massen in Europa und Amerika gerichtet. Als Werbe-Zauberer übertreffen die Bolschewiki alles zuvor Dagewesene. Aber in der Realität haben die Menschen in Russland durch das bolschewistische Experiment nichts gewonnen. Selbstverständlich besitzen die Bäuer*innen das Land; aber nicht durch die Gnade der Bolschewiki, sondern durch ihre eigenen Bemühungen, die lange vor dem Umsturz im Oktober in Gang kamen. Dass die Bäuer*innen in der Lage dazu waren ihr Land zu behalten, liegt vor allem an der slawischen Zähigkeit; geschuldet der Tatsache, dass sie bei weitem den größten Teil der Bevölkerung ausmachen und fest mit dem Erdboden verwachsen sind, sodass sie nicht so leicht davon losgerissen werden konnten wie die Arbeiter*innen von den Produktionsmitteln.

Wie die Bäuer*innen nutzten auch die russischen Arbeiter*innen direkte Aktionen. Sie eigneten sich die Fabriken an, organisierten sich in Betriebsräten und hatten praktisch die Kontrolle über das ökonomische Leben in Russland. Aber schon bald wurden sie entmachtet und unter das industrielle Joch des bolschewistischen Staates gestellt. Die Mehrheit des russischen Proletariats wurde zu Leibeigenen. Sie wurden im Namen von etwas, das ihnen später Komfort, Licht und Wärme bringen sollte, ausgebeutet und unterdrückt. So sehr ich es auch versuche, ich kann nirgends irgendeinen Beweis für Vorteile finden, die die Arbeiter*innen oder die Bäuer*innen durch das bolschewistische Regime erlangt hätten.

Auf der anderen Seite fand ich den revolutionären Glauben der Menschen gebrochen, den Geist der Solidarität zerschlagen, die Bedeutung von Genossenschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft entstellt. Mensch muss in Russland gelebt haben, nah dran am Alltag der Menschen; mensch muss die totale Desillusionierung und Verzweiflung der Menschen gesehen und gefühlt haben, um die volle Bedeutung des zersetzenden Charakters der bolschewistischen Prinzipien und Methoden zu erkennen – die Zersetzung all dessen, was einst der Stolz und Ruhm des revolutionären Russlands gewesen war.

Das Argument, dass Zerstörung und Terror Teil der Revolution sind, weise ich nicht zurück. Ich weiß, dass in der Vergangenheit jede große politische und soziale Veränderung nur gewaltsam möglich war. Amerika befände sich noch immer unter dem britischen Joch, wenn nicht einige heroische Kolonialist*innen es gewagt hätten, die britische Tyrannei durch Waffengewalt zu beseitigen. Die Versklavung Schwarzer wärein den Vereinigten Staaten ohne den militanten Geist der Anhänger*innen von John Brown[6] immer noch legal. Ich habe nie geleugnet, dass Gewalt unvermeidbar ist, und auch jetzt streite ich das nicht ab. Aber es ist eine Sache, Gewalt in einem Kampf als Mittel der Verteidigung anzuwenden, aber eine ganz andere Sache, Terrorismus zu einer Strategie zu machen, ihn zu institutionalisieren und ihm den wichtigsten Platz im sozialen Kampf einzuräumen. Ein solcher Terrorismus erzeugt eine Konterrevolution und ist dadurch im Umkehrschluss selbst konterrevolutionär.

Nur selten wurde eine Revolution mit so wenig Gewalt erkämpft wie die Russische Revolution. Auch der Rote Terror wäre nicht auf sie gefolgt, hätten die Menschen und die kulturellen Kräfte die Kontrolle über die Revolution behalten. Das hat sich durch den Geist der Gemeinschaft und Solidarität gezeigt, der in ganz Russland während der ersten Monate der Oktoberrevolution herrschte. Aber eine unbedeutende Minderheit, die darauf aus ist, einen absolutistischen Staat zu gründen, wird notwendigerweise Unterdrückung und Terror bringen.

Es gibt einen anderen Einwand auf meine Kritik von Seiten der Kommunist*innen. Russland befindet sich im Streik, sagen sie, und es gebühre sich nicht für eine Revolutionärin, sich gegen die Arbeiter*innen zu stellen, wenn diese gegen ihre Herr*innen streiken. Das ist reine Demagogie der Bolschewiki, um jede Kritik zu unterdrücken.

Es ist nicht wahr, dass sich die Menschen in Russland im Streik befinden. Das Gegenteil ist der Fall: Die Menschen in Russland wurden ausgesperrt und der bolschewistische Staat – so wie zuvor die bourgeoisen Herr*innen – nutzt Schwerter und Schusswaffen, um die Menschen draußen zu halten. Die Bolschewiki bezeichnen diese Tyrannei euphemistisch mit einem weltbewegenden Slogan. Dadurch ist es ihnen gelungen die Massen zu blenden. Gerade weil ich eine Revolutionärin bin, weigere ich mich Partei für die Klasse der Herrschenden zu ergreifen und das ist in Russland die Kommunistische Partei.

Ich werde bis zum Ende meiner Tage an der Seite der Entrechteten und Unterdrückten stehen. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob die Tyrannei im Kreml residiert oder auf irgendeinem anderen Thron sitzt. Als ich in Russland war, konnte ich nichts für dieses leidende Land tun. Vielleicht kann ich jetzt etwas tun, indem ich die Lektionen meiner russischen Erfahrung niederschreibe. Ich schreibe diese Texte nicht nur wegen meiner Sorge um die Menschen in Russland, sondern auch wegen meines Interesses für die Belange der Massen überall.

Emma Goldman Berlin, Juli 1922.

Vorwort zum zweiten Teil der amerikanischen Ausgabe

Die Annalen der Literatur erzählen von zensierten Büchern, von ganzen Kapiteln, die entfernt oder unkenntlich gemacht wurden. Aber ich glaube es ist nur selten passiert, dass ein Werk publiziert wurde, in dem mehr als ein Drittel fehlt, ohne dass das den Rezensent*innen aufgefallen ist. Diese zweifelhafte Ehre wurde meinem Werk zu Russland zuteil.

Die Geschichte dieser schmerzhaften Erfahrung könnte ein neues Kapitel füllen, aber für den Moment soll es genügen die reinen Fakten dieses Falls zu schildern.

Mein Manuskript wurde dem ursprünglichen Abnehmer in zwei Teilen zu unterschiedlichen Zeitpunkten gesendet. Anschließend kaufte das Verlagshaus Doubleday, Page Co. die Rechte an meinem Werk. Aber als mich die ersten gedruckten Ausgaben erreichten, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass nicht nur mein ursprünglicher Titel »Meine zwei Jahre in Russland« zu »Meine Desillusionierung in Russland« geändert worden war, sondern dass auch die letzten zwölf Kapitel inklusive meines Nachwortes, aus meiner Sicht der entscheidendste Teil des Buches, vollständig fehlten.

Es folgte ein Austausch von Telegrammen und Briefen, der allmählich enthüllte, dass Doubleday, Page Co. sich mein Manuskript von einer Literaturagentur gesichert hatte, im Vertrauen darauf, dass es vollständig sei. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände erreichte der zweite Teil meines Werkes entweder nie den ursprünglichen Käufer oder er ging in seinem Büro verloren. Jedenfalls wurde das Buch veröffentlicht, ohne dass irgendwem der Verdacht kam, es könnte unvollständig sein.

Der vorliegende Teil enthält die in der amerikanischen Ausgabe fehlenden Kapitel und ich bin meinen Freund*innen, die durch ihre Hingabe ein Erscheinen dieses zusätzlichen Teils in Amerika und dieser vollständigen Ausgabe in England – zu meinem Glück und dem meiner Leser*innen –möglich gemacht haben, zutiefst dankbar dafür.

Die Abenteuer meines Manuskriptes haben auch ihre humoristische Seite, die ein befremdliches Licht auf die Kritiker*innen wirft. Von beinahe hundert amerikanischen Rezensent*innen meines Werkes vermuteten nur zwei seine Unvollständigkeit. Und nebenbei bemerkt ist eine*r von ihnen kein*e »typische*r« Kritiker*in, sondern ein*e Bibliothekar*in. Eher eine Spiegelung professioneller Scharfsichtigkeit und Sorgfalt.

Es wäre verschwendete Zeit gewesen, die »Kritiken« all derjenigen zur Kenntnis zu nehmen, die entweder mein Buch nicht gelesen hatten, oder denen es an nötigem Scharfsinn fehlte, um zu bemerken, dass es unvollständig war. Von all den angeblichen »Rezensionen« verdienen nur zwei Beachtung als von aufrichtigen und fähigen Personen geschrieben.

Einer von ihnen war der Meinung, dass der Titel, unter dem mein Werk veröffentlicht wurde, besser zu seinem Inhalt passt als der Titel, den ich gewählt hatte. Meine Desillusionierung, schlussfolgerte er, beziehe sich nicht nur auf die Bolschewiki, sondern auch auf die Revolution selbst. Um dieses Argument zu stützen, zitierte er Bucharins Aussage dahingehend, dass »eine Revolution genausowenig ohne Terror, Desorganisation und sogar mutwilliger Zerstörung bewerkstelligt werden kann, wie kein Omelett zubereitet werden kann, ohne zuvor die Schale der Eier zu zerbrechen«. Dabei scheint meinem Kritiker nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass auch wenn das Zerbrechen der Eier notwendig ist, um ein Omelett zuzubereiten, doch kein Omelett zubereitet werden kann, wenn mensch den Eidotter wegwirft. Und das ist genau das, was die Kommunistische Partei mit der Russischen Revolution gemacht hat. Den Eidotter ersetzten sie durch Bolschewismus, oder spezifischer Leninismus, mit dem in meinem Buch beschriebenen Ergebnis – ein Ergebnis, das allmählich auf der ganzen Welt als vollständiges Versagen begriffen wird.

Der Rezensent, von dem die Rede ist, glaubt außerdem, dass es eine »düstere Erforderlichkeit, eine dringende Notwendigkeit gewesen sei, nicht die Revolution, sondern die Überreste der Zivilisation zu bewahren, die die Bolschewiki zwang, jede verfügbare Waffe zu nutzen, den Terror, die Tscheka, die Unterdrückung der Rede- und Pressefreiheit, Zensur, Wehrpflicht, Arbeitspflicht, die Beschlagnahmung der Ernte der Bäuer*innen, sogar Bestechung und Korruption.« Er stimmt mir nachweislich zu, dass die Kommunist*innen von all diesen Methoden Gebrauch machten und dass, wie er selbst sagt, »die ›Mittel‹ weitgehend den ›Zweck‹ bestimmen« – eine Schlussfolgerung, deren Beweis und Veranschaulichung in meinem Buch enthalten sind. Der einzige Fehler in dieser Betrachtungsweise, wenngleich ein äußerst bedeutender, ist die Annahme, dass die Bolschewiki gezwungen gewesen wären die beschriebenen Methoden zu nutzen, um »die Überreste der Zivilisation zu bewahren«. Eine solche Sichtweise basiert auf einem fundamentalen Missverständnis der Philosophie und Praxis des Bolschewismus. Nichts läge den Wünschen und den Beweggründen des Leninismus ferner als die »Bewahrung der Überreste der Zivilisation«. Hätte mein Kritiker stattdessen von der »Bewahrung der kommunistischen Diktatur, des politischen Absolutismus der Partei« gesprochen, wäre er der Wahrheit näher gekommen und wir bräuchten über die Sache nicht zu streiten. Wir dürfen nicht unsere Augen davor verschließen, dass die Bolschewiki weiterhin exakt die gleichen Methoden nutzen, die sie auch in den »Momenten der düsteren Notwendigkeit, 1919, 1920 und 1921«, wie der Rezensent sagt, nutzten.

Wir befinden uns im Jahre 1925. Die militärischen Fronten wurden längst aufgelöst, die interne Konterrevolution wurde unterdrückt, die alte Bourgeoisie wurde eliminiert, die »Momente der düsteren Notwendigkeit« sind Vergangenheit[7]. Tatsächlich wird Russland von zahlreichen Regierungen in Europa und Asien politisch anerkannt und die Bolschewiki laden das internationale Kapital ein, wegen der natürlichen Rohstoffe in ihr Land zu kommen, die, wie Tschitscherin[8] den weltweiten Kapitalist*innen versichert, »darauf warten, ausgebeutet zu werden«. Die »Momente düsterer Notwendigkeit« sind vorbei, aber der Terror, die Tscheka, die Unterdrückung der Rede- und Pressefreiheit und all die anderen kommunistischen Methoden vergangener Jahre sind geblieben. Tatsächlich werden sie seit Lenins Tod sogar noch brutaler und barbarischer angewandt. Passiert das, um die »Überreste der Zivilisation zu bewahren« oder um die schwächelnde Partei-Diktatur zu stärken?

Mein Kritiker klagt mich außerdem an, zu glauben, dass wenn »die Russen die Revolution à la Bakunin, statt à la Marx serviert« hätten, das Resultat anders und mehr zufriedenstellend gewesen wäre. Ich plädiere auf schuldig im Sinne der Anklage. In Wahrheit glaube ich das nicht nur, ich bin mir dessen sicher. Die Russische Revolution – präziser, die bolschewistischen Methoden – haben eindeutig bewiesen, wie mensch eine Revolution nicht macht. Das russische Experiment beweist die Fatalität einer politischen Partei, die die Funktionen der revolutionären Menschen an sich reißt, eines omnipotenten Staates, der versucht seinen Willen dem Land aufzuzwingen, einer Diktatur, die versucht, das neue Leben zu »organisieren«. Aber ich muss hier nicht die Überlegungen, die in meinem abschließenden Kapitel zusammengefasst sind, wiederholen.

Ein zweiter Kritiker ist der Meinung, ich sei eine »voreingenommene Zeugin«, weil ich – eine Anarchistin – Regierungen, egal welcher Form, ablehne. Der gesamte erste Teil meines Buches widerlegt die Annahme meiner Voreingenommenheit. Ich verteidigte die Bolschewiki, als ich noch in Amerika war und auch viele Monate in Russland suchte ich nach jeder Gelegenheit, um mit ihnen zu kooperieren und bei der großen Aufgabe des revolutionären Aufbaus zu helfen. Obwohl ich Anarchistin bin und gegen Regierungen, kam ich nicht in der Erwartung nach Russland, meine Ideale verwirklicht zu sehen. Ich sah in den Bolschewiki das Symbol der Revolution und ich war bereit trotz unserer Differenzen mit ihnen zu arbeiten. Wie auch immer, wenn eine mangelnde Reserviertheit gegenüber den Realitäten des Lebens bedeutet, dass mensch die Dinge nicht objektiv beurteilen kann, dann hat mein Kritiker recht. Ich hätte unmöglich zwei Jahre im kommunistischen Terror, in einem Regime, das die Versklavung aller Menschen mit sich bringt, der Vernichtung beinahe aller fundamentalen Werte, egal ob humanistisch oder revolutionär, der Korruption und Misswirtschaft leben können und dabei zurückhaltend oder »unparteiisch« im Sinne des Kritikers bleiben können. Ich zweifle, dass letzterer, auch wenn er kein Anarchist ist, das gekonnt hätte. Und könnte er es, wäre das menschlich?

Die jetzige Publikation der fehlenden Kapitel in der ersten Ausgabe findet zu einer sehr bedeutenden Periode des Lebens in Russland statt. Als die »NEP«, Lenins Neue Ökonomische Politik eingeführt wurde, erwuchs die Hoffnung auf Besserung, die Hoffnung auf schrittweise Abschaffung der Politik des Terrors und der Verfolgung. Die kommunistische Diktatur schien geneigt, den Würgegriff um die Gedanken und Leben der Menschen zu lockern. Aber die Hoffnung währte nicht lange. Seit Lenins Tod kehrten die Bolschewiki zum Terror der schlimmsten Tage ihrer Herrschaft zurück. Der Despotismus, der um seine Macht fürchtet, sucht Sicherheit im Blutvergießen. Mein Buch ist deshalb so aktuell wie 1922.

Als meine ersten Artikel zu Russland 1922 erschienen, und später, als mein Buch in Amerika publiziert wurde, wurde ich von amerikanischen Radikalen beinahe jeden Lagers heftig attackiert und denunziert. Aber ich war mir sicher, dass die Zeit kommen würde, in der die Maske vom falschen Gesicht des Bolschewismus gerissen würde und die große Täuschung enthült werden würde. Das trat sogar schneller ein, als ich erwartet hatte. In den meisten zivilisierten Ländern – in Frankreich, England, Deutschland, in skandinavischen und romanischen Ländern, sogar in Amerika lichtet sich der Nebel des blinden Vertrauens schrittweise. Der reaktionäre Charakter des bolschewistischen Regimes wird von den Massen erkannt, sein Terrorismus und seine Verfolgung von Nicht-Kommunist*innen verurteilt. Die Folter der politischen Opfer der Diktatur in den Gefängnissen, den Konzentrationslagern im hohen Norden und im sibirischen Exil weckt das Bewusstsein der progressiveren Teile der Welt. In fast jedem Land bilden sich Gesellschaften zur Unterstützung und Verteidigung der politisch Verfolgten in Russland, mit dem Ziel ihre Befreiung zu erwirken und die Meinungs- und Redefreiheit in Russland zu etablieren.

Wenn meine Arbeit in diesen Bemühungen helfen kann, Licht auf die tatsächliche Situation in Russland zu werfen und die Welt auf den wahren Charakter des Bolschewismus und die Fatalität von Diktatur – egal ob faschistisch oder kommunistisch – aufmerksam zu machen, dann kann ich das Missverständnis und die Missinterpretation von Freund*in und Feind*in gelassen tragen. Und ich werde die Mühen und Geistesanstrengungen, die nötig waren, um dieses Werk zu produzieren, das jetzt, nach vielen Irrwegen endlich vollständig ist, nicht bereuen.

Emma Goldman August 1925

Kapitel 1. Abschiebung nach Russland

In der Nacht des 21. Dezembers 1919 wurde ich zusammen mit zweihundertachtundvierzig anderen politischen Gefangenen aus Amerika abgeschoben. Auch wenn generell bekannt war, dass unseresgleichen abgeschoben wurden, hatten nur wenige geglaubt, dass die Vereinigten Staaten so vollständig ihre Vergangenheit als Asyl für politische Flüchtlinge verleugnen würden. Manche hatten mehr als dreißig Jahre lang in Amerika gelebt und gearbeitet.

In meinem Fall wurde die Entscheidung mich loszuwerden das erste Mal 1909 bekannt, als die Bundesbehörden sich anschickten, dem Mann, dessen Name mir meine Staatsangehörigkeit verlieh, das Wahlrecht zu entziehen. Dass Washington bis 1917 wartete, lag an der Tatsache, dass das psychologische Moment zur Vollendung fehlte. Möglicherweise hätte ich meinen Fall damals anfechten sollen. Bei der damals vorherrschenden öffentlichen Meinung hätten die Gerichte den betrügerischen Vorgängen, die mich meiner Staatsangehörigkeit beraubten, vermutlich nicht stattgegeben. Aber damals schien es unglaubwürdig, dass Amerika sich zu dieser zaristischen Methode der Abschiebung herablassen würde.

Unsere Anti-Kriegs-Kampagne befeuerte die Kriegshysterie von 1917 und das gab den Bundesbehörden die ersehnte Gelegenheit die 1909 in Rochester, N.Y. begonnene Verschwörung gegen mich zu vollenden.

Am 5. Dezember 1919, als ich einen Vortrag in Chicago hielt, wurde ich telegraphisch darüber benachrichtigt, dass der Beschluss zu meiner Abschiebung nun endgültig war. Die Frage meiner Staatsbürger*innenschaft wurde daraufhin vor Gericht gebracht, aber natürlich wurde zu meinem Nachteil entschieden. Ich wollte den Fall zunächst in die nächste Instanz bringen, aber schließlich entschied ich die Sache auf sich beruhen zu lassen: Sowjetrussland lockte mich.

Geradezu lächerlich geheimnisvoll waren die Behörden hinsichtlich unserer Abschiebung. Bis zum letzten Augenblick wurden wir über den genauen Termin im Unklaren gelassen. Dann, unerwartet in den frühen Morgenstunden des 21. Dezembers, wurden wir weggebracht. Die Kulisse, die für dieses Spektakel errichtet worden war, war überaus erregend. Es war Sonntag, sechs Uhr morgens, am 21. Dezember 1919, als wir begleitet von einem schweren Militärkonvoi an Bord der Buford traten.

Achtundzwanzig Tage lang waren wir Gefangene. Wachen vor den Türen unserer Kabinen Tag und Nacht, Wachen an Deck während der Stunde, die es uns täglich erlaubt war, frische Luft zu atmen. Unsere männlichen Genossen wurden in dunklen, feuchten Unterkünften eingepfercht, nur kläglich ernährt ließ mensch uns vollkommen im Unklaren darüber, wohin wir gebracht wurden. Im Geiste dachten wir erwartungsvoll an Russland, das freie, neue Russland lag vor uns.

Mein ganzes Leben lang war Russlands heroischer Kampf um Freiheit ein Leuchtfeuer für mich gewesen. Die revolutionäre Leidenschaft seiner gepeinigten Männer und Frauen, die weder Festungshaft noch katorga[9] unterdrücken konnten, waren meine Inspiration in den dunkelsten Stunden. Als die Meldungen über die Februarrevolution durch die Welt gingen, sehnte ich mich danach in das Land zu eilen, das dieses Wunder vollbracht und seine Menschen vom Jahrhunderte währenden Joch des Zarismus befreit hatte. Aber Amerika hielt mich zurück. Der Gedanke an den dreißig Jahre währenden Kampf für meine Ideale, an meine Freund*innen und Mitstreiter*innen, machte es mir unmöglich, mich loszureißen. Ich würde später nach Russland gehen, dachte ich mir.

Dann trat Amerika in den Krieg ein und ich musste treu zu den Menschen in Amerika stehen, die gegen ihren Willen in den Hurricane gezogen worden waren. Nach allem schuldete ich Amerika eine Menge, ich verdankte meine Entwicklung und meinen Werdegang dem Feinsten und Besten in Amerika, seinen Kämpfer*innen für die Freiheit, den Söhnen und Töchtern der kommenden Revolution. Ich würde zu ihnen stehen. Aber die wahnsinnigen Militarist*innen beendeten meine Arbeit schon bald.

Schlussendlich war ich auf dem Weg nach Russland und alles andere war fast wie weggewischt. Ich wollte mit meinen eigenen Augen Matushka Rossiya[10] erblicken, das Land, das von seinen politischen und ökonomischen Herscher*innen befreit worden war, den russischen Dubinushka, wie die*der Bäuer*in genannt wurde, auferstanden aus dem Staub, den russischen Arbeiter, den modernen Samson, der mit einem Streich seines mächtigen Armes die Grundfesten der verfaulenden Gesellschaft eingerissen hatte. Die achtundzwanzig Tage in unserem schwimmenden Gefängnis vergingen wie in Trance. Ich war mir meiner Umgebung kaum bewusst.

Schließlich erreichten wir Finnland; wir wurden gezwungen, es in verschlossenen Waggons zu durchqueren. An der russischen Grenze wurden wir von einem Komitee der russischen Regierung empfangen, das von Zorin[11] angeführt wurde. Sie kamen, um die ersten politischen Flüchtlinge, die wegen ihrer Meinung aus Amerika vertrieben worden waren, zu begrüßen.

Es war ein kalter Tag, die Erde wurde von einer Schneeschicht bedeckt, aber in unseren Herzen hatte der Frühling begonnen. Bald würden wir das revolutionäre Russland sehen. Ich wollte lieber alleine sein, wenn ich den heiligen Boden berührte: Meine Begeisterung war zu groß und ich fürchtete, ich würde nicht in der Lage sein, meine Emotionen zu kontrollieren. Als ich Beloostrow erreichte, war der enthusiastische Empfang, der den Flüchtlingen geboten worden war, vorüber, aber der Ort war immer noch überlastet von der Intensität der Gefühle. Ich konnte die Ehrfurcht und Demut unserer Gruppe spüren. In den Vereinigten Staaten waren wir wie Schwerverbrecher*innen behandelt worden, hier hingegen behandelte mensch uns wie Geschwister und Genoss*innen und wir wurden von den Roten Soldat*innen, den Befreier*innen Russlands, willkommen geheißen.

Von Beloostrow wurden wir zu einem Dorf gefahren, wo ein weiterer Empfang vorbereitet worden war: Eine dunkle Halle, erstickend voll, die Bühne erhellt von Talgkerzen, eine große rote Flagge, auf der Bühne eine Gruppe von Frauen in schwarzer Nonnenbekleidung. Ich stand da, wie in einem Traum inmitten der atemlosen Stille. Plötzlich ertönte eine Stimme. Sie pochte wie Metall in meinen Ohren und wirkte schwunglos, aber sie sprach vom großen Leid der russischen Bevölkerung und von den Feind*innen der Revolution. Andere richteten sich an das Publikum, aber ich war gefesselt von den Frauen in Schwarz, ihren schauderhaften Gesichtern im gelben Kerzenlicht. Waren das echte Nonnen? Hatte die Revolution selbst die Mauern des Aberglaubens eingerissen? War die Rote Dämmerung selbst in die engstirnigen Ansichten dieser Asketinnen eingebrochen? Das alles wirkte sonderbar, faszinierend.

Plötzlich stand ich auf der Bühne. Ich konnte nur ausstoßen, dass ich wie meine Genoss*innen nicht nach Russland gekommen war, um zu lehren: Ich war gekommen, um zu lernen, um Nahrung und Hoffnung von ihr zu ziehen, um mein Leben auf dem Altar der Revolution niederzulegen.

Im Anschluss an die Versammlung wurden wir zum wartenden Zug nach Petrograd[12] gebracht, die Frauen unter den schwarzen Kapuzen stimmten die Internationale an und das ganze Publikum stimmte ein. Ich war in einem Waggon mit unserem Gastgeber Zorin, der in Amerika gelebt hatte und fließend Englisch sprach. Er sprach mit großem Enthusiasmus über die sowjetische Regierung und ihre großartigen Errungenschaften. Seine Plauderei war erhellend, aber eine Aussage klang für mich unstimmig. Als er von der politischen Organisation seiner Partei sprach, bemerkte er: »Tammany Hall[13] ist nichts im Vergleich zu uns und auch Boss Murphy[14] könnten wir noch ein oder zwei Dinge beibringen.« Ich dachte der Mann würde scherzen. Welche Verbindung hätte es zwischen Tammany Hall, Boss Murphy und der sowjetischen Regierung geben sollen?

Ich fragte nach unseren Genoss*innen, die bei den ersten Meldungen über die Revolution aus Amerika herbeigeeilt waren. Viele von ihnen seien an der Front gestorben, informierte mich Zorin, andere arbeiteten mit der sowjetischen Regierung zusammen. Und Schatoff? William Schatoff, ein brillianter Redner und äußerst fähiger Organisator, war eine bekannte Persönlichkeit in Amerika und hatte schon oft mit uns zusammengearbeitet. Wir hatten ihm ein Telegramm aus Finnland gesendet und waren sehr überrascht, dass er uns nicht geantwortet hatte. Warum war Schatoff nicht gekommen, um uns zu treffen? »Schatoff musste nach Sibirien reisen, um den Posten des Ministers für Schienenverkehr zu übernehmen«, sagte Zorin.

In Petrograd erhielt unsere Gruppe erneut eine Ovation. Dann wurden die Abgeschobenen zum berühmten Taurischen Palais gebracht, wo sie verpflegt und für die Nacht einquartiert werden sollten. Zorin fragte Alexander Berkman und mich, ob wir seine Gäste sein wollten. Wir stiegen in das wartende Automobil. Die Stadt war dunkel und verlassen, nicht eine Menschenseele war zu sehen. Wir waren nicht sehr weit gekommen, als das Auto abrupt anhielt und uns ein elektrisches Licht in die Augen gehalten wurde. Es war die Miliz; sie fragte nach der Losung. Petrograd hatte erst kürzlich den Judenitsch-Angriff[15] zurückgeschlagen und befand sich immer noch im Ausnahmezustand. Dieser Prozess wiederholte sich entlang unserer Route noch häufiger. Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, passierten wir ein gut beleuchtetes Gebäude. »Das ist unsere Polizeiwache«, erklärte Zorin, »aber wir haben dort nur noch wenige Gefangene. Die Todesstrafe ist abgeschafft und wir haben kürzlich eine allgemeine politische Amnestie ausgerufen.«

In diesem Moment kam das Auto zum Stehen. »Das erste Haus der Sowjets«, sagte Zorin, »Hier leben die meisten aktiven Mitglieder unserer Partei.« Zorin und seine Frau belegten zwei Räume, einfach, aber gemütlich eingerichtet. Tee und Erfrischungen wurden serviert und unser Gastgeber unterhielt uns mit der fesselnden Geschichte der fabelhaften Verteidigung Petrograds durch die Arbeiter*innen gegen die Truppen von Judenitsch. Wie heldenhaft waren Männer, Frauen, ja sogar Kinder zur Verteidigung der Roten Stadt herbeigeeilt! Welch wundervolle Selbstdisziplin und Zusammenarbeit hatte das Proletariat bewiesen. Der Abend verging schnell mit diesen Erinnerungen und ich war gerade dabei, mich in den für mich vorbereiteten Raum zurückzuziehen, als eine junge Frau vorbei kam, die sich selbst als Schwägerin von »Bill« Schatoff vorstellte. Sie begrüßte uns herzlich und fragte uns, ob wir mit ihr nach oben kommen wollten, um ihre Schwester, die ein Stockwerk über uns wohnte, zu treffen. Als wir ihr Appartement erreichten, wurde ich vom großen, fröhlichen Bill persönlich umarmt. Wie sonderbar von Zorin, mir zu erzählen, dass Schatoff nach Sibirien gereist war! Was sollte das bedeuten? Schatoff erklärte, dass er Anweisung bekommen hatte, uns nicht an der Grenze zu treffen, um zu vermeiden, dass er uns unsere ersten Impressionen von Sowjetrussland vermittelt. Er war in Ungnade bei der Regierung gefallen und würde nach Sibirien ins faktische Exil geschickt werden. Aber seine Reise war verschoben worden und deshalb konnten wir ihn trotzdem treffen.

Wir verbrachten sehr viel Zeit mit Schatoff, bevor er Petrograd verließ. Ganze Tage lauschte ich seiner Erzählung der Revolution mit ihren Licht- und Schattenseiten und mit der sich entwickelnden Tendenz der Bolschewiki nach rechts. Schatoff jedenfalls hielt daran fest, dass es notwendig für alle revolutionären Kräfte war, mit der bolschewistischen Regierung zusammenzuarbeiten. Natürlich hätten die Kommunist*innen viele Fehler gemacht, aber was sie taten, sei ihnen durch die vereinten Interventionen und die Blockade aufgezwungen worden.

Einige Tage nach unserer Ankunft fragte Zorin Alexander Berkman und mich, ob wir ihn zum Smolny begleiten wollen. Smolny, das ehemalige Internat für die Töchter der Aristokratie, war zum Zentrum revolutionärer Ereignisse geworden. Beinahe jeder Stein hatte seine Rolle gespielt. Jetzt war es der Sitz der Petrograder Regierung. Der Ort war schwer bewacht und erweckte den Eindruck eines Bienenstocks von Funktionär*innen und Regierungsangestellten. Die Abteilung der Dritten Internationale war besonders interessant. Sie war im Zuständigkeitsbereich von Sinowjew. Ich war schwer beeindruckt von den Ausmaßen des Ganzen.

Nachdem uns Zorin herumgeführt hatte, lud er uns in den Speisesaal vom Smolny ein. Das Essen bestand aus einer guten Suppe, Fleisch und Kartoffeln, Brot und Tee. Eigentlich eine reichhaltige Mahlzeit im verhungernden Russland, dachte ich mir.

Unsere Gruppe Abgeschobener war im Smolny einquartiert worden. Ich war besorgt um meine Reisegefährt*innen, die beiden Mädchen, mit denen ich meine Kabine auf der Buford geteilt hatte. Am liebsten hätte ich sie mit mir zurück ins Erste Haus der Sowjets genommen. Zorin schickte nach ihnen. Sie kamen äußerst aufgeregt an und erzählten uns, dass die ganze Gruppe der Abgeschobenen vom Militär bewacht werde. Diese Neuigkeit war alarmierend. Die Menschen, die aus Amerika wegen ihrer politischen Einstellung abgeschoben worden waren, waren nun hier im revolutionären Russland erneut Gefangene – und das drei Tage nach ihrer Ankunft. Was war passiert?

Wir wandten uns an Zorin. Er schien verlegen. »Ein Missverständnis«, sagte er und begann sofort Nachforschungen anzustellen. Es stellte sich heraus, dass vier gewöhnliche Kriminelle unter den politischen Abgeschobenen der Regierung der Vereinigten Staaten gefunden worden waren und deshalb eine Wache für die ganze Gruppe abgestellt worden war. Dieses Vorgehen erschien mir ungerecht und unangebracht. Es war meine erste Lektion in Sachen bolschewistische Methoden.

Kapitel 2. Petrograd

Meine Eltern zogen nach St. Petersburg, als ich dreizehn war. Unter dem Einfluss der Disziplin einer deutschen Schule in Königsberg und der preußischen Haltung gegenüber allem Russischen, wuchs ich in einer Atmosphäre der Abscheu gegenüber diesem Land auf. Ich fürchtete besonders die schrecklichen Nihilist*innen, die Zar Alexander II getötet hatten[16], der, wie ich gelernt hatte, so gut und nett gewesen sei. St. Petersburg war für mich etwas von Grund auf Schlechtes. Aber die Fröhlichkeit der Stadt, ihre Lebhaftigkeit und ihr Glanz vertrieben schon bald meine kindischen Fantasien und ließen die Stadt wie einen Feentraum auf mich wirken. Dann wurde meine Neugier durch die revolutionäre Rätselhaftigkeit geweckt, die jeder*jedem anzuhaften schien, und über die keine*r zu sprechen wagte. Als ich vier Jahre später mit meiner Schwester nach Amerika ging, war ich längst nicht mehr das deutsche Gretchen, für das Russland das Böse bedeutete. Meine ganze Seele hatte sich gewandelt und der Samen für das, was mein Lebenswerk werden würde, war gesät. Von St. Petersburg hat sich meiner Erinnerung ein besonders lebhaftes Bild voller Leben und Geheimnisse eingeprägt.

Als ich 1920 nach Petrograd kam, fand ich einen völlig veränderten Ort vor. Der Ort lag beinahe in Ruinen, als wäre ein Hurricane über ihn hinweggefegt. Die Häuser sahen wie verfallene alte Gräber auf verwahrlosten und vergessenen Friedhöfen aus. Die Straßen waren schmutzig und verlassen; alles Leben war aus ihnen verschwunden. Vor dem Krieg lebten beinahe zwei Millionen Menschen in Petrograd, 1920 war die Bevölkerung auf fünfhunderttausend Einwohner*innen geschrumpft. Die Menschen liefen herum wie lebende Leichen; der Mangel an Nahrungsmitteln und Brennstoff laugte die Stadt langsam aus; der unerbittliche Tod griff nach ihrem Herzen. Abgemagerte und vom Frost gezeichnete Männer, Frauen und Kinder, wurden wie von Peitschen auf die Suche nach einem Stück Brot oder etwas Holz getrieben. Es war ein herzzerreißender Anblick bei Tag und eine bedrückende Gewissheit bei Nacht. Besonders die Nächte des ersten Monats in Petrograd waren grässlich. Die absolute Stille in dieser großen Stadt war lähmend. Das nahm mich ziemlich mit, diese schreckliche, bedrückende Stille, die nur durch gelegentliche Schüsse durchbrochen wurde. Ich lag wach und versuchte, dieses Rätsel zu durchdringen. Hatte Zorin nicht gesagt, die Todesstrafe sei abgeschafft? Warum diese Schüsse? Zweifel überkamen meine Gedanken, aber ich versuchte sie zur Seite zu schieben. Ich war gekommen, um zu lernen.

Viele meiner ersten Eindrücke und Erkenntnisse über die Oktoberrevolution und die darauf folgenden Ereignisse gewann ich durch die Zorins. Wie bereits erwähnt, hatten beide in Amerika gelebt, sprachen Englisch und waren begierig darauf, mich über die Geschichte der Revolution aufzuklären. Sie gaben sich der Sache völlig hin und arbeiteten sehr hart; er ganz besonders. Er war Sekretär des Petrograder Komitees seiner Partei, daneben gab er täglich das Krasnaya Gazetta[17] heraus und nahm an anderen Aktivitäten teil.

Von Zorin hörte ich das erste Mal vom legendären Machno. Machno war ein Anarchist, erzählte man mir, der unter dem Zaren zur Katorga verurteilt worden war. Im Zuge der Februarrevolution befreit wurde Machno zum Anführer einer Armee von Bäuer*innen in der Ukraine, bewies dabei großes Geschick und großen Wagemut und leistete großartige Arbeit zur Verteidigung der Revolution. Einige Zeit arbeitete Machno mit den Bolschewiki zusammen und kämpfte gegen konterrevolutionäre Kräfte. Dann wurde er feindlich und nun bekämpft seine Armee, rekrutiert aus Bandit*innen, die Bolschewiki. Zorin berichtete, dass er Teil eines Komitees war, das zu Machno gesandt worden war, um eine Verständigung zu erwirken. Aber Machno wollte nicht vernünftig sein. Er setzte seinen Krieg gegen die Sowjets fort und galt als gefährlicher Konterrevolutionär.

Ich hatte keinerlei Möglichkeiten diese Geschichte zu überprüfen, und ich hatte keinen Anlass den Zorins nicht zu glauben. Beide erschienen mir sehr gewissenhaft und hingebungsvoll in Bezug auf ihre Arbeit, ein bisschen wie religiöse Eiferer, bereit die Ungläubigen zu verbrennen, aber ebenso bereit ihre eigenen Leben für ihre Sache zu opfern. Ich war äußerst beeindruckt von der Einfachheit ihres Lebens. Zorin bekleidete eine verantwortungsvolle Position und hätte Extrarationen bekommen können, aber sie lebten dennoch sehr bescheiden, oft bestand ihr Abendessen nur aus Hering, Schwarzbrot und Tee. Besonders beeindruckend fand ich das, weil Lisa Zorin zu dieser Zeit schwanger war.

Zwei Wochen nach meiner Ankunft in Russland wurde ich zur Alexander-Herzen-Gedenkveranstaltung im Winterpalast eingeladen. Die Marmorhalle, in der die Versammlung stattfand, schien die bittere Kälte noch zu verstärken, aber die anwesenden Personen schienen die durchdringende Kälte gar nicht wahrzunehmen. Die Veranstaltung war schon wegen der eigentümlichen Situation besinnlich: Alexander Herzen[18], einer der meistgehassten Revolutionär*innen seiner Zeit, wurde im Winterpalast geehrt! Schon früher hatte der Geist von Herzen des Öfteren im Haus der Romanows[19] gespukt. Als die »Kolokol«[20] im Ausland veröffentlicht wurde, sprudelnd vor der Genialität Herzens und Turgenows, tauchte sie auf mysteriöse Art und Weise auch auf dem Tisch des Zaren auf. Nun, da die Zaren abgedankt hatten, war der Geist Herzens wiedererwacht und konnte die Verwirklichung des Traumes eines von Russlands großen Männern bezeugen.

Eines Abends wurde ich darüber informiert, dass Sinowjew aus Moskau zurückgekommen sei und mich sprechen wolle. Er kam gegen Mitternacht. Er sah sehr müde aus und wurde ständig von dringenden Nachrichten unterbrochen. Unsere Unterredung war von eher allgemeiner Natur. Wir sprachen über die ernste Lage in Russland, die Nahrungsmittel- und Brennstoffknappheit, dann plötzlich recht abrupt über die Arbeitssituation in Amerika. Er war gespannt darauf, »wie bald die Revolution in den Vereinigten Staaten erwartet werden« konnte. Er hinterließ bei mir keinen bestimmten Eindruck, aber ich hatte das Gefühl, dass etwas an ihm fehlte, auch wenn ich damals nicht bestimmen konnte, was es war.

Ein anderer Kommunist, den ich in den ersten Wochen häufig sah, war John Reed[21]. Ich kannte ihn noch aus Amerika. Er wohnte im Astoria, arbeitete hart und bereitete sich auf seine Rückkehr in die Vereinigten Staaten vor. Er würde durch Lettland reisen und war selbst besorgt, was dabei herauskommen würde. Er war seit den Oktobertagen in Russland und momentan zum zweiten Mal hier. Wie Schatoff war er der Ansicht, dass die dunklen Seiten des bolschewistischen Regimes unvermeidbar seien. Er glaubte leidenschaftlich, dass die sowjetische Regierung schon bald von ihrer engstirnigen Parteilinie ablassen und das kommunistische Gemeinwesen etablieren würde. Wir verbrachten viel Zeit zusammen und sprachen über die unterschiedlichen Phasen der Situation.

Bisher hatte ich keine*n der Anarchist*innen getroffen und es überraschte mich, dass sie sich nicht meldeten. Eines Tages kam ein*e Freund*in, die*den ich aus den Staaten kannte, um mich zu fragen, ob ich einige Mitglieder einer anarchistischen Organisation treffen wolle. Bereitwillig stimmte ich zu. Von da an lernte ich eine Sichtweise auf die Russische Revolution und das bolschewistische Regime kennen, die vollkommen anders war als alles, was ich zuvor gehört hatte. Sie war so erschreckend, so furchtbar, dass ich sie nicht glauben konnte. Sie luden mich ein an einer kleinen Versammlung teilzunehmen, die sie einberufen hatten, um mir ihre Sicht zu schildern.

Am darauffolgenden Sonntag ging ich zu ihrer Konferenz. Als ich den Newski-Prospekt in der Nähe der Liteiny-Straße überquerte, sah ich eine Gruppe Frauen, die sich aneinanderdrängten, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie waren umgeben von Soldaten, die auf sie einredeten und gestikulierten. Später erfuhr ich, dass diese Frauen Prostituierte waren, die sich selbst für ein Pfund Brot, ein Stück Seife oder Schokolade verkauften. Die Soldaten waren wegen ihrer Sonderrationen die einzigen, die es sich leisten konnten ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Prostitution im revolutionären Russland? Ich war verwundert. Was tut die kommunistische Regierung gegen dieses Unglück? Was tun die Arbeiter*innen- und Bäuer*innen-Räte? Mein*e Begleiter*in lächelte traurig. Die sowjetische Regierung hätte die Bordelle geschlossen und versuchte nun die Frauen von den Straßen zu bekommen, aber Hunger und Kälte trieben sie wieder dorthin zurück; abgesehen davon müssten die Soldaten unterhalten werden. Es war zu entsetzlich, zu unglaubwürdig, um wahr zu sein, da standen diese schaudernden Kreaturen zum Verkauf und ihre Käufer waren die roten Verteidiger der Revolution. »Die verfluchten Interventionist*innen, die Blockade – sie sind verantwortlich«, sagte mein*e Begleiter*in. Ja, die Konterrevolutionäre und die Blockade sind verantwortlich, versicherte ich mir selbst. Ich versuchte den Gedanken an diese zusammengedrängte Gruppe zu verdrängen, aber er blieb mir im Gedächtnis. Ich spürte, wie etwas in mir zerbrach.

Schließlich erreichten wir den Versammlungsort der Anarchist*innen, in einem baufälligen Haus in einem schmutzigen Hinterhof. Ich wurde in einen kleinen Raum voller Männer und Frauen geführt. Der Anblick rief mir Bilder von vor dreißig Jahren in Erinnerung, als die Anarchist*innen in Amerika, verfolgt und von einem Ort zum nächsten gejagt, gezwungen waren, sich in einem schäbigen Saal in der Orchard Street, New York zu treffen oder in einem dunklen Hinterraum eines Salons. Das war im kapitalistischen Amerika. Aber hier waren wir im revolutionären Russland, das die Anarchist*innen mit befreit hatten. Warum sollten sie sich heimlich und an so einem Ort treffen?

An diesem Abend und am folgenden Tag lauschte ich einem Vortrag über den Verrat der Bolschewiki an der Revolution. Arbeiter*innen aus den baltischen Fabriken sprachen über ihre Versklavung, Matros*innen aus Kronstadt sprachen ihre Verbitterung und Empörung über die Menschen aus, denen sie zur Macht verholfen hatten, und die nun ihre Herr*innen geworden waren. Einer der Redner war für seine anarchistischen Ansichten von den Bolschewiki zum Tode verurteilt worden, war aber entkommen und lebte nun im Untergrund. Er erzählte, wie den Räten der Matros*innen ihre Freiheiten geraubt wurden, wie jeder Atemzug zensiert wurde. Andere sprachen vom Roten Terror und der Repression in Moskau, die dazu führte, dass im September 1919 eine Bombe in eine Versammlung des Moskauer Kommitees der Kommunistischen Partei geworfen wurde.[22] Sie erzählten mir von den überfüllten Gefängnissen, der Gewalt, die den Arbeiter*innen und Bäuer*innen angetan wurde. Ich lauschte mit goßer Ungeduld, weil alles in mir gegen diese Anklage aufschrie. Es klang unmöglich; das konnte einfach nicht wahr sein. Irgendeine*r war sicherlich im Unrecht, aber vermutlich waren das sie, meine Genoss*innen, dachte ich. Sie waren unvernünftig, ungeduldig nach sofortigen Ergebnissen. War nicht Gewalt unvermeidbarer Teil einer Revolution, und wurde das alles den Bolschewiki nicht von den Interventionist*innen aufgezwungen? Meine Genoss*innen waren empört! »Verkleide dich, damit die Bolschewiki dich nicht erkennen und verteile ein Pamphlet von Kropotkin bei einem sowjetischen Treffen. Dann wirst du schnell sehen, ob wir die Wahrheit gesagt haben. Aber vor allem: Zieh aus dem Ersten Haus der Sowjets aus. Lebe unter den Menschen und du wirst alle Beweise finden, die du brauchst.«

Wie kindisch und übertrieben war das alles angesichts der Weltgeschichte, die hier in Russland stattfand! Nein, ich konnte ihren Geschichten keinen Glauben schenken. Ich würde abwarten und die Gegebenheiten untersuchen. Aber meine Gedanken waren in Aufruhr und die Nächte wurden bedrückender als jemals zuvor.

Der Tag kam, an dem ich einem Treffen der Petrograd-Sowjets beiwohnen durfte. Es gab gleich doppelten Anlass zum Feiern: Die Rückkehr von Karl Radek[23] nach Russland und Joffes[24] Bericht über den Friedensvertrag mit Estland. Wie üblich war ich mit den Zorins da. Die Versammlung fand im Taurischen Palais statt, dem ehemaligen Tagungsort der russischen Duma[25]. Alle Eingänge zum Saal wurden von Soldat*innen bewacht, das Podium war ebenfalls von Soldat*innen umringt, die ihr Gewehr im Anschlag hielten. Der Saal war bis zu den Türen überfüllt. Ich stand auf dem Podium und blickte von oben in das Meer der Gesichter. Sie sahen ausgehungert und erbärmlich aus, die Söhne und Töchter des Volkes, die Held*innen vom Roten Petrograd. Was hatten sie für die Revolution erduldet und erlitten! Ich fühlte mich ihnen gegenüber so gering.

Sinowjew[26] hatte den Vorsitz. Nachdem das Publikum die »Internationale« stehend gesungen hatte, eröffnete er die Versammlung. Er sprach sehr ausführlich. Seine Stimme ist sehr hoch, ohne Tiefen. In dem Moment, in dem ich ihn hörte, realisierte ich, was mir bei unserem ersten Treffen an ihm gefehlt hatte – Tiefe, Charakterstärke. Als nächstes kam Radek. Er war klug, geistreich, sarkastisch und er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Konterrevolutionär*innen und die Weißen Garden. Insgesamt ein interessanter Mann und eine interessante Ansprache.

Joffe mimte den Diplomaten. Wohlgenährt und gepflegt wirkte er bei dieser Versammlung, als hätte er sich an den falschen Ort verirrt. Er sprach von den Friedensbedingungen mit Estland, die mit großem Enthusiasmus vom Publikum aufgenommen wurden. Natürlich wollten diese Menschen Frieden. Würde er in Russland jemals eintreten?

Zuletzt sprach Zorin, mit Abstand der fähigste und überzeugendste an diesem Abend. Dann wurde die Versammlung für die Diskussion geöffnet. Ein Menschewik[27] bat um das Wort. Sofort brach ein Tumult los. Rufe wie »Verräter!«, »Koltschak!«[28] und »Konterrevolutionär!« kamen aus allen Ecken des Publikums und sogar vom Podium. Für mich sah das nach einem für eine revolutionäre Versammlung unwürdigen Vorgehen aus.

Auf dem Heimweg sprach ich Zorin darauf an. Der lachte. »Redefreiheit ist ein bourgeoiser Aberglaube«, sagte er, »während einer revolutionären Periode kann es keine Redefreiheit geben«. Ich fand diese radikale Position eher fragwürdig, hatte aber den Eindruck, dass ich kein Recht hatte darüber zu urteilen. Ich war Neuankömmling, während die Menschen im Taurischen Palais so viel für die Revolution erlitten und geopfert hatten. Ich hatte kein Recht über sie zu urteilen.

Kapitel 3. Beunruhigende Gedanken

Das Leben ging weiter. Jeder Tag brachte neue zwiespältige Gedanken und Emotionen. Was mich am meisten beschäftigte, war die Ungleichheit, die ich in meiner direkten Umgebung beobachtete. Ich bemerkte, dass die Rationen, die den Bewohner*innen des Ersten Hauses der Sowjets (Astoria) zugeteilt wurden, viel größer waren, als die, die die Arbeiter*innen in den Fabriken bekamen. Um ehrlich zu sein, sie waren nicht groß genug, um davon zu leben – aber keine*r im Astoria lebte ausschließlich von diesen Rationen. Die Mitglieder der Kommunistischen Partei, die im Astoria einquartiert waren, arbeiteten im Smolny und die Rationen dort waren die größten in ganz Petrograd. Außerdem war Handel zu dieser Zeit nicht vollkommen unterdrückt. Die Märkte waren ein lukrativer Nebenerwerb, auch wenn mir keine*r erklären konnte oder wollte, woher die Kaufkraft kam. Die Arbeiter*innen konnten es sich nicht leisten, Butter für 2.000 Rubel das Pfund, Zucker für 3.000 oder Fleisch für 1.000 zu kaufen. Die Ungleichheit war am deutlichsten in der Küche des Astoria zu sehen. Ich ging dort oft hin, auch wenn es eine Zumutung war dort zu kochen: Das wilde Gerangel um ein Zoll Platz auf dem Herd, die gierigen Blicke der Frauen, dass keine*r etwas Zusätzliches im Kochtopf hatte, das Geschrei und die Streitereien, wenn eine*r ein Stück Fleisch aus dem Topf seines*ihres Nachbar*in fischte! Aber es gab einen Lichtblick in dem Bild – Es war die Feindseligkeit der Diener*innenschaft, die im Astoria arbeitete. Sie waren Diener*innen, obwohl mensch sie Genoss*innen nannte, und sie spürten die Ungleichheit besonders stark: Für sie war die Revolution keine bloße Theorie, die in einigen Jahren umgesetzt werden sollte. Es war eine lebendige Sache. Eines Tages wurde ich darauf aufmerksam gemacht.

Die Rationen wurden vom Generalkommissariat verteilt, aber mensch musste sie selbst abholen. Eines Tages, als ich in einer langen Schlange darauf wartete, dass ich dran war, kam ein Bäuerinnenmädchen herein und fragte nach Essig. »Essig! Wer fragt nach einem solchen Luxusgut?«, riefen mehrere Frauen. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen Sinowjews Dienerin war. Sie sprach von ihm als ihrem Herrn, der sehr hart arbeite und sich sicherlich etwas dazuverdient habe. Plötzlich brach ein Sturm der Entrüstung los. »Herr! Haben wir dafür Revolution gemacht, oder wollten wir nicht eigentlich alle Herrscher beseitigen? Sinowjew ist nicht wichtiger als wir alle und er hat nicht mehr verdient.«

Diese Arbeiter*innen waren vulgär, sogar brutal, aber ihr Sinn für Gerechtigkeit war instinktiv. Für sie war die Revolution etwas Überlebenswichtiges. Sie sahen die Ungleichheit an jeder Ecke und nahmen sie bitter übel. Ich war verstört. Ich wollte mich erneut davon überzeugen, dass Sinowjew und die anderen Anführer*innen der Kommunist*innen ihre Macht nicht zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzten. Es war die Nahrungsmittelknappheit und das Fehlen einer effizienten Organisation, die es unmöglich machte, alle gleichermaßen zu verpflegen und natürlich war die Blockade und nicht die Bolschewiki daran schuld. Die verbündeten Intervenitonist*innen, die Russland an die Kehle wollten, waren der Grund dafür.

Jede*r Kommunist*in, die*den ich getroffen habe, wiederholte diesen Gedanken, sogar einige der Anarchist*innen hielten an ihm fest. Die kleine Gruppe, die der sowjetischen Regierung feindselig gegenüber stand, war nicht überzeugend. Aber wie ließ sich diese Erklärung mir gegenüber in Einklang mit den Geschichten bringen, die ich jeden Tag erlebte – Geschichten des systematischen Terrors, unbarmherziger Verfolgung und der Unterdrückung anderer, revolutionärer Kräfte?

Ein anderer Umstand, der mich überraschte, war, dass sich jedes Mal, wenn die Rationen ausgegeben wurden, Fleisch, Fisch, Seife, Kartoffeln, ja sogar Schuhe auf den Märkten nur so stapelten. Wie kamen diese Dinge auf die Märkte? Jede*r sprach darüber, aber keine*r schien es zu wissen. Eines Tages war ich in einem Uhrmacher*innengeschäft, als ein Soldat hereinkam. Er sprach mit dem Inhaber auf Jiddisch und erzählte ihm, dass er gerade mit einer Ladung Tee aus Sibirien zurückgekommen sei. Ob der Uhrmacher fünfzig Pfund nehmen würde? Tee wurde zu dieser Zeit zu Höchstpreisen verkauft – keine*r außer den wenigen Privilegierten konnte sich so einen Luxus leisten. Natürlich nahm der Uhrmacher den Tee. Als der Soldat den Laden verlassen hatte, fragte ich den Inhaber, ob er es nicht ziemlich gefährlich finden würde, ein so illegales Geschäft so offen abzuschließen. Zufällig verstehe ich Jiddisch, erzählte ich ihm. Fürchtete er nicht, ich könnte ihn verraten? »Ach, das macht nichts«, antwortete der Mann unbekümmert, »die Tscheka weiß bereits davon – sie nimmt sich Anteile von dem Soldaten und mir«.

Ich fing an zu ahnen, dass der Grund für viele der Übel nicht nur außerhalb Russlands lag, sondern auch in Russland selbst. Aber dann bereichern sich Polizist*innen und Kriminalbeamt*innen überall, argumentierte ich. Das ist das übliche Problem der Vetternwirtschaft. In Russland, wo die Knappheit von Nahrungsmitteln und drei Jahre Hungersnot die meisten Menschen notwendigerweise zu Gaunern gemacht haben, ist Diebstahl unvermeidlich. Die Bolschewiki versuchen das mit eiserner Faust zu unterdrücken. Wie könnte mensch sie verantwortlich machen? Aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte meine Zweifel nicht unterdrücken. Ich tastete nach moralischer Unterstützung, nach etwas Zuspruch, nach einer*m, die*der Licht auf die verwirrenden Fragen werfen könnte.

Also schrieb ich Maxim Gorki[29]. Er könnte vielleicht helfen. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf seine eigene Betroffenheit und Enttäuschung, als er Amerika besuchte. Er hatte an dessen Demokratie und dessen Liberalismus geglaubt und stattdessen Engstirnigkeit und fehlende Gastfreundschaft vorgefunden. Ich war mir sicher, Gorki würde das Ringen in mir verstehen, auch wenn die Ursache nicht die gleiche war. Würde er sich mit mir treffen? Zwei Tage später bekam ich eine kurze Nachricht, in der er mich bat, ihn zu besuchen.

Ich habe Gorki seit vielen Jahren bewundert. Er war der lebende Beweis für meinen Glauben daran, dass ein*e kreative*r Künstler*in nicht zum Schweigen gebracht werden konnte. Gorki, das Kind des Volkes, der Verstoßene, war durch sein Genie zu einem der Größten weltweit geworden, einem, der mit seinem Stift und seinem tiefen menschlichen Wohlwollen die sozial Verstoßenen zu unseren Verwandten machte. Jahrelang reiste ich durch Amerika und stellte den Amerikaner*innen Gorkis Genie vor, ich erläuterte die Größe, Schönheit und Menschlichkeit dieses Mannes und seiner Werke. Nun würde ich ihn treffen und durch ihn einen flüchtigen Blick in die komplexe Seele Russlands werfen.

Der Haupteingang zu seinem Haus war vernagelt, als ich ankam, und es schien keinen Weg hinein zu geben. Ich wollte schon verzweifelt aufgeben, als eine Frau auf eine schmuddelige Treppe deutete. Ich stieg die Treppe hinauf und klopfte an die erste Tür, die ich sah. Sie wurde aufgerissen und ich wurde für einen Moment vom Licht und Dampf einer überhitzten Küche geblendet. Dann wurde ich in ein großes Esszimmer geführt. Es war nur spärlich beleuchtet, kühl und düster mit Ausnahme eines Feuers und einer großen Sammlung niederländischen Porzellans an den Wänden. Eine der drei Frauen, die ich in der Küche bemerkt hatte, setzte sich mit mir an den Tisch und tat so, als würde sie ein Buch lesen, aber beobachtete mich die ganze Zeit aus den Augenwinkeln. Es war eine unbehagliche halbe Stunde des Wartens.

Schließlich kam Gorki herein. Groß, hager und hustend, er sah krank und erschöpft aus. Er nahm mich mit in sein Arbeitszimmer, halbdunkel und deprimierend. Wir hatten uns gerade gesetzt, als die Tür aufflog und ihm eine andere junge Frau, die ich zuvor nicht gesehen hatte, augenscheinlich ein Glas dunkler, flüssiger Medizin brachte. Dann begann das Telefon zu klingeln und wenige Minuten später wurde Gorki aus dem Raum gerufen. Ich bemerkte, dass es mir nicht möglich sein würde, mit ihm zu sprechen. Als er zurückkam, musste er meine Enttäuschung bemerkt haben. Wir einigten uns darauf, unser Gespräch zu verschieben, bis sich eine weniger hektische Gelegenheit ergab. Er brachte mich zur Tür und bemerkte, »Du solltest die Baltische Flotte besuchen. Die Matros*innen von Kronstadt sind fast alle instinktive Anarchist*innen. Dort könntest du fündig werden.« Ich lächelte. »Instinktive Anarchist*innen?«, fragte ich, »bedeutet das, sie sind unverdorben von Vorurteilen, schlicht und aufgeschlossen?«

»Genau das meine ich«, antwortete er.

Das Gespräch mit Gorki hatte mich deprimiert. Auch mein zweites Treffen mit ihm, anlässlich meiner ersten Reise nach Moskau, war kaum zufriedenstellender. Im selben Zug reisten Radek, Demjan Bedny[30], der berühmte bolschewistische Versschmied, und Sipperowitsch, der damalige Präsident der Petrograder Gewerkschaften. Wir alle waren im selben Waggon, dem, der für bolschewistische Amtsträger*innen und staatliche Würdenträger*innen reserviert war. Gemütlich und geräumig. Auf der anderen Seite musste der »einfache« Mann, der*die Nicht-Kommunist*in ohne Einfluss sich den Zugang zu den immer überfüllten Waggons regelrecht erkämpfen, vorausgesetzt er hatte einen propusk[31] für die Reise – eine äußerst schwierig zu beschaffende Sache.

Ich verbrachte die Zeit während der Reise damit, über die russischen Zustände zu diskutieren, mit Sipperowitsch, einem freundlichen Mann mit tiefen Überzeugungen, und Demjan Bedny, einem großen, grobschlächtig aussehenden Mann. Radek schwang eine lange Rede über seine Erfahrungen in Deutschland und in deutschen Gefängnissen.

Als ich erfuhr, dass Gorki sich im Zug befand, freute ich mich auf eine neue Gelegenheit einer Unterhaltung mit ihm. Er bat mich zu sich. Die Sache, die mich in diesem Moment am meisten beschäftigte, war ein Artikel, der einige Tage vor meiner Abreise in der Petrograder Prawda erschienen war. Er beschäftigte sich mit moralisch verkommenen Kindern und der*die Verfasser*in empfahl, diese ins Gefängnis zu stecken. Nichts, was ich während meiner sechs Wochen in Russland bisher gehört oder gesehen hatte, hatte mich so wütend gemacht wie diese brutale und antiquierte Einstellung gegenüber Kindern. Ich wollte wissen, was Gorki über diese Sache dachte. Natürlich war er gegen Gefängnisstrafen für moralisch Verkommene, er argumentierte stattdessen für Besserungsanstalten. »Was meinst du mit moralisch verkommen?«, fragte ich ihn. »Unsere Kinder sind das Ergebnis von Alkoholmissbrauch während des Russisch-Japanischen Krieges und der Syphilis. Was außer moralischer Verkommenheit hätte aus einem solchen Erbe hervorgehen sollen?«, antwortete er. Ich argumentierte, dass Moralvorstellungen sich mit den Umständen und dem Klima einer Gesellschaft ändern, und dass, vorausgesetzt mensch glaubt an die Theorie des freien Willens, mensch Moral nicht als eine gegebene Sache betrachten kann. Bei Kindern sei der Verantwortungssinn noch nicht besonders ausgeprägt und ihnen fehle der Geist der sozialen Zugehörigkeit. Aber Gorki hielt daran fest, dass es eine beängstigende Verbreitung moralischer Verkommenheit unter Kindern gäbe und dass diese Fälle abgesondert werden müssten.

Dann schnitt ich das Thema an, das mich am meisten beschäftigte. Was ist mit Verfolgung und Terrror – waren all diese Schrecken unvermeidbar oder lag ein Teil der Schuld dafür im Bolschewismus selbst? Die Bolschewiki haben Fehler gemacht, aber sie haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, sagte Gorki trocken. Nichts anderes hätte mensch seiner Meinung nach erwarten können.

Ich erinnerte mich an einen bestimmten Artikel von Gorki, den er in seiner Zeitschrift New Life veröffentlicht hatte. Ich hatte diese in der Strafanstalt von Missouri gelesen. Es war eine vernichtende Anklage gegen die Bolschewiki gewesen. Es muss gewichtige Gründe gegeben haben, die Gorkis Ansichten so fundamental verändert hatten. Vielleicht hat er recht. Ich muss warten. Ich muss die Situation analysieren, ich muss all die Fakten kennen. Aber vor allem muss ich den Bolschewismus selbst bei der Arbeit beobachten.

Wir sprachen über das Schauspiel. Bei meinem ersten Besuch, als ich mich vorgestellt hatte, hatte ich Gorki einen Werbeflyer für den Schauspiel-Kurs gezeigt, den ich in Amerika gegeben hatte. John Galsworthy war unter den Bühnenautor*innen, die ich darin diskutiert hatte. Gorki hatte sich überrascht darüber gezeigt, dass ich Galsworthy als Künstler betrachtete. Seiner Ansicht nach konnte Galsworthy nicht mit Bernard Shaw verglichen werden. Ich musste widersprechen. Ich verkannte Shaw nicht, aber hielt Galsworthy für den größeren Künstler. Ich bemerkte, dass Gorki irritiert war. Sein trockener Husten hielt an. Ich brach die Diskussion ab. Bald verließ er mich. Das Gespräch hatte mich geknickt. Es hatte mir nichts gegeben.

Als wir in Moskau in den Bahnhof einliefen, war mein Begleiter, Demjan Bedny, verschwunden und ich stand mit all meinem Gepäck auf dem Bahnsteig. Radek kam zu meiner Rettung. Er rief einen Gepäckträger, nahm mich und mein Gepäck mit zu seinem bereitstehenden Automobil und bestand darauf, dass ich mit in sein Appartement im Kreml kommen sollte. Dort wurde ich liebenswürdig von seiner Frau begrüßt und zum Essen eingeladen, das von ihrem Dienstmädchen serviert wurde. Anschließend nahm sich Radek der schwierigen Aufgabe an, mich im Hotel National, auch bekannt als das Erste Haus der Moskauer Sowjets, unterzubringen. Trotz all seines Einflusses dauerte es Stunden, bis er ein Zimmer für mich ergattert hatte.

Radeks luxoriöses Appartement, das Dienstmädchen und das prächtige Abendessen wirkten sonderbar in Russland. Aber die kameradschaftliche Fürsorge Radeks und die Gastfreundschaft seiner Frau waren wohltuend für mich. Außer bei den Zorins und den Schatoffs war ich mit so etwas nicht in Berührung gekommen. Ich spürte, dass Freundlichkeit, Mitgefühl und Solidarität in Russland immer noch vorhanden waren.

Kapitel 4. Moskau: Erste Eindrücke

Von Petrograd nach Moskau zu kommen fühlt sich an, wie in kürzester Zeit aus einer Wüste ins aktive Leben zu kommen, so groß ist der Unterschied. Als ich den großen, offenen Platz vor dem Moskauer Hauptbahnhof betrat, war ich beeindruckt vom Anblick beschäftigter Menschengruppen, Taxifahrer*innen und Träger*innen. Das gleiche Bild offenbarte sich auf dem ganzen Weg vom Hauptbahnhof bis zum Kreml. Die Straßen waren voll von Männern, Frauen und Kindern. Beinahe jede*r trug ein Bündel oder zog einen beladenen Schlitten. Hier war Leben und Bewegung, völlig anders als die bedrückende Stille in Petrograd.

Ich bemerkte eine beträchtliche Sichtbarkeit des Militärs in der Stadt und eine Menge Männer in Lederbekleidung mit Pistolen im Gürtel. »Tscheka – unsere Sonderkommission«, erklärte Radek. Ich hatte schon früher von der Tscheka gehört: Petrograd sprach von ihr mit Furcht und Hass. Weder Soldat*innen noch Tschekist*innen waren in der Stadt an der Newa besonders sichtbar. Hier in Moskau schienen sie überall zu sein. Ihre Anwesenheit erinnerte mich an eine Bemerkung, die Jack Reed gemacht hatte: »Moskau ist ein militärisches Lager«, hatte er gesagt, »Spione überall, die Bürokratie äußerst autokratisch. Ich fühle mich immer erleichtert, wenn ich Moskau verlasse. Aber Petrograd ist halt auch eine proletarische Stadt und sie ist durchdrungen vom Geist der Revolution.« Moskau war schon immer voller Hierarchien. Trotzdem war das Leben intensiv, vielseitig und interessant. Was mich am brutalsten traf, neben der Sichtbarkeit des Militarismus, war die Selbstbezogenheit der Menschen. Sie schienen keinerlei Interesse aneinander zu haben. Jede*r eilte vorüber, wie eine gesonderte Einheit, die nur mit sich selbst beschäftigt ist. Dabei drängten und stießen sie gegen alle anderen. Wiederholt sah ich Frauen oder Kinder vor Erschöpfung zusammenbrechen, aber keine*r hielt an und leistete Hilfe. Die Menschen starrten mich an, wenn ich mich über den Haufen auf dem glitschigen Bürgersteig beugte oder die Bündel aufsammelte, die auf die Straße gefallen waren. Ich sprach mit Freund*innen über das, was auf mich wie fehlendes Mitgefühl wirkte. Die erklärten es zum einen Teil als Ergebnis des allgemeinen Misstrauens und Argwohns, die von der Tscheka verbreitet wurden, und zum anderen Teil mit der zeitraubenden Aufgabe die tägliche Verpflegung zu besorgen. Mensch hatte weder Kraft noch Gefühle übrig, um an andere zu denken. Trotzdem schien hier keine so große Knappheit an Lebensmitteln wie in Petrograd zu herrschen und die Menschen waren wärmer und besser angezogen.

Ich verbrachte sehr viel Zeit auf den Straßen und den Marktplätzen. Die meisten davon, darunter auch der berühmte Sukhareva-Markt, waren in vollem Betrieb. Gelegentlich führten Soldat*innen dort Razzien durch, aber normalerweise wurden sie einfach ertragen, um dann einfach weiterzumachen. Die Märkte waren der lebendigste und interessanteste Teil des Lebens in der Stadt. Hier trafen Proletarier*innen und Aristokrat*innen, Kommunist*innen und Bourgeoisie, Bäuer*innen und Intellektuelle aufeinander. Hier verband sie der allgemeine Wunsch danach zu kaufen und zu verkaufen, zu handeln und zu feilschen. Hier konnte mensch sowohl einen zum Verkauf stehenden, rostigen Metalltopf finden als auch exquisite Ikonografien, ein altes Paar Schuhe und aufwendig verarbeitete Spitze, einige Meter billigen Baumwollstoff und wunderschönes, altes persisches Tuch. Die Reichen der vergangenen Zeit, hungrig und abgemargert, trennten sich von ihren letzten Besitztümern, die Reichen der neuen Zeit kauften sie. Das war in der Tat ein erstaunlicher Anblick im revolutionären Russland.

Wer kaufte die Pracht der Vergangenheit und woher kam die Kaufkraft dafür? Es gab zahlreiche Käufer*innen. In Moskau war mensch nicht so zurückhaltend mit Auskünften wie in Petrograd, mensch konnte diese Auskünfte auf der Straße bekommen.

Die Menschen in Russland waren selbst nach vier Jahren des Krieges und drei Jahren der Revolution unkompliziert. Zunächst waren sie Fremden gegenüber argwöhnisch und wortkarg, aber wenn sie hörten, dass eine*r aus Amerika kam und nicht zu der regierenden politischen Partei gehörte, verloren sie ihre Zurückhaltung langsam. Ich habe viele Auskünfte von ihnen bekommen und einige Erklärungen für Dinge, die mich seit meiner Ankunft verwirrten. Ich sprach häufig mit den Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Frauen auf den Märkten.

Die Kräfte, die die Russische Revolution in Gang gebracht hatten, waren für diese einfachen Menschen ein Rätsel geblieben, aber die Revolution selbst war tief in ihre Seelen eingedrungen. Sie verstanden nichts von Theorien, aber sie hatten geglaubt, dass die verhassten Barin (Herr*innen) endlich verschwunden sein würden, aber nun herrschten die Barin über sie wie zuvor. »Die Barin haben alles«, sagten sie, »Weißbrot, Kleidung, sogar Schokolade, während wir gar nichts haben.« »Kommunismus, Gleichheit, Freiheit«, spotteten sie, »alles Lügen und Betrügereien«.

Ich kehrte zum National zurück, lädiert und niedergeschlagen, meine Visionen allmählich zerrüttet, meine Grundfesten der Überzeugung bröckelnd. Aber ich würde daran festhalten. Im Grunde, dachte ich, konnten die einfachen Leute die gigantischen Schwierigkeiten, mit denen die sowjetische Regierung konfrontiert war, doch nicht verstehen: Die imperialistischen Kräfte, die Russland angriffen, die zahlreichen Angriffe, die sie ihrer Männer beraubten, die sonst in der Produktion eingesetzt wären, die Blockade, die erbarmungslos die Jüngsten und Schwächsten Russlands tötete. Natürlich konnten die Menschen diese Dinge nicht verstehen, aber ich durfte mich nicht von ihrer Bitterkeit, die aus ihrem Leiden resultierte, blenden lassen. Ich musste geduldig sein. Ich musste die Quelle der Übel, die mich plagten, finden.

Das National war wie das Astoria in Petrograd ein ehemaliges Hotel, aber nicht annähernd in so gutem Zustand. Dort wurden keine Rationen ausgegeben, mit Ausnahme von einem Dreiviertelpfund Brot alle zwei Tage. Stattdessen gab es dort einen gewöhnlichen Speisesaal, in dem das Abendessen und andere Mahlzeiten serviert wurden. Die Mahlzeiten bestanden aus Suppe und ein wenig Fleisch, manchmal Fisch oder Pfannkuchen und Tee. Abends gab es meistens Kasha[32] und Tee. Das Essen war nicht besonders reichhaltig, aber mensch hätte davon leben können, wäre es nicht so abscheulich zubereitet worden.

Ich konnte keinen Grund dafür erkennen, die Lebensmittel so zu ruinieren. Als ich die Küche besuchte, entdeckte ich eine Reihe von Diener*innen, die von einigen Beamt*innen, Kommandant*innen und Inspektor*innen beaufsichtigt wurden. Das Küchenpersonal wurde schlecht bezahlt, zusätzlich bekamen sie nicht die gleiche Verpflegung wie wir. Sie nahmen diese Diskriminierung übel und hatten kein Interesse an ihrer Arbeit. Das resultierte in Gaunerei und Verschwendung, einem Verbrechen angesichts der allgemeinen Nahrungsmittelknappheit. Ich fand heraus, dass nur wenige Bewohner*innen des National ihre Speisen im Speisesaal einnahmen. Sie bereiteten ihre Speisen in einer zu diesem Zweck reservierten Küche selbst zu oder ließen sie dort zubereiten. Dort fand ich, wie bereits im Astoria, das gleiche Geschubse um einen Platz auf dem Herd vor, das gleich Gezänk und Gestreite, dieselben gierigen Blicke, mit denen mensch sich argwöhnisch beäugte. War das Kommunismus in Aktion, fragte ich mich. Ich bekam die üblichen Erklärungen zu hören: Judenitsch, Denikin, Koltschak, die Blockade – aber diese formelhaften Phrasen stellten mich nicht länger zufrieden.

Bevor ich Petrograd verließ, riet mir Jack Reed: »Wenn du nach Moskau kommst, melde dich bei Angelica Balabanowa. Sie wird dich bereitwillig empfangen und dich aufnehmen, wenn es dir nicht gelingt, ein Zimmer zu finden.« Ich hatte von Balabanowa bereits gehört, kannte ihre Arbeit und war neugierig, sie zu treffen.

Einige Tage nachdem ich in Moskau angekommen war, meldete ich mich bei ihr. Würde sie mich empfangen? Ja, sofort, auch wenn sie sich nicht gut fühlte. Ich fand Balabanowa in einem kleinen, schmucklosen Raum zusammengekrümmt auf dem Sofa liegen. Sie war keine anziehende Person, bis auf ihre Augen. Sie waren groß und leuchtend und strahlten Sympathie und Freundlichkeit aus. Sie empfing mich äußerst liebenswürdig, als wären wir alte Freund*innen und bestellte sofort den unabdingbaren Samowar[33]. Über unserem Tee sprachen wir von Amerika, der Arbeiter*innenbewegung dort, meine Abschiebung und schließlich über Russland. Ich stellte ihr die Fragen, die ich bereits vielen Kommunist*innen gestellt hatte, betreffend der Unterschiede und Diskrepanzen, die mich bei jedem meiner Schritte begleiteten. Sie überrraschte mich dadurch, dass sie nicht die üblichen Entschuldigungen vorbrachte. Sie war die erste, die nicht in den alten Kanon einstimmte. Sie machte größtenteils den Mangel an Nahrungsmitteln, Brennstoffen und Kleidung für die Bestechung und Korruption verantwortlich, aber im Ganzen war sie der Meinung, dass das Leben an sich niederträchtig und beschränkt sei. »Ein Felsen, an dem die größten Hoffnungen zerbersten. Das Leben vereitelt die besten Absichten und bricht selbst die edelsten Gemüter«, sagte sie. Eine eher unübliche Meinung für eine Marxistin, eine Kommunistin und eine mitten im Schlachtgetümmel. Ich wusste, dass sie damals Sekretärin der Dritten Internationale war. Hier hatte ich es mit einer Persönlichkeit zu tun, einer, die nicht nur ein Echo von sich gab, eine, die ein tiefes Verständnis für die Komplexität der russischen Situation mitbrachte. Ich verließ sie zutiefst beeindruckt und von ihren traurigen, leuchtenden Augen angezogen.

Ich entdeckte schon bald, dass Balabanowa – oder Balabanoff[34], wie sie es vorzog genannt zu werden – jeder*jedem zur Verfügung stand. Obwohl sie in schlechter gesundheitlicher Verfassung war und viele Ämter bekleidete, fand sie immer Zeit, sich um die Bedürfnisse ihrer zahlreichen Bittsteller*innen zu kümmern. Oft gab sie ihre Rationen an andere weiter und besaß dann selbst nicht einmal mehr die notwendigsten Güter. Sie war ständig damit beschäftigt, Medizin und kleine Köstlichkeiten für die Kranken und Leidenden aufzutreiben. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt den gestrandeten Italiener*innen, von denen es eine ganze Menge in Moskau und Petrograd gab. Balabanowa hatte viele Jahre in Italien gelebt und gearbeitet und war beinahe selbst italienische Staatsbürgerin geworden. Sie fühlte sich mit ihnen verbunden, die ebensoweit von ihrer Heimat entfernt waren wie von den Ereignissen in Russland. Sie war ihre Freundin, ihre Ratgeberin, ihre größte Unterstützerin in einer Welt des Ringens und Kämpfens. Aber nicht nur um die Italiener*innen, sondern um beinahe jede*n sorgte sich diese bemerkenswerte kleine Frau: Keine*r benötigte einen kommunistischen Mitgliedsausweis, um Einlass in Angelicas Herze gewährt zu bekommen. Kein Wunder, dass einige ihrer Genoss*innen sie als »Sentimentale, die ihre wertvolle Zeit für Nächstenliebe opferte«, betrachteten. Ich hatte viele heftige Auseinandersetzungen darüber mit der Art von Kommunist*innen, die kaltherzig und hart geworden waren, die insgesamt die Qualitäten verloren hatten, die die russischen Idealist*innen der Vergangenheit ausgezeichnet hatten.

Eine ganz ähnliche Kritik wie die an Balabanowa hatte ich auch über einen anderen führenden Kommunisten, Lunatscharski, gehört. Bereits in Petrograd erzählte mensch mir spöttisch, Lunatscharski sei »ein Wirrkopf, der Millionen an alberne Projekte verschwendet.« Aber ich war gespannt, den Mann, der Kommissar eines der wichtigsten Bereiche in Russland war, nämlich der Bildung, kennenzulernen. Bald ergab sich eine Gelegenheit dazu.

Der Kreml, die ehemalige Zitadelle des Zarismus, wurde schwer bewacht und war für die »einfachen« Leute unzugänglich. Aber ich hatte eine Verabredung und kam in Begleitung eines Mannes, der einen Berechtigungsschein hatte, also kam ich ohne Probleme an den Wachen vorbei. Bald erreichten wir die Räume von Lunatscharski. Sie befanden sich innerhalb der Mauern in einem alten, idyllischen Gebäude. Obwohl der Empfangsraum voll mit Leuten war, die darauf warteten, empfangen zu werden, rief mich Lunatscharski gleich, nachdem ich angekündigt worden war, zu sich.

Er begrüßte mich äußerst herzlich. Eine seiner ersten Fragen war, ob ich beabsichtige, »ein freier Vogel zu bleiben«, oder ob ich Lust hätte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich war überrascht. Warum sollte mensch seine Freiheit aufgeben, besonders in der Bildungsarbeit? Waren da nicht Eigeninitiative und Freiheit unerlässlich? Jedenfalls war ich gekommen, um von Lunatscharski mehr über das revolutionäre Bildungssystem in Russland zu erfahren, von dem wir in Amerika so viel gehört hatten. Besonders interessiert war ich an den Zuwendungen, die die Kinder bekamen. Die Moskauer Prawda[35], ebenso wie die Zeitungen in Petrograd hatten mich durch eine Kontroverse über die Behandlung der moralisch Verkommenen beunruhigt. Ich zeigte mich überrascht über eine solche Haltung in Sowjetrussland. »Natürlich, das ist alles barbarisch und antiquiert«, sagte Lunatscharski, »und ich kämpfe dagegen mit allen Mitteln. Die Unterstützer*innen von Gefängnissen für Kinder sind alte Strafrechtsjurist*innen, die noch immer an zaristische Methoden glauben. Ich habe eine Kommission aus Ärzt*innen, Pädagog*innen und Psycholog*innen damit beauftragt, sich dieser Sache anzunehmen. Natürlich dürfen diese Kinder nicht bestraft werden.« Ich fühlte mich enorm erleichtert. Vor mir war endlich ein Mann, der von den grausamen veralteten Methoden der Bestrafung Abstand nahm. Ich erzählte ihm von der großartigen Arbeit, die im kapitalistischen Amerika von Judge Lindsay und einigen experimentellen Schulen für zurückgebliebene Kinder geleistet wurde. Lunatscharski war sehr interessiert. »Ja, das ist genau das was wir hier wollen, das amerikanische Bildungssystem«, rief er aus. »Sicherlich meinst du nicht das öffentliche Schulsystem Amerikas?«, fragte ich. »Kennst du die rebellische Bewegung in Amerika gegen die Bildungsmethoden an den öffentlichen Schulen? Die Arbeit von Professor Dewey und anderen?« Lunatscharski hatte kaum etwas davon mitbekommen. Russland war so lange von der westlichen Welt abgeschnitten, dass es einen großen Mangel an Büchern über moderne Bildung gab. Er war neugierig, von den neuen Ideen und Methoden zu hören. Ich spürte, dass Lunatscharski eine Person voller Vertrauen und Hingabe an die Revolution war, einer, der die große Aufgabe der Bildung auch unter physisch und geistig schwierigen Bedingungen fortführen wollte.

Er schlug vor, eine Lehrer*innenkonferenz einzuberufen, wenn ich Interesse daran hätte, mit ihnen über die neuen Tendenzen in der Bildung in Amerika zu sprechen. Ich war sofort einverstanden. Später sollte ich auch Schulen und andere Institutionen in seinem Einflussbereich besuchen. Als ich Lunatscharski verließ, war ich voll neuer Hoffnung. Ich würde mit ihm zusammenarbeiten, dachte ich. Welchen größeren Dienst könnte ich den Menschen in Russland erweisen?

Während meines Aufenthalts in Russland sah ich Lunatscharski mehrmals. Er war immer der gleiche freundliche, liebenswürdige Mann, aber ich begann schon bald zu bemerken, dass er in seiner Arbeit durch Kräfte innerhalb seiner eigenen Partei behindert wurde: die meisten seiner guten Absichten und Entscheidungen wurden niemals verwirklicht. Offenbar war Lunatscharski in der gleichen Maschine gefangen, die augenscheinlich alles in ihrer eisernen Faust hielt. Was war das für eine Maschine? Wer kontrollierte ihre Bewegungen?

Obwohl Besucher*innen des National sehr stark kontrolliert wurden und keine*r in der Lage dazu war ein- oder auszugehen ohne eine spezielle propusk (Erlaubnis), gelang es Frauen und Männern unterschiedlicher politischer Lager, mich zu erreichen: Anarchist*innen, Linke Sozialrevolutionär*innen, Mitarbeiter*innen und Menschen, die ich aus Amerika kannte und die nach Russland gekommen waren, um ihre Rolle in der Revolution zu spielen. Sie alle waren in tiefem Vertrauen und mit großen Hoffungen gekommen, aber beinahe alle waren entmutigt, einige sogar verbittert. Auch wenn ihre politischen Ansichten völlig unterschiedlich waren, erzählten mir beinahe alle meine Besucher*innen die gleiche Geschichte, die Geschichte der Flut der Revolution, des wundervollen Geistes, der die Menschen voranbrachte, der Möglichkeiten der Massen, der Rolle der Bolschewiki als Vertreter*innen der radikalsten revolutionären Slogans und ihrem Verrat an der Revolution, nachdem sie sich die Macht gesichert hatten. Alle sprachen vom Friedensvertrag von Brest-Litowsk[36] als Beginn des Niedergangs. Die Linken Sozialrevolutionär*innen, ernsthafte und kultivierte Menschen, die unter den Zaren sehr gelitten hatten und nun ihre Hoffnungen und Erwartungen durchkreuzt sahen, waren besonders emotional in ihrem Urteil. Sie begründeten ihre Aussagen durch den Nachweis des Chaoses, das durch die Methoden der gewaltsamen Beschlagnahme und der Strafexpeditionen zu den Dörfern angerichtet wurde, sowie mit dem Abgrund zwischen Stadt und Land, dem Hass, der zwischen Bäuer*innen und Arbeiter*innen geschürt wird. Sie erzählten von der Verfolgung ihrer Genoss*innen, von Erschießungen unschuldiger Männer und Frauen und von frevelhafter Ineffizienz, Verschwendung und Zerstörung.

Wie gelang es den Bolschewiki an der Macht zu bleiben? Schließlich waren sie nur eine kleine Minderheit, hatten übertriebenen Schätzungen zufolge gerade einmal fünfhunderttausend Mitglieder. Die russischen Massen waren erschöpft vom Hunger und eingeschüchtert durch den Terrorismus, wurde mir erzählt. Schlimmer noch, sie hatten das Vertrauen in alle Parteien und alle Ideale verloren. Nichtsdestotrotz gab es häufig Bäuer*innenaufstände in verschiedenen Teilen Russlands, aber diese wurden skrupellos niedergeschlagen. Außerdem gab es andauernd Streiks in Moskau, Petrograd und anderen Industriezentren, aber die Zensur war so gründlich, dass kaum eine Nachricht darüber jemals die Massen erreichte.

Ich fragte meine Besucher*innen nach Interventionen. »Wir wollen keine Einmischung von außen«, war ihre gleichlautende Ansicht. Sie waren der Ansicht, dass das vor allem den Bolschewiki nutzen würde. Sie hatten das Gefühl, dass sie, solange Russland attackiert wurde, nicht einmal in der Lage dazu waren, die Bolschewiki öffentlich zu kritisieren, geschweige denn das Regime anzugreifen. »Wurden den Bolschewiki ihre Taktiken und Methoden nicht durch die Interventionen und die Blockade aufgezwungen?«, fragte ich. »Nur teilweise«, war die Antwort. »Die meisten ihrer Methoden entspringen ihrem Unverständnis über die Bedürfnisse und Eigenarten der Menschen in Russland und ihrer irren Besessenheit von der Diktatur, die nicht einmal eine Diktatur des Proletariats ist, sondern eine Diktatur einer kleinen Gruppe über das Proletariat.«

Als ich das Thema auf die Volksräte und die Wahlen brachte, lächelten meine Besucher*innen: »Wahlen! Es gibt nichts derartiges in Russland, außer du nennst Drohungen und Terror Wahlen. Es geht einzig und allein darum, dass die Bolschewiki ihre Mehrheit behalten. Ein paar Menschewiki, Sozialrevolutionär*innen und Anarchist*innen dürfen sich unter die Sowjets mischen, aber sie haben nicht einmal den Hauch einer Chance sich Gehör zu verschaffen.«

Das gezeichnete Bild war dunkel und trüb. Aber ich hielt weiter an meinem Glauben fest.

Kapitel 5. Ich treffe mich mit Leuten

Bei einer Konferenz der Moskauer Anarchist*innen im März hörte ich das erste Mal von der Rolle, die einige Anarchist*innen in der Russischen Revolution gespielt hatten. Während des Aufstands im Juli 1917 wurden die Kronstädter Matros*innen vom Anarchisten Jartschuck[37] angeführt; die Russische konstituierende Versammlung[38] wurde von Schelesnjakow[39] zerstreut; die Anarchist*innen hatten an allen Fronten gekämpft und dabei geholfen, die Angriffe der Aliierten zurückzuschlagen. Es herrschte Einigkeit darüber, dass die Anarchist*innen stets unter den Ersten waren, die sich dem Feuer entgegenstellten wurden und zugleich auch die Aktivsten im Hinblick auf die Wiederaufbauarbeit waren. Eine der größten Fabriken in der Nähe von Moskau, die während der gesamten Periode der Revolution nicht aufgehört hatte zu arbeiten, wurde von einem*einer Anarchist*in verwaltet. Anarchist*innen leisteten wichtige Arbeit im Auslandsbüro und in allen anderen Ressorts. Ich erfuhr, dass die Anarchist*innen den Bolschewiki buchstäblich zur Macht verholfen hatten. Fünf Monate danach, im April 1918 wurde der Club der Anarchist*innen in Moskau mit dem Einsatz von Maschinengewehren zerschlagen und ihre Presse unterdrückt. Das war [unmittelbar] bevor Mirbach[40] in Moskau eintraf. Die Gegend musste von »störenden Elementen gesäubert« werden, und die Anarchist*innen waren die ersten Opfer. Seither hat die Verfolgung von Anarchist*innen nicht mehr aufgehört.

Die Moskauer Konferenz der Anarchist*innen war nicht nur kritisch gegenüber dem herrschenden Regime, sondern auch gegenüber den eigenen Genoss*innen. Mensch sprach unumwunden über die negativen Seiten der Bewegung und das Fehlen von Einheit und Kooperation während der revolutionären Periode. Später würde ich mehr über die interne Zwietracht in der anarchistischen Bewegung erfahren. Vor ihrem Abschluss entschied die Konferenz, das sowjetische Regime zur Freilassung der inhaftierten Anarchist*innen aufzufordern und anarchistische Bildungsarbeit zu legalisieren. Die Konferenz bat Alexander Berkman und mich, die entsprechende Resolution zu unterzeichnen. Für mich war es schockierend, dass Anarchist*innen irgendeine Regierung bitten wollten, ihre Bestrebungen zu legalisieren, aber ich glaubte noch immer daran, dass die sowjetische Regierung wenigstens bis zu einem gewissen Grad die Revolution verkörperte. Ich unterzeichnete die Resolution und weil ich mich in wenigen Tagen mit Lenin treffen würde, versprach ich, mit ihm über diese Angelegenheit zu sprechen.

Das Treffen mit Lenin wurde von Balabanowa arrangiert. »Du musst Iljitsch treffen; sprich mit ihm über die Dinge, die dich verunsichern und die Arbeit, die du gerne tun würdest«, hatte sie gesagt. Aber es verging eine gewisse Zeit, bis sich die Gelegenheit ergab. Schließlich rief mich Balabanowa eines Tages an und fragte mich, ob ich sofort gehen könne. Lenin hatte ein Auto geschickt und wir wurden zügig hinüber zum Kreml gefahren, passierten die Wachen ohne angehalten zu werden und wurden schließlich in den Arbeitsraum des allmächtigen Präsidenten der Volkskommissare geführt.

Als wir den Raum betraten, hielt Lenin eine Kopie der Broschüre »Trial and Speeches«[41] in seinen Händen. Ich hatte meine einzige Kopie an Balabanowa gegeben, die das Booklet offensichtlich uns voraus an Lenin geschickt hatte. Eine von Lenins ersten Fragen war: »Wann können wir die soziale Revolution in Amerika erwarten?« Ich hatte diese Frage schon wiederholt zu hören bekommen, aber ich war verblüfft, sie von Lenin gestellt zu bekommen. Es schien mir unvorstellbar, dass ein Mann mit seinen Informationsmöglichkeiten so wenig über die Bedingungen in Amerika wusste.

Mein Russisch war damals holprig, aber Lenin erklärte, dass, obwohl er viele Jahre in Europa gelebt hatte, er keine Fremdsprachen gelernt hätte: Die Unterhaltung musste deshalb auf russisch fortgesetzt werden. Plötzlich verfiel er in Lobreden über unsere Reden vor Gericht. »Was für eine grandiose Gelegenheit für Propaganda«, sagte er, »das ist es wert, dafür ins Gefängnis zu gehen, wenn die Gerichte so erfolgreich als Forum genutzt werden können«. Ich fühlte förmlich, wie er mich mit einem kalten Blick anstarrte, wie er in mein gesamtes Wesen eindrang, als würde er abwägen, welchen Nutzen ich ihm bringen könnte. Augenblicklich fragte er mich, was ich zu tun gedenke. Ich erzählte ihm, dass ich Amerika zurückgeben wollte, was es damals für Russland getan hatte. Ich sprach von der Gesellschaft der Freunde der russischen Freiheit, die vor dreißig Jahren von George Kennan ins Leben gerufen und später von Alice Stone Blackwell[42] und anderen liberalen Amerikaner*innen neu gegründet worden war. Ich skizzierte kurz die großartige Arbeit, die diese Organisation geleistet hatte, um Aufmerksamkeit für den Kampf um Freiheit in Russland zu generieren und die große moralische und finanzielle Unterstützung, die diese Gesellschaft über all die Jahre geleistet hatte. Mein Plan war es, eine solche Gesellschaft in Russland für die Freiheit in Amerika zu organisieren. Lenin schien enthusiastisch. »Das ist eine großartige Idee und du sollst jede Hilfe haben, die du brauchst. Aber natürlich wird das unter der Schirmherrschaft der Dritten Internationale[43] stehen. Schreib deine Pläne nieder und schicke sie mir.«

Ich schnitt das Thema der Anarchist*innen in Russland an. Ich zeigte ihm einen Brief, den ich von Martens, dem Sowjetischen Repräsentanten in Amerika, kurz vor meiner Deportation erhalten hatte. Martens bestätigte darin, dass die Anarchist*innen in Russland vollständige Rede- und Pressefreiheiten genießen würden. Seit meiner Ankunft habe ich zahlreiche Anarchist*innen in Gefängnissen und ihre Presse unterdrückt vorgefunden. Ich erklärte, dass ich nicht daran denken könne, mit der sowjetischen Regierung zusammenzuarbeiten, solange meine Genoss*innen ihrer Ansichten wegen in Gefängnissen säßen. Außerdem erzählte ich ihm von der Resolution der Moskauer Konferenz der Anarchist*innen. Er hörte geduldig zu und versprach, dieser Angelegenheit in seiner Partei zur Aufmerksamkeit zu verhelfen. »Aber was Redefreiheit angeht«, bemerkte er, »handelt es sich dabei natürlich um eine bourgeoise Ansicht. In einer revolutionären Periode kann es keine Redefreiheit geben. Die Bäuer*innen sind gegen uns, weil wir ihnen nichts im Tausch für ihr Brot geben können. Wir werden sie auf unserer Seite haben, wenn wir ihnen im Gegenzug etwas anbieten können. Dann kannst du so viel Redefreiheit haben, wie du willst, aber nicht jetzt. Kürzlich brauchten wir die Bäuer*innen, um etwas Holz in die Stadt zu karren. Sie forderten Salz. Wir dachten, wir hätten kein Salz, aber dann entdeckten wir siebzig Pfund in Moskau in einem unserer Warenlager. Plötzlich waren die Bäuer*innen willens, das Holz zu transportieren. Deine Genoss*innen müssen warten, bis wir die Bedürfnisse der Bäuer*innen befriedigen können. Bis dahin sollten sie mit uns zusammenarbeiten. Schau dir zum Beispiel William Schatoff an, der uns half, Petrograd von Judenitsch zu befreien. Er arbeitet mit uns zusammen und wir schätzen seine Dienste. Schatoff war unter den ersten, die den Rotbannerorden[44] verliehen bekamen.«

Freie Rede, freie Presse, die geistigen Errungenschaften von Jahrhunderten, was waren sie für diesen Mann? Als Puritaner war er überzeugt davon, dass nur seine Pläne Russland erretten könnten. Die, die seine Pläne unterstützten, waren die Richtigen, die anderen konnten nicht toleriert werden.

Ein durchtriebener Asiate, dieser Lenin. Er wusste, wie mensch die Schwächen der Menschen durch Schmeicheleien, Belohnungen und Auszeichnungen ausnutzte. Als ich ging, war ich überzeugt davon, dass seine Sicht auf die Menschen ausschließlich utilitaristischer Natur war, er sah in ihnen nur den Nutzen, den sie ihm zur Erreichung seiner Ziele bringen könnten. Aber was waren seine Ziele – die Revolution?

Ich erarbeitete den Plan für die Gesellschaft der russischen Freund*innen der amerikanischen Freiheit und feilte die Feinheiten der Arbeit aus, die ich im Sinn hatte, aber ich weigerte mich, mich unter den schützenden Flügel der Dritten Internationale zu begeben. Ich erklärte Lenin, dass die Menschen in Amerika nur geringes Vertrauen in Politik setzten und es sicherlich als Zumutung empfinden würden, von einer politischen Maschinerie aus Moskau gelenkt und geführt zu werden. Ich selbst war auch nicht durchgängig einverstanden mit der Dritten Internationale.

Einige Zeit später traf ich Tschitscherin. Ich glaube, es war vier Uhr Nachmittags, als unsere Unterredung stattfand. Auch er fragte mich nach den Aussichten einer Revolution in Amerika und schien meine Einschätzung anzuzweifeln, als ich ihm erklärte, dass es dafür in naher Zukunft keine Hoffnung gäbe. Wir sprachen über die I.W.W.[45], von der er offenbar ein falsches Bild hatte. Ich versicherte Tschitscherin, dass ich, obwohl ich der I.W.W. nicht angehörte, zugeben müsse, dass sie die einzige bewusste und effektive revolutionäre, proletarische Organisation in den Vereinigten Staaten war und in Zukunft noch eine wichtige Rolle in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung des Landes spielen würde.

Neben Balabanowa beeindruckte mich Tschitscherin als der Einfachste und Bescheidenste der führenden Kommunist*innen in Moskau. Aber alle waren sie gleich naiv in ihrer Einschätzung der Welt außerhalb von Russland. War ihr Urteil so fehlerhaft, weil sie so lange von Europa und Amerika abgeschnitten gewesen waren? Oder lag es an dem dringenden Bedarf an Hilfe aus Europa, dass sie diesen Wunsch verspürten? Jedenfalls klammerten sie sich alle an die Hoffnung auf herannahende Revolutionen in westlichen Ländern und vergaßen dabei, dass Revolutionen nicht auf Bestellung stattfanden, und waren offensichtlich ohne Bewusstsein dafür, dass ihre eigene Revolution aus dem Ruder gelaufen war und schrittweise getötet wurde.

Der Herausgeber des Londoner Daily Herald, war bereits vor mir zusammen mit einem seiner Reporter nach Moskau gegangen. Sie wollten Kropotkin besuchen und hatten dafür ein besonderes Fahrzeug bekommen. Zusammen mit Alexander Berkman und A. Schapiro durfte ich Mr. Lansbury begleiten.

Kropotkins Haus stand etwas zurückversetzt im Garten, abseits der Straße. Nur ein schwacher Strahl einer Petroleumlampe erhellte den Pfad zum Haus. Kropotkin empfing uns mit seiner typischen Liebenswürdigkeit, offensichtlich erfreut über unseren Besuch. Aber ich erschrak über seine veränderte Erscheinung. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, war im Jahr 1907 in Paris gewesen, wo ich nach einem anarchistischen Kongress in Amsterdam gewesen war. Kropotkin war für viele Jahre aus Frankreich verbannt gewesen und hatte gerade erst die Erlaubnis bekommen zurückzukehren. Er war damals fünfundsechzig Jahre alt gewesen, aber immer noch so voller Leben und Energie, dass er viel jünger gewirkt hatte. Nun wirkte er alt und erschöpft. Ich war gespannt darauf, von Kropotkin Erklärungen für die Probleme, die mich beschäftigten, zu bekommen, besonders zum Verhältnis der Bolschewiki zur Revolution. Was war seine Meinung? Warum war er so lange stumm geblieben?

Ich habe mir damals nichts aufgeschrieben, deshalb kann ich nur die Essenz dessen wiedergeben, was Kropotkin sagte. Er erzählte, dass die Revolution die Menschen zu großen geistigen Leistungen befähigt habe und damit den Weg für tiefgreifende soziale Umwälzungen geebnet habe. Wenn es den Menschen erlaubt gewesen wäre, ihre freigesetzte Energie einzusetzen, wäre Russland nicht in der derzeitigen, ruinösen Verfassung. Die Bolschewiki, die von der revolutionären Welle an die Spitze gebracht worden waren, hatten die Aufmerksamkeit der Menschen das erste Mal durch radikale revolutionäre Slogans auf sich gelenkt und so das Vertrauen der Massen und die Unterstützung militanter Revolutionäre gewonnen.

Er fuhr fort zu erzählen, dass die Bolschewiki schon früh während der Oktoberrevolution damit begannen, die Interessen der Revolution der Errichtung ihrer Diktatur unterzuordnen, die jede soziale Aktivität lähmte und unterdrückte. Er behauptete, dass die Genossenschaften das wichtigste Medium gewesen seien, um die Interessen der Bäuer*innen und Arbeiter*innen zusammenzubringen. Die Genossenschaften gehörten zu den ersten Dingen, die zerschlagen wurden. Er sprach mit großer Anteilnahme über diese Unterdrückung, diese Verfolgung, diese Hetzjagd auf jeden Hauch einer Meinung und nannte zahlreiche Beispiele für die Not und das Elend der Menschen. Er betonte, dass die Bolschewiki Sozialismus und Kommunismus in den Augen der Menschen in Russland verraten hatten.

»Warum hast du nicht deine Stimme gegen dieses Übel erhoben, gegen diese Maschine, die der Revolution das Leben aussaugte?«, fragte ich. Er nannte zwei Gründe. So lange Russland von den vereinten Imperialist*innen attackiert wurde und Frauen und Kinder in Russland in Folge der Blockade starben, konnte er nicht in das schrille Geschrei der Ex-Revolutionär*innen in ihrem Verlangen nach »Vergeltung« einstimmen. Er bevorzugte es zu schweigen. Zweitens gab es in Russland kein Medium, in dem er Gehör hätte finden können. Sich bei der Regierung zu beschweren war sinnlos. Ihr Anliegen war es, sich selbst an der Macht zu halten. Sie konnte keine Rücksicht auf solche »Kleinigkeiten« wie Menschenrechte oder menschliche Leben nehmen. Dann ergänzte er: »Wir haben immer die Gefahren des Marxismus kritisiert. Warum sollten wir nun überrascht sein?«

Ich fragte Kropotkin, ob er seine Eindrücke und Beobachtungen aufschreiben würde. Schließlich müsse er doch den wichtigen Nutzen eines solchen Zeugnisses für seine Genoss*innen und die Arbeiter*innen – ja, eigentlich für die ganze Welt – sehen. »Nein«, sagte er, »es ist unmöglich zu schreiben, wenn mensch sich inmitten des großen menschlichen Leidens befindet, wenn sich jede Stunde neue Tragödien ereignen. Außerdem könnte es jeden Moment eine Hausdurchsuchung geben. Die Tscheka stellt alles auf den Kopf und nimmt jedes Stück Papier mit. Unter einer solchen, dauerhaften Bedrohung ist es unmöglich, irgendetwas Geschriebenes aufzubewahren. Aber neben diesen Überlegungen ist da mein Buch über Ethik. Ich kann nur wenige Stunden am Tag arbeiten und ich muss mich zum Nachteil alles anderen darauf konzentrieren.«

Nach einer zärtlichen Umarmung, die Peter denen, die er liebte, immer gab, kehrten wir zu unserem Wagen zurück. Das Herz war mir schwer, mein Verstand war verwirrt und verstört, von dem was ich gehört hatte. Außerdem war ich vom schlechten gesundheitlichen Zustand unseres Genossen bekümmert: Ich hatte Angst er würde den nächsten Frühling nicht erleben. Der Gedanke, dass Peter Kropotkin zu Grabe getragen werden würde, ohne dass die Welt je erfahren würde, was er von der Russischen Revolution gehalten hatte, war fürchterlich.

Kapitel 6: Vorbereitungen für Abgeschobene aus Amerika

In Moskau fanden in kurzer Zeit zahlreiche Ereignisse von Bedeutung statt. Ich wollte in dieser lebendigen Stadt bleiben, aber da ich all meine Habe in Petrograd gelassen hatte, entschied ich dorthin zurückzukehren und dann wieder zurück nach Moskau zu kommen, um Lunatscharski bei seiner Arbeit zu helfen. Wenige Tage vor meiner Abreise besuchte mich eine junge Frau, eine Anarchistin. Sie kam vom Petrograder Museum der Revolution und sie fragte mich, ob ich die Verantwortung für eine Zweigstelle des Museums in Moskau übernehmen wolle. Sie erklärte, dass die ursprüngliche Idee des Museums von der berühmten alten Revolutionärin Wera Nikolajewna Figner[46] stamme, und dass es kürzlich von unvoreingenommenen Personen realisiert worden sei. Die Mehrheit der Männer und Frauen, die in dem Museum arbeiteten, seien keine Kommunist*innen, sagte sie; aber sie seien von der Revolution besessen und begierig darauf, etwas zu erschaffen, das in Zukunft für aufrichtige Student*innen der großen Russischen Revolution als Quelle der Information und Inspiration dienen würde. Als meine Besucherin erfuhr, dass ich in Kürze nach Petrograd zurückkehren würde, lud sie mich ein, das Museum zu besuchen und mich mit seiner Arbeit vertraut zu machen.

Bei meiner Ankunft in Petrograd wartete unvorhergesehene Arbeit auf mich. Zorin informierte mich darüber, dass er von Tschitscherin davon in Kenntnis gesetzt worden war, dass rund Tausend Russ*innen aus Amerika abgeschoben worden seien und sich auf dem Weg nach Russland befänden. Sie mussten an der Grenze abgeholt werden und in Petrograd mussten sofort Unterkünfte für sie organisiert werden. Zorin fragte mich, ob ich der Kommision, die zu diesem Zweck gegründet werden würde, angehören wolle.

Den Plan einer solchen Kommission für Abgeschobene aus Amerika hatten wir kurz nach unserer Ankunft in Russland Zorin gegenüber angeschnitten. Damals hatte uns Zorin an Tschitscherin verwiesen, um mit ihm daüber zu sprechen, was wir getan hatten. Aber es vergingen drei Monate, ohne dass irgendetwas diesbezüglich getan wurde. Unterdessen pilgerten unsere Genoss*innen von der Buford von Einrichtung zu Einrichtung, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie etwas Gutes tun könnten. Sie waren ein armseliges Häufchen, diese Männer, die mit so großen Hoffnungen nach Russland gekommen waren, bereit dem revolutionären Volk ihre Dienste zu erbringen. Die meisten von Ihnen waren begabte Arbeiter*innen, Mechaniker*innen – Männer, die Russland dringend brauchte; Aber die schwerfällige bolschewistische Maschine und die generelle Ineffizienz machten es zu einer schwierigen Angelegenheit, ihnen Arbeit zu beschaffen. Einige hatten selbst versucht, Arbeit zu bekommen, aber sie hatten nur wenig erreicht. Schlimmer noch, die, die eine Anstellung gefunden hatten, gewannen sehr schnell den Eindruck, dass die russischen Arbeiter*innen ihren Brüdern aus Amerika deren Eifer und Stärke übelnahmen. »Warte nur ab, bis du so ausgehungert bist wie wir«, sagten sie, »warte, bis du die Segen der Kommission zu schmecken bekommen hast und wir werden sehen, ob du immer noch so eifrig bist.« Die Abgeschobenen wurden in jeder Hinsicht entmutigt und ihr Enthusiasmus gedämpft.

Um diese unnötige Verschwendung von Energie und dieses unnötige Leid zu vermeiden, wurde schließlich die Kommission in Petrograd ins Leben gerufen. Sie bestand aus Rawitsch[47], der damaligen Innenministerin des nördlichen Distrikts, ihrem Sekretär Kaplun, zwei Mitgliedern des Büros der Kriegsgefangenen, Alexander Berkman und mir. Die neuen Abgeschobenen wurden in zwei Wochen erwartet und es gab eine Menge zu erledigen, um ihre Ankunft vorzubereiten. Unglücklicherweise konnten wir keine aktive Beteiligung von Rawitsch erwarten, weil sie zu beschäftigt war. Neben dem Posten der Innenministerin war sie Oberhaupt der Petrograder Bürgerwehr und vertrat außerdem das Moskauer Auswärtige Amt in Petrograd. Sie arbeitete gewöhnlich von acht Uhr morgens bis zwei Uhr nachts. Kaplun, ein sehr fähiger Verwalter, war verantwortlich für die gesamte interne Arbeit der Abteilung und konnte deswegen nur sehr wenig seiner Zeit entbehren. Es blieben also nur vier Personen, um in kurzer Zeit die gigantische Aufgabe zu bewältigen, Unterkünfte für tausend Abgeschobene im hungerleidenden und ruinösen Russland zu organisieren. Zudem musste Alexander Berkman, der das Empfangskomitee anführte, zur lettischen Grenze reisen, um die Verbannten zu empfangen.

Es war eine schier unbewältigbare Aufgabe für eine einzige Person, aber ich war entschlossen, der zweiten Gruppe Abgeschobener die bitteren Erfahrungen und die Enttäuschungen meiner Gefährt*innen von der Buford zu ersparen. Ich konnte diese Aufgabe nur unter der Bedingung übernehmen, dass mir das Recht zugesprochen wurde, die verschiedenen Ressorts der Regierung zu betreten, denn ich hatte bereits erlebt, wie lähmend der bürokratische Papierkram sein konnte, der so oft die innigsten und tatkräftigsten Bestrebungen durchkreuzte. Kaplun willigte ein. »Wende dich jederzeit und für alles, was du brauchst, an mich«, sagte er, »ich werde veranlassen, dass du überall empfangen wirst und mit allem, was du brauchst, unterstützt wirst. Wenn das nicht helfen sollte, ersuche die Tscheka um Hilfe«, fügte er hinzu. Ich habe noch nie zuvor die Polizei zu Hilfe gerufen, sagte ich zu ihm, warum sollte ich das im revolutionären Russland tun? »In bourgeouisen Ländern ist das eine andere Sache«, erklärte Kaplun, »bei uns verteidigt die Tscheka die Revolution und bekämpft Sabotage.« Ich begann meine Arbeit, entschlossen ohne die Tscheka auszukommen. Es muss doch sicher andere Methoden geben, dachte ich.

Dann begann ein Wettlauf durch Petrograd. Materialien waren sehr rar und es war dank der unfassbar zentralisierten bolschewistischen Methoden äußerst schwierig, diese zu beschaffen. Um ein Pfund Nägel zu bekommen, musste mensch folglich Anträge in ungefähr zehn bis fünfzehn Ämtern einreichen; um ein paar Leintücher zu ergattern oder einfaches Geschirr, vergeudete mensch Tage. Überall in den Ämtern standen Massen von Regierungsangestellten herum, rauchten Zigaretten und warteten auf die Stunde, in der ihre mühselige Tagesaufgabe erfüllt war. Meine Kolleg*innen vom Büro für Kriegsgefangene schäumten vor Wut über die ärgerlichen und unnötigen Verzögerungen, aber vergeblich. Sie drohten mit der Tscheka, mit Konzentrationslagern, ja sogar mit raztrel (Erschießung). Letzteres war die beliebteste Drohung. Immmer wenn es Schwierigkeiten gab, hörte mensch sofort raztreliat – erschossen werden. Aber der Ausdruck, so schrecklich auch seine Bedeutung war, verlor allmählich seine Wirkung bei den Menschen: Der Mensch gewöhnt sich an alles.

Ich beschloss andere Methoden auszuprobieren. Ich erzählte den Angestellten in den Ämtern von der lebhaften Teilhabe der selbstbewussten amerikanischen Arbeiter*innen an der großen Russischen Revolution und von ihrem Vertrauen und ihrer Hoffnung in das russische Proletariat. Die Menschen waren sofort interessiert, aber die Fragen, die sie stellten, waren ebenso seltsam wie bemitleidenswert: »Haben die Menschen in Amerika genug zu essen? Wann wird die Revolution dort stattfinden? Warum bist du ins verhungernde Russland gekommen?« Sie waren begierig nach Informationen und Nachrichten, diese mental und physisch verhungernden Menschen, abgeschnitten von jedem Kontakt mit der westlichen Welt durch die barbarische Blockade. Dinge aus Amerika waren etwas Wundervolles für sie. Ein Stück Schokolade oder ein Cracker waren ungekannte Leckereien für sie, sie erwiesen sich als Schlüssel zu allen Herzen.

Innerhalb von zwei Wochen schaffte ich es erfolgreich, die meisten Dinge für die erwarteten Abgeschobenen zu beschaffen, darunter Möbel, Leinen und Geschirr. Ein Wunder, wie alle sagten.

Allerdings gestaltete sich die Renovierung der Häuser, die als Unterkünfte dienen sollten, als schwierige Aufgabe. Ich inspizierte das, was, wie mir gesagt wurde, einst Erste-Klasse-Hotels gewesen waren. Ich fand sie im ehemaligen Rotlichtviertel gelegen vor; billige Absteigen waren das gewesen, bis die Bolschewiki alle Bordells schlossen. Sie waren voll von Krankheitserregern, übelriechend und schmutzig. Es war keine kleine Aufgabe, diese dunklen Löcher innerhalb von zwei Wochen in geeignete Behausungen zu verwandeln. Ein neuer Farbanstrich war ein Luxusgut, an das nicht zu denken war. Wir konnten nichts tun als die Möbel und Vorhänge aus den Räumen zu bringen und sie gründlich zu reinigen und zu desinfizieren.

Eines Morgens wurde eine Gruppe verloren aussehender Kreaturen von zwei Milizionären in mein provisorisches Büro begleitet. Sie seien gekommen, um zu arbeiten, informierte mensch mich. Die Gruppe bestand aus einem einarmigen, alten Mann, einer schwindsüchtigen Frau und acht Jungen und Mädchen, noch Kinder, blass, ausgehungert und in Lumpen gekleidet. »Woher kommen die Unglücklichen?« »Das sind Spekulant*innen«, antwortete einer der Milizionäre, »wir haben sie auf dem Markt gefasst.« Die Gefangenen begannen zu weinen. Sie seien keine Spekulant*innen, protestierten sie, sie seien hungrig, weil sie zwei Tage lang kein Brot bekommen hätten. Sie seien gezwungen gewesen zum Markt zu gehen und Zündhölzer und Bindfaden zu verkaufen, um ein kleines bisschen Brot zu bekommen. Mitten in dieser Szene wurde der alte Mann ohnmächtig vor Erschöpfung und bewies damit besser als es Worte je gekommt hätten, das er nur aus Hunger spekuliert hatte. Ich hatte solche »Spekulant*innen« bereits zuvor gesehen, sie wurden von Konvois mit geladenen Waffen, die auf die Rücken der Gefangenen gerichtet waren, durch die Straßen von Moskau und Petrograd getrieben.

Ich konnte mir nicht vorstellen, die Arbeit von diesen ausgehungerten Kreaturen verrichten zu lassen. Aber die Milizionäre insistierten, dass sie sie nicht gehen lassen würden; Sie hatten Befehl, sie zur Arbeit zu zwingen. Ich rief Kaplun an und informierte ihn, dass ich auf gar keinen Fall die Quartiere für die Abgeschobenen aus Amerika von russischen Gefangenen herrichten lassen würde, deren einziges Verbrechen Hunger war. Daraufhin befahl Kaplun die Gruppe freizulassen und willigte ein, dass ich ihnen vom Brot gab, das als Rationen für die Arbeiter*innen gedacht war. Aber ein wertvoller Tag war verloren.

Am nächsten Morgen kam eine Gruppe von Jungen und Mädchen den Newski-Prospekt herunter. Sie waren kursanti (Kadetten) vom Taurischen Palais, die zu meinem Büro entsandt worden waren, um zu arbeiten. Bei meinem ersten Besuch im Palais hatte mensch mir die Quartiere der kursanti gezeigt, der Student*innen der Akademie der Bolschewiki. Es waren hauptsächlich Jungen und Mädchen aus Dörfern, die von der Regierung untergebracht, mit Nahrungsmitteln versorgt, eingekleidet und gebildet wurden, um später verantwortungsvolle Positionen im sowjetischen Regime zu übernehmen. Damals war ich von der Institution beeindruckt gewesen, aber im April hatte ich bereits einen kleinen Blick hinter die Kulissen geworfen. Ich erinnerte mich daran, was eine junge Frau, eine Kommunistin, in Moskau über diese Student*innen zu mir gesagt hatte. »Sie sind eine besondere Kaste, die gerade in Russland erzogen wird«, hatte sie gesagt, »wie die Kirche ihre religiöse Priesterschaft unterhält und bildet, trainiert unsere Regierung eine militärische und zivile Priesterschaft. Sie sind besonders bevorzugt.« Ich hatte mehr als eine Gelegenheit, mich selbst von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen. Den kursanti wurde jeder Vorzug und viele Sonderprivilegien gewährt. Sie wussten um ihre Wichtigkeit und verhielten sich entsprechend.

Ihre erste Forderung, die sie stellten, als sie zu mir kamen, war, die nach der extra Ration Brot, die ihnen versprochen worden war. Nachdem diese Forderung erfüllt worden war, standen sie herum und schienen keinerlei Vorstellung von Arbeit zu haben. Es war offensichtlich, dass, was auch immer den kursanti gelehrt wurde, das Arbeiten nicht teil davon war. Aber eigentlich wissen nur wenige Menschen in Russland, wie mensch arbeitet. Die Situation schien hoffnungslos. Es verblieben nur noch zehn Tage bis zur Ankunft der Abgeschobenen, und die »Hotels«, die ihnen zugewiesen worden waren, waren immer noch in so unbewohnbarem Zustand wie zuvor. Es hatte keinen Sinn, mit der Tscheka zu drohen, wie es meine Kolleg*innen taten. Ich appellierte an die Jungen und Mädchen im Namen der amerikanischen Abgeschobenen, die voller Enthusiasmus für die Revolution in Russland ankommen würden und begierig waren, die gigantische Aufgabe des Wideraufbaus in Angriff zu nehmen. Die kursanti waren die verhätschelten Zöglinge der Regierung, aber sie waren vor nicht zu langer Zeit aus den Dörfern gekommen und hatten keine Zeit gehabt korrupt zu werden. Mein Appell hatte Erfolg. Sie nahmen die Arbeit mit Feuereifer auf und am Ende der zehn Tage waren die drei berühmten Hotels so fertig, wie sie Arbeitsbereitschaft und heißes Wasser ohne Seife eben machen konnten. Wir waren alle sehr stolz auf unsere Leistung und warteten gespannt auf die Ankunft der Abgeschobenen.

Schließlich kamen sie an, aber zu unserer großen Überraschung stellte sich heraus, dass sie gar keine Abgeschobenen waren. Es handelte sich um russische Kriegsgefangene aus Deutschland. Das Missverständnis war durch einen Patzer einiger Angestellter in Tschitscherins Büro zustandegekommen, die die Funkinformation über die zu erwartende Gruppe an der Grenze falsch interpretiert hatten. Die vorbereiteten Hotels wurden verschlossen und versiegelt; Sie würden nicht für die zurückgekehrten Kriegsgefangenen genutzt werden, weil »sie für Abgeschobene aus Amerika vorbereitet worden waren, die immer noch kommen könnten«. All die Anstrengungen und all die Arbeit waren vergebens gewesen.

Kapitel 7: Erholungshäuser für Arbeiter*innen

Seit meiner Rückkehr aus Moskau bemerkte ich eine Veränderung in Zorins Verhalten: Er war reserviert, distanziert und nicht so freundlich wie bei unserem ersten Treffen. Ich schrieb es der Tatsache zu, dass er überarbeitet und übermüdet war und seine wertvolle Zeit nicht verschwenden wollte. Ich besuchte die Zorins nicht mehr so häufig wie zuvor. Eines Tages allerdings rief er an, um zu fragen, ob Alexander Berkman und ich ihm bei einer Arbeit, die er plane, behilflich sein könnten und die in amerikanischer Eile, wie er es nannte, erledigt werden müsse. Als wir bei ihm eintrafen, fanden wir ihn in heller Aufregung vor, eine eher ungewöhnliche Sache für Zorin, der sonst eher still und reserviert war. Er war voll von einem neuen Plan eingenommen, »Erholungshäuser« für Arbeiter*innen zu errichten. Er erklärte, dass sich auf Kamenny Ostrow[48] die prachtvollen Villen der Stolypins[49], der Polowtsows[50] und anderer Angehöriger der Aristokratie und Bourgeoisie befänden und dass er plane, diese in Erholungszentren für Arbeiter*innen zu verwandeln. Ob wir Lust hätten, ihm dabei zu helfen? Natürlich willigten wir eifrig ein und am nächsten Morgen fuhren wir hinüber, um die Insel zu inspizieren. Es war tatsächlich ein idealer Ort, gesprenkelt mit prachtvollen Villen, einige von ihnen regelrechte Museen, in denen sich seltene Gemälde, Wandteppiche und Möbel befanden. Der für die Gebäude verantwortliche Mann lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Kunstschätze und protestierte, dass diese beschädigt oder ganz zerstört werden könnten, wenn die Gebäude wie geplant genutzt werden würden. Aber Zorin hielt an seinen Plänen fest: »Erholungshäuser für Arbeiter*innen sind wichtiger als Kunst«, sagte er.

Wir kehrten in das Astoria zurück, mit dem Ziel uns an die Arbeit zu machen und zwar mit großem Eifer, denn die Häuser sollten zum Ersten Mai fertig sein. Wir bereiteten detaillierte Pläne für Speisesäle, Schlafsäle, Leseräume, Theater- und Vorlesungssäle und Erholungsorte für die Arbeiter*innen vor. Als ersten und wichtigsten Schritt schlugen wir vor, einen Speisesaal zu organisieren, um die Arbeiter*innen zu bewirten, die angestellt werden würden, um den Ort für ihre Genoss*innen herzurichten. Ich hatte von meinen vorherigen Erfahrungen gelernt, dass viel wertvolle Zeit verloren ging, weil es nicht gelang, diejenigen zu versorgen, die mit solcher Arbeit beauftragt wurden. Zorin willigte ein und versprach, dass wir in wenigen Tagen anfangen würden. Aber eine Woche verging und wir hörten nichts weiter von dem, was ein Eilauftrag sein sollte. Einige Zeit später fragte uns Zorin, ob wir ihn zu der Insel begleiten würden. Bei unserer Ankunft fanden wir ein halbes Dutzend federführende Kommissare vor, mit Scharen von nichtstuenden Menschen. Zorin beruhigte uns, dass die Dinge ihren Lauf nehmen würden und dass wir Gelegenheit haben würden, die Arbeit wie geplant zu organisieren. Trotzdem stellten wir bald fest, dass das frischgebackene Beamt*innentum ebenso schwer zu händeln war wie die alte Bürokratie.

Jeder Kommissar hatte seine Favoriten, die er als für einen Job angestellt auflistete, um sie zu Brotrationen und einer Mahlzeit zu berechtigen. Dementsprechend waren, bereits bevor irgendwelche echten Arbeiter*innen auf den Plan traten, achtzig angebliche »Techniker*innen« im Besitz von Mahlzeit-Berechtigungsmarken und Brotmarken. Die Männer, die tatsächlich für die Arbeit mobilisiert wurden, bekamen fast nichts. Das Ergebnis war allgemeine Sabotage. Die meisten der Männer, die geschickt worden waren, um die Erholungshäuser für die Arbeiter*innen vorzubereiten, kamen aus Konzentrationslagern: Sie waren Verurteilte und Deserteure. Ich habe ihnen oft bei der Arbeit zugesehen und um ihnen gerecht zu werden, muss ich sagen, dass sie sich nicht überanstrengt haben. »Warum sollten wir?«, sagten sie. »Wir werden mit sowjetischer Suppe ernährt; das ist nichts weiter als dreckiges Spülwasser und wir bekommen ausschließlich das, was von den Faulenzern, die uns herumkommandieren, übrig gelassen wird. Und wer wird sich in diesen Häusern erholen? Nicht wir oder unsere Brüder in den Fabriken. Nur diejenigen, die zur Partei gehören oder die Einfluss haben, werden diesen Ort genießen. Außerdem fängt der Frühling an, wir werden zuhause auf der Farm gebraucht. Warum sind wir hier?« Sie strengten sich wahrlich nicht selbst an, diese unerschütterlichen Söhne des russischen Bodens. Sie hatten keinen Anreiz dazu: Sie hatten keinerlei Verbindung zum Leben um sie herum und es gab niemanden, der ihnen die Bedeutung von Arbeit im revolutionären Russland erklären konnte. Sie waren benommen von Krieg, Revolution und Hunger – nichts konnte sie aus ihrer Betäubung erwecken.

Viele der Gebäude auf Kamenny Ostrow waren für Internate und Behausungen für Menschen mit Be_hinderungen[51] genutzt worden, einige waren von Professor*innen, Lehrer*innen und anderen Intellektuellen bewohnt. Seit der Revolution lebten diese Menschen dort ungestört, doch nun kam die Anweisung, die Gebäude zu räumen, um Platz für die Erholungshäuser zu machen. Da praktisch keinerlei Vorkehrungen getroffen worden waren, um die Vertriebenen anderswo unterzubringen, setzte mensch sie quasi auf die Straße. Diejenigen, die mit Sinowjew, Gorki oder anderen einflussreichen Kommunist*innen befreundet waren, wandten sich an diese, aber diejenigen Personen, denen der »Einfluss« fehlte, erhielten keinerlei Entschädigung. Das Elend, das ich täglich erlebte, zehrte meine ganze Energie auf. Es waren unnötige Grausamkeiten, ohne jede Bedeutung für die Revolution. Dazu kam das herrschende Chaos und das Durcheinander. Die Bürokrat*innen schienen gewissermaßen Gefallen daran zu finden, gegenseitig ihre Anweisungen zu widerrufen. Häuser, in denen bereits renoviert wurde und die viel Arbeit und Materialien benötigt hatten, wurden plötzlich unfertig stehen gelassen und mensch begann irgendeine andere Arbeit. Villen, die mit Kunstschätzen gefüllt waren, wurden in Nachtunterkünfte verwandelt und schmutzige Eisenpritschen wurden inmitten antiker Möbel und Ölgemälde aufgestellt – eine unpassende, dumme Verschwendung von Zeit und Energie. Zorin hielt häufig stündliche Besprechungen mit der Belegschaft der Künstler*innen und Ingenieur*innen ab, um Pläne für Theater, Vorlesungssäle und Vergnügungsorte zu entwickeln, während die Kommissare die Arbeit sabotierten. Ich ertrug diese schmerzhafte und alberne Situation zwei Wochen lang, dann gab ich verzweifelt auf.

Anfang Mai wurden die Erholungshäuser für Arbeiter*innen auf Kammeny Ostrow mit viel Prunk, Musik und Reden eröffnet. Glühende Beiträge über die fabelhaften Dinge, die mensch für die Arbeiter*innen in Russland täte, wurden im Rundfunk gesendet. Tatsächlich handelte es sich um eine Art Coney Island[52], an die Gegebenheiten in Petrograd angepasst, einem kitschigen Schauplatz für leichtgläubige Besucher*innen. Von dieser Zeit an veränderte sich Zorins Verhalten mir gegenüber. Er wurde kalt, ja sogar feindselig. Ohne Frage bemerkte er den Kampf in mir und den Bruch, der sich ankündigte. Ich hatte dennoch viel mit Lisa Zorin zu tun, die gerade Mutter geworden war. Ich pflegte sie und ihr Baby, glücklich über die Gelegenheit auf diese Weise meine Dankbarkeit für die warmherzige Freundschaft der Zorins in meinen ersten Monaten in Russland auszudrücken. Ich schätzte ihre große Offenheit und Hingabe. Beide waren politisch so günstig gestellt, dass sie alles bekommen hätten, was sie haben wollten, dennoch fehlten Lisa Zorin sogar die einfachsten Kleidungsstücke für ihr Baby. »Tausende russische Arbeiter*innen haben auch nicht mehr, warum sollte ich mehr haben?«, sagte Lisa. Als sie so schwach war, dass sie sich nicht um ihr Baby kümmern konnte, konnte Zorin nicht dazu bewogen werden, nach Sonderrationen zu fragen. Ich musste hinter ihrem Rücken heimlich Eier und Butter auf dem Markt kaufen, um das Leben der Mutter und des Kindes zu retten. Aber ihr selbstloser Charakter machte mir meinen inneren Konflikt nur umso schwerer. Mein Verstand zwang mich, den sozialen Verhältnissen ins Gesicht zu sehen. Meine persönliche Bindung zu den Kommunist*innen, die ich kennen und schätzen gelernt hatte, weigerte sich, diese Tatsachen zu akzeptieren. Beachte nicht das Unheil – redete ich mir selbst ein –, solange es Menschen wie die Zorins oder Balabanowa gibt, muss es etwas Lebendiges in den Ideen geben, die sie vertreten. Hartnäckig klammerte ich mich an das Phantom, das ich selbst erschaffen hatte.

Kapitel 8: Der Erste Mai in Petrograd

1890 wurde der Erste Mai in Amerika das erste Mal als Internationaler Tag der Arbeit als Feiertag begangen. Der Erste Mai wurde für mich ein wichtiger, inspirierender Tag. Die Feierlichkeiten des Ersten Mais in einem freien Land – das war für mich immer eine Art Traum gewesen, etwas, nach dem ich mich sehnte, etwas, das aber vielleicht niemals in Erfüllung gehen würde. Und jetzt, 1920, sollte dieser Traum so vieler Jahre im revolutionären Russland erfüllt werden. Ich konnte den Morgen des Ersten Mais kaum erwarten. Es war ein herrlicher Tag, die warme Sonne schmolz das letzte Eis des harten Winters weg. Früh am Morgen wurde ich von den Klängen von Musik geweckt: Gruppen aus Arbeiter*innen und Soldat*innen marschierten durch die Straßen und sangen revolutionäre Lieder. Die Stadt war fröhlich geschmückt: Der Uritski-Platz vor dem Winterpalast war voller Rot, die umliegenden Straßen waren eine veritable Farbexplosion. Eine große Masse an Menschen war auf den Beinen, alle auf dem Weg zum Marsfeld, wo die Held*innen der Revolution begraben lagen.

Obwohl ich eine Eintrittskarte zu den Zuschauer*innenrängen hatte, bevorzugte ich es, unter den Menschen zu bleiben, um mich als Teil der Heerscharen zu fühlen, die dieses Weltereignis ausgelöst hatten. Das war ihr Tag – der Tag ihrer Verdienste. Allerdings waren sie merkwürdig leise, geradezu bedrückend still. Sie sangen ohne Freude, lachten ohne Heiterkeit. Mechanisch marschierten sie, beantworteten die Klatscher von der Zuschauer*innentribüne wie automatisch mit »Hurra«-Rufen, als sie die Säulen passierten.

Am Abend sollte ein Festzug stattfinden. Lange vor dem geplanten Beginn der Veranstaltung war der Uritski-Platz bis zum Palais und zu den Ufern des Newa gefüllt mit Menschen, die sich versammelt hatten, um der Open-Air-Veranstaltung beizuwohnen, die den Triumph der Menschen symbolisieren sollte. Das Stück bestand aus drei Akten: Der erste portraitierte die Bedingungen, die zum Krieg führten und die Rolle der deutschen Sozialist*innen dabei, der zweite stellte die Februarrevolution dar, mit Kerenski[53] an der Macht, und der letzte die Oktoberrevolution. Es war ein Stück mit wunderschönem Szenenaufbau und einer kraftvollen schauspielerischen Darbietung, ein lebendiges, realistisches und faszinierendes Stück. Es wurde auf den Stufen der ehemaligen Börse aufgeführt, gegenüber vom Platz. Auf der höchstgelegenen Stufe saßen Könige und Königinnen mit ihren Hofleuten, begleitet von Soldat*innen in schmucken Uniformen. Die Szene stellt einen Galaempfang dar: Es wird verkündet, dass ein Denkmal zu Ehren des weltweiten Kapitalismus errichtet werden wird. Großer Jubel bricht aus und es folgt eine wilde Orgie aus Musik und Tanz. Dann erscheinen aus den Tiefen die versklavten und schuftenden Massen, ihre Ketten rasseln traurig zur Musik über ihnen. Sie befolgen die Anweisung, ein Denkmal für ihre Herr*innen zu bauen: Einige tragen Hämmer und Ambosse, ander taumeln unter dem Gewicht riesiger Steinblöcke und Tonnen von Ziegeln. Die Arbeiter*innen schuften in ihrer Welt des Elends und der Dunkelheit, werden von den Peitschen der Sklaventreiber*innen zu größeren Leistungen getrieben, während über ihnen Licht und Freude herrscht und ihre Herr*innen feiern. Die Vollendung des Denkmals wird symbolisiert durch große gelbe Scheiben, die unter Jubel der oberen Welt in deren Mitte hochgezogen werden.

In diesem Moment sieht mensch eine kleine rote Flagge, die unten geschwenkt wird, und eine kleine Figur hält eine Rede an die Menschen. Wütende Fäuste werden erhoben, dann verschwindet die Figur zusammen mit der Flagge, nur um in verschiedenen Teilen der Unterwelt wieder aufzutauchen. Wieder weht die rote Flagge, mal hier, mal dort. Die Menschen schöpfen langsam Selbstbewusstsein und werden schließlich bedrohlich. Empörung und Wut wachsen, die Könige und Königinnen sind beunruhigt. Sie fliehen in die Sicherheit der Zitadellen und die Armee bereitet sich darauf vor, die Festung des Kapitalismus zu verteidigen.

Es ist August 1914. Die Herrscher*innen feiern erneut und die Arbeiter*innen schuften. Die Mitglieder der zweiten Internationale nehmen an der Sitzung der Mächtigen teil. Sie bleiben taub gegenüber dem Flehen der Arbeiter*innen, sie vor den Schrecken des Krieges zu bewahren. Dann verkündet die Melodie von »God save the Queen« die Ankunft der britischen Armee. Es folgen russische Soldat*innen mit Maschinengewehren und Artillerie und eine Prozession von Krankenschwestern und Krüppeln, den Tributen an den Moloch des Krieges.

Der nächste Akt stellt die Februarrevolution dar. Rote Flaggen tauchen überall auf, bewaffnete Fahrzeuge flitzen vorüber. Die Menschen stürmen den Winterpalast und holen die Fahne des Zaren ein. Die Kerenski-Regierung übernimmt die Kontrolle und die Menschen werden zurück in den Krieg geschickt. Dann folgt die wunderbare Szene der Oktoberrevolution. Soldat*innen und Matros*innen galoppieren auf den freien Platz vor dem weißen Marmorgebäude. Sie stürmen die Stufen hinauf zum Palast, es gibt einen kurzen Kampf und die Sieger*innen werden von den Massen in wildem Jubel als Held*innen gefeiert. Die »Internationale« erklingt in den Lüften, sie wird lauter und lauter, steigert sich zu einem gigantischen Dröhnen der Freude. Russland ist frei – die Arbeiter*innen, Matros*innen und Soldat*innen führen in eine neue Ära ein, dem Beginn der Weltkommune!

Das Bild war ungeheuer ergreifend. Aber die große Mehrheit blieb stumm. Nur schwacher Applaus erklang aus der Menschenmenge. Ich war sprachlos. Wie ließ sich dieses erstaunliche Fehlen von Reaktionen erklären? Als ich mit Lisa Zorin darüber sprach, meinte sie, dass die Menschen die Oktoberrevolution selbst erlebt hätten und dass jede Darbietung notwendigerweise gegen die Realität von 1917 verlieren müsse. Aber meine kleine kommunistische Nachbarin hatte eine andere Erklärung. »Die Menschen haben seit Oktober 1917 so viele Enttäuschungen erlebt«, sagte sie, »dass die Revolution für sie jede Bedeutung verloren hat. Die Darbietung hat ihre Enttäuschung nur umso schmerzlicher gemacht.«

Kapitel 9: Industrielle Militarisierung

Der Neunte Kongress der Allrussischen Kommunistischen Partei im März 1920 wurde von einer Reihe von Maßnahmen bestimmt, die eine vollständige Wende nach Rechts bedeuteten. Eine der herausragendsten unter ihnen war die Militarisierung der Arbeit und die Etablierung eines Ein-Mann-Managements der Industrie im Gegensatz zum kollegialen Geschäftssystem. Zwangsarbeit war schon lange ein Gesetz in den Statuten der Sozialistischen Republik gewesen, aber es wurde, wie Trotzki sagte, »nur im kleinen Stil« durchgesetzt. Nun wurde das Gesetz ernsthaft umgesetzt. Russland sollte eine militarisierte industrielle Armee bekommen, die ökonomische Desorganisation bekämpfen sollte, ebenso wie die Rote Armee an den verschiedenen Fronten gesiegt hatte. Es wurde behauptet, dass so eine Armee nur durch rigide Disziplin auf die Beine gestellt werden könne. Das kollegiale System der Fabriken musste einem militärischen industriellen Management weichen.

Diese Maßnahme wurde auf dem Kongress von der kommunistischen Minderheit verbittert bekämpft, aber die Parteidisziplin obsiegte. Trotzdem klang die Aufregung nicht ab: Diskussionen zu diesem Thema hielten, selbst nachdem der Kongress vertagt worden war, noch lange an. Viele der jüngeren Kommunist*innen gaben zu, dass die Maßnahme einen Schritt nach Rechts bedeutete, aber sie verteidigten die Entscheidung ihrer Partei. »Das kollegiale System ist gescheitert«, sagten sie. »Die Arbeiter*innen werden nicht freiwillig arbeiten und unsere Industrie muss wiederbelebt werden, wenn wir ein weiteres Jahr überleben wollen.«

Auch Jack Reed vertrat diese Meinung. Er war gerade nach einem gescheiterten Versuch, Amerika über Lettland zu erreichen, zurückgekehrt und wir diskutierten seit Tagen über die neue Strategie. Jack insistierte, dass diese unvermeidbar sei, so lange Russland angegriffen und blockiert werde. »Wir waren genötigt, eine Armee zu mobilisieren, um unsere äußeren Feind*innen zu bekämpfen, warum sollten wir unseren schlimmsten inneren Feind, den Hunger, nicht auch mit einer Armee bekämpfen? Das können wir nur schaffen, wenn wir unserer Industrie wieder auf die Beine helfen.« Ich betonte die Gefahr der militärischen Methode und stellte die Frage, ob mensch erwarten könne, dass die Arbeiter*innen unter Zwang effizienter werden oder intensiver arbeiten würden. Trotzdem hielt Jack die Mobilmachung der Arbeiter*innenschaft für unvermeidlich. »Wir müssen es auf jeden Fall versuchen«, sagte er.

In Petrograd gingen zu dieser Zeit Gerüchte von Streiks um. Es ging die Geschichte herum, dass Sinowjew und seine Leute, während sie die Fabriken besuchten, um die neue Strategie zu erläutern, von den Arbeiter*innen von den Grundstücken gejagt worden waren. Um mir von der Situation selbst ein Bild zu machen, entschied ich, die Fabriken zu besuchen. Schon während meiner ersten Monate in Russland hatte ich Zorin um Erlaubnis gebeten, diese sehen zu dürfen. Lisa Zorin hatte mich gefragt, ob ich auf einigen Treffen der Arbeiter*innenschaft sprechen wolle, aber ich hatte abgelehnt, weil ich das Gefühl hatte, es wäre anmaßend von mir, zuzusagen, diejenigen zu unterrichten, die die Revolution gemacht hatten. Ferner war ich damals nicht so sicher in der russischen Sprache. Aber als ich Zorin nun bat, mich einige Fabriken besuchen zu lassen, war er ausweichend. Nachdem ich mit Rawitsch bekannt war, sprach ich sie auf das Thema an und sie willigte bereitwillig ein.

Die ersten Werke, die ich besuchen wollte, waren die von Putilow, dem größten und wichtigsten Motoren- und Autohersteller. Vierzigtausend Arbeiter*innen waren dort vor dem Krieg beschäftigt gewesen. Nun seien nur 7.000 bei der Arbeit, sagte mensch mir. Ich hatte viel von den Putilowtsi gehört: Sie hatten eine heldenhafte Rolle in den revolutionären Tagen und bei der Verteidigung Petrograds gegen Judenitsch gespielt. Im Büro von Putilow wurden wir herzlich empfangen, bekamen die verschiedenen Abteilungen gezeigt und wurden dann an einen Führer übergeben. Unsere Gruppe war zu viert, nur zwei von uns konnten Russisch. Ich fiel zurück, um mich mit einer Gruppe zu unterhalten, die an einer Werkbank arbeitete. Zunächst wurde mir mit dem üblichen Misstrauen begegnet, das ich damit überwand, dass ich den Männern erzählte, dass ich ihnen die Grüße ihrer Brüder in Amerika brächte. »Und wie läuft es dort mit der Revolution?«, wurde ich sofort gefragt. Es schien eine nationale Obsession geworden zu sein, diese Idee einer nahenden Revolution in Europa und Amerika. Jede*r in Russland klammerte sich an diese Hoffnung. Es war hart, diesen falsch informierten Menschen ihren naiven Glauben zu rauben. »Die Amerikanische Revolution hat noch nicht stattgefunden«, sagte ich zu ihnen, »aber die Russische Revolution hat bei dem Proletariat in Amerika Anklang gefunden.« Ich fragte sie nach ihrer Arbeit, ihren Leben und ihrer Meinung zu den jüngsten Dekreten. »Als ob wir bisher nicht genug getrieben worden wären«, beschwerte sich einer der Männer, »jetzt sollen wir unter der militärischen nagaika [Peitsche] arbeiten. Das bedeutet natürlich, dass wir in den Fabriken sein müssen, sonst bestrafen sie uns wie industrielle Deserteure. Aber wie wollen sie mehr Arbeit aus uns herausquetschen? Wir leiden unter Hunger und Kälte. Wir haben keine Kraft mehr, die wir geben könnten.« Ich deutete an, dass die Regierung möglicherweise gezwungen sei, solche Methoden einzuführen und dass, falls Russlands Industrie nicht wiederbelebt werden würde, die Bedingungen der Arbeiter*innen sich sogar noch verschlechtern könnten. Ferner würden die Männer von Putilow den gewünschten Lohn bekommen. »Wir verstehen das große Unglück, das über Russland hereingebrochen ist«, antwortete einer der Arbeiter, »aber wir können nicht mehr aus uns herausquetschen. Selbst die zwei Pfund Brot, die wir bekommen, sind nicht genug. Sieh dir das Brot an«, sagte er und hielt eine schwarze Kruste hoch, »können wir davon leben? Und unsere Kinder? Ohne die Menschen auf dem Land oder etwas Handel auf dem Markt werden wir alle gemeinsam sterben. Jetzt kommt die neue Maßnahme, die uns von unseren Leuten wegreißt, uns an das andere Ende von Russland schickt, während unsere Brüder von dort hierher verschleppt werden, weg von ihrer Erde. Es ist eine verrückte Maßnahme und sie wird nicht funktionieren.«

»Aber was kann die Regierung angesichts der Nahrungsmittelknappheit tun?«, fragte ich. »Nahrungsmittelknappheit!«, rief der Mann aus, »Sieh dir die Märkte an. Siehst du dort irgendeine Knappheit von Nahrungsmitteln? Spekulationen und die neue Bourgeoisie, das sind die Probleme. Das Ein-Mann-Management ist unser neuer Sklaventreiber. Zuerst hat uns die Bourgeoisie sabotiert und nun sind sie erneut an der Macht. Aber sie sollen es nur versuchen, über uns zu herrschen! Sie werden schon sehen! Sollen sie es nur versuchen!«

Die Männer waren verbittert und nachtragend. In dem Moment kam der Führer zurück, um zu sehen, was aus mir geworden war. Er unternahm große Anstrengungen, um zu erklären, dass sich die industriellen Bedingungen in der Fabrik erheblich verbessert hätten, seit die Militarisierung der Arbeit in Kraft getreten ist. Die Männer seien zufriedener und es seien viel mehr Autos instandgesetzt und Motoren repariert worden als während eines gleichen Zeitraums unter dem vorherigen Management. Es seien 7.000 Mitarbeiter in den Werken angestellt, versicherte er mir. Ich brachte in Erfahrung, dass die tatsächliche Zahl unter 5.000 lag und dass von diesen nur rund 2.000 tatsächlich Arbeiter*innen waren. Die anderen waren Regierungsangestellte und Büroangestellte.

Nach den Putilow-Werken besuchten wir Treugolnik, die große Gummifabrik Russlands. Dort war es sauber und die Maschinen waren in gutem Zustand – eine gut ausgestattete, moderne Fabrik. Als wir den Hauptarbeitsraum erreichten, wurden wir vom Oberaufseher begrüßt, der seit fünfundzwanzig Jahren verantwortlich war. Er würde uns selbst herumführen, sagte er. Er schien sehr stolz auf die Fabrik zu sein, als ob es seine eigene wäre. Es überraschte mich, dass sie in der Lage gewesen waren, alles so gut in Form zu halten. Der Führer erklärte, dass das daran lag, dass beinahe das gesamte alte Personal weiterhin angestellt sei. Sie hatten das Gefühl, dass sie, was auch passieren mochte, die Fabrik nicht verkommen lassen dürften. Das war sicherlich sehr vorbildlich, dachte ich, aber schon bald hatte ich Anlass dazu, meine Meinung zu ändern. An einem der Tische stand ein alter Arbeiter mit freundlichen Augen in einem traurigen, versunkenen Gesicht und schnitt Gummi. Er erinnerte mich an den Pilger Luca in Gorkis »Nachtasyl«. Unser Führer war sehr wachsam, aber es gelang mir, mich wegzuschleichen, als der Oberaufseher den anderen Mitgliedern unserer Gruppe irgendeine Maschine zeigte.

»Nun, batyushka[54], wie geht es dir?«, grüßte ich den alten Arbeiter. »Schlecht, matushka[55]«, antwortete er, »die Zeiten sind sehr hart für uns alte Menschen.« Ich erzählte ihm, wie beeindruckt ich war, alles in so gutem Zustand in der Fabrik vorzufinden. »Das stimmt«, erklärte der alte Arbeiter, »aber das liegt daran, dass der Oberinspektor und sein Personal von Tag zu Tag hoffen, dass es einen erneuten Umsturz gibt und dass die Treugolnik wieder an ihre alten Eigentümer*innen geht. Ich kenne sie. Ich habe hier schon lange, bevor der deutsche Besitzer der Fabrik die neuen Maschinen eingebaut hat, gearbeitet.«

Als ich durch die verschiedenen Räume der Fabrik ging, sah ich die Frauen und Mädchen in offensichtlicher Furcht aufblicken. Das schien mir seltsam zu sein für ein Land, in dem die Proletarier*innen an der Macht waren. Offensichtlich waren die Maschinen nicht die einzigen, über die mit Sorgfalt gewacht worden war – auch die alte Disziplin war bewahrt worden: Die Angestellten hielten uns für bolschewistische Inspektor*innen.

Die große Getreidemühle von Petrograd, die wir als nächstes besuchten, wirkte, als sei sie belagert. Überall waren bewaffnete Soldat*innen, sogar in den Arbeitsräumen. Die Erklärung, die uns dafür gegeben wurde, war, dass große Mengen des kostbaren Mehls verschwunden seien. Die Soldat*innen beaufsichtigten die Mühlenarbeiter*innen, als ob sie Galeerensklaven wären und die Arbeiter*innen nahmen eine solch demütigende Behandlung natürlich übel. Sie trauten sich kaum zu sprechen. Ein junger Kerl, ein gutaussehender Genosse, beschwerte sich bei mir über die Bedingungen. »Wir sind hier quasi Gefangene«, sagte er, »wir können keinen Schritt tun ohne Genehmigung. Wir müssen acht Stunden am Tag arbeiten, mit nur zehn Minuten Pause für unser kipyatok [heißes Wasser] und wir werden beim Verlassen der Mühle durchsucht.« »Ist nicht der Diebstahl des Mehls der Grund für die strikte Überwachung?«, fragte ich. »Nicht wirklich«, antwortete der Junge, »die Kommissare der Mühle und die Soldat*innen wissen sehr wohl, wohin das Mehl verschwindet.« Ich schlug vor, dass die Arbeiter*innen gegen einen solchen Missstand protestieren könnten. »Bei wem sollen wir protestieren?«, rief der Junge aus, »wir würden Spekulant*innen und Konterrevolutionär*innen genannt werden und mensch würde uns verhaften.« »Hat die Revolution euch nichts gegeben?«, fragte ich. »Ah, die Revolution! Aber das ist vorbei. Beendet«, sagte er verbittert.

Am folgenden Morgen besuchten wir die Laferm Tabakfabrik. An dem Ort herrschte voller Betrieb. Wir wurden durch die Fabrik geführt und bekamen den gesamten Prozess erklärt, beginnend mit der Sortierung des Rohmaterials und endend mit den fertigen Zigaretten, gepackt für den Verkauf oder den Versand. Die Luft in den Arbeitsräumen war dick und ekelerregend. »Die Frauen sind an diese Atmosphäre gewöhnt«, sagte der Führer, »sie stört das nicht.« Es gab einige schwangere Frauen und Mädchen, kaum älter als vierzehn. Sie sahen abgezehrt aus, ihre Brüste eingefallen und mit schwarzen Ringen unter ihren Augen. Einige von ihnen husteten und die hektische Röte von Schwindsucht zeigte sich auf ihren Gesichtern. »Gibt es einen Erholungsraum, einen Ort, wo sie essen können oder ihren Tee trinken und ein bisschen frische Luft schnappen können?« Einen solchen Ort gäbe es nicht, informierte mensch mich. Die Frauen blieben acht Stunden am Stück an ihrem Arbeitsplatz. Sie nahmen ihren Tee und ihr Schwarzbrot an ihren Werkbänken zu sich. Das System war das der Akkordarbeit. Die Angestellten bekamen fünfundzwanzig Zigaretten pro Tag zusätzlich zu ihrem Lohn mit der Erlaubnis sie zu tauschen oder zu verkaufen.

Ich sprach mit einigen der Frauen. Sie beschwerten sich über nichts, außer, dass sie gezwungen waren, weit weg von der Fabrik zu wohnen. In den meisten Fällen dauerte es mehr als zwei Stunden, um zur Arbeit und nach Hause zu kommen. Sie hatten darum gebeten, in der Nähe der Laferm einquartiert zu werden und ein Versprechen diesbezüglich bekommen, aber seither hatten sie nichts mehr davon gehört.

Das Leben spielt einem sicherlich merkwürdige Streiche. In Amerika hatte ich die Idee von sozialer Fürsorgearbeit verachtet: Ich hatte sie als ein billiges Mittel der Befriedung betrachtet. Aber im sozialen Russland verstörte mich der Anblick schwangerer Frauen, die in erstickender Tabakluft arbeiteten und sich und ihre Ungeborenen mit dem Gift sättigten, als fundamentales Übel. Ich sprach mit Lisa Zorin, um zu überlegen, ob nicht etwas getan werden konnte, um dieses Übel zu verbessern. Lisa behauptete, dass Akkordarbeit der einzige Weg sei, um die Mädchen zum Arbeiten zu bewegen. Und bezüglich der Erholungsräume hätten die Frauen bereits selbst dafür gekämpft, aber es wäre einfach nicht möglich, weil in der Fabrik kein Platz dafür erübrigt werden konnte. »Aber wenn die Revolution nicht einmal solch kleine Verbesserungen gebracht hat«, argumentierte ich, »welchen Zweck hat sie dann erfüllt?« »Die Arbeiter*innen haben die Macht übernommen«, antwortete Lisa, »sie haben nun die Macht und sie haben wichtigere Dinge zu erreichen als Erholungsräume – sie müssen die Revolution verteidigen.« Lisa Zorin war in allem die Proletarierin geblieben, aber sie argumentierte wie eine Nonne, die ihrer Kirche zu Füßen lag.

Ich hatte den Eindruck, dass das, was sie die »Verteidigung der Revolution« nannte, in Wirklichkeit nichts anderes war als die Verteidigung ihrer Partei an der Macht. Jedenfalls hatte ich mit meinem Versuch soziale Fürsorgearbeit zu leisten keinen Erfolg.

Kapitel 10: Die britische Arbeiter*innen-Delegation

Ich war froh zu erfahren, dass Angelica Balabanowa in Petrograd eingetroffen war, um Quartiere für die Delegierten der britischen Arbeiter*innen vorzubereiten. Während meines Aufenthalts in Moskau hatte ich Angelicas liebenswürdige Art kennen und schätzen gelernt. Sie war mir gegenüber sehr aufopferungsvoll gewesen und als ich krank wurde, widmete sie sich mit viel Zeit meiner Pflege, beschaffte Medikamente, die mensch nur in der Apotheke des Kremls bekommen konnte und organisierte Krankheits-Sonderrationen für mich. Ihre Freundschaft war freimütig und bewegend und sie schmeichelte mir sehr.

Der Narischkin-Palast sollte für die Delegation vorbereitet werden und Angelica lud mich ein, sie dorthin zu begleiten. Ich bemerkte, dass sie ausgezehrter und bekümmerter aussah, als zu der Zeit, zu der ich sie in Moskau getroffen hatte. Unsere Unterhaltung machte mir klar, dass sie sehr stark unter der Realität litt, die ihrem Ideal so fern war. Aber sie hielt daran fest, dass das, was für mich ein Zeichen des Scheiterns war, den Umständen des Lebens selbst zu verdanken war, ja das Leben selbst die größte Pleite war.

Der Narischkin-Palast ist am südlichen Ufer des Newa gelegen, fast gegenüber der Peter-und-Paul-Festung. Dieser Ort war für die erwarteten Gäste vorbereitet worden und eine Reihe von Diener*innen und Köch*innen waren angestellt worden, um sich um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Schon bald kam die Delegation an – die meisten von ihnen typische Arbeiterräte – und mit ihnen eine Gruppe von Journalist*innen und Mrs. Snowden[56]. Die herausragendste Persönlichkeit unter ihnen war Bertrand Russell[57], der schnell seine Unabhängigkeit und seine Entschlossenheit, frei und aus erster Hand zu recherchieren, bewies.

Zu Ehren der Delegation hatten die Bolschewiki eine große Demonstration auf dem Uritski-Platz organisiert. Tausende von Menschen, unter ihnen Frauen und Kinder, waren gekommen, um den Gesandten der englischen Arbeiter*innen ihre Dankbarkeit dafür zu zeigen, dass sie sich in das revolutionäre Russland gewagt hatten. Die Zeremonie bestand aus dem Singen der »Internationale«, gefolgt von Musik und Reden, die von Balabanowa mit großer Meisterschaft übersetzt wurden. Dann folgte eine Militärparade. Ich hörte, wie Mrs. Snowden missbiligend sagte: »Was für eine Zurschaustellung des Militärs!« Ich konnte dem Drang nicht widerstehen zu bemerken: »Madame, beachten Sie bitte, dass die große russische Armee vor allem das Erzeugnis Ihres Landes ist. Hätte England nicht dabei geholfen, die Invasionen in Russland zu finanzieren, könnte Russland seine Soldat*innen mit nützlicher Arbeit beschäftigen.«

Die britischen Delegierten wurden königlich unterhalten mit Theaterstücken, Opern, Ballett und Exkursionen. Sie wurden mit Luxus überschüttet, während die Menschen schufteten und hungerten. Die sowjetische Regierung ließ nichts unversucht, um einen guten Eindruck zu hinterlassen und alles, was dieses Spektakel stören könnte, wurde von den Besucher*innen ferngehalten. Angelica hasste dieses Schauspiel und den Schein und litt sichtlich unter der strengen Aufsicht, unter die jede Bewegung der Delegation gestellt wurde. »Warum sollten sie nicht den wahren Zustand Russlands sehen? Warum sollten sie nicht sehen, wie die Menschen in Russland leben?«, lamentierte sie. »Aber ich denke nicht praktisch genug«, korrigierte sie sich selbst, »vielleicht ist das alles notwendig.« Am Ende der zwei Wochen wurde ein Abschiedsbankett zu Ehren der Besucher*innen gegeben. Angelica bestand darauf, dass ich teilnähme. Wieder gab es Reden und Toasts, wie es zu solchen Anlässen üblich ist. Die Reden, die am aufrichtigsten klangen, waren die von Balabanowa und Madame Rawitsch. Letztere bat mich darum, ihre Ansprache zu übersetzen, was ich tat. Sie sprach im Namen der weiblichen russischen Proletarierinnen und lobte deren Tapferkeit und Hingabe gegenüber der Revolution. »Mögen die englischen Proletarier*innen die Eigenschaften ihrer heroischen russischen Schwestern erlangen«, schloss Madame Rawitsch. Mrs. Snowden, die ehemalige Sufragette, hatte dazu nichts zu sagen. Sie bewahrte sich eine »würdevolle« Distanz. Dennoch erwachte die Dame zum Leben, als die Reden vorbei waren und sie geschäftig Autogramme sammelte.

Kapitel 11: Ein Besuch aus der Ukraine

Anfang Mai kamen zwei junge Männer aus der Ukraine in Petrograd an. Beide hatten einige Jahre in den USA gelebt und waren dort in der jiddischen Arbeiter*innenbewegung und der anarchistischen Bewegung aktiv gewesen. Einer von ihnen war außerdem Herausgeber einer englischen anarchistischen Wochenzeitung namens Alarm aus Chicago. 1917, als die Revolution ausbrach, reisten sie gemeinsam mit anderen Emmigrant*innen nach Russland. In ihrem Herkunftsland angekommen, nahmen sie an den anarchistischen Aktivitäten teil, die der Revolution einen gigantischen Schwung verliehen hatten. Ihr vorrangiges Tätigkeitsgebiet war die Ukraine. 1918 brachten sie die anarchistische Förderation Nabat [Alarm] auf den Weg und begannen eine Zeitung mit diesem Namen herauszugeben. Theoretisch waren sie in Konflikt mit den Bolschewiki, praktisch jedoch arbeitete die anarchistische Förderation, ebenso wie die Anarchist*innen in ganz Russland, mit den Bolschewiki zusammen und kämpfte ebenfalls an allen Fronten gegen die konterrevolutionären Kräfte.

Als die zwei Genossen aus der Ukraine von unserer Ankunft in Russland erfuhren, versuchten sie wiederholt, uns zu erreichen, aber den politischen Zuständen geschuldet und der praktischen Unmöglichkeit zu reisen, gelang es ihnen nicht, in den Norden zu kommen. In der Folge wurden sie von den Bolschewiki verhaftet und eingesperrt. Sofort nach ihrer Freilassung machten sie sich illegal auf den Weg nach Petrograd. Sie kannten die Risiken, die sie eingingen – Haft und möglicherweise Erschießung für den Besitz und die Verwendung falscher Papiere –, aber sie waren bereit alles zu riskieren, weil sie der Meinung waren, dass wir von der povstantsi [revolutionäre Bäuer*innen] Bewegung erfahren sollten, die von dieser außerordentlichen Figur namens Nestor Machno angeführt wurde. Sie wollten uns mit der Geschichte anarchistischer Aktivitäten in Russland vertraut machen und uns berichten, wie die eiserne Hand der Bolschewiki diese zerschlagen hatte.

Im Zeitraum von zwei Wochen, in der Totenstille der Petrograder Nächte, entrollten die beiden ukrainischen Anarchisten vor uns das Panorama der Kämpfe in der Ukraine. Leidenschaftslos, ruhig und mit einer fast unheimlichen Distanziertheit erzählten die beiden jungen Männer ihre Geschichte.

Dreizehn verschiedene Regierungen hatten in der Ukraine »geherrscht«. Jede von ihnen hatte den Bäuer*innenstand beraubt und ermordet, entsetzliche Pogrome verübt und auf ihrem Siegeszug Tod und Verwüstung hinterlassen. Die ukrainischen Bäuer*innen, ein unabhängigeres und temperamentvolleres Völkchen als ihre nördlichen Brüder, hatten jede Regierung und jede Maßnahme, die ihr Land und ihre Freiheit bedrohte, hassen gelernt. Sie verbündeten sich und kämpften all die langen Jahre der revolutionären Periode gegen ihre Unterdrücker*innen. Die Bäuer*innen hatten keine Theorien, sie konnten keiner politischen Partei zugerechnet werden. Sie hassten die Tyrannei lediglich instinktiv und so wurde die ganze Ukraine praktisch zu einem Rebell*innenlager. In diesen brodelnden Kessel kam 1917 Nestor Machno.

Machno war gebürtiger Ukrainer. Als natürlicher Rebell interessierte er sich schon in frühem Alter für Anarchismus. Mit siebzehn töte er einen Spion des Zaren und wurde zum Tode verurteilt, aber wegen seines geringen Alters wurde die Strafe zu lebenslanger katorga [Sicherheitshaft, ein Drittel der Zeit in Ketten] herabgesetzt. Die Februarrevolution befreite alle politischen Gefangenen, darunter auch Machno. Er hatte bis dahin zehn Jahre im Butyrka-Gefängnis in Moskau verbracht. Als er verhaftet wurde, hatte er nur eine geringe Bildung genossen, aber im Gefängnis hatte er seine Freizeit gut genutzt. Bis zu seiner Entlassung hatte er ein beachtliches Wissen in Geschichte, politischer Ökonomie und Literatur angehäuft. Kurz nach seiner Befreiung kehrte Machno in das Dorf, aus dem er stammte, nach Gulyai-Poleh, zurück und organisierte dort eine Gewerkschaft und einen lokalen Rat [Sowjet]. Dann stürzte er sich in die revolutionäre Bewegung und war währed des ganzen Jahres 1917 der geistige Lehrer und Anführer der rebellischen Bäuer*innen, die sich gegen die grundbesitzenden Eigentümer*innen auflehnten.

1918, als der Frieden von Brest die Besetzung der Ukraine durch Deutschland und Österreich ermöglichte, organisierte Machno die Banden rebellischer Bäuer*innen zur Verteidigung gegen die ausländischen Armeen. Er kämpfte gegen Skoropadskyj, den ukrainischen Hetman[58], der von deutschen Bajonetten unterstützt wurde. Er führte erfolgreiche Guerillakämpfe gegen Petljura, Kaledin, Grigorjew[59] und Denikin. Als überzeugter Anarchist bemühte er sich darum, der instinktiven Rebellion der Bäuer*innenschaft klare Ziele und Absichten zu vermitteln. Es war die Idee Machnos, dass die soziale Revolution gegen alle Feind*innen, gegen jeden konterrevolutionären oder reaktionären Angriff von rechts oder links verteidigt werden müsse. Zeitgleich wurde Bildungs- und kulturelle Arbeit für die Bäuer*innen betrieben, um diese gemäß einer anarchistisch-kommunistischen Linie zu formen, mit dem Ziel freie Bäuer*innen-Kommunen zu bilden.

Im Februar 1919 schloss Machno einen Pakt mit der Roten Armee. Er würde die südliche Front gegen Denikin weiterhin halten und dafür von den Bolschewiki die notwendigen Waffen und Munition bekommen. Machno würde im Dienste der povstantsi bleiben, die inzwischen zu einer Armee angewachsen waren und die povstantsi würden in ihren lokalen Organisationen Autonomie bewahren und die revolutionären Sowjets des Distrikts stellen, der sich über mehrere Provinzen erstreckte. Es wurde vereinbart, dass die povstantsi das Recht hätten sich zu versammeln, und dass sie ihre Angelegenheiten frei diskutieren und selbst lösen dürften. Drei solcher Treffen wurden im Februar, März und April abgehalten. Aber die Bolschewiki hielten ihren Teil der Vereinbarung nicht. Die Unterstützung, die sie Machno zugesichert hatten und die er dringend brauchte, traf nur mit großen Verspätungen oder gar nicht ein. Mensch sagte, dass das auf Anweisung von Trotzki so war, der die unabhängige Armee nicht gerade wohlwollend betrachtete. Warum auch immer, jedenfalls wurde Machno bei jedem Schritt behindert, während Denikin beständig an Boden gewann. Bald begannen die Bolschewiki Einspruch gegen die freien Bäuer*innen-Sowjets zu erheben und im Mai 1919 traf der Oberbefehlshaber der südlichen Truppen, Kamenew, in Begleitung von Mitgliedern der Charkiw-Regierung in Machnos Hauptquartier ein, um die umstrittenen Angelegenheiten zu klären. Am Ende forderten die bolschewistischen Militärrepräsentant*innen, dass sich die povstantsi auflösen. Diese weigerten sich und warfen den Bolschewiki den Bruch ihrer revolutionären Vereinbarung vor.

Unterdessen wurde der Vorstoß Denikins zu einer immer größeren Bedrohung und Machno bekam immer noch keine Unterstützung von den Bolschewiki. Die Arbeiter*innearmee entschied sich dazu, eine Sondersitzung der Sowjets für den 15. Juni einzuberufen. Es sollte über konkrete Pläne und Methoden entschieden werden, um die drohende Gefahr von Denikin aufzuhalten. Aber am 4. Juni erteilte Trotzki den Befehl, die Sitzung zu verbieten und erklärte Machno zu einem Gesetzlosen. In einer öffentlichen Sitzung in Charkiw erklärte Trotzki, dass es besser sei, den Weißen zu erlauben, die Ukraine besetzt zu halten, als Machno zu dulden. Die Anwesenheit der Weißen, sagte er, würde die ukrainische Bäuer*innenschaft im Sinne der sowjetischen Regierung beeinflussen, wohingegen Machno und seine povstantsi niemals Frieden mit den Bolschewiki schließen würden; Sie würden versuchen, selbst ein Gebiet in Besitz zu nehmen und ihre Ideen zu praktizieren, was eine konstante Gefahr für die kommunistische Regierung wäre. Es war praktisch eine Kriegserklärung an Machno und seine Armee. Bald wurde Machno von zwei Seiten angegriffen – von den Bolschewiki und von Denikin. Die povstantsi waren schlecht ausgestattet und ihnen fehlten dringend nötige Nachschübe zur Kriegsführung, trotzdem hatte die Bäuer*innenarmee wegen des militärischen Genies ihres Anführers und dem unbekümmerten Mut ihrer aufopfernden Rebell*innen eine beachtliche Zeit erfolgreich standgehalten.

Zeitgleich starteten die Bolschewiki eine Denunzinationskampagne gegen Machno und seine povstantsi. Die kommunistische Presse beschuldigte ihn, heimtückisch die südliche Front für Denikin geöffnet zu haben und brandmarkte Machnos Armee als eine Bande von Verbrecher*innen und ihren Anführer als Konterrevolutionär, der um jeden Preis vernichtet werden müsse. Aber dieser »Konter-Revolutionär« hatte die Bedrohung Denikins für die Revolution begriffen. Er sammelte neue Truppen und Unterstützung bei den Bäuer*innen und im September und Oktober 1919 versetzte seine Kampagne gegen Denikin diesem den Todesstoß in der Ukraine. Machno eroberte Denikins Artilleriestützpunkt in Mariupol, vernichtete die Nachhut der feindlichen Armee und siegte, indem er die Hauptarmee vom Nachschubstrom abschnitt. Dieses brillante Manöver von Machno und den heroischen Kämpfer*innen der Rebell*innenarmee führten erneut zu freundschaftlichen Beziehungen mit den Bolschewiki. Das Verbot der povstantsi wurde aufgehoben und die kommunistische Presse pries Machno als großes militärisches Genie und mutigen Verteidiger der Revolution in der Ukraine. Aber die Differenzen zwischen Machno und den Bolschewiki saßen tief: Er strebte nach der Errichtung freier Bäuer*innenkommunen in der Ukraine, während die Kommunist*innen die Herrschaft Moskaus durchsetzen wollten. Schlussendlich war ein Zusammenstoß unvermeidbar. Anfang Januar 1920 war es soweit.

Zu dieser Zeit bedrohte ein neuer Feind die Revolution. Grigorjew, ehemals Teil der Armee des Zaren, später Freund der Bolschewiki, wandte sich nun gegen sie. Nachdem Grigorjew wegen seiner Slogans der Freiheit und der freien Sowjets beachtliche Unterstützung im Süden erlangt hatte, schlug er Machno vor, dass sie sich gegen das kommunistische Regime verbünden. Machno berief ein Treffen der beiden Armeen ein und beschuldigte Grigorjew dort öffentlich der Konterrevolution und legte Beweise für zahlreiche Pogrome vor, die er gegen Jüd*innen organisiert hatte. Machno und seine Anhänger*innen erklärten Grigorjew zum Feind der Menschen und der Revolution, verurteilten ihn und seine nächsten Anhänger*innen zum Tode und vollstreckten das Urteil an Ort und Stelle. Ein Teil von Grigorjews Armee schloss sich Machno an.

Unterdessen bedrängte Denikin Machno weiter und zwang ihn schließlich, sich zurückzuziehen. Natürlich nicht ohne erbitterte Kämpfe auf einer Strecke von 900 Werst[60] (etwa 962 km., Anm. d. Übers.), die vier Monate andauerten und während derer Machno Richtung Galizien marschierte. Denikin rückte nach Charkiw vor, dann weiter nach Norden und eroberte Orjol und Kursk und erreichte schließlich die Tore von Tula in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Moskau.

Die Rote Armee schien machtlos zu sein, den Vorstoß Denikins aufzuhalten, aber Machno hatte unterdessen neue Kräfte gesammelt und griff Denikin von hinten an. Dieses unerwartete Manöver und die außerordentlichen militärischen Held*innentaten von Machnos Männern während dieses Angriffs brachten Denikins Pläne durcheinander, demoralisierten seine Truppen und verschafften der Roten Armee die Möglichkeit, den konterrevolutionären Feind im Umland von Tula anzugreifen.

Als die Rote Armee, nachdem die Truppen von Denikin endgültig geschlagen worden waren, Alexandrowsk erreicht hatte, forderte Trotzki erneut von Machno, dass seine Männer die Waffen niederlegen und sich der Disziplin der Roten Armee unterwerfen sollen. Die povstantsi weigerten sich, woraufhin eine organisierte militärische Kampagne gegen die Rebell*innen ins Leben gerufen wurde, im Zuge derer die Bolschewiki viele Gefangene nahmen und zahlreiche andere töteten. Machno, dem es gelang, dem Netz der Bolschewiki zu entkommen, wurde erneut zum Verbrecher und für vogelfrei erklärt. Seither führte Machno ununterbrochen einen Guerillakrieg gegen das bolschewistische Regime.

Die Geschichte der ukrainischen Freunde, die ich hier in sehr kondensierter Form wiedergegeben habe, klang so romantisch wie die Heldentaten von Stenka Rasin, dem berühmten kosakischen Rebellen, wie er von Gogol verewigt wurde. Romantisch und anschaulich, aber welche Bedeutung hatten die Aktivitäten von Machno und seinen Männern für den Anarchismus, fragte ich die beiden Genossen. Machno, erklärten meine Informanten, war selbst ein Anarchist, der darum rang, die Ukraine von jeglicher Unterdrückung zu befreien und danach strebte, die latenten anarchistischen Tendenzen der Bäuer*innen zu entwickeln und zu organisieren. Diesbezüglich hatte Machno wiederholt an die Anarchist*innen der Ukraine und Russlands appelliert, ihm zu helfen. Er bot ihnen die größte Möglichkeit für propagandistische und Bildungsarbeit, versorgte sie mit Druckausstattungen und Versammlungsorten und gab ihnen vollste Handlungsfreiheit. Immer wenn Machno eine Stadt eroberte, etablierte er Rede- und Pressefreiheit für Anarchist*innen und Linke Sozialrevolutionär*innen. Machno hatte oft gesagt: »Ich bin ein Mann des Militärs und ich habe keine Zeit für Bildungsarbeit. Aber ihr, die ihr Autor*innen und Redner*innen seid, könnt diese Arbeit leisten. Arbeitet mit mir zusammen und gemeinsam werden wir in der Lage sein, das Feld für ein wahrhaftes Experiment des Anarchismus zu bestellen.« Aber der hauptsächliche Wert der Machno-Bewegung läge bei den Bäuer*innen selbst, meinten meine Genossen. Es war eine spontane, natürliche Bewegung und die Feindschaft der Bäuer*innen gegenüber allen Regierungen war nicht das Resultat von Theorien, sondern bitterer Erfahrungen und instinktiver Liebe zur Freiheit. Sie war ein fruchtbarer Boden für anarchistische Ideen. Aus diesem Grund arbeiteten zahlreiche Anarchist*innen mit Machno zusammen. Sie kämpften mit ihm bei den meisten seiner Militärkampagnen und betrieben währenddessen tatkräftig anarchistische Propaganda.

Von Zorin und anderen Kommunist*innen war mir gesagt worden, dass Machno ein Jüd*innenhasser sei und dass seine povstantsi für zahlreiche brutale Pogrome verantwortlich seien. Meine Besucher verneinten diese Vorwürfe entschieden. Machno hätte erbittert gegen Pogrome gekämpft, behaupteten sie, er hatte oft Bekanntmachungen gegen solche Gewalttaten veröffentlicht und er hätte sogar mit eigener Hand einige derer bestraft, die des Angriffs auf Jüd*innen schuldig waren. Hass auf Jüd*innen sei in der Ukraine natürlich gängig, er sei nicht einmal unter den Roten Soldat*innen eliminiert worden. Auch sie hätten Jüd*innen angegriffen, beraubt und an ihnen Gewalttaten verübt, trotzdem mache keine*r die Bolschewiki für diese Einzelfälle verantwortlich. Die Ukraine werde viel von bewaffneten Banden heimgesucht, die oft fälschlicherweise für Machnowtschist*innen gehalten werden und die Pogrome verübt hätten. Die Bolschewiki, denen dieser Umstand bekannt sei, hätten die Verwechslung genutzt, um Machno und seine Anhänger*innen zu diskreditieren. Dennoch würden die Anarchist*innen der Ukraine die Machno-Bewegung nicht idealisieren, informierte mensch mich. Sie wussten, dass die povstantsi sich nicht als Anarchist*innen verstanden. Ihre Publikation Nabat hatte wiederholt auf diese Tatsache hingewiesen. Andererseits konnten die Anarchist*innen die Bedeutung dieser populären Bewegung nicht ignorieren, die instinktiv rebellisch, anarchistisch geneigt und erfolgreich darin war, die Feind*innen der Revolution zu schlagen, die die besser organisierte und ausgestattete bolschewistische Armee nicht besiegen konnte. Aus diesem Grund hielten es viele Anarchist*innen für ihre Pflicht mit Machno zusammenzuarbeiten. Aber ein Großteil hielt sich von Machno fern; sie hatten wichtigere kulturelle, bildende und organisatorische Arbeit zu tun.

Die eindringenden konterrevolutionären Kräfte, auch wenn sie sich in ihrem Charakter und ihren Beweggründen unterschieden, waren sich alle einig, wenn es um die unbarmherzige Verfolgung von Anarchist*innen ging. Letztere waren dazu bestimmt zu leiden, egal, welches das neue Regime sein würde. Die Bolschewiki waren in dieser Hinsicht nicht besser als Denikin oder jede andere Weiße Kraft. Die bolschewistischen Gefängnisse waren mit Anarchist*innen gefüllt, viele waren erschossen worden und alle üblichen anarchistischen Aktivitäten wurden unterdrückt. Besonders die Tscheka leistete grausame Arbeit; sie hatte die alten zaristischen Methoden wiedereingeführt, darunter sogar Folter.

Meine jungen Besucher sprachen aus Erfahrung: Sie waren wiederholt selbst in bolschewistischen Gefängnissen gewesen.

Kapitel 12: Unter der Oberfläche

Die furchtbare Geschichte, die ich mir zwei Wochen lang angehört hatte, brach wie ein Sturm über mich herein. War das die Revolution, an die ich mein Leben lang geglaubt hatte, nach der ich mich gesehnt hatte und für die ich andere begeistern wollte, oder war sie nur eine Karrikatur – ein schreckliches Monster, das gekommen war, um mich zu verhöhnen und zu verspotten? Waren Menschen wie die Kommunist*innen, die ich während der letzten sechs Monate täglich getroffen hatte – aufopferungsvolle, hart arbeitende Männer und Frauen erfüllt von einem großen Ideal –, zu solchen Gräueltaten, wie sie ihnen vorgeworfen wurden, zu solch einem Verrat fähig? Sinowjew, Radek, Zorin, Rawitsch und viele andere, die ich kennen gelernt hatte – waren sie fähig im Namen eines Ideals zu lügen, zu diffamieren, zu foltern, zu töten? Andererseits – hatte nicht Zorin zu mir gesagt, dass die Todesstrafe in Russland abgeschafft worden sei? Trotzdem hatte ich kurz nach meiner Ankunft erfahren, dass hunderte Menschen am Abend des Tages, an dem dieses neue Gesetz in Kraft getreten war, erschossen worden waren und dass in Wirklichkeit die Erschießungen durch die Tscheka bis heute nicht geendet haben.

Dass meine Freunde nicht übertrieben, als sie von der Folter durch die Tscheka sprachen, hatte ich bereits aus anderen Quellen erfahren. Beschwerden über die beängstigenden Zustände in den Petrograder Gefängnissen waren so zahlreich geworden, dass mensch in Moskau auf die Situation aufmerksam geworden war. Ein Kommissar der Tscheka war gekommen, um zu ermitteln. Den Gefangenen, die zu viel Angst davor hatten auszusagen, wurde Immunität versprochen. Aber kaum hatte der Kommissar das Gefängnis verlassen, wurde ein Insasse, ein Junge, der sehr unverblümt über die von der Tscheka verübten Brutalitäten gesprochen hatte, aus seiner Zelle geschleift und grausam zusammengeschlagen.

Warum flüchtete sich Zorin in Lügen? Sicher musste er geahnt haben, dass ich nicht sehr lange im Dunkeln bleiben würde. Und war Lenin nicht der gleichen Methoden schuldig? »Anarchist*innen im Geiste [ideyni] findest du nicht in unseren Gefängnissen«, hatte er mir versichert. Dennoch hatten zu genau diesem Zeitpunkt zahlreiche Anarchist*innen die Gefängnisse von Moskau, Petrograd und vielen anderen Städten Russlands gefüllt. Im Mai 1920 waren zahlreiche Anarchist*innen in Petrograd verhaftet worden, unter ihnen zwei Mädchen im Alter von siebzehn und neunzehn Jahren. Keine*r der Gefangenen wurde wegen konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt: Sie waren »Anarchist*innen im Geiste«, um Lenins Ausdruck zu gebrauchen. Mehrere von ihnen hatten ein Manifest anlässlich des Ersten Mais verfasst, in dem sie auf die haarsträubenden Zustände in den Fabriken der Sozialistischen Republik aufmerksam gemacht hatten. Die beiden jungen Mädchen, die ein Flugblatt gegen das »Arbeitsbuch« verbreitet hatten, das damals gerade in Kraft getreten war, waren ebenfalls verhaftet worden.

Das Arbeitsbuch wurde von den Bolschewiki als eine der großen kommunistischen Errungenschaften gepriesen. Es wurde behauptet, es würde Gleichheit schaffen und das Schmarotzertum abschaffen. Tatsächlich hatte das Arbeitsbuch eher den Charakter der gelben Ausweise[61], die unter dem Regime des Zaren an die Prostituierten ausgegeben worden waren. Es diente der Dokumentation jedes einzelnen Schrittes, den mensch tat und ohne es konnte mensch keinen Schritt tun. Es fesselte seine Eigentümer*innen an ihren Job, an die Stadt, in der er*sie lebte und an die Kammer, in der er*sie wohnte. Es dokumentierte die politische Ausrichtung seiner*seines Besitzer*in, seine*ihre Parteitreue und die Anzahl der Male, die mensch verhaftet worden war. Kurz gesagt, ein gelber Ausweis. Sogar einige Kommunist*innen waren gegen diese erniedrigende Neuerung. Die Anarchist*innen, die dagegen protestierten, wurden von der Tscheka verhaftet. Als bestimmte führende Kommunist*innen zu der Sache befragt wurden, wiederholten sie, was Lenin gesagt hatte: »Anarchist*innen im Geiste sind nicht in unseren Gefängnissen.«

Der Heiligenschein der Kommunist*innen fiel. Alle von ihnen schienen zu glauben, dass der Zweck die Mittel rechtfertige. Ich erinnerte mich an die Aussagen von Radek anlässlich des ersten Jubiläums der Dritten Internationale, als er seinem Publikum von der »beeindruckenden Verbreitung des Kommunismus« in Amerika berichtete. »Fünfzigtausend Kommunist*innen sind in amerikanischen Gefängnissen«, hatte er ausgerufen. »Molly Stimer[62], ein achtzehnjähriges Mädchen, und ihre männlichen Begleiter, alles Kommunisten, wurden wegen ihrer kommunistischen Aktivitäten aus Amerika deportiert.« Ich dachte zu dieser Zeit, dass Radek falsch informiert gewesen war. Dennoch erschien es mir seltsam, dass er sich nicht der Fakten vergewisserte, bevor er solche Annahmen traf. Sie waren verlogen und eine Beleidigung für Molly Stimer und ihre anarchistischen Genossen, zusätzlich zu der Ungerechtigkeit, die sie von der amerikanischen Plutokratie erfahren hatte.

Während der letzten paar Monate hatte ich genug gesehen und gehört, um mit der kommunistischen Psychologie, ebenso wie mit den Theorien und Methoden der Bolschewiki gewissermaßen vertraut zu werden. Ich war nicht länger überrascht von der Geschichte ihres doppelten Spiels mit Machno, den von der Tscheka verübten Brutalitäten, den Lügen Zorins. Ich hatte begriffen, dass die Kommunist*innen vorbehaltlos an den jesuitischen Leitspruch glaubten, dass der Zweck alle Mittel rechtfertige. Tatsächlich kosteten sie dieses Schema voll aus. Jede Vorstellung vom Wert eines menschlichen Lebens, von Charakterstärke, von der Wichtigkeit revolutionärer Integrität als Basis einer neuen sozialen Ordnung wurde als »bourgeoise Sentimentalität« verunglimpft, für die kein Platz im revolutionären Vorhaben war. Für die Bolschewiki war der zu erreichende Zweck der kommunistische Staat oder die sogenannte Diktatur des Proletariats. Alles, was diesen Zweck voranbrachte, war gerechtfertigt und revolutionär. Die Lenins, Radeks und Zorins waren sich darin einig. Besessen von der Unfehlbarkeit ihres Glaubens gaben sie sich diesem vollständig hin und konnten so zugleich heroisch und verachtenswert sein. Sie konnten zwanzig Stunden am Tag arbeiten, von Hering und Tee leben und die Abschlachtung unschuldiger Männer und Frauen befehlen. Gelegentlich versuchten sie ihre Morde zu verschleiern, indem sie ein »Missverständnis« vortäuschten, denn rechtfertigt der Zweck nicht alle Mittel? Sie konnten sich der Folter bedienen und die Verfolgung leugnen, sie konnten lügen und verleumden und sich selbst Idealist*innen nennen. Kurz gesagt, sie konnten sich selbst und anderen einreden, dass aus Sicht der Revolution alles legitim und richtig sei; jede andere Politik wäre schwach, sentimental oder ein Verrat an der Revolution.

Bei einem bestimmten Anlass, als ich Kritik an der brutalen Art und Weise äußerte, wie zierliche Frauen auf die Straße getrieben wurden, um Schnee zu schaufeln, und darauf bestand, dass auch wenn sie zur Bourgeoisie gehört hatten, sie dennoch Menschen wären und ihre körperliche Fitness berücksichtigt werden sollte, hatte ein*e Kommunist*in zu mir gesagt: »Du solltest dich deiner selbst schämen; du, eine alte Revolutionärin und trotzdem so sentimental.« Es war die gleiche Einstellung, die einige Kommunist*innen gegenüber Angelica Balabanowa zeigten, weil sie immer beflissen und eifrig versuchte zu helfen, wo sie nur konnte. Kurz: Ich hatte begriffen, dass die Bolschewiki soziale Puritaner*innen waren, die ernsthaft glaubten, dass sie alleine dazu bestimmt seien, die Menschheit zu retten. Meine Beziehung zu den Bolschewiki wurde angespannter, meine Einstellung zur Revolution, wie ich sie vorgefunden hatte, wurde kritischer.

Eine Sache wurde mir immer klarer: Ich konnte mich nicht mit der sowjetischen Regierung zusammenschließen; Ich konnte keine Arbeit ausüben, die mich unter die Kontrolle der kommunistischen Maschine stellen würde. Das Ministerium für Bildung war so voll und ganz von dieser Maschine dominiert, dass es hoffnungslos war, irgendetwas außer Routinearbeit zu erwarten. Tatsächlich konnte mensch fast nichts erreichen, außer mensch war Kommunist*in. Ich war begierig darauf gewesen, mit Lunatscharski zusammenzuarbeiten, den ich für einen der kultiviertesten und am wenigsten dogmatischen Kommunist*innen in hoher Position gehalten hatte. Aber mittlerweile war ich überzeugt, dass Lunatscharski selbst ein hilfloses Rädchen im Getriebe der Maschine war, die seine größten Anstrengungen beständig schmälerte und kontrollierte. Ich hatte ebenfalls erfahren, dass in der Verwaltung der Schulen und bei der Behandlung von Kindern Bevorzugung und Bestechung eine große Rolle spielten. Einige Schulen waren in hervorragendem Zustand, die Kinder waren gut ernährt und gut gekleidet, genossen Konzerte, Theateraufführungen, Tänze und andere Unterhaltungen. Aber die Mehrzahl der Unterkünfte für Kinder an den Schulen waren verkommen, schmutzig und verwahrlost. Diejenigen, die für die bevorzugten Schulen verantwortlich waren, hatten kaum Schwierigkeiten, Dinge, die sie für Veränderungen brauchten, zu besorgen, oft hatten sie sogar eine Überversorgung. Aber die Verantwortlichen an den gewöhnlichen Schulen mussten wöchentlich ihre Zeit und Energie damit verschwenden, von einem Amt zum nächsten zu laufen, matt und entmutigt, mit endlosen Wartezeiten, bevor sie auch nur die kleinsten Notwendigkeiten bekamen.

Anfangs schrieb ich diesen Zustand der Knappheit von Nahrungsmitteln und anderen Materialien zu. Ich hatte oft genug gehört, dass die Blockade und die Interventionen verantwortlich waren. Größtenteils war das wahr. Würde Russland nicht verhungern, hätten falsches Management und Bestechung keine so fatalen Auswirkungen. Aber zu der herrschenden Knappheit an Dingen kam die vorherrschende Vorstellung der kommunistischen Propaganda. Sogar die Kinder mussten diesem Zweck dienen. Die gut gepflegten Schulen waren Schau, für die Auslandsmission und für Delegierte, die Russland besuchten. An diesen Schauschulen wurde auf Kosten der anderen alles verschwendet.

Ich erinnerte mich, wie in Petrograd alle überrascht waren, als ein Artikel in der Petrograder Prawda im Mai entsetzliche Zustände an den Schulen enthüllte. Ein Komitee der kommunistischen Jugendorganisationen untersuchte einige der Institutionen. Sie fanden die Kinder schmutzig und voller Ungeziefer vor, die Matratzen, auf denen sie schliefen, waren schmutzig, sie wurden mit armseligem Essen ernährt, mit Einschluss in dunklen Räumen über Nacht bestraft, gezwungen ohne Abendessen ins Bett zu gehen und sogar geschlagen. Die Zahl der Angestellten und Bediensteten in den Schulen war nicht weniger als kriminell. In einer Schule zum Beispiel waren es 138, die für 125 Kinder zuständig waren. In einer anderen 40 für 25 Kinder. All diese Parasiten stahlen den unglücklichen Kindern das Brot aus den Mündern.

Die Zorins hatten mir wiederholt von Lillina erzählt, der Frau, die für das Amt für Bildung in Petrograd zuständig war. Sie sei eine wundervolle Arbeiterin, sagten sie, hingebungsvoll und fähig. Ich hatte sie bei verschiedenen Gelegenheiten sprechen gehört, war aber nicht beeindruckt: Sie sah prüde und selbstzufrieden aus, eine typische, puritanische Dorfschullehrerin. Aber ich wollte mir keine Meinung bilden, bevor ich nicht mit ihr gesprochen hatte. Nach der Veröffentlichung der Enthüllungen über die Schulen beschloss ich, Lillina zu treffen. Wir unterhielten uns über eine Stunde über die Schulen in ihrem Zuständigkeitsbereich, über Bildung im Allgemeinen, die Herausforderungen im Umgang mit Kindern mit geistiger Behinderung und ihre Behandlung. Sie machte sich über die Misshandlungen an ihren Schulen lustig und behauptete, dass »die jungen Genoss*innen bei den Mängeln übertrieben hätten.« Jedenfalls, fügte sie hinzu, seien die Verantwortlichen bereits von den Schulen geworfen worden.

Ähnlich wie viele andere verantwortliche Kommunist*innen widmete sich Lillina voll und ganz ihrer Arbeit und steckte all ihre Zeit und Energie in sie. Natürlicherweise konnte sie persönlich nicht alles überblicken; Ihrer Einschätzung nach waren die Schauschulen die wichtigsten, diesen widmete sie ihre meiste Zeit. Die anderen Schulen blieben der Verantwortung ihrer zahlreichen Assistent*innen überlassen, deren Eignung für diese Arbeit größtenteils nach ihrer politischen Nützlichkeit beurteilt wurde. Unsere Unterhaltung bestätigte meine Überzeugung, dass ich nicht Teil des bolschewistischen Bildungssystems sein könne.

Das Gesundheitssystem bot ebensowenig Möglichkeiten für echten Einsatz – Einsatz, der nicht zugunsten von Schaukrankenhäusern oder der politischen Ansichten der Patient*innen andere diskriminierte. Wie alle kommunistischen Institutionen wurde das Gesundheitsministerium von einem politischen Kommissar, Doktor Perwuchin, geführt. Er bemühte sich darum, mich zur Unterstützung zu gewinnen, indem er vorschlug, mich verantwortlich für die Krankenpflege in den Fabriken, die Medikamentenausgabe oder die Bezirkskrankenpflege zu machen – ein sehr schmeichelhaftes und verlockendes Angebot und eines, das großen Reiz auf mich ausübte. Ich hatte mehrere Besprechungen mit Doktor Perwuchin, aber sie führten zu keinem praktischen Ergebnis.

Immer wenn ich sein Amt besuchte, sah ich Gruppen von Männern und Frauen warten, endlos warten. Es waren Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, Angehörige der Intelligenzija – keine*r von ihnen Kommunist*in –, die in den verschiedenen medizinischen Branchen beschäftigt waren, aber deren Zeit und Energie in den Warteräumen von Doktor Perwuchin, dem politischen Kommissar verschwendet wurde. Sie waren ein armseliges Häufchen, entmutigt und niedergeschlagen, diese Männer und Frauen, die einst die Blüte Russlands waren. Sollte ich mich diesem tragischen Trauerspiel anschließen, zu diesem politischen Joch beitragen? Nicht bevor ich nicht überzeugt wäre, dass das Joch unvermeidbar für den revolutionären Prozess sei und ich einverstanden mit ihm wäre. Ich spürte, dass ich zunächst Arbeit von nicht-parteiischem Charakter annehmen müsse, Arbeit, die es mir ermöglichen würde, die Bedingungen in Russland zu studieren und in direkten Kontakt mit den Menschen zu kommen, den Arbeiter*innen und Bäuer*innen. Nur so wäre ich in der Lage, meinen eigenen Weg aus dem Chaos der Zweifel und gedanklichen Qualen zu finden, denen ich zum Opfer gefallen war.

Kapitel 13: Ich trete dem Museum der Revolution bei

Das Museum der Revolution befindet sich im Winterpalast, in dem Bereich, der einst zur Pflege der Kinder des Zaren genutzt worden war. Der Eingang zu diesem Teil des Palastes ist bekannt als detsky podyezed[63]. Von den Fenstern des Palastes aus muss der Zar häufig über den Newa auf die Peter-and-Paul-Festung, die lebendige Grabstätte seiner politischen Feind*innen, geblickt haben. Wie verändert die Dinge doch nun waren! Der Gedanke daran entzündete meine Fantasie. Ich schwelgte in Staunen und der Magie des großen Umsturzes, als ich das Museum das erste Mal besuchte.

Ich sah Gruppen von Männern und Frauen bei der Arbeit in den verschiedenen Räumen; Sie kauerten sich unter ihren Umhängen zusammen und zitterte vor Kälte. Ihre Gesichter waren aufgedunsen und blau angelaufen, ihre Hände vom Frost geschädigt, ihre gesamte Erscheinung schattenhaft. Wie groß war die Hingabe dieser Menschen, dachte ich, wenn sie selbst unter solchen Umständen weiterarbeiten. Der Sekretär des Museums, M. B. Kaplan, begrüßte mich sehr freundschaftlich und drückte seine »Hoffnung aus, ich würde mich der Arbeit im Museum anschließen.« Er und ein anderes Personalmitglied verbrachten zu mehreren Gelegenheiten viel Zeit mit mir, während derer sie mir die Pläne und den Zweck des Museums erklärten. Sie baten mich darum mich der Expedition anzuschließen, die das Museum damals organisierte und welche nach Süden in die Ukraine und den Kaukasus führen sollte. Sie wollten dort wertvolles Material aus der revolutionären Periode sammeln, erklärten sie. Die Idee gefiel mir. Neben meinem allgemeinen Interesse für das Museum und seine Bemühungen bedeutete es nicht parteiische Arbeit, frei von Kommissar*innen, und eine seltene Gelegenheit Russland zu besichtigen und zu studieren.

Im Laufe unserer Bekanntschaft erfuhr ich, dass weder Mr. Kaplan noch sein Freund Kommunisten waren. Während allerdings Mr. Kaplan stark pro bolschewistisch eingestellt war und alles zu verteidigen und wegzuerklären versuchte, war der andere Mann kritisch, wenn auch überhaupt nicht feindlich eingestellt. Während meines Aufenthalts in Petrograd sah ich beide Männer häufig und ich lernte viel von ihnen über die Revolution und die Methoden der Bolschewiki. Kaplans Freund, dessen Namen ich aus offensichtlichen Gründen nicht nennen kann, sprach oft von der völligen Unmöglichkeit, innerhalb der kommunistischen Maschine kreativ tätig zu werden. »Die Bolschewiki«, sagte er, »beschweren sich immerzu über das Fehlen kompetenter Hilfe, trotzdem bekommt keine*r je eine Gelegenheit dazu, wenn sie*er nicht Kommunist*in ist.« Das Museum war unter den Institutionen, in die am wenigsten eingegriffen wurde und die Arbeit dort hatte große Fortschritte gemacht. Dann war eine Gruppe aus zwanzig Jugendlichen dorthin geschickt worden, junge und unerfahrene Knaben, die mit der Arbeit nicht vertraut waren. Als Kommunisten wurden sie in führenden Positionen platziert und dadurch kam es zu Spannungen und Durcheinander. Jede*r fühlte sich beobachtet und ausspioniert. »Den Kommunist*innen geht es nicht um Verdienste«, sagte er, »ihr Hauptanliegen ist eine Mitgliedskarte.« Er hatte keine großen Hoffnungen, was die Zukunft des Museums anging, aber er glaubte dennoch, dass die Zusammenarbeit mit den »Amerikaner*innen« zu einer positiven Entwicklung beitragen würde.

Schließlich entschied ich mich für das Museum, weil es die passendste Arbeit für mich zu sein schien, vor allem weil die Institution nicht parteiisch war. Ich hatte auf eine lebhaftere Teilhabe am Leben in Russland gehofft als die Sammlung von historischem Material, trotzdem hielt ich die Arbeit für notwendig und wertvoll. Als ich endgültig zugestimmte hatte, Mitglied der Expedition zu werden, besuchte ich das Museum täglich, um bei den Vorbereitungen für die lange Reise zu helfen. Es gab eine Menge Arbeit. Es war keine einfache Angelegenheit einen Waggon zu bekommen und ihn für die beschwerliche Reise auszurüsten, sowie die Dokumente zu beschaffen, die uns Zugang zu den Materialien geben würden, zu deren Beschaffung wir ausziehen würden.

Während ich mit diesen Vorbereitungen beschäftigt war, kam Angelica Balabanowa in Petrograd an, um die italienische Gesandtschaft zu empfangen. Sie wirkte verändert. Sie hatte sich nach ihren italienischen Genoss*innen gesehnt: Sie würden ihr ein Stück ihres geliebten Italiens, ihres früheren Lebens und ihrer Arbeit dort geben. Obwohl sie in Russland geboren war, ihre Ausbildung dort absolviert hatte und durch die revolutionäre Tradition Russlands geprägt war, war Angelica mit dem Boden Italiens verwachsen. Nun, ich verstand sie und ihr Gefühl der Fremdheit im Land, des harten Bodens, aus dem es galt neues und strahlendes Leben zu gebären. Angelica würde niemals zugeben, nicht einmal vor sich selbst, dass das so sehr erhoffte Leben eine Totgeburt war. Aber so gut wie ich sie kannte, war es für mich nicht schwer nachzuvollziehen, wie bitter ihre Trauer über das glücklose und formlose Ding war, zu dem sich Russland entwickelte. Aber nun kamen ihre geliebten Italiener*innen! Sie würden die Wärme und Farben Italiens mit sich bringen.

Die Italiener*innen trafen ein und mit ihnen kamen neue Festlichkeiten, Demonstrationen, Versammlungen und Reden. Wie anders das alles bei meinen denkwürdigen ersten Tagen in Beloostrow auf mich gewirkt hatte. Keine Frage, die Italiener*innen waren jetzt ebenso beeindruckt wie ich damals, ebenso inspiriert durch das scheinbare Wunder von Russland. Sechs Monate und die unmittelbare Nähe zur Realität der Dinge haben das Bild für mich völlig verändert. Die Spontaneität, der Enthusiasmus, die Vitalität waren verschwunden. Nur ein blasser Schatten war geblieben, ein grinsendes Phantom, das nach meinem Herzen griff.

Auf dem Uritski-Platz wurden die Massen des langen Wartens überdrüssig. Sie warteten dort bereits seit Stunden, als die italienische Delegation das Taurische Palais verließ und endlich eintraf. Die Zeremonie hatte gerade erst begonnen, als eine bleiche und blasse Frau, die sich gegen die Bühne lehnte, zu weinen begann. Ich stand in der Nähe. »Für sie ist es einfach zu reden«, stöhnte sie, »aber wir hatten den ganzen Tag nichts zu essen. Wir bekamen die Anweisung, direkt von der Arbeit hierher zu marschieren, unter Androhung, dass wir sonst unsere Brotrationen verlieren würden. Seit fünf Uhr heute morgen bin ich auf den Beinen. Uns ist es nicht erlaubt, nach der Arbeit nach Hause zu gehen, zu unserem bisschen Abendessen. Wir mussten hierher kommen. Siebzehn Stunden nur ein Stück Brot und etwas kipyatok [heißes Wasser]. Wissen die Besucher*innen denn überhaupt etwas über uns?« Die Reden gingen weiter, die »Internationale« wurde zum zehnten Mal wiederholt, die Matros*innen führten ihre raffinierte Parade auf und die Claqueure auf der Zuschauer*innentribüne riefen Hurra. Ich floh von diesem Ort. Auch ich weinte, auch wenn meine Augen trocken blieben.

Die italienische Delegation war wie auch die britische im Narischkin-Palast untergebracht. Eines Tages, als ich Angelica dort besuchte, fand ich sie in aufgeregtem Gemütszustand vor. Durch eine*n der Diener*innen hatte sie erfahren, dass die ehemalige Prinzessin Narischkin, die ehemalige Besitzerin des Palastes, gekommen war, um um die silberne Ikone zu bitten, die seit Generationen im Familienbesitz gewesen war. »Nur diese Ikone«, hatte sie gefleht. Aber die Ikone war nun Staatsbesitz und Balabanowa hatte nichts für sie tun können. »Stell dir vor«, sagte Angelica, »Narischkin steht nun alt und verwahrlost an der Straßenecke und bettelt und ich lebe in diesem Palast. Wie grässlich das Leben ist! Ich bin dafür nicht gemacht, ich muss dem entfliehen.«

Aber Angelica war an die Parteidisziplin gebunden, sie blieb im Palast, bis sie nach Moskau zurückkehrte. Ich wusste, dass sie sich kaum glücklicher fühlte als die zerlumpte und hungernde ehemalige Prinzessin, die an der Straßenecke bettelte.

Balabanowa, darum besorgt, dass ich eine passende Arbeit fände, informierte mich eines Tages darüber, dass der in Amerika als Doktor Goldfarb bekannte Petrowski in Petrograd eingetroffen war. Er war Leiter der Zentralen Militärischen Bildungseinrichtung, die auch Schulungen zur*zum Krankenpfleger*in anbot. Ich hatte den Mann in den Staaten nie getroffen, aber ich hatte von ihm als Arbeiter*innen-Herausgeber des New Yorker Forward, dem jüdischen sozialistischen Tagesblatt, gehört. Er bot mir die Position der leitenden Unterrichtenden an der militärischen Krankenpfleger*innenschule an, in der Absicht, amerikanische Methoden der Krankenpflege einzuführen oder mich mit einem Medizinzug an die polnische Front zu schicken. Ich hatte meine Dienste bei den ersten Nachrichten über die polnische Attacke auf Russland angeboten: Ich sah die Revolution bedroht und ich eilte zu Zorin, um ihn darum zu bitten, als Krankenpflegerin zugeteilt zu werden. Er versprach sich in dieser Angelegenheit an die zuständigen Behörden zu wenden, aber ich hatte seither nichts mehr davon gehört. Deshalb war ich von dem Angebot Petrowskis etwas überrascht. Auf jeden Fall kam es zu spät. Was ich seither über die Situation in der Ukraine, die bolschewistischen Methoden gegenüber Machno und der povstantsi-Bewegung, der Verfolgung von Anarchist*innen und die Aktivitäten der Tscheka gehört hatte, hatte mein Vertrauen in die Bolschewiki als Revolutionär*innen zutiefst erschüttert. Das Angebot kam zu spät. Aber Moskau sah es vielleicht als unklug an, mich hinter die Kulissen an der Front blicken zu lassen; Petrowski hatte mich nicht über die Entscheidung aus Moskau informiert. Ich fühlte mich erleichtert.

Schließlich erhielten wir die gute Nachricht, dass die größten Schwierigkeiten überwunden waren: Ein Waggon für die Museumsexpedition war organisiert worden. Er bestand aus sechs Abteilen und war frisch gestrichen und gereinigt. Nun begann die Arbeit, ihn auszurüsten. Normalerweise hätte es weitere zwei Monate gedauert, aber wir bekamen Unterstützung von dem Mann an der Spitze des Museums, dem Vorsitzenden Yatmanow, ein Kommunist. Er war auch verantwortlich für das gesamte Eigentum des Winterpalastes, wo das Museum untergebracht war. Der größte Teil der Laken, des Silbers und der Gläser aus den Lagerräumen des Zaren war entfernt worden, aber es war immer noch eine Menge übrig. Mit einer Anordnung des Vorsitzenden versehen wurde mir gezeigt, was einst als als heiliger Bezirk von den Lakaien Romanows bewacht worden war. Ich bekam Räume zu sehen, die bis zur Decke mit seltenem und wunderschönem Porzellan gefüllt waren und Kammern voll mit feinster Wäsche. Der Keller, der sich über die volle Länge des Winterpalastes erstreckte, war mit Küchenutensilien jeder erdenklichen Art und Größe gefüllt. Blecherne Teller und Töpfe wären für die Expedition geeigneter gewesen, aber der Regel geschuldet, dass keine Institution von einer anderen etwas beziehen dürfe, das sich in ihrem eigenen Besitz befindet, konnten wir nichts tun, als von den im Winterpalast vorhandenen Tellern und Töpfen die einfachsten auszusuchen. Ich ging nach Hause und dachte über die Befremdlichkeiten des Lebens nach: Revolutionär*innen, die aus dem Ziertafelgeschirr der Romanows aßen. Aber ich verspürte darüber keine Freude.

Kapitel 14: Petropawlowsk und Schlüsselburg

Weil es noch eine Weile dauern würde, bis wir abreisen konnten, nutzte ich die sich bietende Gelgenheit, die historischen Gefängnisse, die Peter-und-Paul-Festung und Schlüsselburg, zu besichtigen. Ich erinnerte mich an die Furcht und den Schrecken, die die Nennung der Namen dieser Orte in mir ausgelöst hatte, als ich als dreizehnjähriges Kind das erste Mal nach Petrograd kam. Tatsächlich war meine Furcht vor der Petropawlowsk-Festung noch viel älter. Ich muss etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als unsere Familie einen großen Schock erlitt: Wir erfuhren, dass Yegor, der älteste Bruder meiner Mutter, der Student an der Universität von Petersburg war, verhaftet worden war und in der Festung gefangen gehalten wurde. Meine Mutter reiste sofort in die Hauptstadt. Wir Kinder blieben in Angst zu Hause zurück, mit dem beklemmenden Gefühl, dass Mutter unseren Onkel nicht unter den Lebenden finden würde. Wir verbrachten Wochen und Monate in Sorge, bis Mutter endlich zurückkehrte. Wir freuten uns sehr darüber, dass sie ihren Bruder von den lebendigen Toten gerettet hatte. Aber die Erinnerung an den Schock blieb mir noch lange Zeit.

Sieben Jahre später, damals lebte meine Familie in Petersburg, wurde ich auf einen Botengang geschickt, der mich an der Peter-und-Paul-Festung vorbeiführte. Der Schock, den ich viele Jahre zuvor erlebt hatte, kehrte mit lähmender Macht zurück. Da stand die gewaltige Masse aus Stein, düster und unheimlich. Ich war entsetzt. Das große Gefängnis war für mich immer noch ein Gespensterhaus, das mein Herz vor Angst pochen ließ, immer wenn ich daran vorbei ging. Jahre später, als ich begonnen hatte, das Leben und die Held*innentaten der großen russischen Revolutionär*innen aufzusaugen, wurde mir die Peter-und-Paul-Festung nur noch verhasster. Und nun würde ich ihre geheimnisvollen Mauern betreten und mit meinen eigenen Augen den Ort erblicken, der für so viele der besten Söhne und Töchter Russlands zum lebendigen Grab geworden war.

Der Führer, der uns zugeteilt worden war, um uns durch die verschiedenen Wallschilde zu führen, war zehn Jahre in diesem Gefängnis gesessen. Er kannte jeden Stein an diesem Ort. Aber die Stille war vielsagender als all die Informationen, die uns der Führer erzählte. Die Märtyrer*innen, die mit ihren Flügeln gegen den kalten Stein geschlagen hatten, in dem Bemühen nach oben zu gelangen, dem Licht und der Luft entgegen, wurden für mich lebendig. Die Dekabrist*innen[64], Tschernyschewski[65], Dostojewski[66], Bakunin[67], Kropotkin[68] und unzählige andere sprachen in einem tausendstimmigen Chor von ihrem sozialen Idealismus und ihrem persönlichem Leiden – von ihren großen Hoffnungen und leidenschaftlichem Glauben an die endgültige Befreiung Russlands. Nun konnten die flackernden Geister der heldenhaften Toten in Frieden ruhen: Ihr Traum war in Erfüllung gegangen. Aber was bedeutete dieser seltsame Schriftzug an der Wand? »Heute Nacht werde ich erschossen werden, weil ich einst eine Bildung genossen habe.« Beinahe hatte ich das Bewusstsein für die Realität verloren. Die Inschrift riss mich in sie zurück. »Was ist das?«, fragte ich unseren Führer. »Das sind die letzten Worte eines Intelligenten«, antwortete er. »Nach der Oktoberrevolution war dieses Gefängnis mit der Intelligenzija gefüllt. Von hier wurden sie nach draußen geführt und hingerichtet oder auf Lastzüge geladen, um verschleppt zu werden. Das waren entsetzliche Tage und noch entsetzlichere Nächte.« Also waren die Träume derer, die ihr Leben für die Befreiung Russlands gegeben hatten, am Ende doch nicht in Erfüllung gegangen. Gibt es auf der Welt jemals einen Fortschritt? Oder ist alles nur eine ewige Wiederholung von Unmenschlichkeiten der Menschen gegenüber anderen Menschen?

Wir erreichten den eingezäunten Streifen, in dem den Gefangenen gewöhnlicherweise eine halbe Stunde Erholung gewährt wurde. Eine*r nach dem*der Anderen mussten sie in Totenstille die enge Gasse auf und ablaufen, während die Wachen an der Wand beim kleinsten Verstoß gegen die Regeln bereit waren zu schießen. Und während die Eingesperrten und Angeketteten den Baumlosen Weg entlangtrotteten, sahen die allmächtigen Romanows aus dem Winterpalast auf die goldene Kuppel auf der Turmspitze der Festung, um sich zu vergewissern, dass ihre verhassten Feind*innen niemals wieder ihre Sicherheit gefährden würden. Aber nicht einmal die Petropawlowsk konnte die Zaren vor der tötenden Hand der Zeit und Revolution bewahren. Tatsächlich gibt es eine Veränderung; langsam und schmerzhaft, aber sie findet statt.

In der Umzäunung trafen wir auf Angelica Balabanowa und die Italiener*innen. Wir spazierten durch das riesige Gefängnis, jede*r in seine*ihre eigenen Gedanken versunken, ausgelöst durch das, was wir sahen. Hatte Angelica die Inschrift auf der Wand bemerkt, fragte ich mich. »Heute Nacht werde ich erschossen werden, weil ich einst eine Bildung genossen habe.«

Einige Zeit später machten einige aus unserer Gruppe einen Ausflug nach Schlüsselburg, das noch schrecklichere Grabmal der politischen Feind*innen des Zarismus. Es war eine mehrstündige Reise mit dem Boot, flussaufwärts auf dem wunderschönenen Fluss Newa. Der Tag war kühl und grau, wie unsere Laune, gerade die richtige Stimmung, um Schlüsselburg zu besuchen. Die Festung war streng bewacht, aber unsere Zulassungsbescheinigung als Museum gewährte uns unverzüglich Einlass. Schlüsselburg ist eine kompakte Steinmasse, auf einem großen Felsen auf offener See gelegen. Viele Jahrzehnte lang waren hier nur die Opfer von Hofintrigen und königlicher Missgunst in den undurchdringlichen Mauern eingeschlossen worden, aber später wurde das Gefängnis zum Golgota[69] der politischen Feind*innen des Zarenregimes.

Das erste Mal hatte ich von Schlüsselburg gehört, als meine Eltern nach St. Petersburg zogen, aber anders als bei meinen Gefühlen gegenüber der Peter-und-Paul-Festung hatte ich keine emotionale Bindung zu diesem Ort. Es war die revolutionäre Literatur aus Russland, die mich die Bedeutung von Schlüsselburg gelehrt hatte. Besonders die Geschichte von Volkenstein, eine der beiden Frauen, die viele Jahre an diesem entsetzlichen Ort verbracht hatte, hatte einen unauslöschlichen Eindruck bei mir hinterlassen. Trotzdem hatte nichts, was ich gelesen hatte, diesen Ort so real und furchterregend beschrieben, wie ich ihn empfand, als ich die steinernen Stufen emporstieg und schließlich vor den bedrohlichen Toren stand. Was den äußeren Zustand der Peter-und-Paul-Festung anging war es, als hätte die Revolution nie stattgefunden. Das Gefängnis war intakt geblieben, jederzeit bereit, um vom neuen Regime genutzt zu werden. Bei Schlüsselburg war das anders. Der Zorn des Proletariats riss dieses Haus der Toten fast bis auf die Grundmauern nieder.

Wie grausam und pervers musste der Geist der Menschen sein, die ein Schlüsselburg geschaffen hatten! Wahrlich kein Barbar wäre zu einem solch teuflischen Geist fähig gewesen, der dieses entsetzliche Grab konzipiert hatte. Die Zellen waren wie eine Tasche gebaut, ohne Türen und Fenster, sondern nur mit einer kleinen Öffnung, durch die die Opfer lebendig in ihr Grab hinabgelassen wurden. Andere Zellen waren Käfige aus Stein, deren Zweck es war, den Unglücklichen den Verstand zu rauben und ihr Herz zu zerreißen. Dennoch haben Männer und Frauen diesen schrecklichen Ort zwanzig Jahre lang ertragen. Welche Tapferkeit, welches enorme Durchhaltevermögen, welchen außerordentlichen Glauben musste eine*r gehabt haben, um das auszuhalten und zu überleben! Hier hatten Netschajew[70], Lopatin[71], Morosow, Volkenstein, Figner und andere der großartigen Schar ihr Leben in Folter verbracht. Hier ist das Massengrab von Uljanow[72], Mischkin, Kaljajew[73], Balmaschew[74] und vielen anderen. Die schwarze Gedenktafel, auf der ihre Namen eingelassen sind, sagt mehr als ihre für immer zum Schweigen gebrachten Stimmen. Nicht einmal die tosenden Wellen, die gegen den Felsen von Schlüsselburg schlagen, können diese anklagende Stimme zum Schweigen bringen.

Petropawlowsk und Schlüsselburg sind der lebendige Beweis dafür, wie vergeblich die Hoffung der Mächtigen ist, den Frankensteins[75] zu entfliehen, die sie selbst geschaffen haben.

Kapitel 15: Die Gewerkschaften

Es war Juni und der Tag unserer Abreise rückte näher. Petrograd erschien schöner als jemals zuvor; die weißen Nächte waren gekommen – fast helles Tageslicht, jedoch ohne zu blenden, die mysteriösen, beruhigenden, weißen Nächte von Petrograd. Es gab Gerüchte über eine konterrevolutionäre Bedrohung und so wurde die Stadt bewacht, um sie vor Angriffen zu schützen. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, es war verboten nach 1 Uhr nachts auf den Straßen zu sein, auch wenn es noch beinahe taghell war. Gelegentlich erhielten wir von Freund*innen Sondergenehmigungen und dann liefen wir durch die leeren Straßen oder entlang des Ufers des dunklen Newa und diskutierten flüsternd über die verwirrende Situation. Ich suchte nach dem herausragenden Merkmal in dem unscharfen Bild – die Russische Revolution, eine riesige Flamme, die über der Welt in die Höhe schießt und den schwarzen Horizont der Enterbten und Unterdrückten erhellt – die Revolution, die neue Hoffnung, die große geistige Erweckung. Und hier war ich inmitten davon, trotzdem konnte ich nirgendwo die Erfüllung der Versprechen dieses großen Ereignisses sehen. Hatte ich die Bedeutung und die Natur der Revolution falsch verstanden? Vielleicht waren das Unrecht und die Übel, die ich während meiner fünf Monate hier gesehen hatte, untrennbar mit der Revolution verbunden. Oder war es die politische Maschine, die die Bolschewiki geschaffen hatten – war das die Macht, die die Revolution erdrosselte? Hätte ich die Geburt der Revolution erlebt, könnte ich das jetzt besser beurteilen. Aber offensichtlich war ich am Ende gekommen – dem qualvollen Ende eines Volkes. Es war alles so komplex, so undurchdringlich, ein tupik, eine Sackgasse, wie die Russ*innen sagten. Nur die Zeit und ernsthafte Studien, gestützt von teilnahmsvollem Verständnis, würden mir den Weg offenbaren. Unterdessen musste ich mir meinen Mut bewahren und weg von Petrograd, hinaus unter die Menschen.

Schließlich kam der lang erwartete Zeitpunkt. Am 30. Juni 1920 wurde unser Waggon an einen langsamen Zug namens »Maxim Gorki« angekoppelt und wir wurden aus dem Nikolajewski Bahnhof gefahren, in Richtung Moskau.

In Moskau hatten wir zahlreiche Formalitäten zu erledigen. Wir dachten, ein paar Tage würden reichen, aber wir brauchten zwei Wochen. Trotzdem war unser Aufenthalt interessant. Die Stadt war voller Delegierter des Zweiten Kongresses der Dritten Internationale; Aus allen Teilen der Erde hatten die Arbeiter*innen ihre Genoss*innen in das gelobte Land, das revolutionäre Russland, die erste Republik der Arbeiter*innen gesandt. Unter den Delegierten waren auch Anarchist*innen und Syndikalist*innen, die so fest, wie ich es sechs Monate zuvor getan hatte, daran glaubten, dass die Bolschewiki das Symbol der Revolution seien. Sie waren dem Ruf Moskaus mit Enthusiasmus gefolgt. Einige von ihnen hatte ich in Petrograd getroffen und nun waren sie gespannt darauf, von meinen Erfahrungen zu hören und meine Einschätzungen zu erfahren. Aber was würde ich ihnen erzählen, und würden sie mir glauben, wenn ich es täte? Hätte ich einer negativen Kritik Glauben geschenkt, bevor ich nach Russland gekommen war? Überdies hatte ich das Gefühl, dass meine Ansichten über die Bolschewiki noch zu unausgegoren, zu vage waren, eine Ansammlung bloßer Eindrücke. Meine alten Werte waren erschüttert worden und bisher war es mir nicht gelungen, sie zu ersetzen. Ich konnte daher nichts zu den grundlegenden Fragen sagen, aber ich erzählte meinen Freund*innen, dass die Gefängnisse in Moskau und Petrograd mit Anarchist*innen und anderen Revolutionär*innen gefüllt waren, und ich riet ihnen, sich nicht mit den offiziellen Erklärungen zufrieden zu geben, sondern sich ein eigenes Bild zu machen. Ich warnte sie davor, dass sie von Führer*innen und Dolmetscher*innen umgeben sein würden, die meisten Männer der Tscheka, und dass sie nichts über die tatsächlichen Verhältnisse erfahren würden, wenn sie keine entschlossenen und unabhängigen Erkundungen machen würden.

Zu dieser Zeit herrschte in Moskau eine beachtliche Aufregung. Die Drucker*innengewerkschaft war zerschlagen und ihr gesamter Vorstand ins Gefängnis gesteckt worden. Die Gewerkschaft hatte ein öffentliches Treffen einberufen, zu dem die Mitglieder der britischen Arbeiter*innendelegation eingeladen waren. Dort war unangekündigt der Sozialrevolutionär Tschernow[76] aufgetreten. Er kritisierte das bolschewistische Regime hart, erntete Applaus vom großen Publikum der Arbeiter*innen und verschwand auf dieselbe mysteriöse Art und Weise, auf die er gekommen war. Der Menschewik Dan[77] war weniger erfolgreich. Auch er sprach zum Publikum, aber ihm gelang es nicht zu entkommen, er wurde von der Tscheka verhaftet. Am nächsten Morgen denunzierten die Moskauer Prawda und die Iswestija die Aktion der Drucker*innengewerkschaft als konterrevolutionär und tobten, weil mensch Tschernow erlaubt hatte zu sprechen. Die Zeitungen riefen dazu auf, an den Drucker*innen ein Exempel zu statuieren, weil sie es gewagt hatten, der sowjetischen Regierung zu trotzen.

Auch die Bäcker*innengewerkschaft, eine äußerst militante Organisation, war zerschlagen und ihr Vorstand durch Kommunist*innen ersetzt worden. Einige Monate zuvor, im März, hatte ich an einer Versammlung der Bäcker*innen teilgenommen. Die Delegierten beeindruckten mich als eine mutige Gruppe, die sich nicht davor fürchteten, die Bolschewiki zu kritisieren und die Forderungen der Arbeiter*innen zu vertreten. Ich hatte mich gewundert, dass mensch ihnen erlaubte, die Versammlung fortzusetzen, angesichts dessen, dass sie sich offen gegen die Kommunist*innen positionierten. »Die Bäcker*innen sind ›Schkurniki‹ [Abdecker]«, sagte mensch mir, »sie zetteln immer wieder Streiks an und nur Konterrevolutionär*innen können Streiks in einer Arbeiter*innenrepublik wollen.« Aber ich hatte den Eindruck, dass die Arbeiter*innen dieser Argumentation nicht zustimmten. Sie streikten. Sie begingen sogar ein noch ruchloseres Verbrechen: Sie weigerten sich, für den kommunistischen Kandidaten zu stimmen und wählten stattdessen einen Mann ihrer Wahl. Dieser Aktion der Bäcker*innen folgte die Festnahme einiger ihrer aktiveren Mitglieder. Selbstverständlich verübelten die Arbeiter*innen der Regierung diese willkürlichen Methoden.

Später traf ich einige der Bäcker*innen und fand sie äußerst erbittert gegenüber der Kommunistischen Partei und der Regierung vor. Ich fragte sie nach dem Zustand ihrer Gewerkschaft, erzählte ihnen, dass mir gesagt worden war, dass die russischen Gewerkschaften sehr mächtig seien und faktisch die Kontrolle über das industrielle Leben des Landes hätten. Die Bäcker*innen lachten. »Die Gewerkschaften sind die Lakaien der Regierung«, sagten sie, »sie haben keine unabhängige Funktion und die Arbeiter*innen haben in ihnen kein Mitspracherecht. Die Gewerkschaften erfüllen für die Regierung bloß eine überwachende Funktion.« Das klang ganz anders als die Erzählung von Melnitschanski, dem Vorsitzenden des Moskauer Gewerkschaftsrates, den ich bei meinem ersten Besuch in Moskau getroffen hatte.

Bei dieser Gelegenheit hatte er mir das Hauptquartier der Gewerkschaften, bekannt als der Dom Sojusow, gezeigt und mir erklärt, wie die Organisation funktionierte. Sieben Millionen Arbeiter*innen seien in den Gewerkschaften, hatte er gesagt, alle Branchen und Berufe seien vertreten. Die Arbeiter*innen würden die Industrien selbst besitzen und verwalten. »Das Gebäude, in dem du dich gerade befindest, gehört ebenfalls den Gewerkschaften«, bemerkte er mit Stolz, »früher war es das Haus der Aristokratie.« Der Raum, in dem wir gewesen waren, war für Festveranstaltungen genutzt worden und die höchsten Adligen hatten in verzierten Sesseln um den Tisch in der Mitte herum gesessen. Melnitschanski zeigte mir den geheimen Tunnel, der durch eine kleine Drehscheibe verdeckt wurde, durch den die Adligen im Falle einer Gefahr entkommen konnten. Sie hätten sich niemals vorstellen können, dass die Arbeiter*innen sich eines Tages um den gleichen Tisch versammeln und in der wunderschönen, von Marmorsäulen getragenen Halle sitzen würden. Die von den Gewerkschaften geleistete Kultur- und Bildungsarbeit, erklärte der Vorsitzende weiter, sei eines der wichtigsten Betätigungsfelder. »Unsere Arbeiter*innenschulen und andere kulturelle Institutionen bieten Kurse und Vorlesungen zu verschiedenen Themen an. Sie werden alle von Arbeiter*innen gegeben. Die Gewerkschaften besitzen ihre eigenen Mittel für Erholung und wir haben Zugang zu allen Theatern.« Seine Ausführungen erweckten den Anschein, dass die Gewerkschaften Russlands viel weiter seien als alle Arbeiter*innenorganisationen in Europa und Amerika.

Einen ähnlichen Bericht hatte ich von Sipperowitsch, dem Vorsitzenden der Petrograder Gewerkschaften erhalten, mit dem ich meine erste Reise nach Moskau gemacht hatte. Auch er hatte mich durch den Petrograder Arbeiter*innentempel geführt, ein wunderschönes und großzügiges Gebäude, in dem die Gewerkschaften Petrograds ihre Büros hatten. Auch sein Vortrag betonte, dass die Arbeiter*innen Russlands endlich zu ihrem Recht gekommen seien.

Aber allmählich begann ich die andere Seite der Medaille kennen zu lernen. Ich erkannte, dass das Bild der Gewerkschaften, wie die meisten Dinge in Russland, zwei Gesichter hatte: Das, das den fremden Besucher*innen und »Nachforschenden« präsentiert wurde und das, das den Massen bekannt war. Den Bäcker*innen und Drucker*innen war kürzlich das andere Gesicht gezeigt worden. Es war eine Lektion in Sachen Vorzügen gewesen, die mensch den Gewerkschaften in der Sozialistischen Republik zukommen ließ.

Im März hatte ich an einer Wahlversammlung der Arbeiter*innen einer der großen Moskauer Fabriken teilgenommen. Es war die aufregendste Versammlung, die ich in Russland erlebt habe – Der schwach beleuchtete Saal in den Büroräumen der Fabrik, die von Leid und Entbehrungen gezeichneten Gesichter der Männer und Frauen, die heftige Betroffenheit über das Übel, das mensch ihnen angetan hatte, all das beeindruckte mich sehr. Ihrem gewählten Abgeordneten, einem Anarchisten, hatten die sowjetischen Herrscher*innen sein Mandat verweigert. Es war das dritte Mal, dass die Arbeiter*innen zusammenkamen, um ihren Delegierten für den Moskauer Rat wiederzuwählen und jedes Mal wählten sie die gleiche Person. Sein kommunistischer Gegenkandidat war Semaschko, der Minister des Gesundheitsministeriums. Ich hatte einen gebildeten und kultivierten Mann erwartet. Aber das Benehmen und die Sprache des Ministers bei dieser Wahlversammlung hätte selbst eine*n Maurer*innengehilfe*in in Verlegenheit gebracht. Er tobte darüber, dass die Arbeiter*innen eine*n Nicht-Kommunist*in gewählt hatten, verfluchte sie dafür und drohte ihnen mit der Tscheka und der Kürzung ihrer Rationen. Aber sein Verhalten hatte keine Auswirkungen auf das Publikum, außer dass die Feindseligkeit ihm und der Partei gegenüber, die er repräsentierte, noch wuchs. Trotzdem gewann Semaschko am Ende. Die Wahl der Arbeiter*innen wurde von den Herrschenden abgelehnt und später sogar verhaftet und eingesperrt. Das war im März gewesen. Im Mai, während des Besuchs der britischen Arbeiter*innendelegation, trat der Kandidat der Fabrik zusammen mit anderen politischen Gefangenen in einen Hungerstreik, der zu ihrer Freilassung führte.

Die Geschichte ihrer Wahlerlebnisse, die mir von den Bäcker*innen erzählt worden war, erinnerte an unsere eigenen Wildwesterfahrungen in der Pionierzeit. Tschekist*innen mit geladenen Waffen nahmen gewöhnlich an den Versammlungen der Gewerkschaften teil und machten damit klar, was passieren würde, wenn die Arbeiter*innen eine*n andere*n Kandidat*in als eine*n Kommunist*in wählen würden. Aber die Bäcker*innen, eine starke und militante Organisation, ließen sich nicht einschüchtern. Sie verkündeten, dass in Moskau kein Brot gebacken werden würde, wenn mensch ihnen nicht erlaube, ihre*n eigene*n Kandidat*in zu wählen. Das hatte den gewünschten Effekt. Nach der Versammlung versuchten die Tschekist*innen den gewählten Kandidaten zu verhaften, aber die Bäcker*innen umringten ihn und geleiteten ihn sicher nach Hause. Am nächsten Tag setzten sie den Herrschenden eine Frist und forderten die Anerkennung ihrer Wahl und drohten im Falle einer Ablehnung damit zu streiken. Auf diesem Weg triumphierten die Bäcker*innen und es gelang ihnen, anders als ihren weniger mutigen Brüdern in den anderen Gewerkschaften von geringerer Relevanz, ihren Willen durchzusetzen. Im hungernden Russland war die Arbeit der Bäcker*innen ebenso bedeutend wie das Leben selbst.

Kapitel 16: Maria Spiridonowa[78]

Zum Amt für Bildung gehörte auch die Abteilung für Museen. Das Petrograder Museum der Revolution hatte zwei Vorsitzende; Lunatscharski war einer von ihnen, es war notwendig, auch seine Unterschrift für unsere Berechtigungsnachweise zu bekommen, die bereits von Sinowjew, dem zweiten Vorsitzenden unterzeichnet worden waren. Ich wurde beauftragt, zu Lunatscharski zu gehen.

Ich fühlte mich ihm gegenüber etwas schuldig. Ich hatte Moskau im März verlassen und versprochen, binnen einer Woche zurückzukehren und ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Jetzt, vier Monate später, kam ich, um ihn um Unterstützung in einer gänzlich anderen Angelegenheit zu bitten. Ich begab mich auf den Weg zum Kreml, fest entschlossen, Lunatscharski zu sagen, wie ich die Situation in Russland empfand. Aber die Anwesenheit einer ganzen Reihe von Menschen in seinem Büro entband mich von dieser Notwendigkeit, es gab einfach keine Zeit, um darüber zu sprechen. Ich konnte Lunatscharski lediglich über die Ziele der Expedition informieren und ihn in dieser Angelegenheit um Hilfe bitten. Ich stieß auf seine Zustimmung. Er unterzeichnete unsere Berechtigungsnachweise und stattete mich außerdem mit Empfehlungsschreiben aus, um uns unsere Bemühungen bezüglich des Museums zu erleichtern.

Während unsere Gruppe die notwendigen Vorbereitungen für unsere Reise in die Ukraine traf, fand ich Zeit, verschiedene Institutionen in Moskau zu besuchen und einige interessante Menschen zu treffen. Unter ihnen waren bestimmte, wohlbekannte Linke Sozialrevolutionär*innen, die ich bereits bei meinem ersten Besuch getroffen hatte. Ich hatte ihnen gesagt, dass ich begierig darauf wäre, Maria Spiridonowa zu treffen, über deren Zustand ich viele sich widersprechende Erzählungen gehört hatte. Aber damals war es nicht gelungen, ein Treffen zu arrangieren: Es hätte Spiridonowa in Gefahr bringen können, weil sie illegal als Bäuerin lebte. Die Geschichte wiederholt sich in der Tat. Unter dem Zaren verkleidete sich Spiridonowa ebenfalls als Landmädchen und beschattete Luschenowksi, den Gouverneur von Tambow, der unter den Bäuer*innen als Auspeitscher bekannt war. Nachdem sie ihn erschossen hatte, wurde sie verhaftet, gefoltert und später zum Tode verurteilt. Die westliche Welt wurde auf den Fall aufmerksam und aufgrund des dortigen Protests wurde die Todesstrafe für Spiridonowa in lebenslanges Exil in Sibirien umgewandelt. Sie verbrachte dort elf Jahre, bis ihr die Februarrevolution die Freiheit brachte und sie nach Russland zurückkehrte. Sofort stürzte sich Maria Spiridonowa in revolutionäre Aktivitäten. Nun, in der Sozialisitischen Republik, lebte Maria wieder versteckt, nachdem sie aus dem Gefängnis des Kremls ausgebrochen war.

Schließlich wurden Vereinbarungen getroffen, die es mir erlaubten, Spiridonowa zu besuchen und mir wurde eingebläut, darauf zu achten, dass ich nicht von Mitgliedern der Tscheka verfolgt würde. Wir einigten uns mit Marias Freund*innen auf einen Treffpunkt, von dem wir im Zickzack zahlreiche Straßen durchliefen, bis wir schließlich das oberste Stockwerk eines Hauses in einem Hinterhof erreichten. Ich wurde in einen kleinen Raum geführt, in dem ein Bett, ein kleiner Schreibtisch, ein Bücherregal und verschiedene Stühle standen. Vor dem mit Stapeln aus Briefen und Papieren bedeckten Schreibtisch saß eine gebrechliche kleine Frau, Maria Spiridonowa. Sie war eine von Russlands großen Märtyrer*innen, diese Frau, die so entschlossen die Folter, die ihr von den Schergen des Zaren zugefügt wurde, ertragen hatte. Zorin und Jack Reed hatten mir erzählt, dass Spiridonowa einen Zusammenbruch erlitten habe und sich in einem Sanatorium befände. Ihre Krankheit sei eine akute Nervenschwäche und Hysterie, hatten sie gesagt. Als ich Maria von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, war mir sofort klar, dass mich beide Männer belogen hatten. Bei Zorin überraschte mich das längst nicht mehr: Vieles von dem, was er mir erzählt hatte, stellte sich mir allmählich als vollkommen falsch heraus. Und Reed, unvertraut mit der Sprache und vollständig unter der Herrschaft des neuen Glaubens, nahm zu viel für bare Münze. Zum Beispiel war er nach seiner Rückkehr aus Moskau zu mir gekommen, um mir zu erzählen, dass die Geschichte der Massenerschießungen von Gefangenen am Abend der Abschaffung der Todesstrafe tatsächlich wahr sei, aber das sei alles die Schuld eines bestimmten Funktionärs der Tscheka gewesen, der bereits mit seinem Leben dafür bezahlt hätte, versicherte er mir. Ich hatte die Gelegenheit, die Sache zu untersuchen. Jack war erneut in die Irre geführt worden. Es war kein einzelner Mann für diesen Massenmord verantwortlich. Die Ursache für diesen Akt lag in dem gesamten System und dem Charakter der Tscheka.

Ich verbrachte zwei Tage mit Maria Spirindonowa und lauschte ihrer Erzählung von den Ereignissen seit Oktober 1917. Sie sprach ausführlich über den Enthusiasmus und den Eifer der Massen und die Hoffnungen, die sie in die Bolschewiki gesetzt hatten; von deren Weg an die Macht und ihrem allmälichen Rechtsruck. Sie sprach über den Frieden von Brest-Litowsk, den sie als erstes Glied einer Kette sah, die die Revolution seither fesselte. Sie verweilte bei dem Razviorstka, dem System gewaltsamer Beschlagnahme, das Russland verwüstete und all das verriet, für das die Revolution stand, sie sprach über den Terror, den die Bolschewiki gegenüber jeder revolutionären Kritik ausübten, über die neue kommunistische Bürokratie und Ineffizienz und die Hoffnungslosigkeit der gesamten Situtation. Es war eine vernichtende Anklage gegen die Bolschewiki, ihre Theorien und Methoden.

Wenn Spiridonowa wirklich einen Zusammenbruch gehabt haben sollte, wie mensch mir versichert hatte, und hysterisch und mental unausgeglichen war, musste sie eine außergewöhnliche Kontrolle über sich haben. Sie war ruhig, eigenständig und in jeder Hinsicht klar. Sie hatte vollsten Überblick über ihr Material und ihre Informationen. Bei mehreren Gelegenheiten während ihrer Erzählung, als sie den Zweifel in meinem Gesicht sah, bemerkte sie: »Ich fürchte du glaubst mir nicht so ganz. Nun, schau, was einige der Bäuer*innen mir schreiben«, und sie griff nach einem Stapel Briefe auf ihrem Schreibtisch und las mir herzzerreißende Passagen voll von Kummer und Bitterkeit über die Bolschewiki vor. In gestelzter Handschrift, manchmal fast unlesbar schrieben die Bäuer*innen der Ukraine und Sibiriens über die Schrecken der Razviorstka und was diese mit ihnen und ihrem Land gemacht hatten. »Sie haben uns alles weggenommen, sogar die letzten Samen für die kommende Aussaat.« »Die Kommissare haben uns alles geraubt.« So lasen sich die Briefe. Oft wollten die Bäuer*innen wissen, ob Spiridonowa zu den Bolschewiki übergelaufen sei. »Wenn auch du uns im Stich lässt, matushka, haben wir keine*n mehr, an die*den wir uns wenden können«, schrieb ein*e Bäuer*in.

Die Ungeheuerlichkeiten ihrer Vorwürfe rüttelten an ihrer Glaubwürdigkeit. Immerhin waren die Bolschewiki doch Revolutionär*innen. Wie konnten sie für diese schrecklichen Dinge, die ihnen vorgeworfen wurden, verantwortlich sein? Vielleicht waren sie nicht für die Situation, wie sie sich entwickelt hatte, verantwortlich, immerhin war die ganze Welt gegen sie. Zum Beispiel der Frieden von Brest. Als die ersten Nachrichten darüber Amerika erreichten, war ich gerade im Gefängnis. Ich dachte lange und gründlich darüber nach, ob Sowjetrussland mit dem deutschen Imperialismus verhandeln dürfe. Aber ich konnte keinen Ausweg aus der Situation finden. Ich befürwortete den Frieden von Brest. Seit ich nach Russland gekommen war, hatte ich sich widersprechende Versionen der Geschichte gehört. Fast jede*r, außer den Kommunist*innen, empfand den Frieden von Brest ebenso als Verrat an der Revolution, wie mensch die Rolle der deutschen Sozialist*innen im Krieg als Verrat am Geist des Internationalismus empfand. Die Kommunist*innen dagegen waren sich darin einig, den Frieden zu verteidigen und jede*n als Konterrevolutionär*in zu denunzieren, die*der die Weisheit und die revolutionäre Legitimität dieser Vereinbarung in Frage stellte. »Wir konnten nichts anderes tun«, argumentierten die Kommunist*innen. »Deutschland hatte eine mächtige Armee, wir hatten keine. Hätten wir uns geweigert, das Abkommen von Brest zu unterzeichnen, hätten wir das Schicksal der Revolution besiegelt. Wir wussten, dass Brest ein Kompromiss war, aber wir wussten auch, dass die Arbeiter*innen Russlands und der übrigen Welt verstehen würden, dass wir dazu gezwungen worden waren. Unser Kompromiss war ähnlich dem der Arbeiter*innen, wenn sie gezwungen werden, die Bedingungen ihrer Herr*innen nach einem erfolglosen Streik zu akzeptieren.«

Aber Spiridonowa war nicht überzeugt. »In dem von den Bolschewiki vorgebrachten Argument steckt nicht ein wahres Wort«, sagte sie. Es ist wahr, dass Russland keine disziplinierte Armee hatte, um den deutschen Vorstoß zu stoppen, aber es hatte etwas unendlich Effektiveres: Es hatte ein selbstbewusstes, revolutionäres Volk, die sich gegen die Eindringlinge bis zum letzten Tropfen Blut verteidigt hätte. Tatsächlich waren es diese Menschen, die all die konterrevolutionären militärischen Vorstöße gegen Russland gestoppt hatten. Wer, wenn nicht die Menschen, die Bäuer*innen und die Arbeiter*innen, hatten es für die deutschen und österreichischen Truppen unmöglich gemacht, in der Ukraine zu bleiben? Wer besiegte Denikin und die anderen konterrevolutionären Generäle? Wer triumphierte über Koltschak und Judenitsch? Lenin und Trotzki behaupten, das sei die Rote Armee gewesen, aber die historische Wahrheit ist, dass die freiwilligen Militäreinheiten der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, die povstantsi, sowohl in Sibirien, als auch im Süden Russlands die Hauptlast der Kämpfe an allen Fronten getragen haben, während die Rote Armee für gewöhnlich nur die Siege letzterer vollendete. Heute sagt Trotzki, dass die Vereinbarung von Brest geschlossen werden musste, aber damals hatte er sich selbst geweigert, das Abkommen zu unterzeichnen, und Radek, Joffe und andere führende Kommunist*innen waren ebenso dagegen gewesen. Nun wird behauptet, dass sie den beschämenden Bedingungen zugestimmt haben, weil sie erkannt hätten, dass es hoffnungslos sei, dass die deutschen Arbeiter*innen die Junker[79] daran hindern würden, gegen das revolutionäre Russland in den Krieg zu ziehen. Aber das war nicht der wahre Grund. Es war die Geißel der Parteidisziplin, die Trotzki und andere zum Gehorsam zwangen.

»Das Problem mit den Bolschewiki ist«, fuhr Spiridonowa fort, »dass sie kein Vertrauen in die Massen haben. Sie nennen sich selbst eine proletarische Partei, aber sie weigern sich den Arbeiter*innen zu vertrauen.« Dieses fehlende Vertrauen brachte die Kommunist*innen dazu, sich dem deutschen Imperialismus zu beugen, betonte Maria. Und was die Revolution selbst betrifft, war es eben genau der Frieden von Brest, der ihr einen heftigen Rückschlag verpasste. Neben dem Verrat an Finnland, Weißrussland, Lettland und der Ukraine, die durch den Frieden von Brest der Gnade der deutschen Junker ausgeliefert wurden, sahen die Bäuer*innen, wie tausende ihrer Brüder erschlagen wurden und Raub und Plünderungen über sich ergehen lassen mussten. Der einfache Verstand der Bäuer*innen konnte diese vollständige Umkehr des ehemaligen bolschewistischen Slogans »keine Entschädigungen und keine Annektierungen« nicht verstehen. Aber selbst die einfachsten Bäuer*innen konnten verstehen, dass sie mit ihrem Boden und ihrem Blut für die Entschädigungen, die Russland durch den Frieden von Brest auferlegt wurden, bezahlen müssten. Die Bäuer*innen verbitterten und wurden zu Gegner*innen des sowjetischen Regimes. Entmutigt und niedergeschlagen wandten sie sich von der Revolution ab. Und welchen Effekt hatte der Frieden von Brest auf die deutschen Arbeiter*innen? Wie konnten diese weiter an die russische Revolution glauben, angesichts der Tatsache, dass die Bolschewiki über die Köpfe des deutschen Proletariats hinweg mit ihren Herrscher*innen über die Bedingungen des Friedens verhandelt und sich einig geworden waren? Es bleibt eine historische Tatsache, dass der Frieden von Brest den Anfang vom Ende der Russischen Revolution markierte. Zweifellos haben andere Faktoren das ihre zu dem Debakel beigetragen, aber Brest ist der größte Faktor von allen.

Spiridonowa versicherte, dass die Linken Sozialrevolutionär*innen die Bolschewiki vor diesem Frieden gewarnt und leidenschaftlich dagegen gekämpft hatten. Sie weigerten sich, ihn anzuerkennen, nachdem er unterzeichnet worden war. Die Anwesenheit von Mirbach[80] im revolutionären Russland empfanden sie als Frevel gegenüber der Revolution, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber dem heroischen russischen Volk, das für seinen Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus so viel geopfert und so sehr gelitten hatte. Spiridonowas Partei entschied, dass Mirbach in Russland nicht toleriert werden könne: Mirbach musste sterben. Der Ermordung Mirbachs folgten massenhafte Verhaftungen und Verfolgung; Die Bolschewiki leisteten dem deutschen Kaiser treue Dienste. Sie füllten die Gefängnisse mit russischen Revolutionär*innen.

Im Verlauf unseres Gespräches deutete ich an, dass die Methode der Razviorstka den Bolschewiki möglicherweise durch die Weigerung der Bäuer*innen, die Städte zu ernähren, aufgezwungen worden sei. Zu Beginn der revolutionären Periode, erklärte Spiridonowa, solange die Bäuer*innenräte existierten, gaben die Bäuer*innen bereitwillig und großzügig. Aber als die Bolschewiki begannen, diese Räte aufzulösen und 500 Delegierte der Bäuer*innen verhafteten, wurde die Bäuer*innenschaft feindselig. Zudem erlebten sie täglich die Ineffizienz des kommunistischen Regimes: Sie sahen ihre Produkte neben Bahnhöfen liegen und verrotten oder im Besitz von Spekulant*innen auf den Märkten. Natürlich waren sie unter solchen Umständen nicht länger bereit zu geben. Die Tatsache, dass die Bäuer*innen sich niemals geweigert hatten, die Rote Armee mit Nachschub zu versorgen, beweist, dass andere Methoden als die der Bolschewiki möglich gewesen wären. Die Razviorstka führte nur zu einer Ausweitung der Kluft zwischen den Dörfern und den Städten. Die Bolschewiki griffen zu Strafexpeditionen, die zum Terror des Landes wurden. Sie hinterließen Tod und Verwüstung, wohin sie kamen. Zur Verzweiflung getrieben, begannen die Bäuer*innen schließlich gegen die kommunistische Diktatur zu rebellieren. In verschiedenen Teilen Russlands, im Süden, im Ural und in Sibirien fanden Bäuer*innenaufstände statt und überall wurden sie mit eiserner Hand und Waffengewalt niedergeschlagen.

Spiridonowa sprach nicht über ihr eigenes Leid, seit sich ihr Weg von dem der Bolschewiki getrennt hatte. Aber ich erfuhr von anderen, dass sie zweimal verhaftet und für eine beachtliche Zeit eingesperrt worden war. Selbst als sie frei war, wurde sie überwacht, wie sie zuvor unter dem Zaren überwacht worden war. Mehrmals war sie gefoltert worden, indem sie nachts aus dem Bett gezerrt worden war und mensch ihr sagte, dass sie erschossen werden würde; eine der Lieblingsfoltermethoden der Tscheka. Ich sprach Spiridonowa darauf an. Sie leugnete das nicht, aber sie hatte keine Lust über sich selbst zu sprechen. Sie war vollständig in das Schicksal der Revolution und ihrer geliebten Bäuer*innenschaft versunken. Sie verschwendete keinen Gedanken an sich selbst, aber sie war begierig darauf, die Welt und das internationale Proletariat über die wahren Verhältnisse im bolschewistischen Russland aufzuklären.

Von allen Feind*innen der Bolschewiki, die ich getroffen habe, beeindruckte mich Maria Spiridonowa als eine der aufrichtigsten, selbstsichersten und überzeugendsten. Ihre heroische Vergangenheit und ihre Verweigerung, ihre revolutionären Ideen unter dem Zarismus ebenso wie unter dem Bolschewismus kompromittieren zu lassen, waren eine hinreichende Garantie ihrer revolutionären Integrität.

Kapitel 17: Ein weiterer Besuch bei Peter Kropotkin

Wenige Tage bevor unsere Expedition in Richtung Ukraine aufbrach, ergab sich die Gelegenheit, Peter Kropotkin einen weiteren Besuch abzustatten. Ich war erfreut über die Gelegenheit, den liebenswürdigen alten Mann unter günstigeren Bedingungen zu treffen als im März. Zumindest würden wir nicht wie beim letzten Mal durch die Anwesenheit von Zeitungsreporter*innen eingeschränkt sein.

Bei meinem ersten Besuch im verschneiten März war ich am späten Abend bei Kropotkins Häuschen angekommen. Der Ort hatte verlassen und trostlos gewirkt. Aber jetzt war Sommer. Das Land war frisch und wohlriechend, der in grün gekleidete Garten hinter dem Haus lächelte eine*n freundlich an, die goldenen Strahlen der Sonne verbreiteten Wärme und Licht. Peter, der seinen Nachmittagsschlaf hielt, war nicht zu sehen, aber seine Frau Sofia Grigoriewna war da, um uns in Empfang zu nehmen. Wir hatten einige Lebensmittel mitgebracht, die Sascha Kropotkin für ihren Vater gegeben worden waren und mehrere Körbe mit Dingen, die von einer anarchistischen Gruppe geschickt worden waren. Während wir diese Schätze auspackten, überraschte uns Peter Alexejewitsch. Er schien ein anderer Mensch zu sein: Der Sommer hatte Wunder an ihm gewirkt. Er wirkte gesünder, stärker und lebendiger als das letzte Mal. Er führte uns gleich in den Gemüsegarten, der fast ausschließlich Sofias eigene Arbeit war und als Hauptverpflegung der Familie diente. Peter war sehr stolz darauf. »Was sagt ihr dazu!«, rief er aus, »alles Sofias Arbeit. Und schaut euch diese neue Sorte Salat an«, und er deutete auf einen großen Salatkopf. Er sah jung aus, war fast fröhlich, die Unterhaltung sprudelte nur so aus ihm heraus. Seine Beobachtungsgabe, sein ausgeprägter Sinn für Humor und seine freimütige Menschlichkeit waren so erfrischend, dass mensch die Misere Russlands, seine eigenen Probleme und Zweifel und die grausame Realität des Lebens für einen kurzen Augenblick vergaß.

Nach dem Abendessen versammelten wir uns in Peters Studierzimmer, einem kleinen Raum, in dem ein gewöhnlicher Tisch als Schreibtisch stand, eine enge Pritsche, ein Waschbecken und Regale voller Bücher. Ich konnte nicht verhindern, im Geiste den Vergleich zwischen diesem einfachen, beengten Arbeitszimmer Kropotkins und den wunderschönen Quartieren Radeks und Sinowjews zu ziehen. Peter war interessiert daran, meine Eindrücke seit meinem letzten Besuch zu erfahren. Ich erzählte ihm wie verwirrt und beunruhigt ich war, wie alles unter meinen Füßen einzubrechen drohte. Ich erzählte ihm, dass mich Zweifel bezüglich fast allem, sogar bezüglich der Revolution selbst, befielen. Ich könne die schreckliche Realität nicht in Einklang mit dem bringen, was die Revolution für mich bedeutete, als ich nach Russland kam. Waren die Zustände, die ich vorfand, unvermeidlich, die kaltherzige Indifferenz gegenüber dem menschlichen Leben, der Terror, der Verlust und die Qualen in jeder Hinsicht? Natürlich wusste ich, dass Revolutionen nicht mit Samthandschuhen gemacht wurden. Gewalt und Zerstörung sind eine innere Notwendigkeit, ein schwieriger und furchbarer Prozess. Aber was ich in Russland vorgefunden hatte, war so gänzlich anders als revolutionäre Bedingungen, so fundamental anders als sei es eine Karikatur.

Peter hörte aufmerksam zu, dann sagte er: »Es gibt trotz allem keinen Grund den Glauben zu verlieren. Für mich ist die Russische Revolution sogar größer als die Französische Revolution, weil sie sich tiefer in die Seele Russlands, in die Herzen und den Verstand der Menschen in Russland gebohrt hat. Nur die Zeit kann uns den vollen Umfang und die Tiefe zeigen. Was du heute siehst, ist nur die Oberfläche, die von einer herrschenden Klasse künstlich geschaffenen Zustände. Du siehst eine kleine politische Partei, die mit ihren falschen Theorien, ihrem Pfusch und ihrer Ineffizienz gezeigt hat, wie mensch Revolutionen nicht macht.« Es sei unglücklich, fuhr Kropotkin fort, dass so viele Anarchist*innen in Russland und die Massen außerhalb Russlands von den ultra-revolutionären Vortäuschungen der Bolschewiki mitgerissen worden seien. Während des großen Umbruchs habe mensch vergessen, dass die Kommunist*innen eine politische Partei sind, die fest mit der Idee eines zentralisierten Staates verhaftet ist und die als solche dazu vorherbestimmt war, die Revolution in eine falsche Richtung zu lenken. Die Bolschewiki seien die Jesuiten der sozialistischen Kirche: Sie glauben an das jesuitische Motto, dass der Zweck die Mittel heilige. Weil ihr Zweck politische Macht ist, schrecken sie vor nichts zurück. Jedenfalls hätten die Mittel die Energie der Massen gelähmt und die Menschen terrorisiert. Dennoch könne ohne die Menschen, ohne die direkte Beteiligung der Massen beim Wiederaufbau des Landes nichts Wesentliches erreicht werden. Die Bolschewiki seien durch die Welle der Revolution an die Spitze gespült worden. Einmal an der Macht hätten sie damit begonnen, die Flut einzudämmen. Sie hätten versucht, die kulturellen Kräfte des Landes zu eliminieren und zu unterdrücken, die nicht vollständig in Einklang mit ihren Ideen und Methoden waren. Sie zerstörten die Genossenschaften, die von größter Bedeutung für das Leben Russlands gewesen seien, die wichtige Verbindung zwischen Land und Städten. Sie hätten eine Bürokratie und einen Beamtenadel geschaffen, der sogar den des alten Regimes überträfe. In dem Dorf, in dem er lebe, im kleinen Dmitrow gäbe es mehr bolschewistische Amtsträger*innen als jemals während des Regimes der Romanows existiert hätten. All diese Menschen lebten zulasten der Massen. Sie seien Parasiten im sozialen Körper und Dmitrow sei nur ein kleines Beispiel dessen, was in ganz Russland vor sich gehe. Es sei nicht die Schuld einzelner Individuen, vielmehr sei es der Staat, den sie geschaffen haben, der jedes revolutionäre Ideal verleugne, jede Initiative ersticke und neue Maßstäbe hinsichtlich Inkompetenz und Verschwendung setze. Es sollte auch nicht vergessen werden, betonte Kropotkin, dass die Blockade und die anhaltenden Angriffe auf die Revolution durch die Interventionist*innen dabei geholfen hätten, die Macht des kommunistischen Regimes zu stärken. Inverventionen und Blockade würden Russland zu Tode bluten lassen und die Menschen daran hindern, die wahre Natur des bolschewistischen Regimes zu verstehen.

Über die Aktivitäten und die Rolle der Anarchist*innen in der Revolution bemerkte Kropotkin: »Wir Anarchist*innen haben viel von Revolutionen geredet, aber nur wenige von uns waren darauf vorbereitet, die Arbeit zu leisten, die während dieses Prozesses erledigt werden muss. Ich habe in dieser Hinsicht einige Andeutungen in meiner ›Eroberung des Brotes‹ gemacht. Auch Pouget und Pataud haben in ihrer Arbeit ›Wie wir die soziale Revolution erreichen‹ einen Handlungsweg skizziert.« Kropotkin war der Meinung, dass die Anarchist*innen den grundlegenden Elementen sozialer Revolution nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Was im revolutionären Prozess wirklich zähle, sei nicht so sehr der tatsächliche Kampf, der bloß die destruktive Phase sei, die notwendig sei, um konstruktive Bemühungen auf den Weg zu bringen. Der wichtigste Faktor in einer Revolution sei die Organisation des ökonomischen Lebens des Landes. Die Russische Revolution habe endgültig bewiesen, dass wir uns gründlich darauf vorbereiten müssen. Alles andere sei nebensächlich. Er war zu der Auffassung gelangt, dass Syndikalismus das leisten könne, was Russland am meisten fehle: der Kanal, durch den der industrielle und ökonomische Wiederaufbau des Landes fließen könnte. Er verwies auf Anarcho-Syndikalismus. Dieser und die Genossenschaften würden anderen Ländern einige der Pfuschereien und das Leid ersparen, das Russland erfahren hatte.

Ich verließ Dmitrow getröstet von der Wärme und dem Licht, die die wundervolle Persönlichkeit von Peter Kropotkin ausgestrahlt hatte; und ich war sehr ermutigt von dem, was ich von ihm gehört hatte. Ich kehrte nach Moskau zurück, um beim Abschluss der Vorbereitungen für unsere Reise behilflich zu sein. Schließlich, am 15. Juli 1920, wurde unser Waggon an einen Zug angehängt, der unterwegs in die Ukraine war.

Kapitel 18: Unterwegs

Unser Zug war gerade dabei, Moskau zu verlassen, als wir von einem interessanten Besucher überrascht wurden. Es war Krasnoschtschokow, der Präsident der Fernöstlichen Republik[81]. Er war kürzlich aus Sibirien in der Hauptstadt eingetroffen. Er hatte von unserer Anwesenheit in der Stadt gehört, aber war nicht in der Lage gewesen uns zu finden. Schließlich hatte er Alexander Berkman getroffen, der ihn zum Museumswaggon eingeladen hatte.

Das Erscheinungsbild Krasnoschtschokows hatte sich gewaltig verändert seit seiner Zeit in Chicago, während der er als Tobinson bekannt und Vorsteher der lokalen Arbeiter*inneneinrichtung der Stadt gewesen war. Damals war er einer der vielen russischen Immigrant*innen des Westens gewesen, die als Organisator*innen und Redner*innen in der sozialistischen Bewegung aktiv waren. Nun war er ein anderer Mensch; Mit seiner strengen Redensart, geprägt von seiner Autorität, wirkte es sogar, als sei er noch gewachsen. Aber im Herzen war er der alte geblieben, einfach und freundlich, der Tobinson, den wir in Chicago kennen gelernt hatten. Wir hatten nur noch wenige Stunden bis zu unserer Abfahrt und unser Besucher nutzte diese, um uns einen Einblick in die Situation im fernen Osten und die lokale Regierungsform zu geben. Sie bestand aus Repräsentant*innen verschiedener politischer Lager und »sogar Anarchist*innen sind unter uns«, sagte Krasnoschtschokow, »dadurch ist beispielsweise Schatoff Minister des Eisenbahnwesens. Wir sind im Osten unabhängig und es gibt Redefreiheit. Kommt vorbei und überzeugt euch selbst, ihr werdet einen Bereich für eure Arbeit finden.« Er lud Alexander Berkman und mich ein, ihn in Chita zu besuchen und wir versicherten ihm, dass wir dieser Einladung nach Möglichkeit in Zukunft folgen würden. Es schien, dass sein Besuch die Stimmung verändert hatte.

Auf dem Weg von Petrograd nach Moskau war die Expedition damit beschäftigt gewesen, den Waggon in Ordnung zu bringen. Wie bereits erwähnt bestand der Waggon aus sechs Abteilen, von denen zwei in eine Küche und ein Esszimmer umgebaut worden waren. Sie waren winzig, aber es gelang uns, einen ansehnlichen Speisesaal aus dem einen zu machen, und um unsere Küche hätte uns manch ein*e Haushälter*in beneidet. Es gab einen großen russischen Samowar[82] und alle nötigen Kupfer- und Zinktöpfe und Kessel, insgesamt sehr beeindruckend. Besonders stolz waren wir auf die dekorativen Vorhänge vor den Fenstern unseres Waggons. Die anderen Abteile wurden als Büros und Schlafquartiere genutzt. Ich teilte meines mit unserer Sekretärin Miss A. T. Schakol.

Neben Alexander Berkman, der vom Museum als Vorsitzender und Geschäftsführer eingesetzt worden war, Schakol als Sekretärin und mir als Schatzmeisterin und Haushälterin bestand die Expedition aus drei anderen Mitgliedern, einschließlich eines jungen Kommunisten, einem Studenten der Petrograder Universität. Unterwegs entwarfen wir unseren Arbeitsplan, der jeder*jedem von uns einen eigenen Bereich zuteilte. Ich sollte Unterlagen im Ministerium für Bildung und Gesundheit, dem Sozialamt und dem Amt für Arbeitsverteilung, sowie bei der Organisation namens »Kontrollbehörde der Arbeiter*innen und Bäuer*innen« sammeln. Nach der Tagesarbeit würden sich alle Mitglieder im Waggon treffen, um das gesammelte Material zu bewerten und zu klassifizieren.

Unser erster Halt war Kursk. Dort konnten wir nichts Bedeutendes auftreiben, außer eines Paars kandai [eiserne Handschellen], die von einem Revolutionär in Schlüsselburg getragen worden waren. Es wurde uns von einem zufällig Vorübergehenden gespendet, der durch die Inschrift unseres Waggons »Außerordentliche Kommission des Museums der Revolution« neugierig geworden war und uns einen Besuch abstattete. Es stellte sich heraus, dass er ein Intellektueller war, ein Tolstoianer[83], der Leiter einer Kindersiedlung. Er war in der Lage letztere zu führen, indem er der sowjetischen Regierung die Dienste leistete, die sie von ihm verlangte: Drei Tage der Woche unterrichtete er in den sowjetischen Schulen von Kursk. Den Rest seiner Zeit widmete er seiner kleinen Siedlung oder der »Kinderkommune«, wie er sie liebevoll nannte. Mit Hilfe der Kinder und einiger Erwachsener bauten sie das Gemüse an, das zur Verpflegung der Siedlung benötigt wurde und hielten den Ort durch Reparaturen in Stand. Er erzählte, dass die Regierung sich nicht direkt einmischen würde, aber dass seine Arbeit durch die Diskriminierung ihm gegenüber, weil er Pazifist und Tolstoianer war, erheblich eingeschränkt werde. Er fürchtete deshalb darum, dass seine Siedlung nicht mehr lange bestehen könnte. Zu dieser Zeit gab es keinerlei Handel irgendeiner Art in Kursk und mensch musste sich für die Versorgung auf die lokalen Behörden verlassen. Aber Diskriminierungen und Feindseligkeiten verhinderten unabhängige Initiativen und Bemühungen. Der Tolstoianer jedenfalls musste, metaphorisch gesprochen, um das Überleben seiner Siedlung kämpfen. Er plante, in die Hauptstadt, nach Moskau, zu reisen, und hoffte dort Unterstützung für seine Kommune zu bekommen.

Die Persönlichkeit des Mannes, sein Feuereifer, sich nützlich zu machen, widersprach dem, was ich von den Kommunist*innen über die Intelligenzija gehört hatte, dass sie desinteressiert und unwillens wären, dem revolutionären Russland zu helfen. Ich sprach unseren Besucher darauf an. Er konnte nur über die gebildeten Männer und Frauen von Kursk, seiner Heimatstadt, sprechen, aber er versicherte uns, dass die meisten von ihnen – ganz besonders die Lehrer*innen – bereit wären zu kooperieren und sogar sehr selbstaufopferungsvoll seien. Aber sie seien die am meisten vernachlässigte Klasse und würden ständig in Hungesnot leben. Wie er selbst seien sie einer generellen Feindschaft ausgesetzt, sogar von den Kindern, deren Verstand durch die Agitation gegen die Intelligenzija vergiftet worden sei.

Kursk ist eine große industrielle Metropole und ich interessierte mich für das Schicksal der Arbeiter*innen dort. Von unserem Besucher erfuhren wir, dass es wiederholt Gefechte zwischen den Arbeiter*innen und den sowjetischen Autoritäten gegeben hatte. Kurze Zeit vor unserer Ankunft war ein Streik ausgebrochen und Soldat*innen waren geschickt worden, um ihn niederzuschlagen. Die üblichen Verhaftungen folgten und viele Arbeiter*innen wurden immer noch von der Tscheka gefangen gehalten. So weit war es nach Ansicht des Tolstoianers durch die generelle Inkompetenz der Kommunist*innen gekommen, nicht durch irgendeinen anderen Grund. Menschen wurden in verantwortungsvollen Positionen nicht wegen ihrer Kompetenz platziert, sondern wegen ihrer Parteimitgliedschaft. Der politische Nutzen war das oberste Gebot und das resultierte natürlicherweise in einem generellen Missbrauch von Macht und Chaos. Das kommunistische Dogma, dass der Zweck alle Mittel rechtfertige, verursachte ebenfalls großen Schaden. Es hatte Tür und Tor für die schlimmsten menschlichen Gräueltaten geöffnet und die Ideale der Revolution verraten. Der Tolstoianer sprach voll Trauer, wie eine*r spricht, dessen*deren Hoffnungen, für die er*sie gebrannt hatte, zerstört wurden.

Am nächsten Morgen spendete unser Besucher die kandali für unsere Sammlung, die er viele Jahre im Gefängnis getragen hatte. Er hoffte, dass wir auf dem Rückweg noch einmal nach Kursk kommen würden, so dass wir einige tolstoianische Kommunen im Umkreis der Stadt besuchen könnten. Nicht weit von Jasnaja Poljana[84] lebte ein alter bäuerlicher Freund von Tolstoi, erzählte er uns. Er hätte viel wertvolles Material, das er dem Museum geben könnte. Unser Besucher blieb bis zu unserer Abfahrt, er war begierig nach intellektueller Gesellschaft und er ließ uns nur ungern gehen.

Kapitel 19: In Charkiw

Als wir in Charkiw ankamen, besuchte ich gleich den anarchistischen Buchladen, dessen Adresse ich mir bereits in Moskau beschafft hatte. Dort traf ich viele Freund*innen, die ich noch aus Amerika kannte. Unter ihnen waren Joseph und Leah Goodman, die aus Detroit kamen, Fanny Baron[85] aus Chicago und Sam Fleshin[86][87], der 1917 im Büro von Mother Earth[88] in New York gearbeitet hatte, bevor er nach Russland gegangen war. Mit tausenden anderen Exilant*innen waren sie alle nach Russland geeilt, als sie die ersten Nachrichten von der Revolution vernommen hatten und seither waren sie mittendrin dabei. Ich nahm an, dass sie mir viel zu erzählen hätten, vielleicht könnten sie mir helfen, einige der Fragen, die mich verwirrten, zu beantworten.

Charkiw lag einige Meilen von der Eisenbahnhaltestelle entfernt, weshalb es unpraktisch war, während unseres Aufenthalts in der Stadt weiterhin in unserem Waggon zu leben. Die Erlaubnisscheine des Museums hätten uns Unterkünfte verschaffen können, aber einige Teilnehmer*innen der Exkursion bevorzugten es, bei ihren amerikanischen Freund*innen unterzukommen. Ich bekam ein Zimmer durch die Hilfe eines*einer unserer Genoss*innen, die*der einen Wohnblock leitete.

In Moskau war es relativ warm gewesen, aber in Charkiw herrschte eine glühende Hitze, die mich an New York im Juli erinnerte. Sanitäre Einrichtungen und Rohrleitungen waren nicht gewartet oder zerstört worden und Wasser musste von einem mehrere Blocks entfernten Ort drei Stockwerke hoch getragen werden. Trotzdem war es Luxus, ein eigenes Zimmer zu haben.

Die Stadt war belebt. Die Straßen waren voller Menschen und sie sahen besser ernährt und gekleidet aus als die Menschen in Petrograd und Moskau. Die Frauen waren ansehnlicher als im Norden von Russland, die Männer von feinerem Typ. Es war geradezu seltsam, tagsüber wunderschöne Frauen in Abendkleidern zu sehen, die barfuß oder in hölzernen Sandalen ohne Absätze herumliefen. Die farbigen Halstücher, die die meisten von ihnen trugen, verliehen den Straßen Farben und Leben und verhalfen ihnen zu einer fröhlichen Erscheinung, eine willkommene Abwechslung zu den Grautönen von Petrograd.

Meinen ersten offiziellen Besuch stattete ich dem Bildungsministerium ab. Ich fand eine lange Schlange von Menschen vor, die auf Einlass warteten, aber die Berechtigungsscheine des Museums öffneten mir alle Türen und der Vorsitzende empfing mich herzlichst. Er lauschte meinen Erklärungen zum Grund für die Expedition aufmerksam und versprach mir, mir die Gelegenheit zu verschaffen, alle verfügbaren Materialien in seiner Abteilung zu sammeln, inklusive der kürzlich erstellten Zahlen von ihrer Arbeit. Auf dem Schreibtisch des Vorsitzenden bemerkte ich eine Kopie dieser Diagramme, die wie ein futuristisches Gemälde aussahen, voller Linien und Punkte in rot, blau und violett. Als er meine Verblüffung bemerkte, erklärte der Vorsitzende, dass Rot die verschiedenen Phasen des Bildungssystem markiere und die anderen Farben Literatur, Theater, Musik und die bildenden Künste darstellen. Jede Abteilung war unterteilt in Büros, die jeden Bereich der Bildungs- und kulturellen Arbeit der Sozialistischen Republik umfassten.

Das Bildungssystem betreffend erklärte der Vorsitzende, dass Kinder im Alter von drei bis acht Jahren den Kindergarten oder ein Kinderheim besuchen. Waisenkinder des Krieges aus dem Süden, Kinder von Soldat*innen der Roten Armee und Kinder von Proletarier*innen im Allgemeinen erhielten den Vorzug. Wenn freie Plätze blieben, wurden auch Kinder der Bourgeoisie akzeptiert. Von acht bis dreizehn Jahren gingen die Kinder auf Mittelschulen, wo sie eine Grundbildung erhielten, die ihnen die grundlegende Idee der politischen und ökonomischen Struktur der R.S.F.S.R.[89] eintrichterte. Moderne Lehrmethoden mittels technischer Geräte, sofern diese erhältlich waren, seien etabliert. Den Kindern würden sowohl der Prozess der Produktion als auch Naturwissenschaften gelehrt. Im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren bekämen sie eine berufliche Ausbildung. Es gebe auch höhere Bildungsinstitute für junge Menschen, die besondere Begabungen und Neigungen zeigten. Außerdem seien Sommerschulen und Zeltlager gegründet worden, in denen unter freiem Himmel gelehrt würde. Alle Kinder der Sowjetischen Republik bekämen Verpflegung, Kleidung und Unterkünfte auf Kosten der Regierung. Das Bildungsprogramm umfasse auch Arbeiter*innenkollegien und Abendschulen für Erwachsene beider Geschlechter. Auch hier werde den Schüler*innen alles kostenlos zur Verfügung gestellt, sogar Sonderrationen. Für weitere Einzelheiten verwies mich der Vorsitzende auf die Literatur seiner Abteilung und riet mir, den im Einsatz befindlichen Bildungsplan zu studieren. Die Bildungsarbeit würde durch die Blockade und konterrevolutionäre Bestrebungen sehr behindert werden, andernfalls würde Russland der Welt beweisen, was die Sozialistische Republik hinsichtlich Volksaufklärung leisten könne. Es würden selbst die einfachsten Notwendigkeiten fehlen, wie Papier, Bleistifte und Bücher. Im Winter müssten die meisten Schulen wegen Mangels an Brennstoffen schließen. Die Grausamkeit und Schande der Blockade wäre nirgendwo sichtbarer und himmelschreiender als in ihren Auswirkungen auf die Kranken und die Kinder. »Es ist das dunkelste Verbrechen des Jahrhunderts«, schloss der Vorsitzende. Wir vereinbarten, dass ich in einer Woche zurückkommen würde, um das Material für unsere Sammlung abzuholen. Auch im Sozialamt fand ich einen sehr kompetenten Mann an der Spitze. Er interessierte sich sehr für die Arbeit der Expedition und versprach, das notwendige Material für uns zu sammeln, obwohl er uns nicht viel bieten könne, da seine Behörde erst kürzlich gegründet worden sei. Aufgabe des Ministeriums war es, sich um die erwerbsunfähigen und kranken Proletarier*innen und diejenigen zu kümmern, die aufgrund ihres hohen Alters von der Arbeit befreit waren. Ihnen wurden gewisse Rationen an Lebensmitteln und Kleidung gewährt; wenn sie angestellt waren, bekamen sie auch eine gewisse Menge an Geld, ungefähr die Hälfte ihres Verdiensts. Außerdem unterstützte das Sozialamt mit seinen Ausgaben Wohnquartiere und Kantinen.

Im Korridor, der zu den verschiedenen Büros des Amtes führte, standen Schlangen von abgemagerten und verkrüppelten Gestalten, Männer und Frauen, die darauf warteten, bis sie an der Reihe waren, um Hilfe zu bekommen. Sie sahen aus wie Kriegsveteranen, die auf ihre Almosen in Form von Rationen warteten; Sie erinnerten mich an die klapprigen Arbeitslosen, die vor den Quartieren der Heilsarmee in Amerika in Schlangen anstanden. Eine Frau zog meine Aufmerksamkeit besonders auf sich. Sie war wütend und aufgeregt und sie beschwerte sich lauthals. Ihr Ehemann war seit zwei Tagen tot und sie versuchte, einen Erlaubnisschein für einen Sarg zu bekommen. Sie stand seit seinem Tod in der Schlange, doch sie hatte sich bislang kein Dokument beschaffen können. »Was soll ich tun?«, jammerte sie, »ich kann ihn nicht auf meinem eigenen Rücken tragen oder ihn ohne Sarg beerdigen und ich kann ihn in dieser Hitze nicht länger in meinem Zimmer lassen.« Das Wehklagen der Frau blieb unbeantwortet, da jede*r mit seinen*ihren eigenen Problemen beschäftigt war. Kranke und arbeitsunfähige Arbeiter*innen werden überall auf den Schrotthaufen geworfen – hatte ich gedacht –, aber in Russland werden Anstrengungen unternommen, solche Grausamkeiten zu verhindern. Wenn ich das nach dem, was ich in Charkiw gesehen hatte, bewerte, habe ich das Gefühl, dass nicht sehr viel erreicht wurde. Es war ein äußerst deprimierendes Bild, diese lange Warteschlange. Ich hatte das Gefühl, dass das die Verletzten noch verspottete.

Ich besuchte ein Haus, in dem die sozial Verstoßenen lebten. Es war recht gut in Schuss, aber verbreitete den Geruch von kaltem Institutionalismus. Natürlich war es besser, als auf der Straße zu schlafen oder die ganze Nacht in den Eingängen zu liegen, wie es die Kranken und Armen in kapitalistischen Ländern oft zu tun gezwungen sind, zum Beispiel in Amerika. Trotzdem schien es nicht zu passen, dass im sowjetischen Russland nicht etwas Fröhlicheres und Einladenderes für diejenigen gefunden werden konnte, die ihre Arbeit für das Gemeinwohl gegeben und ihre Gesundheit dafür geopfert hatten. Aber offensichtlich war es das Beste, was das Sozialamt im derzeitigen Zustand Russlands tun konnte.

Am Abend besuchten uns unsere amerikanischen Freund*innen. Jede*r von ihnen hatte eine umfangreiche Erfahrung des Kämpfens, des Leidens und der Verfolgung hinter sich und ich war überrascht zu erfahren, dass die meisten von ihnen sogar von den Bolschewiki eingesperrt worden waren. Sie hatten wegen ihrer Ideen viel ertragen und waren von jeder Regierung der Ukraine – in den letzten zwei Jahren hatte es vierzehn politische Wechsel in einigen Regionen des Südens gegeben – gejagt worden. Die Kommunist*innen verhielten sich nicht anders: Auch sie verfolgten die Anarchist*innen ebenso wie andere Revolutionär*innen der Linken. Trotzdem setzten die Anarchist*innen ihre Arbeit fort. Ihr Vertrauen in die Revolution war wirklich außergewöhnlich in Anbetracht dessen, was sie erdulden mussten und sogar angesichts der schlimmsten Reaktion. Sie waren sich einig darin, dass die Möglichkeiten der Massen während der ersten Monate nach der Oktoberrevolution sehr groß gewesen waren, aber sie waren auch der Meinung, dass die revolutionäre Entwicklung gestoppt worden war und schrittweise vollständig gelähmt wurde, durch den tödlichen Effekt des kommunistischen Staates.

In der Ukraine, erklärten sie, unterscheide sich die Situation von der in Russland, da die Bäuer*innen in verhältnismäßig besseren materiellen Umständen lebten. Sie hätten sich außerdem eine größere Unabhängigkeit bewahrt und einen rebellischeren Geist. Aus diesem Grund seien die Bolschewiki daran gescheitert, den Süden zu bezwingen.

Unsere Besucher*innen sprachen von Machno als heroischer, populärer Figur und erzählten von seinen wagemutigen Heldentaten und den Legenden, die die Bäuer*innen um seine Person gewoben hatten. Allerdings unterschieden sich die Meinungen unter den Anarchist*innen erheblich, die Bedeutung der Machno-Bewegung betreffend. Einige betrachteten diese als anarchistisch und waren der Meinung, dass die Anarchist*innen all ihre Energie in sie stecken sollten. Andere waren der Ansicht, dass die povstantsi den natürlichen rebellischen Geist der südlichen Bäuer*innen verkörperten, aber ihre Bewegung nicht anarchistisch sei, auch wenn sie anarchistisch beeinflusst sei. Sie waren nicht bereit, sich auf diese Bewegung zu beschränken; Sie waren der Meinung, dass ihre Arbeit einen umfassenderen und universelleren Charakter haben sollte. Einige unserer anarchistischen Freund*innen vertraten eine vollkommen andere Position. Sie waren der Ansicht, dass die Machno-Bewegung in keinerlei Hinsicht anarchistisch beeinflusst sei.

Am enthusiastischsten hinsichtlich Machno und dem anarchistischen Wert dieser Bewegung war Joseph[90], auch bekannt als der »Emigrant«, der Letzte, von dem mensch erwartet hätte, dass er sich für eine militärische Organisation erwärmen könne. Joseph war sanft und zart wie ein Mädchen. In Amerika war er auf eine stille und unaufdringliche Art und Weise in der anarchistischen Bewegung und der Arbeiter*innenbewegung engagiert gewesen und nur sehr wenige kannten den wahren Wert dieses Mannes. Seit seiner Rückkehr nach Russland war er inmitten des Kampfes gewesen. Er hatte viel Zeit mit Machno verbracht und verehrte und liebte ihn für seine revolutionäre Hingabe und Courage. Joseph erzählte von einem interessanten Erlebnis bei seinem ersten Besuch des Bäuer*innenanführers. Als er bei den povstantsi ankam, erweckte er aus irgendeinem Grund den Anschein, dass er gekommen sei, um ihrem Anführer zu Schaden zuzufügen. Einer von Machnos engsten Freunden behauptete, dass Joseph, weil er Jude war, auch ein Gesandter der Bolschewiki sein müsse, der geschickt worden sei, um Machno zu töten. Als er sah, wie zugetan Machno Joseph geworden war, hatte er beschlossen »den Juden« zu töten. Glücklicherweise warnte er seinen Anführer zuvor, woraufhin Machno seine Männer zusammenrief und ihnen irgendwas dieser Art mitteilte: »Joseph ist ein Jude und ein Idealist, er ist ein Anarchist. Ich betrachte ihn als meinen Genossen und Freund und ich mache jeden von euch für seine Sicherheit verantwortlich.« Weil er von seiner Armee vergöttert wurde, genügte Machnos Wort: Joseph wurde vertrauter Freund der povstantsi. Sie vertrauten ihm, weil ihr batka [Vater] ihm vertraute und im Gegenzug war Joseph ihnen treu ergeben. Jetzt bestand er darauf, dass er in das Camp der Rebellen zurückkehren müsse: Sie seien heroische Menschen, einfach, mutig und der Sache der Freiheit treu ergeben. Er plante, erneut mit Machno zu arbeiten. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass wenn Joseph zu Machno zurückkehren würde, ich ihn nicht lebend wiedersehen würde. Er wirkte auf mich wie einer dieser Charaktere in Zola‘s »Germinal«[91], der jedes Lebewesen liebte und doch zuliebe der streikenden Bergarbeiter*innen in der Lage dazu ist, zu Dynamit zu greifen.

Meinen Freund*innen gegenüber äußerte ich die Meinung, dass, so bedeutend die Machno-Bewegung auch sein möge, sie doch nur militärischer Natur sei und deshalb nicht anarchistisch sein könne. Es tat mir weh, Joseph zurück zu Machnos Feldlager gehen zu sehen, da seine Arbeit für die anarchistische Bewegung in Russland von viel größerem Wert sein könnte. Aber er war fest entschlossen und ich hatte das Gefühl, dass es Josephs Verzweiflung über die reaktionären Tendenzen der Boschewiki war, die ihn, wie so viele andere seiner Genoss*innen, von den Kommunist*innen entfernte und weswegen er Zuflucht in den Reihen Machnos suchte.

Während unseres Aufenthalts in Charkiw besuchte ich auch das Amt für die Verteilung von Arbeit, das im Zuge der Militarisierung der Arbeit ins Leben gerufen worden war. Nach Ansicht der Bolschewiki war es notwendig geworden, um die Arbeiter*innen aus den Dörfern zurückzuholen, in die sie aus den verhungernden Städten geströmt waren. Sie sollten registriert und nach Gewerbe klassifiziert und dann auf die Orte, an denen ihre Dienste am dringendsten benötigt wurden, verteilt werden. Die Umsetzung des Planes bestand darin, dass zahlreiche Menschen täglich auf den Straßen oder den Märkten festgenommen wurden. Zusammen mit der großen Zahl derer, die als Spekulant*innen oder wegen des Besitzes zaristischen Geldes verhaftet worden waren, wurden sie auf eine Liste des Amts für die Verteilung von Arbeit gesetzt. Einige wurden in das Donezbecken[92] geschickt, während die Schwächeren in die Konzentrationslager gebracht wurden. Die Kommunist*innen rechtfertigten dieses System und diese Methoden als notwendig während einer revolutionären Periode, um die Industrie wiederaufzubauen. Jede*r in Russland muss arbeiten, sagten sie, oder eben zur Arbeit gezwungen werden. Sie behaupteten, dass der industrielle Output seit der Einführung des Zwangsarbeitsgesetzes gestiegen sei.

Ich hatte die Gelegenheit, diese Angelegenheit mit vielen Kommunist*innen zu diskutieren und ich bezweifle die Wirksamkeit des neuen Gesetzes.

Eines Abends stand eine Frau vor meinem Zimmer und stellte sich als die frühere Besitzerin des Appartements vor. Da alle Häuser verstaatlicht worden waren, hatte mensch ihr erlaubt, drei Räume zu behalten, der Rest der Wohnung wurde der Verantwortung des Wohnungsamts übergeben. Ihre Familie hatte acht Mitglieder, inklusive ihrer Eltern und einer verheirateten Tochter mit ihrer Familie. Es war beinahe unmöglich, all in drei Räume zu zwängen, besonders angesichts der schrecklichen Sommerhitze in Charkiw, dennoch war ihnen das irgendwie gelungen. Aber zwei Wochen vor unserer Ankunft in Charkiw hatte Sinowjew die Stadt besucht. Bei einer öffentlichen Versammlung hatte er erklärt, dass die Bourgeoisie der Stadt zu gut genährt und gekleidet aussehe. »Das beweist«, hatte er gesagt, »dass die Genoss*innen und besonders die Tscheka ihre Pflichten vernachlässigen.« Kaum war Sinowjew abgereist, begannen massive Wellen an Verhaftungen und nächtlichen Razzien. Konfiszierungen wurden zur Tagesordnung. Ihr Appartement, erzählte die Frau, wurde ebenfalls besucht und das meiste ihrer beweglichen Habe sei ihr genommen worden. Aber das Schlimmste von allem sei, dass die Tscheka ihr befohlen hatte, einen der Räume zu verlassen und die Familie nun in zwei kleine Räume gezwängt sei. Sie war sehr besorgt darüber, dass der verlassene Raum einem Mitglied der Tscheka oder einem Angehörigen der Roten Armee zugewiesen werden könnte. »Wir waren sehr erleichtert«, sagte sie, »als wir informiert wurden, dass jemand aus Amerika den Raum belegen würde. Wir wünschten, du würdest hier für längere Zeit bleiben.«

Bis dahin war ich nicht persönlich in Kontakt mit den Mitgliedern der enteigneten Bourgeoisie gekommen, die durch die Revolution tatsächlich leiden mussten. Die wenigen Mittelklassefamilien, die ich getroffen hatte, lebten recht gut, was mich überrascht hatte. Ein bestimmter Chemiker aus Petrograd, den ich in Schatoffs Haus kennen gelernt hatte, lebte auf sehr kostspielige Art und Weise. Die sowjetischen Autoritäten hatten ihm erlaubt, seine Fabrik weiter zu betreiben und er versorgte die Regierung mit Chemikalien zu einem erheblich niedrigeren Preis als dem, zu dem sie die Regierung selbst herstellen könnte. Er bezahlte seinen Arbeiter*innen verhältnismäßig hohe Löhne und versorgte sie mit Rationen. Einmal war ich von der Familie des Chemikers zum Abendessen eingeladen worden. Sie lebten in einem luxuriösen Appartement, das viele wertvolle Gegenstände und Kunstschätze enthielt. Meine Gastgeberin, die Frau des Chemikers, war teuer gekleidet und trug ein wertvolles Collier. Das Essen bestand aus mehreren Gängen und wurde auf eine extravagante Art und Weise serviert, mit exquisitem Damastleinen im Überfluss. Es musste mehrere hunderttausend Rubel gekostet haben, was 1920 in Russland ein kleines Vermögen war. Das Erstaunliche für mich war gewesen, dass fast jede*r in Petrograd den Chemiker kannte und mit seinem Lebensstil vertraut war. Aber mir wurde gesagt, dass er von der sowjetischen Regierung gebraucht wurde und er deshalb leben dürfe, wie er es wünsche. Einmal drückte ich ihm gegenüber mein Erstaunen darüber aus, dass die Bolschewiki seinen Reichtum nicht konfisziert hatten. Er versicherte mir, dass er nicht der Einzige der Bourgeoisie war, der seine frühere Stellung bewahrt hatte. »Die Bourgeoisie ist keineswegs tot«, sagte er, »sie wurde nur für eine Weile mit Chloroform betäubt, sozusagen für die schmerzhafte Operation. Aber sie erhohlt sich bereits von den Auswirkungen der Narkose und bald wird sie sich vollständig erholt haben. Es braucht nur noch etwas Zeit.« Der Frau, die mich in meinem Zimmer in Charkiw besuchte, war das nicht so gut gelungen wie dem Petrograder Chemiker. Sie war Teil des Trümmerhaufens, der vom revolutionären Sturm, der über Russland hinweggefegt war, hinterlassen worden war.

Während meines Aufenthalts in der ukrainischen Hauptstadt traf ich einige interessante Menschen der gebildeten Klassen, unter ihnen ein Ingenieur, der gerade aus dem Donezbecken zurückgekehrt war und eine Frau, die in einem sowjetischen Büro angestellt war. Beide waren kultivierte Personen und leidenschaftlich an Russlands Schicksal interessiert. Wir sprachen über den Besuch von Sinowjew. Sie bestätigten die Geschichte, die ich zuvor gehört hatte. Sinowjew hatte seine Genoss*innen für deren Nachlässigkeit gegenüber der Bourgeoisie ermahnt und sie dafür kritisiert, dass sie den Handel nicht unterdrückten. Sofort nach Sinowjews Abreise führte die Tscheka willkürliche Razzien durch, die Mitglieder der Bourgeoisie verloren dabei beinahe die letzten Dinge, die sie besaßen. Der tragischste Teil des Ganzen war in den Augen des Ingenieurs, dass die Arbeiter*innen nicht von solchen Razzien profitierten. Keine*r wusste, was aus den konfiszierten Gegenständen geworden war, sie waren einfach verschwunden. Beide, der Ingenieur und die weibliche Angestellte der Sowjets sprachen mit großer Sorge über den generellen Zerfall der Werte. Einst glaubten die Russ*innen, dass Hütten und Paläste gleichermaßen falsch seien und beide abgeschafft werden müssten, sagte die Frau. Sie waren niemals der Ansicht, dass der Zweck einer Revolution hauptsächlich eine Verschiebung der Besitzverhältnisse sei, um die Reichen in die Hütten zu stecken und die Armen in die Paläste. Es stimme nicht, dass die Arbeiter*innen nun in den Palästen wohnen würden. Mensch hat ihnen nur eingeredet, dass das die Funktion einer Revolution sei. Tatsächlich seien die Massen dort geblieben, wo sie zuvor gewesen waren. Aber jetzt seien sie dort nicht mehr alleine, sie seien in Gesellschaft der Klassen, die sie hatten zerstören wollen.

Der zivile Ingenieur war von der sowjetischen Regierung in das Donezbecken geschickt worden, um dort Häuser für die Arbeiter*innen zu errichten und ich war dankbar über die Gelegenheit, von ihm etwas über die Bedingungen dort zu erfahren. Die kommunistische Presse veröffentlichte begeisterte Artikel über die intensive Kohleproduktion des Beckens und offizielle Berechnungen verkündeten, dass das Land mit genügend Kohle für den bevorstehenden Winter versorgt wäre. Tatsächlich waren die Minen im Donezbecken in einem zutiefst beklagenswertem Zustand, erzählte mir der Ingenieur. Die Bergarbeiter*innen würden wie Vieh bewacht werden. Sie bekämen hundsmiserable Rationen, wären beinahe barfuß und würden dazu gezwungen, in knöcheltiefem Wasser zu arbeiten. Infolge solcher Bedingungen werde nur sehr wenig Kohle produziert. »Ich war Teil eines Komitees, das damit beauftragt war, die Situation zu untersuchen und über die Ergebnisse zu berichten«, sagte der Ingenieur. »Unser Bericht ist alles andere als erfreulich. Wir wissen, dass es gefährlich ist, die Fakten so zu berichten, wie sie sind: Wir würden von der Tscheka verhaftet. Aber wir haben entschieden, dass Moskau die Fakten wissen muss. Das System politischer Kommissar*innen, die generelle bolschewistische Ineffizienz und der lähmende Effekt der staatlichen Maschine haben unsere konstruktive Arbeit im Becken fast unmöglich gemacht. Wir sind jämmerlich gescheitert.«

Ich fragte mich: Wäre ein solcher Zustand in einer revolutionären Periode und in einem Land, das industriell so wenig entwickelt ist wie Russland, vermeidbar gewesen? Die Revolution wurde von der Bourgeoisie innerlich und äußerlich angegriffen, es war dringend nötig sie zu verteidigen und so blieben keine Kapazitäten für konstruktive Arbeiten. Der Ingenieur hatte für meine Sichtweise nichts übrig. Die russische Bourgeoisie sei schwach und könne praktisch keinen Widerstand leisten, behauptete er. Sie sei zahlenmäßig unbedeutend und sie leide unter einem schlechten Gewissen. Es gäbe weder eine Notwendigkeit noch eine Rechtfertigung für den bolschewistischen Terror und dieser sei hauptsächlich für die Lähmung der konstruktiven Bemühungen verantwortlich. Intellektuelle der Mittelklasse seien viele Jahre in den liberalen und revolutionären Bewegungen Russlands aktiv gewesen und dadurch seien die Angehörigen der Bourgeoisie näher an die Massen herangerückt. Von den Ereignissen des großen Tages überrascht, bevorzugte es die Bourgeoisie aufzugeben statt zu kämpfen. Sie sei von der Revolution mehr als irgendeine andere Klasse in Russland überwältigt worden. Sie war ziemlich unvorbereitet und habe sich bis zum heutigen Tag nicht wieder zurechtgefunden. Es sei nicht wahr, dass die russische Bourgeoisie eine aktive Bedrohung für die Revolution sei, wie die Bolschewiki behaupteten.

Mir war geraten worden, die Leiterin des Aufsichtsamtes der Arbeiter*innen und Bäuer*innen zu treffen, eine frühere Beamtin der Tscheka, die dafür bekannt war, sehr ernst, ja sogar grausam, aber effektiv zu sein. Sie könne mir wertvolle Materialien überlassen, wurde mir gesagt, und mir Einlass in die Gefängnisse und Konzentrationslager verschaffen. Bei meinem Besuch im Aufsichtsamt der Arbeiter*innen und Bäuer*innen war die verantwortliche Dame mir gegenüber zunächst nicht wirklich freundlich. Sie ignorierte meine Erlaubnisschreiben, offensichtlich unbeeindruckt von Sinowjews Unterschrift. Kurz darauf trat ein Mann aus einem der Hinterbüros heraus. Er stellte sich als Dybenko[93] heraus, ein hoher Offizier der Roten Armee und er erzählte mir, dass er von seiner Frau Alexandra Kollontai[94] von mir gehört hätte. Er versprach mir, dass ich alle verfügbaren Materialien bekommen sollte und bat mich, später an diesem Tag wiederzukommen. Als ich zurückkehrte, war die Dame viel entgegenkommender und bereitwilliger mir Informationen über die Tätigkeiten ihres Amtes zu liefern. Es war gegründet worden, um zunehmende Sabotage und Bestechung zu bekämpfen. Das war Aufgabe der Tscheka, aber mensch hielt es für notwendig, ein neues Amt dafür zu schaffen, das sich der Aufsicht und Beseitigung von Verstößen widme. »Es ist das Tribunal, vor das die Fälle gebracht werden sollen«, sagte die Frau. »Momentan untersuchen wir beispielsweise die Beschwerden von Gefangenen, die fälschlicherweise verurteilt wurden oder zu hohe Strafen bekommen haben.« Sie versprach, dass sie uns die Erlaubnis, die Strafanstalten zu besuchen, beschaffen würde und schon einige Tage später hatten einige Mitglieder der Expedition die Gelegenheit dazu.

Zuerst besuchten wir das größte Konzentrationslager Charkiws. Im Hof arbeiteten einige Gefangene daran, einen neuen Abwasserkanal auszuheben. Der war sicherlich von Nöten, der ganze Ort war von einem ekelerregenden Geruch überdeckt. Das Gefängnisgebäude war in mehrere Räume unterteilt, die alle überfüllt waren. Eine der Abteilungen wurde »Spekulant*innenappartement« genannt, obwohl beinahe alle Insass*innen dort dagegen protestierten, so genannt zu werden. Sie sahen arm und ausgehungert aus, jede*r von ihnen hatte Angst davor, uns seine*ihre Leidensgeschichte zu erzählen; anscheinend hielten sie uns für offizielle Ermittler*innen. In einem der Korridore trafen wir einige Kommunist*innen, denen Sabotage vorgeworfen wurde. Offensichtlich machte die sowjetische Regierung auch vor den eigenen Leuten nicht halt.

In dem Camp waren Soldat*innen der Weißen Armeen, die an der polnischen Front gefangen genommen worden waren und jede Menge Bäuer*innen, denen verschiedene Dinge vorgeworfen wurden. Sie sahen bemittleidenswert aus, wie sie da aus Mangel an Sitzgelegenheiten auf dem Boden saßen, ein armseliges Häufchen, fassungslos und außer Stande zu begreifen, wie es passieren konnte, dass sie hier gelandet waren.

Mehr als tausend arbeitsfähige Männer waren in diesem Konzentrationslager eingesperrt, die so nicht zum Wohle der Gemeinschaft arbeiten konnten und zu deren Bewachung es zahlreicher Wärter*innen bedurfte. Dabei benötigte Russland doch so dringend Arbeitskräfte. Mir kam das alles wie eine unnötige Verschwendung vor.

Später besuchten wir das Gefängnis. Vor den Toren stand ein wütender Mob und gestikulierte und schrie. Mir wurde gesagt, dass an diesem Morgen die wöchentlichen Pakete, die von Angehörigen der Insass*innen gebracht wurden, von der Gefängnisleitung abgewiesen worden waren. Einige der Menschen waren meilenweit gereist und hatten ihren letzten Rubel für etwas zu Essen für ihre inhaftierten Ehemänner und Brüder ausgegeben. Sie waren außer sich. Unsere Begleitung, die Vorsitzende des Amtes, versprach uns, die Sache zu untersuchen. Wir wurden durch das große Gefängnis geführt, das einen deprimierenden Anblick menschlichen Elends und der Verzweiflung bot. Diejenigen, die zum Tode verurteilt worden waren, befanden sich in Einzelhaft. Tagelang verfolgte mich ihr Anblick – ihre Augen voller Angst aufgrund der quälenden Ungewissheit, jeden Moment damit rechnen zu müssen, zur Hinrichtung abgeholt zu werden. Unsere Freund*innen aus Charkiw hatten uns gebeten, eine bestimmte junge Frau im Gefängnis aufzusuchen. Ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen, versuchten wir sie in den verschiedenen Bereichen der Institution zu erspähen, bis wir eine erblickten, auf die die Beschreibung passte. Sie war eine Anarchistin und wurde als politische Gefangene geführt. Die Zustände im Gefängnis seien schlecht, erzählte sie uns. Ein langwieriger Hungerstreik sei nötig gewesen, um die Autoritäten zu zwingen, die politischen Gefangenen anständiger zu behandeln und die Türen derer, die zu Tode verurteilt waren, während des Tages offen zu lassen, sodass sie ein wenig Aufmunterung und Trost von den anderen Gefangenen bekommen könnten. Sie erzählte von vielen unrechtmäßig Verhafteten und wies besonders auf eine alte, dümmlich aussehende Bäuerin hin, die in Einzelhaft saß, weil mensch sie für eine Spionin Machnos hielt, eine Anschuldigung, die ganz offensichtlich aus einem Missverständnis resultierte.

Das Regime der Gefängnisleitung war sehr streng. Neben anderen Dingen war es den Gefangenen verboten, zu den Fenstern emporzuklettern, um auf den Hof zu blicken. Mensch erzählte uns die Geschichte eines Gefangenen, auf den geschossen worden war, weil er einmal gegen diese Regel verstoßen hatte. Er hatte Geräusche von der Straße vernommen und war, neugierig darüber, was dort unten vor sich ging, auf die Fensterbank seiner Zelle geklettert. Die Wache im Hof schoss ohne Warnung auf den Mann und verletzte ihn dadurch schwer. Von den Gefangenen hörten wir viele solcher Geschichten von Misshandlungen. Auf unserem Weg in die Stadt drückte ich meine Überraschung über die Zustände aus, die in den Gefängnissen herrschten. Ich wies unsere Begleiterin darauf hin, dass es einen schwerwiegenden Skandal in der westlichen Welt auslösen würde, wenn mensch dort erfahren würde, unter welchen Umständen die Gefangenen im sozialistischen Russland leben würden und wie mensch sie behandle. Nichts könne eine solche Brutalität rechtfertigen, dachte ich. Aber die Vorsitzende des Aufsichtsamts der Arbeiter*innen und Bäuer*innen blieb unbeeindruckt. »Wir leben in einer revolutionären Periode«, antwortete sie, »auf diese Dinge kommt es da nicht an.« Aber sie versprach, einige Fälle von außerordentlicher Ungerechtigkeit zu untersuchen , die wir ihr genannt hatten. Ich war nicht überzeugt davon, dass die Revolution für die existierenden Übel verantwortlich war. Wenn im Namen der Revolution wirklich so viel Brutalität und Verbrechen notwendig waren, was blieb dann am Ende übrig?

Gegen Ende unserer ersten Woche in Charkiw kehrte ich zum Amt für Bildung zurück, wo mir Materialien versprochen worden waren. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass nichts vorbereitet worden war. Mir wurde gesagt, dass der Vorsitzende nicht da sei und mensch versicherte mir erneut, dass die versprochenen Dokumente noch vor unserer Abreise gesammelt werden würden. Ich wurde dann an einen Mann verwiesen, der verantwortlich für ein bestimmtes Modellschulprojekt war. Der Vorsitzende hatte mir erzählt, dass dort einige interessante Bildungsmethoden entwickelt werden würden, aber auf mich wirkte der Manager unintelligent und geistlos. Er konnte mir nichts von neuen Methoden erzählen, aber er war bereit, nach einem der Unterrichtenden zu schicken, der mir die Dinge erklären könne. Ein Bote wurde losgeschickt, aber er kehrte schon bald mit der Information zurück, dass der Lehrer zu beschäftigt damit sei, seine Klasse zu unterrichten und daher nicht kommen könne. Der Manager bekam einen Wutausbruch. »Er muss kommen«, schrie er, »die Bourgeoisie sabotiert genauso wie die übrige verdammte Intelligenzija. Sie sollten alle erschossen werden. Wir kommen ohne sie besser zurecht.« Er war einer der engstirnigen, fanatischen und schikanierenden Kommunist*innen, die der Revolution mehr schadeten als jede*r Konterrevolutionär*in.

Während unseres Aufenthalts in Charkiw hatten wir ebenfalls Zeit, um einige Fabriken zu besuchen. In einer Pflugmanufaktur sahen wir einen großen Speicher voll fertiger Produkte. Ich war überrascht darüber, dass die Pflüge in der Fabrik blieben, anstatt auf den Farmen eingesetzt zu werden. »Wir warten noch auf Anweisungen aus Moskau«, erklärte der Manager, »das war ein Eilauftrag und uns wurde mit Verhaftung wegen Sabotage gedroht, wenn sie nicht binnen sechs Wochen fertig für den Versand seien. Das war vor sechs Monaten und wie ihr seht, sind die Pflüge noch immer hier. Die Bäuer*innen brauchen diese dringend, und wir benötigen deren Brot. Aber wir können nicht tauschen. Wir müssen auf die Anweisungen aus Moskau warten.«

Ich erinnerte mich an eine Bemerkung Sinowjews bei unserem ersten Treffen. Er hatte bemerkt, dass in Petrograd Treibstoffmangel herrsche trotz der Tatsache, dass weniger als hundert Werst[95] von der Stadt entfernt genug sei, um beinahe das halbe Land damit zu versorgen. Ich hatte damals vorgeschlagen, dass die Arbeiter*innen Petrograds dazu aufgerufen werden, den Treibstoff in die Stadt zu bringen. Sinowjew fand das naiv. »Wenn wir so etwas in Petrograd bewilligen«, sagte er, »wird die gleiche Forderung in anderen Städten gestellt werden. Es würde einen kommunalen Wettkampf auslösen, was eine bourgeoise Sache ist. Es würde unseren Plan von nationaler und zentralisierter Kontrolle zunichte machen.« Das war das vorherrschende Prinzip und infolgedessen mangelte es den Arbeiter*innen in Charkiw an Brot, bis Moskau den Befehl geben würde, die Pflüge an die Bäuer*innen zu liefern. Die Vorherrschaft des Staates war einer der Eckpfeiler des Marxismus.

Einige Tage bevor wir Charkiw verließen, besuchte ich noch einmal das Amt für Bildung und wieder gelang es mir nicht, den Vorsitzenden anzutreffen. Zu meiner Bestürzung erfuhr ich, dass ich kein Material bekommen würde, weil beschlossen worden sei, dass in der Ukraine ein eigenes Museum eingerichtet werden solle und der Vorsitzende nach Kiew gereist war, um es zu organisieren. Ich war empört über den miserablen Schwindel, der mit uns von einem Mann in hoher kommunistischer Position getrieben worden war. Natürlich hatte die Ukraine das Recht, ein eigenes Museum zu haben, aber warum war dieser kleinkarierte Schwindel notwendig, der die Expedition so viel wertvolle Zeit kostete.

Der Zwischenfall fand einige Tage später seine Fortsetzung, als wir von der hastigen Ankunft unserer Sekretärin überrascht wurden, die uns mitteilte, dass wir Charkiw sofort und so heimlich wie möglich verlassen müssten, weil das lokale Exekutivkomitee der Partei beschlossen hätte, uns daran zu hindern, statistisches Material aus der Ukraine mitzunehmen. Dementsprechend beeilten wir uns zu verschwinden, um das zu retten, was wir bereits gesammelt hatten. Wir wussten, dass das Material verloren gehen würde, wenn es in Charkiw bliebe und dass der Plan eines unabhängigen ukrainischen Museums viele Jahre lang nur auf dem Papier existieren würde.

Vor unserer Abfahrt verabredeten wir uns mit unseren Freund*innen vor Ort zu einem letzten Treffen. Wir hatten das Gefühl, dass wir sie niemals wieder sehen würden. Bei dieser Gelegenheit diskutierten wir ausgiebig über die Arbeit der »Nabat«-Föderation. Diese anarchistische Dachorganisation des Südens war infolge der Erfahrung der russischen Anarchist*innen gegründet worden, in der Überzeugung, dass eine einheitliche Organisation notwendig sei, um ihre Arbeit effektiver zu machen. Sie wollten nicht mehr nur für die Revolution sterben, sondern auch für sie leben. Es schien, dass die Anarchist*innen Russlands in zahlreiche Fraktionen geteilt waren, die meisten von ihnen klein und mit wenig Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse in Russland. Ihnen war es nicht gelungen, sich dauerhaft in den Reihen der Arbeiter*innen zu behaupten. Deshalb war beschlossen worden, alle anarchistischen Elemente der Ukraine in einer Föderation zu vereinen, um dadurch in der Lage zu sein, eine solide Front sowohl im Kampf gegen die Invasionen und die Konterrevolution, als auch gegen die Verfolgung durch die Kommunist*innen zu bilden.

Durch die gemeinsamen Bemühungen war die »Nabat« in der Lage gewesen, den größten Teil des Südens abzudecken und in engen Kontakt mit dem Leben der Arbeiter*innen und der Bäuer*innenschaft zu kommen. Die häufigen Regierungswechsel in der Ukraine zwangen die Anarchist*innen schließlich unterzutauchen, die ruhelose Verfolgung durch die Bolschewiki hatten ihre Reihen um die aktivsten Arbeiter*innen dezimiert. Trotzdem war die Föderation in der Bevölkerung verankert. Die kleine Gruppe befand sich in ständiger Gefahr, aber sie setzte ihre Bildungs- und Propagandaarbeit mit viel Energie fort.

Die Anarchist*innen aus Charkiw hatten sich offenbar viel von unserer Anwesenheit in Russland versprochen. Sie hatten gehofft, dass Alexander Berkman und ich sie bei ihrer Arbeit unterstützen würden. Wir waren bereits sieben Monate in Russland, aber hatten uns bisher nicht direkt in der anarchistischen Bewegung engagiert. Ich konnte die Enttäuschung und Ungeduld unserer Genoss*innen spüren. Sie waren erpicht darauf, dass wir zumindest die europäischen und amerikanischen Anarchist*innen darüber informieren sollten, was in Russland vor sich ging, besonders über die anhaltende Verfolgung linker revolutionärer Elemente. Ich konnte die Haltung meiner ukrainischen Freund*innen sehr gut verstehen. Sie hatten in den letzten Jahren viel Leid erfahren: Sie hatten gesehen, wie die großen Hoffnungen der Revolution zerstört wurden und wie Russland unter dem Absatz des bolschewistischen Staates zusammenbrach. Dennoch konnte ich ihren Wünschen nicht nachgeben. Ich hatte noch immer Vertrauen in die Bolschewiki, in ihre revolutionäre Aufrichtigkeit und Integrität. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich keine Kritik üben könne, solange Russland von außen attackiert werde. Ich würde kein Öl in die Flammen der Konterrevolution gießen. Darum musste ich schweigen und an der Seite der Bolschewiki, den organisierten Verteidiger*innen der Revolution, stehen. Aber meine russischen Freund*innen hatten für diese Ansicht nur Verachtung übrig. Ich würde die Kommunistische Partei mit der Revolution verwechseln, sagten sie, aber das sei nicht das Gleiche, im Gegenteil, es seien Gegensätze, sogar Feind*innen. Der kommunistische Staat habe sich den »Nabat«-Anarchist*innen zufolge als tödlich für die Revolution herausgestellt.

In den letzten Stunden vor unserer Abreise erhielten wir die vertrauliche Information, dass Machno Alexander Berkman und mich eingeladen hatte, ihn zu besuchen. Er wollte uns seine Situation darlegen und durch uns der weltweiten anarchistischen Bewegung. Er wollte, dass mensch überall begreife, dass er nicht der Bandit, der Jüd*innenhasser und der Konterrevolutionär war, als den ihn die Bolschewiki hinstellten. Er war der Revolution hingegeben und er diente den Interessen der Bevölkerung, sowie er sie wahrnahm.

Es war eine große Versuchung, den modernen Stenka Rasin[96] zu treffen, aber wir hatten dem Museum die Treue gelobt und konnten die anderen Mitglieder der Expedition nicht im Stich lassen.

Kapitel 20: Poltawa

Unter der generellen Entwurzelung des Lebens in Russland und dem Zusammenbruch ihrer ökonomischen Maschinerie hatte das Eisenbahnwesen am meisten gelitten. Das Thema wurde bei fast jedem Treffen diskutiert und die sowjetischen Zeitungen schrieben sehr oft darüber. Zwischen Petrograd und Moskau war der tatsächliche Zustand nicht so bemerkbar, obwohl die Hauptbahnhöfe immer überfüllt waren und die Menschen tagelang warteten, bis sie einen Platz ergattern konnten. Trotzdem fuhren die Züge zwischen Petrograd und Moskau relativ häufig. Wenn eine*r das Glück hatte, die notwendige Reiseerlaubnis und ein Ticket zu beschaffen, konnte eine*r die Reise ohne besondere Gefahr für Leib und Leben hinter sich bringen. Aber je weiter mensch in den Süden kam, desto offenkundiger wurde die Desorganisation. Kaputte Waggons säumten die Landschaft, zerstörte Triebwägen lagen entlang der Gleise und häufig waren die Gleise zerrissen. Überall in der Ukraine waren die Bahnhöfe bis zum Ersticken gefüllt, die Menschen veranstalteten ein wildes Gemenge, jedesmal wenn ein Zug gesichtet wurde. Die meisten von ihnen harrten wochenlang am Bahnhof aus, bevor es ihnen gelang in einen Zug zu kommen. Die Stufen und sogar die Dächer der Waggons waren mit Männern und Frauen übersät und mit Bündeln und Koffern beladen. An jedem Bahnhof gab es ein wildes Gedränge um ein wenig Platz. Soldat*innen trieben die Passagiere von den Stufen und Dächern und häufig mussten sie auf ihre Waffen zurückgreifen. Die Menschen waren so verzweifelt und so entschlossen, einen Platz zu bekommen, in der Hoffnung, etwas Essen zu ergattern, dass es sie nicht zu interessieren schien, ob sie verhaftet würden oder dabei ihr Leben aufs Spiel setzten. Infolge dieser Situation kam es zu unzähligen Unfällen, zahlreiche Reisende wurden von niedrigen Brücken in den Tod gefegt. Dieser Anblick war so alltäglich geworden, dass ihm praktisch keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Auf unserer Reise in Richtung Süden und auf dem Rückweg wurden wir häufig Zeug*innen solcher Szenen. Beständig stürmten die meschotschniki [Menschen mit Koffern] die Waggons auf der Suche nach Essen oder kehrten beladen mit ihrer kostbaren Last aus Mehl und Kartoffeln zurück.

Tag und Nacht wiederholten sich die gleichen schrecklichen Szenen an jeder Haltestelle. Es wurde zur Folter, in unserem gut ausgestatteten Waggon zu reisen. In ihm reisten nur sechs Personen und es gab beachtlichen Platz für mehr, allerdings war es uns verboten, den Platz mit anderen zu teilen. Nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr und des Ungeziefers, sondern auch weil die Vermögensgegenstände des Museums und die gesammelten Materialien sicher verschwunden wären, wenn wir Fremden erlaubt hätten, den Waggon zu betreten. Wir versuchten unsere Gewissen zu beruhigen, indem wir Frauen, Kindern und Krüppeln erlaubten, auf der hinteren Plattform unseres Wagens zu reisen, obwohl auch das den Anweisungen widersprach.

Eine andere Sache, die uns viel Ärger einbrachte, war die Inschrift auf unserem Waggon, die lautete: Außerordentliche Kommission des Museums der Revolution. Unsere Freund*innen beim Museum hatten uns versichert, dass dieser »Titel« uns dabei helfen würde, Aufmerksamkeit an den Haltestellen zu erregen und außerdem dafür sorgen würde, dass unser Waggon an die Züge, die wir benötigten, angehängt werden würde. Aber schon die ersten Tage hatten gezeigt, dass die Inschrift die Menschen gegen uns aufbrachte. Der Titel »Außerordentliche Kommission« wurde von den Menschen mit der Tscheka in Verbindung gebracht. Von den ersten Worten in Aufregung versetzt, schenkten sie den folgenden keinerlei Beachtung mehr. Schon früh auf unserer Reise hatten wir die finsteren Blicke, mit denen uns die Menschen an den Haltestellen bedachten, und die Unwilligkeit der Menschen, eine freundliche Unterhaltung mit uns zu beginnen, bemerkt. Schon bald dämmerte uns, was das Problem war, aber es bedurfte einer beachtlichen Anstrengung, um das Missverständnis aufzuklären. Sobald es uns gelungen war, sie*ihn zu beruhigen, öffnete uns der*die einfache Russ*in sein*ihr Herz. Ein freundliches Wort, eine bekümmerte Nachfrage, eine Zigarette veränderten seine*ihre Haltung. Besonders, wenn wir versicherten, dass wir keine Kommunist*innen seien und dass wir aus Amerika stammten, waren die Menschen entlang unserer Route besänftigt und wurden gesprächiger, ja manchmal sogar vertraulich. Sie waren unkompliziert und schlicht, oft sogar vulgär. Aber so ungebildet und unentwickelt sie auch waren, war das einfache Volk doch sehr deutlich hinsichtlich seiner Bedürfnisse. Sie waren unverdorben und besessen von einem tiefen Vertrauen in allgemeine Gerechtigkeit und Gleichheit. Oft war ich von diesen bäuerlichen russischen Männern und Frauen zu Tränen gerührt, die sich an die Stufen des fahrenden Zuges klammerten, dabei jeden Moment ihr Leben riskierten, und die trotz ihres miserablen Zustands unbeeindruckt und fröhlich blieben. Sie tauschten Geschichten aus ihrem Leben aus oder stimmten gelegentlich eines der melodischen, düsteren Lieder des Südens an. An den Haltestellen, wenn der Zug auf ein Triebfahrzeug wartete, versammelten sich die Bäuer*innen in Gruppen, bildeten einen großen Kreis; eine*r begann Akkordeon zu spielen und die Umstehenden begleiteten sie*ihn dabei mit ihrem Gesang. Es war seltsam für mich, diese hungrigen und zerlumpten Bäuer*innen mit schwerem Gepäck auf ihren Rücken herumstehen zu sehen, als hätten sie ihre Umgebung vollständig vergessen, wenn sie ihre Herzen in Volksliedern ausschütteten. Ein eigentümliches Volk, diese Russ*innen, heilig und dämonisch zugleich, die die höchsten und die brutalsten Antriebe zugleich offenbarten, in der Lage zu fast allem außer anhaltender Anstrengung. Ich habe mich oft gefragt, ob dieser Mangel nicht bis zu einem gewissen Grad die Desorganisation des Landes erklärte und den tragischen Zustand der Revolution.

Wir erreichten Poltawa an einem Morgen. Die Stadt sah im hellen Sonnenlicht munter aus, die Straßen waren von Bäumen gesäumt, dazwischen lagen kleine Gartenbeete. Eine große Vielfalt an Gemüse wuchs auf diesen Beeten und es war wohltuend zu sehen, dass diese nicht umzäunt waren und das Gemüse dennoch sicher war, was in Petrograd oder Moskau sicher nicht der Fall gewesen wäre. Offensichtlich gab es in dieser Stadt nicht so viel Hunger wie im Norden.

Zusammen mit der Sekretärin der Expedition besuchte ich den Hauptsitz der Regierung. Statt des üblichen Ispolkom [Exekutivkomitee der Sowjets] wurde Poltawa von einem revolutionären Komitee namens Revkom regiert. Das war ein Zeichen dafür, dass die Bolschewiki bisher nicht die Zeit gehabt hatten, in der Stadt einen Rat zu gründen. Uns gelang es, den Vorsitzenden der Revkom für den Grund unserer Reise zu interessieren und er versprach uns zu unterstützen und einen Befehl an die verschiedenen Behörden zu erlassen, dass sie Material für uns sammeln und vorbereiten sollen. Dass wir so freundlich empfangen wurden, versprach einen guten Ertrag.

Im Amt für die Fürsorge von Müttern und Kindern traf ich zwei interessante Frauen – eine war die Tochter des großen russischen Schriftstellers Korolenko[97], die andere die ehemalige Vorsitzende der Save-the-Children-Gesellschaft. Als sie vom Grund meiner Anwesenheit in Poltawa erfuhren, boten mir die Frauen ihre Hilfe an und luden mich ein, ihre Schule und das nahegelegene Zuhause von Korolenko[98] zu besuchen.

Die Schule befand sich in einem kleinen Gebäude, das weit zurückversetzt in einem wunderschönen Garten lag und von der Straße kaum zu sehen war. Im Empfangszimmer befand sich eine große Sammlung an Puppen jeder Art. Es gab stattliche ukrainische Mädels, die in farbenfrohen Kleidern und Kopfschmuck mit ihren wunderschönen Schwestern vom Kaukasus konkurrierten; Schneidige Kosaken aus dem Don sahen stolz auf ihre weniger anmutigen Brüder von der Wolga herab. Es gab Puppen jeder Art, die die lokalen Trachten beinahe jedes Teils von Russland trugen. Die Sammlung enthielt auch verschiedene Spielzeuge, Handarbeiten aus den Dörfern und wunderschöne Modelle der kustarny-Manufaktur, die Gruppen von Kindern in russischer und sibirischer Bäuer*innentracht abbildeten.

Die Damen am Empfang erzählten die Geschichte der Save-the-Children-Gesellschaft. Die seit einigen Jahren bestehende Organisation hatte bis zur Februarrevolution nur einen sehr beschränkten Tätigkeitsbereich. Dann traten der Gesellschaft neue Mitglieder, hauptsächlich Revolutionär*innen, bei. Sie strebten danach, die Arbeit der Gesellschaft zu erweitern und nicht nur für das physische Wohlergehen der Kinder zu sorgen, sondern sie auch zu bilden, sie zu lehren, die Arbeit zu lieben und ihnen Wertschätzung für Schönheit zu vermitteln. Spielzeuge und Puppen, die vor allem aus Müll gemacht waren, wurden ausgestellt und die Einnahmen für die Bedürfnisse der Kinder ausgegeben.

Nach der Oktoberrevolution, als die Bolschewiki Poltawa in Besitz genommen hatten, wurde die Gesellschaft wiederholt durchsucht und einige der Unterrichtenden wurden aufgrund des Verdachts verhaftet, dass die Institution ein Nest von Konterrevolutionär*innen sei. Die kleine Gruppe, die übrig blieb, setzte ihr Engagement zum Wohl der Kinder, wenngleich auch nur mühsam, fort. Sie hatten erfolgreich eine Delegation zu Lunatscharski entsandt, die um Erlaubnis bat, ihre Arbeit fortsetzen zu dürfen. Lunatscharski war verständnisvoll, unterschrieb die erforderlichen Papiere und versah sie sogar mit einem Schreiben an die lokalen Autoritäten, das die Wichtigkeit ihrer Arbeit unterstrich.

Aber die Gesellschaft war weiterhin Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt. Um zu verhindern, dass ihnen Sabotage vorgeworfen wurde, entboten die Frauen ihre Dienste dem Amt für Bildung in Poltawa. Dort arbeiteten sie von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags und widmeten ihre Freizeit ihrer Schule. Aber die Feindschaft der kommunistischen Autoritäten wurde dadurch nicht beschwichtigt: Die Gesellschaft blieb in Ungnade.

Die Frauen betonten, dass die sowjetische Regierung vorgab für Selbstbestimmung zu stehen, auf der anderen Seite jedoch jede unabhängige Bemühung diskreditierte und jede Initiative blockierte, wenn nicht sogar vollständig unterdrückte. Nicht einmal den ukrainischen Kommunist*innen würde Selbstbestimmung zugestanden werden. Die Mehrheit der Amtsleiter*innen seien Beauftragte aus Moskau und die Ukraine sei praktisch der Möglichkeit für unabhängige Handlungen beraubt. Zwischen der Kommunistischen Partei der Ukraine und den zentralen Autoritäten in Moskau werde eine erbitterte Auseinandersetzung geführt. Die Politik letzterer sei es, alles zu kontrollieren.

Die Frauen hatten sich dem Anliegen der Kinder verschrieben und waren bereit, Missverständnisse und sogar Verfolgung für ihr Interesse am Wohlergehen ihrer Zöglinge in Kauf zu nehmen. Beide hatten Verständnis und Sympathie für die Revolution, auch wenn sie die terroristischen Methoden der Bolschewiki nicht gutheißen konnten. Sie waren intelligente und kultivierte Menschen und ich empfand ihr Heim als Oase in der Wüste des kommunistischen Denkens und Empfindens. Bevor ich die Damen verließ, überreichten sie mir eine Sammlung an Werken der Kinder und einige exquisite Gemälde von Miss Korolenko und baten mich, diese Dinge als Proben ihrer Arbeit nach Amerika zu senden. Sie wollten, dass die Menschen in Amerika von ihrer Gesellschaft und ihren Bemühungen erfuhren.

Anschließend hatte ich die Gelegenheit, Korolenko zu treffen, der von einer kürzlichen Krankheit noch sehr geschwächt war. Er sah aus wie ein Patriarch, altehrwürdig und gütig, er erwärmte einer*einem das Herz mit seiner melodischen Stimme und seinen feinen Gesichtszügen, die sich erhellten, wenn er von den Menschen sprach,. Er sprach liebevoll von Amerika und seinen Freund*innen dort. Aber wenn er von der großen Tragödie Russlands und den Leiden der Menschen sprach, erlosch das Licht in seinen Augen und seine Stimme bebte vor Kummer.

»Du willst meine Sicht auf die derzeitige Situation und meine Einstellung gegenüber den Bolschewiki hören?«, fragte er. »Das würde zu lange dauern, dir das darzulegen. Ich schreibe gerade Lunatscharski eine Reihe von Briefen, um die er mich gebeten hat und die er versprochen hat, zu veröffentlichen. Diese Briefe behandeln diese Fragen. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie gedruckt werden, aber ich werde dir eine Kopie der Briefe für das Museum schicken, sobald sie vollendet sind. Es werden sechs Briefe werden. Ich kann dir zwei bereits jetzt geben. In einer Passage in einem dieser Briefe ist meine Meinung kurz zusammengefasst. Dort schrieb ich, dass, wenn die Gendarmen des Zaren die Macht gehabt hätten, uns nicht nur zu verhaften, sondern auch zu erschießen, die damalige Situation wie die heutige gewesen wäre. Das ist, was jeden Tag vor meinen Augen geschieht. Die Bolschewiki behaupten, dass diese Methoden untrennbar mit der Revolution verbunden sind. Aber ich kann darin nicht mit ihnen übereinkommen, dass Verfolgung und permanente Erschießungen den Interessen des Volkes oder der Revolution dienen. Es war immer meine Vorstellung, dass die Revolution den höchsten Ausdruck von Menschlichkeit und Gerechtigkeit bedeutet. In Russland fehlt bis heute beides. Zu einer Zeit, in der die ganze Ausdrucksfähigkeit und Kooperation aller intellektuellen und geistigen Kräfte notwendig gewesen wären, um das Land wieder aufzubauen, ist das gesamte Volk mundtot gemacht worden. Sich zu erdreisten, die Weisheit und Effizienz der sogenannten Diktatur des Proletariats der kommunistischen Parteiführer*innen in Frage zu stellen, wird als Verbrechen betrachtet. Uns fehlen die einfachsten Erfordernisse für das wirkliche Wesen einer sozialen Revolution und dennoch tun wir so, als hätten wir uns selbst an die Spitze einer Weltrevolution gesetzt. Das arme Russland wird für dieses Experiment teuer bezahlen müssen. Es wird möglicherweise sogar fundamentale Veränderungen in anderen Ländern verzögern. Die Bourgeoisie wird in der Lage sein, die eigenen reaktionären Methoden zu verteidigen, indem sie auf das, was in Russland passiert ist, verweist.«

Mit schwerem Herzen verließ ich den berühmten Schriftsteller, einen der letzten großen Literaten, die das Bewusstsein und die geistige Stimme des intellektuellen Russlands gewesen waren. Auch er äußerte die Klage des Teils der russischen Intelligenzija, deren Sympathien vollständig bei den Menschen lagen und deren Leben und Arbeit nur von der Liebe zu ihrem Land und ihrem Interesse nach dessen Wohlergehen inspiriert waren.

Am Abend besuchte ich eine Verwandte von Korolenko, eine sehr sympathische alte Dame, die Vorsitzende des Poltawaer Politischen Roten Kreuzes war. Sie erzählte mir viel über die Dinge, die zu erwähnen Korolenko selbst zu bescheiden gewesen war. Obwohl er alt und schwach war, verbrachte er die meiste Zeit bei der Tscheka und versuchte, denen das Leben zu retten, die unschuldig zum Tode verurteilt worden waren. Er schrieb regelmäßig Bittschreiben an Lenin, Gorki und Lunatscharski, in denen er sie darum bat zu intervenieren, um sinnlose Exekutionen zu verhindern. Der aktuelle Vorsitzende der Tscheka in Poltawa war ein unbarmherziger und grausamer Mann. Seine einzige Lösung für komplizierte Probleme waren Erschießungen. Die Dame lächelte traurig, als ich ihr erzählte, dass der Mann sehr freundlich zu den Mitgliedern unserer Expedition gewesen war. »Das war alles Show«, sagte sie, »wir kennen ihn besser. Wir haben täglich Gelegenheit dazu, seine Liebenswürdigkeit von diesem Balkon herab zu betrachten. Hier kommen die Opfer vorbei, die zur Schlachtbank geführt werden.«

Poltawa ist als Produktionszentrum für bäuerliche Kunsthandwerke bekannt. Wunderschöne Leinen, Stickereien, Schnürbänder und Flechtwerke gehörten zu den Produkten der Industrie der Provinz. Ich besuchte das Amt für Sozialwirtschaft, das sovnarkhoz, wo mir gesagt wurde, dass diese Branchen praktisch ausgesetzt seien. Nur eine kleine Sammlung blieb in dem Amt übrig. »Einst haben wir die ganze Welt, sogar Amerika, mit unserer kustarny Arbeit beliefert«, sagte die verantwortliche Frau, die früher Vorsitzende des Zemstvo gewesen war, das besonders stolz darauf gewesen war, diese bäuerlichen Bemühungen zu fördern. »Unsere Näharbeiten waren überall im Land bekannt, eine der feinsten Arten von Kunst, aber nun ist alles zerstört worden. Die Bäuer*innen haben ihren künstlerischen Antrieb verloren, sie sind verroht und verdorben worden.« Sie beklagte den Verlust der bäuerlichen Kunst wie eine Mutter den Verlust ihres Kindes.

Während unseres Aufenthalts in Poltawa kamen wir mit Repräsentant*innen anderer sozialer Elemente in Kontakt. Die Reaktion der Zionist*innen gegenüber dem bolschewistischen Regime war besonders interessant. Zunächst weigerten sie sich mit uns zu sprechen, offensichtlich aufgrund vorheriger Erfahrungen vorsichtig geworden. Auch die Anwesenheit unserer Sekretärin, eine Nicht-Jüdin, weckte ihr Misstrauen. Ich verabredete mich mit einigen der Zionist*innen alleine und allmählich schöpften sie mehr Vertrauen. In Moskau hatte ich, im Zusammenhang mit der Verhaftung der Zionist*innen dort, erfahren, dass die Bolschewiki dazu neigten, sie als konterrevolutionär zu betrachten. Aber die Zionist*innen in Poltawa waren sehr einfache, orthodoxe Jüd*innen, von denen mit Sicherheit keine*r den Eindruck gewinnen könne, sie seien Konspirator*innen oder aktive Feind*innen. Sie waren passiv, obwohl sie vom bolschewistischen Regime verbittert waren. Es werde behauptet, dass die Bolschewiki keine Pogrome machen und Jüd*innen nicht verfolgen würden, sagten sie, aber das sei nur in gewisser Hinsicht wahr. Es gäbe zwei Arten von Pogromen: Die lauten, gewalttätigen und die stillen. Von den beiden bevorzugten die Zionist*innen erstere. Das gewalttätige Pogrom konnte einen Tag oder eine Woche dauern, die Jüd*innen würden angegriffen und ausgeraubt, manchmal sogar ermordet, und dann sei es vorbei. Aber die stillen Pogrome dauerten die ganze Zeit an. Sie bestanden aus ständigen Diskriminierungen, Verfolgungen und Hetzjagden. Die Bolschewiki hatten die jüdischen Krankenhäuser geschlossen und nun waren kranke Jüd*innen gezwungen treife[99] in den nichtjüdischen Krankenhäusern zu essen. Das gleiche galt für die jüdischen Kinder in den bolschewistischen Verköstigungshäusern. Wenn ein*e Jüd*in und ein*e Nichtjüd*in für den gleichen Vorwurf verhaftet wurden, konnte mensch sicher sein, dass der*die Nichtjüd*in freigelassen wurde, während der*die Jüd*in ins Gefängnis kam oder manchmal sogar erschossen wurde. Sie waren die ganze Zeit Beschimpfungen und Demütigungen ausgesetzt, ganz zu schweigen davon, dass sie zu einem langsamen Hungertod verdammt waren, da jeder Handel unterdrückt worden war. Die Jüd*innen in der Ukraine litten unter einem beständigen stillen Pogrom.

Ich hatte das Gefühl, dass die Kritik der Zionist*innen am bolschewistischen Regime von einer engstirnigen, religiösen und nationalistischen Einstellung geprägt war. Sie waren orthodoxe Jüd*innen, vorrangig Handelsleute, die die Revolution ihres Betätigungsfeldes beraubt hatte. Nichtsdestotrotz war ihr Problem real – das Problem, dass die Jüd*innen in der Atmosphäre des aktiven Antisemitismus erstickten. In Poltawa waren die führenden kommunistischen und bolschewistischen Beamt*innen Nichtjüd*innen. Ihre Missgunst gegenüber den Jüd*innen äußerten sie freimütig und offen. Antisemitismus war überall in der Ukraine heftiger als sogar in den prärevolutionären Tagen.

Nachdem wir Poltawa verlassen hatten, setzten wir unsere Reise in Richtung Süden fort, aber aufgrund von fehlenden Zugfahrzeugen kamen wir nicht weiter als bis nach Fastiw. Diese einst wohlhabende Stadt war nun verarmt und auf weniger als ein Drittel ihrer früheren Bevölkerung geschrumpft. Beinahe alle Aktivitäten waren zum Erliegen gekommen. Wir fanden den Marktplatz im Zentrum der Stadt als völlig unbedeutend vor; er bestand aus wenigen Ständen, an denen es kleine Mengen an Weizenmehl, Zucker und Butter gab. Es waren mehr Frauen als Männer da und ich war besonders von dem seltsamen Ausdruck in ihren Augen betroffen. Sie sahen einer*einem nicht vollständig in die Augen, sie starrten durch eine*n hindurch, mit einem dümmlichen, gehetzten, animalischen Ausdruck. Wir erzählten den Frauen, dass wir gehört hatten, dass viele schreckliche Pogrome in Fastiw stattgefunden hatten und dass wir nach Informationen dazu suchten, um sie nach Amerika zu senden und die Menschen dort über den Zustand der Jüd*innen in der Ukraine aufzuklären. Als sich die Nachricht unserer Anwesenheit verbreitete, umgaben uns viele Frauen und Kinder, alle äußerst aufgeregt und jede versuchte uns ihre Geschichte des Horrors von Fastiw zu erzählen. Furchtbare Pogrome hätten in der Stadt stattgefunden, erzählten sie uns, das schlimmste von allen war das von Denikin im September 1919. Es dauerte acht Tage lang, 4.000 Personen wurden getötet, mehrere tausend starben an ihren Wunden und an dem Schock. Siebentausend starben vor Hunger oder Anstrengung auf den Straßen nach Kiew, als sie versuchten, dem Toben Denikins zu entkommen. Der größte Teil der Stadt war zerstört oder niedergebrannt worden, viele der älteren Jüd*innen waren in die Synagoge eingeschlossen und dort ermordet worden, während andere auf öffentliche Plätze getrieben und dort niedergemetzelt wurden. Es gab keine Frau, weder jung noch alt, die nicht geschändet worden war, die meisten von ihnen vor den Augen ihrer Väter, Ehemänner und Brüder. Die jungen Mädchen, einige von ihnen noch Kinder, mussten wiederholte Vergewaltigungen von den Soldaten Denikins ertragen. Ich verstand den grauenvollen Blick in den Augen der Frauen von Fastiw.

Männer und Frauen belagerten uns mit Bitten, ihre Angehörigen in Amerika über ihre miserable Situation zu unterrichten. Beinahe jede*r schien Verwandschaft in diesem Land zu haben. Sie strömten abends in unseren Waggon und brachten Unmengen an Briefen, die in die Staaten weitergeleitet werden sollten. Einige der Briefe trugen keine Adressen, das einfache Volk dachte, der Name wäre ausreichend. Andere hatten von ihren amerikanischen Verwandten während der Kriegsjahre und der Revolution nichts gehört, aber hofften dennoch, dass sie irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans gefunden werden würden. Es war bewegend, das tiefe Vertrauen der Menschen zu sehen, dass ihre Angehörigen in Amerika sie retten würden.

Jeden Abend füllte sich unser Waggon mit den Unglückseligen von Fastiw. Unter ihnen war ein besonders interessanter Besucher, ein ehemaliger Staatsanwalt, der wiederholt den Verursacher*innen der Pogrome getrotzt und vielen Jüd*innen das Leben gerettet hatte. Er hatte Tagebuch über die Pogrome geführt und wir verbrachten einen ganzen Abend damit, seinem Manuskript zu lauschen. Es war ein einfacher Vortrag von Fakten und Daten, schrecklich durch seine ungeschmückte Objektivität. Es war der Schrei der Seele eines Volkes, das kontinuierlich geschändet und gefoltert wurde und in täglicher Angst vor neuen Demütigungen und Gewalttaten lebte. Es gab nur einen Lichtblick in dem schrecklichen Bild: Unter den Bolschewiki hatten keine Pogrome stattgefunden. Die Dankbarkeit der Fastiwer Jüd*innen darüber war mitleiderregend. Sie klammerten sich an die Kommunist*innen wie an einen rettenden Strohhalm. Es war aufmunternd daran zu denken, dass das bolschewistische Regime wenigstens frei vom schlimmsten aller russischen Flüche war, von Pogromen gegen die Jüd*innen.

Kapitel 21: Kiew

Aufgrund zahlreicher Schwierigkeiten und Verspätungen dauerte die Reise von Fastiw nach Kiew sechs Tage und war ein anhaltender Albtraum. An jeder Haltestelle blockierten unzählige Güterwaggons die Gleise. Allerdings waren diese nicht mit Lebensmitteln beladen, um die verhungernden Städte zu ernähren, sondern sie waren vollgestopft mit menschlicher Fracht, von denen ein großer Teil Kranke waren. Entlang der ganzen Strecke waren die Wartesäle und Bahnsteige voller ungepflegter und schmutziger Menschenmassen. Noch entsetzlicher war der Anblick bei Nacht. Überall waren verzweifelte Menschen, die schrien und darum kämpften, einen Halt auf dem Zug zu finden. Sie erinnerten an die Verdammten aus Dantes Inferno, wie sie mit ihren aschgrauen Gesichtern im trüben Licht standen und verzweifelt um einen Platz kämpften. Hin und wieder hörte mensch einen gequälten Schrei durch die Dunkelheit der Nacht hallen und der bereits fahrende Zug stoppte dann: Jemensch war unter den Rädern des Zuges zu Tode gekommen.

Es war eine Erleichterung in Kiew anzukommen. Wir hatten erwartet, die Stadt in Trümmern vorzufinden, aber wir wurden angenehm überrascht. Als wir Petrograd verließen, berichtete die sowjetische Presse in mehreren Artikeln über Zerstörungen, die die Pol*innen begangen hätten, bevor sie Kiew räumten. Sie hätten beinahe die berühmte alte Kathedrale in der Stadt vernichtet, schrieben die Zeitungen, die Wasser- und Elektrizitätswerke zerstört und in verschiedenen Teilen der Stadt Feuer gelegt. Tschitscherin und Lunatscharski appellierten leidenschaftlich an die kultivierten Menschen der Welt, um gegen eine solche Barbarei zu protestieren. Das Verbrechen der Pol*innen gegen die Kunst verglichen sie mit dem der Deutschen in Reims, deren gefeierte Kathedrale von der preußischen Artillerie beschädigt worden war. Wir waren daher sehr überrascht darüber, Kiew sogar in besserem Zustand als Petrograd vorzufinden. Tatsächlich hatte die Stadt kaum gelitten, wenn mensch die zahlreichen Regierungswechsel und die sie begleitenden militärischen Auseinandersetzungen bedachte. In den Außenbezirken der Stadt waren ein paar Brücken und Gleise gesprengt worden, aber Kiew selbst war so gut wie unbeschädigt. Die Menschen sahen uns verblüfft an, als wir sie zum Zustand der Kathedrale befragten: Sie hatten die Berichterstattung aus Moskau nicht mitbekommen.

Anders als unser Empfang in Charkiw und Poltawa stellte sich Kiew als Enttäuschung heraus. Der*die Sekretär*in der Ispolkom war nicht sonderlich freundlich und schien von Sinowjews Unterschrift auf unseren Papieren recht unbeeindruckt. Unserer Sekretärin gelang es, den Vorsitzenden des Exekutivkomitees anzutreffen, aber sie kehrte entmutigt zurück: Dieser hohe Beamte war zu ungeduldig gewesen, ihren Ausführungen zuzuhören. Er sei beschäftigt und wolle nicht belästigt werden, hatte er gesagt. Wir beschlossen, dass ich als Amerikanerin mein Glück versuchen solle, mit dem Ergebnis, dass der Vorsitzende schließlich einwilligte, uns Zugang zu dem verfügbaren Material zu gewähren. Es war ein trauriges Beispiel für die Ironie des Lebens. Amerika war mit dem weltweiten Imperialismus verbündet, der danach trachtete, Russland auszuhungern und zu zerstören. Dennoch war es ausreichend zu erwähnen, dass mensch aus Amerika komme, um Zugang zu allem in Russland zu erlangen. Es war erbärmlich und ziemlich geschmacklos, von diesem Instrument Gebrauch zu machen.

In Kiew war die Feinschaft gegenüber dem Kommunismus groß, sogar die lokalen Bolschewist*innen waren gegenüber Moskau verbittert. Es stand außer Frage mit irgendeiner*m, die*der aus »dem Zentrum« kam, zu kooperieren, außer sie*er war mit der Staatsmacht bewaffnet. Die Regierungsangestellten in sowjetischen Institutionen interessierten sich ausschließlich dafür, ihre Rationen zu sichern. Die Gleichgültigkeit und Inkompetenz in der Bürokratie der Ukraine war sogar noch schlimmer als in Moskau und sie wurde durch nationalistische Ressentiments gegen »die Russ*innen« noch vergrößert. Das traf auch auf Charkiw und Poltawa zu, allerdings zu einem geringeren Grad. Hier war alleine schon die Atmosphäre mit Misstrauen und Hass auf alles aus Moskau erfüllt. Der Schwindel, den der Vorsitzende des Amts für Bildung von Charkiw mit uns getrieben hatte, war beispielhaft für die Ressentiments, die beinahe jede*r ukrainische*r Beamtin*er gegenüber Moskau hegte. Der Vorsitzende war durch und durch Ukrainer, aber er konnte den von Sinowjew und Lunatscharski unterschriebenen Berechtigungsbrief nicht offen ignorieren. Er versprach also unsere Bemühungen zu unterstützen, aber ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass Petrograd das historische Material der Ukraine »an sich riss«. In Kiew versuchte mensch nicht einmal, die Feindschaft gegenüber Moskau zu verbergen. Mensch bekam sie überall zu spüren. Aber in dem Moment, in dem das magische Wort »Amerika« ausgesprochen wurde und die Menschen verstanden, dass eine*r kein*e Kommunist*in war, weckte das ihr Interesse und sie wurden höflich, ja sogar vertraulich. Auch die ukrainischen Kommunist*innen waren da keine Ausnahme.

Die Informationen und Dokumente, die wir in Kiew sammelten, waren von der gleichen Art wie die Daten, die wir in den vorherigen Städten gesammelt hatten. Das Bildungssystem, die Fürsorge für die Kranken, die Verteilung der Arbeit und so weiter waren ähnlich dem generellen bolschewistischen System. »Wir halten uns an den Moskauer Plan«, sagte ein*e ukrainische*r Lehrer*in, »mit dem einzigen Unterschied, dass in unseren Schulen neben Russisch auch die ukrainische Sprache gelehrt wird.« Die Menschen und besonders die Kinder wirkten besser genährt und gekleidet als die in Russland: Es gab vergleichsweise mehr zu Essen und es war billiger. Wie auch in Petrograd und Moskau gab es Schauschulen und offensichtlich bemerkte keine*r den zersetzenden Einfluss einer solchen Diskriminierung, weder bei den Lehrer*innen noch den Schüler*innen. Letztere sahen mit Neid zu den Schüler*innen der bevorzugten Schulen auf und waren der Meinung, dass diese nur für die Kinder von Kommunist*innen seien, was tatsächlich nicht der Fall war. Die Lehrer*innen auf der anderen Seite wussten, wie wenig Aufmerksamkeit den gewöhnlichen Schulen geschenkt wurde und waren daher nachlässig mit ihrem Unterricht. Alle bemühten sich darum, einen Platz an den Schauschulen zu bekommen, in denen es Sonderrationen und abwechslungsreicheres Essen gab.

Der Vorsitzende des Amtes für Gesundheit war ein aufgeweckter und kompetenter Mann, einer der wenigen Beamt*innen in Kiew, der Interesse für unsere Expedition und unsere Arbeit zeigte. Er verbrachte viel Zeit damit, uns die Arbeitsweise seiner Organisation zu erklären und uns interessante Orte, die wir besuchen sollten, und Materialien, die wir sammeln könnten, zu empfehlen. Er lenkte unsere Aufmerksamkeit besonders auf die jüdische Klinik für verkrüppelte Kinder.

Zuständig für letztere war ein kultivierter und charmanter Mann, Dr. N. Er leitete die Klinik seit zwanzig Jahren und führte uns gerne und mit Stolz herum und erzählte uns die Geschichte des Instituts.

Die Klinik war früher eine der berühmtesten in ganz Russland gewesen, der Stolz der lokalen Jüd*innen, die sie aufgebaut und betrieben hatten. Aber während der letzten Jahre war die Wirksamkeit der Klinik durch die häufigen Regierungswechsel beschnitten worden. Sie fiel Verfolgungen und wiederholten Pogromen zum Opfer. Schwerkranke jüdische Patient*innen wurden oft aus ihren Betten geworfen, um den Freund*innen dieses oder jenes Regimes Platz zu machen. Die Offiziere der Armee Denikins waren am brutalsten. Sie trieben die jüdischen Patient*innen auf die Straße, erniedrigten und missbrauchten sie und hätten sie getötet, wenn das Klinikpersonal nicht dazwischengegangen wäre, das die Kranken trotz der Gefahr für ihre eigenen Leben beschützte. Nur die Tatsache, dass die meisten Angestellten Nichtjüd*innen waren, rettete die Klinik und ihre Patient*innen. Aber der Schock führte bei vielen zum Tod und viele Patient*innen erlitten ein Trauma [shattered nerves].

Der Arzt erzählte mir auch die Geschichte einiger Patient*innen, von denen die meisten Opfer der Pogrome in Fastiw waren. Unter ihnen waren Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, die schwach und ausgehungert aussahen und in deren Gesichtern sich die Angst eingebrannt hatte. Sie hatten all ihre Verwandten verloren, in einigen Fällen war ihre gesamte Familie vor ihren Augen getötet worden. Diese Kinder lägen nachts oft wach, sagte der Arzt, aus Angst vor ihren schrecklichen Träumen. Mensch hatte alles nur Erdenkliche versucht, aber bisher war es nicht gelungen, die unglücklichen Kinder von der Erinnerung an ihre furchtbaren Erlebnisse in Fastiw zu befreien. Der Arzt zeigte mir eine Gruppe junger Mädchen im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren, die von Denikins Pogrom am schlimmsten getroffen worden waren. Alle von ihnen waren wiederholt vergewaltigt worden und waren in verstümmeltem Zustand, als sie in die Klinik kamen; es würde Jahre dauern, ihre Gesundheit wiederherzustellen. Der Arzt betonte die Tatsache, dass es unter der Herrschaft der Bolschewiki keine Pogrome gegeben hatte. Für ihn und sein Personal war es eine große Erleichterung zu wissen, dass seine Patient*innen nicht länger in solcher Gefahr waren. Aber die Klinik hatte andere Schwierigkeiten. Es gab ständige Einmischung durch politische Kommissar*innen und den täglichen Kampf um Versorgung. »Ich verbringe meine meiste Zeit in verschiedenen Ämtern«, sagte er, »anstatt mich meinen Patient*innen zu widmen. Ignorante Beamt*innen haben die Macht über den medizinischen Beruf und belästigen die Ärzt*innen beständig in ihrer Arbeit.« Der Arzt war selbst wiederholt wegen Sabotage verhaftet worden, weil er nicht in der Lage gewesen war, den zahlreichen Dekreten und Befehlen, die sich häufig gegenseitig widersprachen, Folge zu leisten. Das war das Ergebnis eines Systems, in dem politischem Nutzen der Vorzug vor fachlicher Leistung gegeben wurde. Es kam häufig vor, dass ein*e erstklassige*r Ärzt*in mit großer Reputation und langjähriger Erfahrung an einen weit entfernten Ort versetzt wurde, um seine*ihre Stelle für eine*n kommunistische*n Ärzt*in freizumachen. Unter solchen Bedingungen wurden alle Bemühungen erstickt. Außerdem hatten die generellen Verdächtigungen gegenüber der Intelligenzija einen demoralisierenden Effekt. Es stimmte, dass viele dieser Klasse Sabotage geleistet hatten, aber es gab auch diejenigen, die heroische und selbstaufopfernde Arbeit geleistet hatten. Die Bolschewiki weckten mit ihrer undifferenzierten Feindschaft gegenüber der Intelligenzija als Klasse Vorurteile und Zorn, die die treibenden Kräfte des kulturellen Lebens des Landes vergiftete. Die russische Intelligenzija hatte mit ihrem eigenen Blut den Boden der Revolution gedüngt, und nun war es ihr verwehrt, die Früchte ihres langen Kampfes zu ernten. »Ein tragisches Schicksal«. bemerkte der Arzt, »wenn es einer*einem nicht gelingt, das über die eigene Arbeit zu vergessen, ist einer*einem das Dasein unerträglich.«

Die Institution für verkrüppelte Kinder stellte sich als eine sehr modellhafte und moderne Klinik heraus, die im Herzen eines großen Parks gelegen war. Sie war den beschädigten Kreaturen mit verrenkten Gliedmaßen und defomierten Körpern gewidmet, den Opfern des Großen Krieges, von Krankheiten und Hunger. Die Kinder sahen gealtert und verwelkt aus, wie Father Time waren sie alt geboren worden. Sie lagen in Reihen in sauberen weißen Betten und wurden von der warmen Sonne des ukrainischen Sommers gebraten. Der leitende Arzt, der uns durch das Institut führte, schien von seinen Zöglingen heißgeliebt zu werden. Sie waren begierig und erfreut ihn zu sehen, wenn er sich jedem der hilflosen Kinder näherte und sich liebevoll über sie beugte, um sich nach ihrer Gesundheit zu erkundigen. Die Klinik existierte bereits seit vielen Jahren und war die erste ihrer Art in Russland. Die Ausstattung für die Behandlung geschädigter und verkrüppelter Kinder gehörte zu den modernsten. »Seit dem Krieg und der Revolution haben wir das Gefühl, dass wir hinter die aktuellen Entwicklungen zurückfallen«, sagte der Arzt, »wir sind schon so viele Jahre von der zivilisierten Welt abgeschnitten. Aber trotz der verschiedenen Regierungswechsel haben wir danach gestrebt unsere hohen Standards beizubehalten und den unglücklichen Opfern von Konflikten und Krankheiten zu helfen.« Die Versorgung der Institution wurde durch die Regierung bewilligt und die Krankenhäuser unterlagen keiner Einmischung, obwohl, wie mir der Arzt andeutete, er von den Bolschewiki wegen seiner politischen Neutralität als konterrevolutionär angesehen wurde.

In der Klinik war eine große Zahl an Kindern untergebracht; einige von ihnen, die laufen konnten, studierten Musik und Kunst, und wir hatten die Gelegenheit einem informellen Konzert beizuwohnen, das die Kinder und ihre Lehrer*innen zu unseren Ehren veranstalteten. Einige von ihnen spielten die balalaika[100] auf kunstvollste Art und Weise und es war tröstend zu sehen, wie diese beschädigten Kinder Zerstreuung in den Rhythmen der Volkslieder der Ukraine fanden.

Schon zu Beginn unseres Aufenthalts in Kiew stellten wir fest, dass die wertvollsten Materialien für das Museum nicht in den sowjetischen Institutionen zu finden waren, sondern dass sie im Besitz anderer politischer Gruppen und Privatpersonen waren. Die besten statistischen Daten zu Pogromen beispielsweise besaß ein ehemaliger Minister des Rada-Regimes[101] der Ukraine. Ich konnte den Mann aufspüren und meine Überraschung war groß, als er mir, nachdem er erkannt hatte, mit wem er es zu tun hatte, zahlreiche Ausgaben des Mother Earth-Magazins zeigte, das ich in Amerika herausgegeben hatte. Der ehemalige Minister organisierte ein kleines Treffen, zu dem er einige Autor*innen und Dichter*innen und Männer, die in der jüdischen Kulturliga aktiv waren, einlud, um sie mit einigen Mitgliedern unserer Expedition bekannt zu machen. Die Versammlung bestand aus den klügsten Köpfen der lokalen jüdischen Intelligenzija. Wir diskutierten über die Revolution, die Methoden der Bolschewiki und die Probleme der Jüd*innen. Die meisten Anwesenden waren der sowjetischen Regierung trotz ihrer Opposition zu den kommunistischen Theorien wohlgesonnen. Sie hatten das Gefühl, dass die Bolschewiki trotz ihrer vielen Pfuschereien danach strebten, die Interessen Russlands und der Revolution weiter voranzubringen. Jedenfalls waren die Jüd*innen unter dem kommunistischen Regime keinen Pogromen ausgesetzt gewesen, wie unter allen früheren Regimen der Ukraine. Diese jüdischen Intellektuellen argumentierten, dass die Bolschewiki den Jüd*innen immerhin erlauben würden zu leben und sie deshalb jeder anderen Regierung vorzuziehen wären und von den Jüd*innen unterstützt werden sollten. Sie hatten Angst vor dem wachsenden Antisemitismus in Russland und waren von dem Gedanken an einen Sturz der Bolschewiki entsetzt. Ein umfassendes Massaker an den Jüd*innen würde zweifelsfrei folgen, glaubten sie.

Einige der Jüngeren vertraten eine andere Meinung. Das bolschewistische Regime habe zu einem wachsenden Hass auf die Jüd*innen geführt, weil die Massen den Eindruck hätten, dass die meisten Kommunist*innen Jüd*innen seien, sagten sie. Kommunismus stünde für die Zwangseintreibung von Steuern, Strafexpeditionen und die Tscheka. Die populäre Feindschaft gegenüber den Kommunist*innen drücke sich daher durch Hass auf alle Jüd*innen aus. Auf diese Art und Weise hätte die bolschewistische Tyrannei Öl ins Feuer des latenten Antisemitismus der Ukraine gegossen. Schlimmer noch: Um zu beweisen, dass sie die Jüd*innen nicht bevorzugen, hätten die Bolschewiki das andere Extrem gewählt und würden Jüd*innen häufig für Dinge verhaften und bestrafen, für die Nichtjüd*innen straffrei davonkommen würden. Die Bolschewiki hätten außerdem kulturelle Arbeit im Süden zur Förderung der ukrainischen Sprache finanziert, während sie solche Bestrebungen zur Förderung der jüdischen Sprache zugleich zu verhindern suchten. Es stimme, dasss die Kulturliga weiterhin existieren dürfe, aber ihre Arbeit werde bei jeder Gelegenheit behindert. Kurz gesagt: Die Bolschewiki erlaubten den Jüd*innen zwar zu leben, aber nur in physischer Hinsicht. Kulturell seien sie zum Tode verdammt. Die Jewkom (Jüdische Kommunistische Abteilung)[102] würde natürlich jede Begünstigung und Unterstützung von der Regierung erhalten, aber ihre Mission sei es, den Jüd*innen der Ukraine das Evangelium der Diktatur des Proletariats zu predigen. Es sei bemerkenswert, dass die Jewkom antisemitischer als die Ukrainer*innen selbst sei. Wenn sie die Macht hätten, würden sie Pogrome gegenüber jeder nichtkommunistischen jüdischen Organisation lostreten und alle jüdischen Bildungsbestrebungen zerstören. Diese jungen Teilnehmer*innen betonten, dass sie einen Sturz der bolschewistischen Regierung nicht begrüßen würden, sie sie aber auch nicht unterstützen könnten.

Ich hatte das Gefühl, dass beide jüdischen Fraktionen einen ausschließlich nationalistischen Blick auf die Situation in Russland hatten. Ich konnte ihre persönliche Einstellung gut verstehen, sie war das Ergebnis ihres eigenen Leidens und der Verfolgung der Jüd*innen. Dennoch war mein Hauptanliegen die Revolution und ihre Auswirkungen auf Russland als Ganzes. Ob die Bolschewiki unterstützt werden sollten oder nicht, konnte nicht bloß von ihrer Einstellung gegenüber den Jüd*innen und der Jüd*innenfrage abhängen. Letzteres war sicher eine sehr entscheidende und dringliche Frage, besonders in der Ukraine, doch die grundsätzliche Frage war viel größer. Sie umfasste die vollständige ökonomische und soziale Emanzipation aller Menschen in Russland, die Jüd*innen eingeschlossen. Wenn die Methoden und Praktiken der Bolschewiki ihnen nicht durch die Umstände aufgezwungen wurden, wenn sie von ihren eigenen Theorien und Prinzipien eingeschränkt wurden und wenn ihr einziges Anliegen war, die eigene Macht zu sichern, konnte ich sie nicht unterstützen. Sie mochten keine Pogrome speziell gegen Jüd*innen veranlasst haben, aber wenn sie Pogrome gegen die gesamte Bevölkerung Russlands verübten, waren sie in ihrem Anspruch, eine revolutionäre Partei zu sein, gescheitert. Ich war noch nicht bereit zu sagen, dass ich eine klare Vorstellung von allen teilhabenden Probleme gewonnen hätte, aber meine bisherigen Erfahrungen veranlassten mich dazu, zu denken, dass es die generelle bolschewistische Konzeption von Revolution war, die falsch war und deren praktische Anwendung notwendigerweise zu der großen russischen Katastrophe führen musste, in der die jüdische Tragödie nur eine kleine Rolle spielte.

Mein Gastgeber und seine Freund*innen konnten meinen Ansichten nicht zustimmen: Wir vertraten verschiedene Lager. Aber das Treffen war dennoch äußerst interessant und wir vereinbarten, dass wir uns vor unserer Abreise aus der Stadt noch einmal treffen würden.

Eines Tages sah ich eine Soldat*inneneinheit der Roten Armee am Bahnhof, als ich gerade zu unserem Waggon zurückging. Auf meine Nachfrage bekam ich die Antwort, dass ausländische Gesandte aus Moskau erwartet werden würden und dass die Soldat*innen herbestellt worden waren, um an einer Demonstration zu ihren Ehren teilzunehmen. Gruppen uniformierter Männer standen herum und sprachen über die Ankunft der Gesandtschaft. Es gab viele Unmutsbekundungen, weil mensch die Soldat*innen so lange hatte warten lassen. »Diese Menschen kommen nach Russland, nur um uns zu mustern«, sagte einer der Männer der Roten Armee, »Wissen sie überhaupt irgendetwas über uns oder sind sie überhaupt daran interessiert, wie wir leben? Die sicher nicht. Für die ist das ein Urlaub. Sie werden von der Regierung eingekleidet und ernährt, aber sie sprechen niemals mit uns und alles, was sie zu sehen bekommen, ist, wie wir vorübermarschieren. Wir liegen hier seit Stunden in der brennend heißen Sonne, während die Delegierten vermutlich an einem anderen Bahnhof gefeiert werden. Das ist Kameradschaft und Gleichberechtigung für euch!«

Ich hatte solche Empfindungen schon früher vernommen, aber es war überraschend, sie von Soldat*innen zu hören. Ich dachte an Angelica Balabanowa, die die italienischen Delegierten begleitete und ich fragte mich, was sie denken würde, wenn sie wüsste, wie die Männer sich fühlten. Vermutlich war ihr nie in den Sinn gekommen, dass diese »ignoranten russischen Bäuer*innen« in Militäruniformen den Schein offizieller Demonstrationen durchblickten.

Am folgenden Tag erhielten wir eine Einladung von Balabanowa an einem Bankett zu Ehren der italienischen Delegierten teilzunehmen. Neugierig darauf, die Gäste aus dem Ausland zu treffen, folgten einige Mitglieder unserer Expedition der Einladung.

Die Veranstaltung fand im Gebäude der ehemaligen Handelskammer statt, die zu diesem Anlass reichlich geschmückt worden war. Im Hauptbankettsaal standen lange Tische, die schwer beladen waren mit frisch geschnittenen Blumen, verschiedenen Arten südlicher Früchte und Wein. Der Anblick erinnerte eine*n an die Gelage der alten Bourgeoisie und ich konnte sehen, dass sich Angelica sehr unwohl bei dieser üppigen Zurschaustellung von Tafelsilber und Reichtum fühlte. Das Bankett begann mit den üblichen Toasts, die Gäste tranken auf Lenin, Trotzki, die Rote Armee und die Dritte Internationale, die gesamte Gesellschaft erhob sich immer nach jedem Toast, wenn die revolutionäre Hymne gespielt wurde, während die Soldat*innen und Offizier*innen nach guter alter Militärtradition stramm standen.

Unter den Delegierten waren zwei junge Anarcho-Syndikalist*innen aus Frankreich. Sie hatten von unserer Anwesenheit in Kiew gehört und hatten den ganzen Tag erfolglos nach uns gesucht. Nach dem Bankett würden sie direkt nach Petrograd abreisen, so dass wir nur wenig Zeit zur Verfügung hatten. Auf dem Weg zum Bahnhof erzählten die Delegierten, dass sie eine Menge Material über die Revolution gesammelt hätten, das sie in Frakreich publizieren wollten. Sie waren zu der Überzeugung gelangt, dass mit dem bolschewistischen Regime etwas nicht stimme: Sie hatten erkannt, dass die Diktatur des Proletariats alleine in den Händen der kommunistischen Partei liege, während die einfachen Arbeiter*innen wie eh und je versklavt wurden. Ihre Intention war es, ihren Genoss*innen in der Heimat offen über diese Angelegenheiten zu berichten und ihren Bericht durch das in ihrem Besitz befindliche Material zu untermauern, erzählten sie. »Glaubt ihr, ihr schafft es, die Dokumente rauszuschmuggeln?«, fragte ich La Petit, einen der Delegierten. »Du glaubst doch nicht, dass sie mich daran hinden könnten, meine eigenen Notizen mitzunehmen«, antwortete er. »Die Bolschewiki würden es nicht wagen, so weit zu gehen – jedenfalls nicht gegenüber Delegierten aus dem Ausland.« Er schien so sicher zu sein, dass ich kein Interesse daran hatte, weiter nachzubohren. In dieser Nacht verließen die Delegierten Kiew und kurze Zeit darauf reisten sie aus Russland ab. Sie wurden niemals wieder gesehen. Ohne ihr Verschwinden bewerten zu wollen, möchte ich bloß erwähnen, dass, als ich mehrere Monate später nach Moskau zurückkehrte, mensch sich erzählte, dass die beiden Anarcho-Syndikalist*innen mit mehreren anderen Männern, die sie begleitet hätten, von einem Sturm in der Nähe der Küste von Finnland überrascht worden seien und alle ertrunken seien. Es gab Gerüchte über ein Verbrechen, allerdings bin ich nicht geneigt, dieser Geschichte Glauben zu schenken, besonders angesichts der Tatsache, dass zusammen mit den Anarcho-Syndikalist*innen ein*e Kommunist*in von großem Ansehen in Moskau umgekommen ist. Aber ihr Verschwinden mit all den Dokumenten, die sie gesammelt hatten, wurde dennoch nie zufriedenstellend geklärt.

Die Zimmer, die den Mitgliedern unserer Expedition zugewiesen wurden, waren in einem Haus in einer Passage, die auf den Kreschatik, die Hauptstraße von Kiew, führte. Früher war das die Wohngegend der Wohlhabenden in der Stadt gewesen und die feinen Häuser, obwohl in letzter Zeit vernachlässigt, sahen immer noch beeindruckend aus. In der Passage waren auch zahlreiche Geschäfte, Ruinen einstmaliger Pracht, die die Nachbarschaft mit Wohlstand verpflegten. In diesen Geschäften waren immer noch große Vorräte an Gemüse, Früchten, Milch und Butter. Sie waren vorrangig im Besitz alter Jüd*innen, deren Kräfte nicht für irgendetwas anderes Nützliches genutzt werden konnten – orthodoxe Jüd*innen, für die die Revolution und die Bolschewiki ein Reizthema waren, weil sie »all ihre Geschäfte ruiniert« hatten. Die kleinen Geschäfte ermöglichten es ihren Besitzer*innen kaum zu überleben, schlimmer noch, sie waren in ständiger Gefahr vor Razzien der Tscheka, die sie bei dieser Gelegenheit ihrer Vorräte enteignete. Das Erscheinungsbild dieser Geschäfte gab keinerlei Aufschluss darüber, warum die Regierung es lohnenswert fand, diese zu razzen. »Sollte die Tscheka es nicht vorziehen, die Waren der großen Delikatessen- und Obstgeschäfte auf dem Kreschatik zu beschlagnahmen?«, fragte ich einen alten jüdischen Ladeninhaber. »Nicht wirklich«, antwortete er. »Diese Geschäfte sind immun, weil sie viele Steuern zahlen.«

Am Morgen nach dem Bankett ging ich hinunter zu dem kleinen Lebensmittelgeschäft, in dem ich meine Einkäufe zu erledigen pflegte. Der Ort war geschlossen und ich war überrascht, dass nicht eines der kleinen Geschäfte in der Nähe geöffnet hatte. Zwei Tage später erfuhr ich, dass all die Läden am Abend des Banketts gerazzt worden waren, um die ausländischen Delegierten zu bewirten. Ich schwor mir, nie wieder an einem bolschewistischen Bankett teilzunehmen.

Unter den Mitgliedern der Kulturliga traf ich einen Mann, der in Amerika gelebt hatte, aber seit einigen Jahren bei seiner Familie in Kiew lebte. Sein Haus stellte sich als eines der gastfreundlichsten Häuser heraus, die ich während meines Aufenthalts im Süden besucht hatte, und da er viele Besucher*innen aus den unterschiedlichen sozialen Klassen hatte, war es mir möglich, viele Informationen über die jüngere Geschichte der Ukraine zu sammeln. Mein Gastgeber war kein Kommunist: Obwohl er das bolschewistische Regime kritisch sah, war er keineswegs feindselig. Er pflegte zu sagen, dass der größte Fehler der Bolschewiki ihr Mangel an psychologischem Einfühlungsvermögen war. Er versicherte, dass keine Regierung zuvor jemals einen so günstigen Start in der Ukraine gehabt hätte wie die Kommunist*innen. Die Menschen hatten unter den verschiedenen Besetzungen so sehr gelittten und waren von jedem neuen Regime so sehr unterdrückt worden, dass sie frohlockten, als die Bolschewiki nach Kiew kamen. Alle hofften, dass diese Befreiung bringen würden. Aber die Kommunist*innen zerstörten schon bald alle Illusionen. Innerhalb weniger Monate stellten sie sich als vollkommen unfähig heraus, die Geschicke der Stadt zu lenken, ihre Methoden weckten die Feindseligkeit der Menschen und der Terror der Tscheka verwandelte selbst die Freund*innen der Kommunist*innen in erbitterte Feind*innen. Keine*r hatte etwas gegen die Nationalisierung der Industrie einzuwenden und natürlich hatte mensch erwartet, dass die Bolschewiki Enteignungen durchführen würden. Aber als die Bourgeoisie ihres Besitzes erleichtert worden war, sah mensch, dass nur die Räuber*innen profitiert hatten. Weder die Menschen insgesamt, noch wenigstens die Klasse der Proletarier gewann irgendetwas. Kostbarer Schmuck, Silberbesteck, Möbel, praktisch der gesamte Reichtum Kiews schien zu verschwinden und es wurde nie wieder etwas von ihm gehört. Später stolzierten Mitglieder der Tscheka mit ihren Frauen durch die Straßen, die mit den Kostbarkeiten der Bourgeoisie bekleidet waren. Wenn private Geschäftssitze geschlossen wurden, wurden die Türen versperrt und versiegelt und Wachen aufgestellt. Aber innerhalb weniger Wochen waren die Geschäfte leergeräumt. Diese Art von »Verwaltung« und die zahlreichen erdrückenden Gesetze und Erlasse, die sich oft gegenseitig widersprachen, dienten der Tscheka als Vorwand, die Bevölkerung zu terrorisieren und zu erpressen und erweckten allgemeinen Hass auf die Bolschewiki. Die Menschen hatten sich gegen Petljura[103], Denikin und die Polen gewandt. Sie hatten die Bolschewiki mit offenen Armen willkommen geheißen. Aber letztere hatten sie ebenso wie erstere enttäuscht.

»Mittlerweile haben wir uns an die Situation gewöhnt«, sagte mein Gastgeber, »wir lassen uns einfach treiben und versuchen das Beste daraus zu machen.« Aber er hielt es für eine Schande, dass die Bolschewiki so eine Gelegenheit verspielt hatten. Sie waren unfähig, das Vertrauen der Menschen zu bewahren und dieses Vertrauen in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Bolschewiki waren nicht nur daran gescheitert, die großen Fabriken zu betreiben, sie hatten auch die kleine kustarnaya Arbeit zerstört. Zum Beispiel habe es tausende von Kunsthandwerker*innen in der Provinz von Kiew gegeben, die meisten von ihnen hatten für sich selbst gearbeitet, ohne irgendeine*n auszubeuten. Sie waren unabhängige Produzent*innen, die ein bestimmtes Bedürfnis der Gemeinschaft befriedigten. Die Bolschewiki haben in ihrem rücksichtslosen Plan der Nationalisierung diese Betätigungen ausgesetzt, ohne in der Lage dazu zu sein, diese durch etwas anderes zu ersetzen. Sie konnten weder den Arbeiter*innen noch den Bäuer*innen irgendetwas geben. Das Proletariat in der Stadt hatte die Wahl, in der Stadt zu verhungern oder aufs Land zurückzukehren. Natürlich bevorzugten sie letzteres. Diejenigen, die nicht aufs Land zurückkehren konnten, verdienten ihr Geld mit Handel, beispielsweise indem sie Schmuck kauften und verkauften. Jede*r in Russland war praktisch zu einer*einem Händler*in geworden, sowohl die bolschewistische Regierung als auch private Spekulant*innen. »Du hast keine Vorstellung davon, welche illegalen Geschäfte die Beamten in sowjetischen Insitutionen treiben«, sagte mein Gastgeber zu mir, »und das Gleiche gilt für die Armee. Mein Neffe, ein Offizier der Roten Armee, ein Kommunist, ist gerade erst von der polnischen Front zurückgekehrt. Er kann dir von diesen Gebräuchen in der Armee erzählen.«

Ich war besonders begierig, mit dem jungen Offizier zu sprechen. Auf meinen Reisen hatte ich viele Soldat*innen getroffen und den Eindruck erlangt, dass die meisten von ihnen die alte Sklav*innenpsychologie bewahrt hatten und sich vollständig der Militärdisziplin unterworfen hatten. Einige jedoch waren hellwach und konnten klar sehen, was um sie herum geschah. Ein kleiner Bestandteil der Roten Armee war durch die Revolution vollkommen verändert worden. Sie waren der Beweis für das Heranreifen neuen Lebens und neuer Formen des Lebens, die Russland trotz der Tyrannei und Unterdrückung der Bolschewiki vom Rest der Welt unterschieden. Für diesen Teil hatte die Revolution eine tiefe Bedeutung. Sie sahen in ihr etwas Lebendiges, das nicht einmal die täglichen Befehle in die engstirnige kommunistische Form pressen konnten. Es war ihre Überzeugung und ihr allgemeiner Eindruck, dass die Bolschewiki den Menschen nicht die Treue gehalten hatten. Sie sahen den kommunistischen Staat auf Kosten der Revolution erstarken und einige von ihnen gingen sogar soweit, die Meinung zu äußern, dass die Bolschewiki die Feind*innen der Revolution geworden waren. Aber sie alle fühlten, dass sie momentan nichts dagegen tun konnten. Sie waren entschlossen zuerst die äußeren Feind*innen loszuwerden. »Dann«, so sagten sie, »werden wir die inneren Feind*innen angreifen.«

Der Rote-Armee-Offizier stellte sich als gutaussehender, zutiefst aufrichtiger Kerl heraus. Zunächst war er abgeneigt zu reden, aber im Verlaufe des Abends wurde er weniger verlegen und drückte seine Gefühle frei aus. Er habe an der Front viel Korruption erlebt, sagte er. Aber an der Nachschubbasis, an der er seine Pflicht einige Zeit geleistet habe, sei es noch schlimmer. Die Männer an der Front hätten praktisch keine Kleidung oder Schuhe. Die Nahrungsmittel seien nicht ausreichend und die Armee werde von Typhus und Cholera übel zugerichtet. Dennoch sei der Geist der Männer wundervoll. Sie kämpften tapfer und bereitwillig, weil sie an ihr Ideal eines freien Russlands glaubten. Aber während sie für die große Sache kämpften und starben, säßen die höheren Offiziere, die sogenannten tovaristchi, in sicherer Entfernung und tränken und spielten dort und würden reich durch Spekulationen. Die Nachschübe, die so dringend an der Front gebraucht würden, würden zu fabelhaften Preisen an Spekulant*innen verkauft werden.

Der junge Offizier war von der Situation so entmutigt gewesen, dass er daran gedacht hatte, Selbstmord zu begehen. Aber nun war er entschlossen, an die Front zurückzukehren. »Ich sollte zurückgehen und meinen Kameraden erzählen, was ich gesehen habe«, sagte er, »unsere eigentliche Arbeit wird beginnen, wenn wir die Invasion von außen zurückgeschlagen haben. Dann sollten wir diejenigen verfolgen, die die Revolution kaputthandeln.«

Ich hatte das Gefühl, dass es keinen Anlass zur Verzweiflung gäbe, solange Russland solche Geister besaß.

Als ich auf mein Zimmer zurückkehrte, traf ich dort unsere Sekretärin, die darauf wartete, von dem wertvollen Fund zu berichten, den sie gemacht hatte. Er bestand aus reichhaltigen Materialien zu Denikin, die in der Stadtbibliothek aufgestapelt waren und offensichtlich von allen vergessen worden waren. Die*der Bibliothekar*in, ein*e aufrichtige*r ukrainische*r Nationalist*in verweigerte dem »russischen« Museum die Erlaubnis, die Materialien mitzunehmen, obwohl sie für Kiew von keinem Nutzen waren und buchstäblich in einer finsteren Ecke beerdigt waren und dort drohten, beschädigt oder vernichtet zu werden. Wir entschieden, beim Amt für Bildung Beschwerde einzulegen und das »Amerikanische Amulett« einzusetzen. Es wurde zu einem Running Gag unter den Mitgliedern der Expedition in schwierigen Situation Zuflucht beim »Amulett« zu suchen. Solche Angelegenheiten wurden immer Alexander Berkman und mir als den »Amerikaner*innen« übertragen.

Es bedurfte beachtlichen Zuredens, bis sich der Vorsitzende für die Angelegenheit interessierte. Er lehnte ab, bis ich ihn schließlich fragte: »Willst du, dass in Amerika bekannt wird, dass ihr es vorzieht, wertvolles historisches Material in Kiew verrotten zu lassen, statt es dem Petrograder Museum zu übergeben, das sicher ein weltweites Zentrum für Studien über die Russische Revolution, in der die Ukraine eine so wichtige Rolle spielt, werden wird?« Schließlich erließ der Vorsitzende den gewünschten Befehl und unsere Expedition nahm das Material in Besitz; zur großen Freude unserer Sekretärin, für die das Museum zur wichtigsten Sache in ihrem Leben geworden war.

Am Nachmittag des gleichen Tages wurde ich von einer Anarchistin in Begleitung eines jungen Bäuer*innenmädchens besucht, das mir im Vertrauen als Machnos Frau[104] vorgestellt wurde. Mein Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen: Die Anwesenheit dieses Mädchens in Kiew bedeutete den sicheren Tod für diejenigen, bei denen sie von den Bolschewiki entdeckt werden würde. Das betraf auch unseren Gastgeber und seine Familie, denn im kommunistischen Russland erlitten diejenigen, die ein Mitglied von Machnos povstantsi beherbergten – selbst wenn sie das unwissentlich taten –, meist schlimmste Konsequenzen. Ich zeigte mich überrascht über den Leichtsinn der jungen Frau, buchstäblich ins Herz des Feindes zu kommen. Aber sie erklärte, dass Machno entschlossen sei, uns zu erreichen und er keiner*keinem anderen seine Nachricht anvertrauen wollte und sie sich deshalb bereit erklärt hatte, zu kommen. Es war offensichtlich, dass die Gefahr alles Beängstigende für sie verloren hatte. »Wir leben seit Jahren in ständiger Gefahr«, bemerkte sie kurzangebunden.

Von ihrer Verkleidung entblößt enthüllte sie ihre große Schönheit. Sie war eine Frau im Alter von 25 mit einer Fülle an samtschwarzem Haar von auffallendem Glanz. »Nestor hatte gehofft, dass du und Alexander Berkman es einrichten könnten zu kommen, aber er wartete vergebens«, begann sie. »Deshalb schickt er nun mich, um euch über den Kampf zu erzählen, den er führt, und er hofft, dass ihr seinen Fall in der Welt draußen bekannt macht.« Bis spät in die Nacht erzählte sie uns die Geschichte von Machno, die in allen wesentlichen Aspekten mit der, die uns von den beiden ukrainischen Besuchern in Petrograd erzählt worden war, übereinstimmte. Sie verweilte bei den Methoden, die die Bolschewiki eingesetzt hatten, um Machno zu vernichten und den Vereinbarungen, die sie wiederholt mit ihm getroffen hatten und von denen die Kommunist*innen jede in dem Moment brachen, in dem die unmittelbare Gefahr, die von den Invasoren ausging, gebannt war. Sie sprach von der brutalen Verfolgung der Angehörigen von Machnos Armee und von den zahlreichen Versuchen der Bolschewiki, Nestor zu fangen und zu töten. Weil ihnen das nicht gelungen war, hatten die Bolschewiki seinen Bruder ermordet und ihre eigene Familie, einschließlich ihres Vaters und ihres Bruders, ausgelöscht. Sie lobte die revolutionäre Hingabe, das Heldentum und das Durchhaltevermögen der povstantsi angesichts der größten Schwierigkeiten, und sie unterhielt uns mit den Legenden, die die Bäuer*innen um Machnos Person gewoben hatten. Zum Beispiel hatte sich unter der Landbevökerung der Glaube verbreitet, dass Machno unverwundbar sei, weil er in all den Jahren des Krieges niemals verwundet worden war, trotz der Tatsache, dass er seine Angriffe immer selbst anführte.
Sie war eine gute Gesprächspartnerin und ihre tragische Geschichte wurde von humorvollen Passagen aufgelockert. Sie erzählte viele Anekdoten über die Heldentaten Machnos. Einmal hatte er eine Hochzeitsfeier in einem vom Feind besetzten Dorf arrangiert. Es war eine Feierlichkeit, an der alle teilnahmen. Während die Menschen auf dem Marktplatz fröhlich feierten und die Soldat*innen den Versuchungen des Alkohols erlagen, umstellten Machnos Männer das Dorf und besiegten die dort stationierten, überlegenen Kräfte mit Leichtigkeit. Nachdem er eine Stadt eingenommen hatte, zwang Machno stets die reichen Bäuer*innen, die kulaki, ihren überschüssigen Reichtum abzugeben, der dann unter den Armen aufgeteilt wurde, und von dem Machno einen Teil für seine Armee einbehielt. Dann pflegte er ein Treffen der Dorfbewohner*innen einzuberufen, auf dem er ihnen die Ziele der povstantsi Bewegung erklärte und seine Literatur verteilte.

Bis spät in die Nacht erzählte die junge Frau die Geschichte von Machno und der Machnowtschina. Ihre Stimme, die sie wegen der gefährlichen Situation gesenkt hielt, klang erfüllt und milde, ihre Augen funkelten vor intensiver Regung. »Nestor will, dass ihr den Genoss*innen aus Amerika und Europa erzählt, dass er einer von ihnen ist, ein Anarchist, dessen Ziel es ist, die Revolution gegen alle Feind*innen zu verteidigen«, schloss sie. »Er versucht den angeborenen rebellischen Geist der ukrainischen Bäuer*innenschaft in organisierte anarchistische Bahnen zu lenken. Er hat den Eindruck, dass er das nicht alleine erreichen kann, nicht ohne die Hilfe der Anarchist*innen Russlands. Er selbst ist vollauf mit Militärangelegenheiten beschäftigt, weshalb er seine Genoss*innen im ganzen Land eingeladen hat, Verantwortung für die Bildungsarbeit zu übernehmen. Sein ultimatives Ziel ist es, ein kleines Territorium in der Ukraine zu erobern und dort eine freie Kommune aufzubauen. Unterdessen ist er bestrebt, alle reaktionären Kräfte zu bekämpfen.«

Machno war sehr bestrebt, persönlich mit Alexander Berkman und mir zu reden und er schlug folgenden Plan vor. Er würde es arrangieren eine beliebige kleine Stadt oder ein Dorf zwischen Kiew und Charkiw, in der unser Waggon sein würde, einzunehmen. Da der Ort völlig überraschend besetzt werden würde, würde das ohne jede Gewalt vonstatten gehen. Diese List würde den Eindruck erwecken, dass wir gefangen genommen worden seien und den anderen Mitgliedern der Expedition würde Schutz garantiert werden. Nach unserem Treffen würden wir sicheres Geleit zu unserem Waggon bekommen. Zugleich würde uns der Plan vor den Bolschewiki schützen, da er im Stil einer Militäroperation stattfinden würde, ganz ähnlich eines gewöhnlichen Überfalls Machnos. Der Plan versprach ein aufregendes Abenteuer und wir waren selbst begierig darauf Machno persönlich zu treffen. Doch wir konnten die anderen Mitglieder der Expedition nicht dem Risiko eines solchen Unterfangens aussetzen. Wir entschieden uns dazu, das Angebot abzulehnen in der Hoffnung, dass sich uns eine andere Gelegenheit bieten würde, den Anführer der povstantsi zu treffen.

Machnos Frau war eine Schullehrerin auf dem Land gewesen; Sie hatte ein beachtliches Wissen und war sehr an allen kulturellen Fragen interessiert. Sie löcherte mich mit Fragen über die Frauen in Amerika, ob sie wirklich emanzipiert seien und ob sie gleiche Rechte genießen würden. Die junge Frau war mit Machno und seiner Armee schon seit einigen Jahren zusammen, aber sie konnte sich nicht mit der primitiven Einstellung ihrer Leute gegenüber Frauen anfreunden. Die ukrainischen Frauen, sagte sie, würden ausschließlich als Sexobjekt und Gebärmaschinen betrachtet werden. Nestor selbst war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie wollte wissen, ob das in Amerika anders sei. Glaubten die Frauen in Amerika an freie Mutterschaft und waren sie vertraut mit dem Thema der Geburtenkontrolle?

Es war erstaunlich solche Fragen von einem Bäuer*innenmädchen zu hören. Am bemerkenswertesten fand ich es, dass eine Frau, die so weit entfernt vom Schauplatz des Kampfes der Frauen um Emanzipation geboren und aufgewachsen war, so vertraut mit diesen Problemen war. Ich erzählte dem Mädchen von den Aktivitäten der modernen Frauen in Amerika, von ihren Erfolgen und von der Arbeit, die zur Emanzipation der Frau noch zu tun blieb. Ich erwähnte einige Literatur, die sich mit diesen Themen beschäftigte. Sie lauschte begierig. »Ich muss etwas in die Finger bekommen, um unseren Bäuer*innenfrauen zu helfen. Sie sind bloß Lasttiere«, sagte sie.

Früh am nächsten Morgen sahen wir, wie sie sicher aus dem Haus schlüpfte. Am gleichen Tag, als ich den Anarchistischen Club besuchte, wurde ich Zeugin eines merkwürdigen Anblicks. Der Club war erst kürzlich wieder eröffnet worden, nachdem er von der Tscheka gerazzt worden war. Die lokalen Anarchist*innen fanden in diesem Club Arbeitsräume und Räume für Vorträge und auch anarchistische Literatur konnte mensch dort bekommen. Als ich mich mit einigen Freund*innen unterhielt, bemerkte ich eine Gruppe Gefangener, die auf der Straße darunter vorbeiging. Als sie sich dem anarchistischen Zentrum näherten, sahen einige von ihnen auf, offensichtlich hatten sie das große Schild über den Räumen des Clubs bemerkt. Plötzlich richteten sie sich auf, nahmen ihre Mützen ab, verbeugten sich und gingen dann weiter. Ich wandte mich zu meinen Freund*innen. »Diese Bäuer*innen sind vermutlich Machnostsi«, sagten sie, »die anarchistischen Zentren sind ihnen heilig.« Wie außergewöhnlich die russische Seele doch war, dachte ich und fragte mich, ob eine Gruppe amerikanischer Arbeiter*innen oder Farmer*innen so erfüllt von einem Ideal sein könnte, dass sie das auf die gleiche einfache und aussagekräftige Art und Weise ausdrücken würde, wie es die Machnostsi getan hatten. Dem*der Russ*in ist sein*ihr Glaube fürwahr Inspiration.

Unser Aufenthalt in Kiew hatte uns vielerlei Erfahrungen und Eindrücke beschert. Es war eine anstrengende Zeit, in der wir Menschen verschiedener sozialer Schichten getroffen und viele wertvolle Informationen und Materialien gesammelt haben. Wir beendeten unseren Besuch mit einem kurzen Ausflug auf dem Fluss Dnepr, um einige der alten Klöster und Kathedralen zu besichtigen, darunter die berühmte Sophienkathedrale und die Wladimirkathedrale. Beeindruckende Bauwerke, die während all der revolutionären Veränderungen intakt geblieben waren; ja sogar ihr Innenleben ging weiter wie zuvor. In einem der Klöster genossen wir die Gastfreundschaft der Schwestern, die uns echten russischen Tee, Schwarzbrot und Honig servierten. Sie lebten, als sei in Russland seit 1914 nichts passiert; es war, als ob sie die letzten Jahre nicht auf dieser Welt verbracht hätten. Die Mönche zeigten den Neugierigen noch immer die heiligen Gruften der Wladimirkathedrale und die Orte, an denen die Heiligen eingemauert worden waren, deren versteinerte Körper nun ausgestellt wurden. Täglich wurden Besucher*innen durch die Gewölbe geführt und die begleitenden Priester zeigten ihnen die Zellen der gefeierten Märtyrer und erzählen die Lebensgeschichten der wichtigsten Mitglieder der heiligen Familie. Einige der erzählten Geschichten waren weit entfernt von jeder Glaubwürdigkeit und verbreiteten mit jeder Pore Aberglauben. Die Soldat*innen der Roten Armee in unserer Gruppe lauschten den fantastischen Erzählungen der Priester eher zweifelnd. Offensichtlich hatte die Revolution ihren religiösen Geist beeinflusst und eine skeptische Einstellung gegenüber Wundertäter*innen entwickelt.

Kapitel 22: Odessa

An den zahlreichen Bahnhöfen zwischen Kiew und Odessa mussten wir häufig tagelang warten, bevor es uns gelang, an einen Zug angekoppelt zu werden, der in Richtung Süden fuhr. Wir verbrachten unsere Freizeit damit, die kleine Städte und Dörfer zu besuchen und schlossen viele Bekanntschaften. Besonders interessant fanden wir die Märkte.

In der Provinz von Kiew ist der bei weitem größte Teil der Bevölkerung jüdisch. Sie hatten zahlreiche Pogrome erlitten und lebten nun in permanenter Angst vor einer Wiederholung. Aber der Drang zu leben ist unzerstörbar, besonders unter Jüd*innen; Andernfalls hätten Jahrzehnte der Verfolgung und des Massakers den Menschenschlag längst ausgelöscht. Ihr eigentümliches Durchhaltevermögen zeigte sich überall: Die Jüd*innen fuhren mit ihrem Handel fort, als sei nichts gewesen. Die Nachricht davon, dass Amerikaner*innen in der Stadt waren, sprach sich schnell herum und um uns sammelten sich Massen von Menschen, neugierig darauf, etwas von der Neuen Welt zu hören. Für sie war Amerika noch immer eine »neue« Welt, von der sie noch genausowenig wussten wie schon vor fünfzig Jahren. Aber nicht nur Amerika, sogar Russland selbst war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Sie wussten, dass es ein Land der Pogrome war, dass irgendeine unverständliche Sache namens Revolution stattgefunden hatte und dass die Bolschewiki sie keinen Handel treiben lassen würden. Nicht einmal die jüngeren Menschen in den entfernteren Dörfern waren besser informiert.

Der Unterschied zwischen einer ausgehungerten Bevölkerung und einer, die Zugang zu Nahrungsmitteln hatte, war deutlich zu sehen. Zwischen Kiew und Odessa waren die Produkte im Vergleich zu Nordrussland äußerst günstig. Butter zum Beispiel kostete 250 Rubel das Pfund, verglichen mit 3.000 Rubel in Petrograd, Zucker kostete 350 Rubel, während er in Moskau 5.000 Rubel kostete. Weizenmehl war in den Metropolen fast unmöglich zu kriegen, hier wurde es für 80 Rubel das Pfund verkauft. Dennoch wurden wir auf unserer ganzen Reise an den Haltestellen von hungernden Menschen belagert, die um Nahrungsmittel bettelten. Das Land war im Besitz großer Vorräte, aber offensichtlich hatte die*der Durchschnittsbürger*in nicht die Mittel sie zu erwerben. Besonders schlimm war der Anblick der abgemagerten und zerlumpten Kinder, die am Fenster unseres Waggons um ein Stück Brot bettelten.

In der Nähe von Schmerynka erhielten wir die erschreckende Nachricht vom Rückzug der Zwölften Armee und den schnell vorrückenden polnischen Truppen. Es war eine regelrechte Niederlage, in der die Bolschewiki große Vorräte an Nahrungsmitteln und medizinischen Versorgungsgütern verloren, die Russland so dringend brauchte. Der Vormarsch der polnischen Truppen und die Angriffe Wrangels[105] aus Richtung der Krim drohten, unserer Reise ein vorzeitiges Ende zu bereiten. Unser ursprüngliches Ziel war es gewesen den Kaukasus zu besuchen, aber die jüngsten Entwicklungen machten eine Reise weiter als bis nach Odessa unmöglich. Dennoch hofften wir weiterhin, unsere Reise fortsetzen zu können, vorausgesetzt wir bekämen eine Verlängerung unseres Erlaubnisscheins für den Waggon, der am 1. Oktober ablaufen würde.

Wir erreichten Odessa, kurz nachdem ein Feuer die Haupt-Telegrafenstationen und Elektroleitungen zerstört hatte und die Stadt in völliger Dunkelheit zurückgelassen hatte. Da es eine beachtliche Zeit dauern würde, das zu reparieren, stieg die Nervosität in der Stadt, denn Dunkelheit begünstigte konterrevolutionäre Handlungen. Gerüchte kursierten, dass Kiew von den Pol*innen eingenommen worden sei und sich Wrangel Odessa nähern würde.

Es war zu unserem Brauch geworden, unseren ersten Besuch dem Ispolkom (Exekutivkomitee) abzustatten, um uns mit der Situation vor Ort und der generellen Funktionsweise der lokalen Institutionen vertraut zu machen. In Odessa gab es stattdessen ein Revkom, was bedeutete, dass die Angelegenheiten der Stadt bisher noch nicht hinreichend geregelt worden waren, um einen Sowjet und sein Exekutivkomitee zu gründen. Der Vorsitzende des Revkom war ein junger Mann, kaum älter als dreißig, mit einem strengen Gesicht. Nachdem er unsere Dokumente eingehend geprüft und von den Zielen unserer Mission erfahren hatte, erklärte er, dass er uns keinerlei Hilfe bieten könne. Die Situation in Odessa sei prekär und er sei mit zahlreichen dringenden Angelegenheiten beschäftigt, daher müsse die Expedition selbst sehen, wie sie klar käme. Immerhin erteilte er uns die Erlaubnis, die sowjetischen Institutionen zu besuchen und dort das zu sammeln, was wir auftreiben könnten. Er hielt das Petrograder Museum und seine Arbeit nicht für besonders wichtig. Er war ein einfacher Arbeiter, dem mensch eine hohe Regierungsposition anvertraut hatte, nicht besonders intelligent und offensichtlich feindselig gegenüber allem »Intellektuellen«.

Die Aussichten waren nicht besonders vielversprechend, aber natürlich konnten wir Odessa nicht wieder verlassen, bevor wir nicht einige ernsthafte Anstrengungen unternommen hatten, das wertvolle und reichhaltige historische Material zu sammeln, von dem wir wussten, dass es sich in der Stadt befand. Als wir vom Revkom zurückkehrten, trafen wir eine Gruppe junge Leute, die uns erkannten, weil sie früher in Amerika gelebt hatten. Sie versicherten uns, dass wir keinerlei Hilfe von dem Vorsitzenden zu erwarten hatten, der als engstirniger Fanatiker und erbitterter Feind der Intelligenzija bekannt war. Einige der Gruppe boten uns an, uns anderen Beamt*innen vorzustellen, die in der Lage und willens sein würden uns bei unseren Bemühungen zu unterstützen. Wir erfuhren, dass der*die Vorsitzende der Staatswirtschaft in Odessa ein*e Anarchist*in sei und der*die Vorsitzende der Metallarbeiter*innengewerkschaft ebenfalls. Diese Information weckte in uns die Hoffnung, dass wir in Odessa doch noch etwas erreichen könnten.

Wir verloren keine Zeit, die beiden Männer zu besuchen, aber das Ergebnis war nicht besonders ermutigend. Beide waren willens alles in ihrer Macht Stehende zu tun, aber sie warnten uns gleich davor, dass wir nichts erwarten sollten, da Odessa, wie sie es ausdrückten, die Stadt der Sabotage sei.

Ich muss unglücklicherweise zugeben, dass unsere Erfahrungen diese Charakterisierung bestätigten. Ich hatte in jeder Stadt, die ich besucht hatte, eine Menge Sabotage in verschiedenen sowjetischen Institutionen gesehen. Überall verschwendeten die zahlreichen Angestellten bewusst ihre Zeit, während tausende Antragsteller*innen Tage und Wochen in den Korridoren und Büros verbrachten, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erhalten. Der größte Teil Russlands tat nichts anderes, als in Schlangen zu stehen und darauf zu warten, dass die großen und kleinen Bürokrat*innen ihnen Einlass zu den innersten Sphären gewährten. Aber so schlecht die Zustände auch in anderen Städten waren, so fand ich doch nirgendwo so systematische Sabotage vor wie in Odessa. Vom höchsten bis zum niedrigsten sowjetischen Angestellten war jede*r mit etwas anderem als mit der Arbeit, die ihr*ihm aufgetragen worden war, beschäftigt. Die Öffnungszeiten sollten um zehn Uhr beginnen, aber üblicherweise konnte vor Mittag kein*e Beamt*in in irgendeinem der Ämter angetroffen werden, oft sogar später nicht. Um drei Uhr nachmittags schlossen die Ämter, daher wurde nur sehr wenig Arbeit erledigt.

Wir blieben zwei Wochen lang in Odessa, aber sofern wir beim Sammeln von Materialien auf offizielle Stellen angewiesen waren, bekamen wir so gut wie nichts. Alles was wir erreichten, erreichten wir durch die Hilfe von Privatpersonen und Mitglieder von verbotenen politischen Parteien. Von ihnen erhielten wir wertvolle Materialien über die Verfolgung der Menschewiki und der Arbeiter*innenorganisationen, in denen letztere den größten Einfluss hatten. Die Arbeit einiger Gewerkschaften war zu der Zeit, zu der wir in Odessa ankamen, vollständig pausiert und es hatte eine vollständige Reorganisation durch die Kommunist*innen begonnen, mit dem Ziel alle opponierenden Elemente zu eleminieren.

Unter den interessanten Menschen, die wir in Odessa trafen, waren die Zionist*innen, darunter einige berühmte Literaten und Geschäftsleute. Es war das Haus von Doktor N., in dem wir sie trafen. Der Doktor selbst war der Besitzer einer Nervenheilanstalt an einer wunderschönen Stelle mit Blick über das schwarze Meer gewesen, die für die Beste im Süden gehalten wurde. Die Institution war von den Bolschewiki nationalisiert worden, aber Doktor N. blieb federführend und mensch erlaubte ihm sogar private Patient*innen zu behandeln. Im Gegenzug für dieses Privileg musste er einwilligen, sowjetische Patient*innen für ein Drittel des bestehenden Preises zu behandeln.

Bis spät in die Nacht diskutierten wir mit den Gästen im Haus des Doktors über die Situation in Russland. Die meisten von ihnen waren dem bolschewistischen Regime gegenüber feindselig gestimmt. »Lenin hat die Parole ›Beraubt die Räuber*innen‹ ausgegeben und hier in der Ukraine haben seine Anhänger*innen den Befehl wörtlich genommen«, sagte der Doktor. Es entsprach der allgemeinen Stimmung der Versammlung, dass die Verwirrung und der Ruin auf dieser Politik beruhten. Mensch hätte die alte Bourgeousie beraubt, aber die Arbeiter*innen hätten davon nicht profitiert. Der Doktor nannte seine Nervenheilanstalt als Beispiel. Als die Bolschewiki sie übernahmen, erklärten sie, dass dieser Ort fortan dem Proletariat gehöre und diesem zugute kommen würde, aber seither hatte er dennoch nicht einen einzige*n Arbeiter*in als Patient*in gehabt, nicht einmal eine*n proletarische*n Kommunist*in. Die Menschen, die die Sowjets in das Sanatorium schickten, waren Mitglieder der neuen Bürokratie, üblicherweise die hohen Angestellten. Der Vorsitzende der Tscheka beispielsweise, der unter Nervenzusammenbrüchen litt, war schon mehrmals in der Institution gewesen. »Er arbeitet sechzehn Stunden täglich, um Menschen zu Tode zu bringen«, kommentierte der Doktor, »du kannst dir sicher vorstellen, wie es sich anfühlt, einen solchen Mann zu behandeln.«

Eine*r der anwesenden bundistischen[106] Autor*innen war der Meinung, dass die Bolschewiki versuchten, die Französische Revolution nachzuahmen. Die Korruption sei zügellos, sie stelle die schlimmsten Verbrechen der Jakobiner*innen[107] in den Schatten. Nicht ein Tag verging, an dem nicht irgendeine*r verhaftet wurde, weil sie*er mit zarischem Geld oder Geld von Kerenski handelte, zugleich war es kein Geheimnis, dass der Vorsitzende der Tscheka selbst mit Währungen spekulierte. Die Verdorbenheit der Tscheka sei allgemein bekannt. Während diejenigen, die es sich leisten konnten Bestechungsgelder zu zahlen, frei kamen, selbst wenn sie zum Tode verurteilt worden waren, wurden andere Menschen für die geringfügigsten Verstöße erschossen. Es war wiederholt vorgekommen, dass die reichen Angehörigen eines verhafteten Mannes von der Tscheka über seine Exekution benachrichtigt wurden. Einige Wochen später, wenn sie sich einigermaßen von dem Schock und der Trauer erholt hatten, wurden sie informiert, dass die Nachricht vom Tod des Mannes ein Irrtum gewesen sei, er am Leben wäre und durch die Zahlung einer Geldbuße – üblicherweise einer sehr hohen – freigekauft werden könne. Natürlich unternahmen die Angehörigen jede Anstrengung, um das Geld aufzutreiben. Dann würden sie plötzlich wegen versuchter Bestechung verhaftet, ihr Geld konfisziert und der Gefangene erschossen.

Einer der Gäste des Doktors, der in der »Straße der Tscheka« wohnte, erzählte von den Raffinessen des Terrors, der ausgeübt werde, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Beinahe täglich würde er Zeuge des gleichen Anblicks: Früh am Morgen rasten bewaffnete Tschekist*innen vorbei und schossen in die Luft – eine Warnung, dass alle Fenster verschlossen werden müssten. Dann kämen die Lastwägen, beladen mit den Verdammten. Sie lägen in Reihen aufgereiht, das Gesicht nach unten, ihre Hände gefesselt, Soldat*innen mit Maschinengewehren stünden über ihnen. Sie wurden aus der Stadt gefahren, um dort hingerichtet zu werden. Einige Stunden später kämen die Lastwagen leer bis auf wenige Soldat*innen wieder zurück. Blut tropfe von den Ladeflächen und hinterlasse eine blutrote Spur auf dem Gehsteig, die bis zum Hauptquartier der Tscheka führe.

Es war kaum möglich, dass Moskau nichts von diesen Dingen wisse, beteuerten die Zionist*innen. Die Angst vor der zentralisierten Macht war zu groß, als dass sich die lokale Tscheka erlauben könnte irgendetwas zu tun, was nicht von Moskau genehmigt war. Aber es sei kein Wunder, dass sich die Bolschewiki solcher Methoden bedienen würden. Eine kleine politische Partei, die versuche eine Bevölkerung von 150 Millionen Menschen zu kontrollieren, die die Kommunist*innen verbittert hassten, konnte nicht darauf zählen, ohne eine Institution wie die der Tscheka ihre Macht zu behaupten. Charakteristisch für die Tscheka seien die grundlegenden Prinzipien der bolschewistischen Vorstellungen: Das Land müsse dazu gezwungen werden, von der Kommunistischen Partei gerettet zu werden. Der Vorwand, dass die Bolschewiki die Revolution verteidigen würden, sei nichts als eine Farce. Tatsächlich hätten sie sie vollständig zerstört.

Es war so spät geworden, dass die Mitglieder unserer Expedition nicht zu unserem Waggon zurückkehren konnten, weil wir fürchteten, diesen in der Dunkelheit der Nacht nicht zu finden. Deshalb blieben wir im Haus unseres Gastgebers, um am nächsten Tag eine Gruppe Männer von nationalem Ansehen zu treffen, darunter Bialik[108], der größte lebende jüdische Dichter, der unter Jüd*innen auf der ganzen Welt bekannt war. Außerdem war ein Literatur-Forscher anwesend, der eine Sonderstudie über die Frage der Pogrome durchgeführt hatte. Er hatte zweiundsiebzig Städte besucht und die umfangreichsten Materialien, die zu diesem Thema zu bekommen waren, gesammelt. Entgegen der allgemeinen Auffassung war seiner Meinung nach die Welle der Pogrome während der Periode des Bürger*innenkriegs zwischen 1918 und 1921 unter den verschiedenen ukrainischen Regierungen sogar noch schlimmer als die schlimmsten Massaker an den Jüd*innen unter den Zaren. Zwar hatten unter dem bolschewistischen Regime keinerlei Pogrome stattgefunden, aber er befürchtete, dass die von ihnen geschaffene Atmosphäre den anti-jüdischen Geist verstärke und dieser sich eines Tages in einem umfassenden Gemetzel gegenüber den Jüd*innen entladen würde. Er war nicht der Meinung, dass die Bolschewiki besonders daran interessiert waren, sein Volk [race] zu schützen. In bestimmten Regionen im Süden, in denen die Jüd*innen kontinuierlich Überfällen und Plünderungen durch Räuber*innenbanden und gelegentlich auch durch einzelne Soldat*innen der Roten Armee ausgesetzt seien, hätten Jüd*innen die sowjetische Regierung um die Erlaubnis gebeten, sich zur Selbstverteidigung organisieren zu dürfen und gefordert, dass mensch ihnen Waffen gebe. Aber in allen dieser Fälle hatte die Regierung abgelehnt.

Die Zionist*innen hatten allgemein das Gefühl, dass das Fortbestehen der Bolschewiki an der Macht die Vernichtung der Jüd*innen bedeuten würde. Die russischen Jüd*innen waren in der Regel keine Arbeiter*innen. Seit ewigen Zeiten waren sie im Handel beschäftigt, aber ihr Gewerbe war von den Kommunist*innen zerstört worden und bevor die Jüd*innen in Arbeiter*innen verwandelt werden könnten, würden sie als Volk verkommen und aussterben. Spezifisch jüdische Kultur, das höchste Gut der Zionist*innen, war bei den Bolschewiki verpönt. Dieser Aspekt schien sie sogar noch tiefer zu verletzen als Pogrome.

Diese intellektuellen Jüd*innen waren nicht Teil der proletarischen Klasse. Sie waren Bourgeoise ohne jeden revolutionären Geist. Ihre Kritik an den Bolschewiki hinteließ bei mir keinen Eindruck, da es eine Kritik von Rechts war. Wenn ich noch immer an die Bolschewiki als die wahren Held*innen der Revolution gegelaubt hätte, hätte ich sie sicherlich gegen die Beschwerden der Zionist*innen verteidigt. Aber ich selbst hatte das Vertrauen in die revolutionäre Integrität der Bolschewiki verloren.

Kapitel 23: Rückkehr nach Moskau

In einem Land, in dem die Rede- und Pressefreiheit so stark unterdrückt ist wie in Russland, ist es nicht überraschend, dass sich der menschliche Verstand der Phantasie bedient und daraus die unglaubwürdigsten Geschichten spinnt. Bereits während meiner ersten Monate in Petrograd war ich erstaunt über die wilden Gerüchte, die in der Stadt herumgeisterten und denen sogar intelligente Menschen Glauben schenkten. Die sowjetische Presse war dem größten Teil der Bevölkerung unzugänglich und es gab keine andere Nachrichtenmedien. Jeden Morgen wurden die bolschewistischen Mitteilungen und Zeitungen an den Straßenecken angeschlagen, aber in der eisigen Kälte blieben nur wenige Menschen stehen, um diese zu lesen. Daneben war das Vertrauen in die kommunistische Presse gering. Daher war Petrograd nicht nur vollständig von der westlichen Welt abgeschnitten, sondern auch vom Rest Russlands. Ein*e alte*r Revolutionär*in sagte einst zu mir: »Wir wissen nicht nur nicht, was auf der Welt oder in Moskau passiert, wir wissen nicht einmal, was in der nächsten Straße vor sich geht.« Dennoch lässt sich der menschliche Verstand nicht dauerhaft einsperren. Er braucht einen Ausweg und findet diesen gewöhnlich auch. Es kursierten Gerüchte über versuchte Anstürme auf Petrograd und Geschichten darüber, dass Sinowjew von einigen Fabrikarbeiter*innen in »sowjetische Suppe« getaucht worden und dass Moskau von den Weißen eingenommen worden sei.

Von Odessa erzählte mensch sich, dass feindliche Schiffe vor der Küste gesehen worden seien und es gab eine Menge Gerede von einem bevorstehenden Angriff. Als wir in Odessa eintrafen, war es in der Stadt ruhig und die Menschen führten ihr übliches Leben. Mit Ausnahme der großen Märkte vermittelte mir Odessa das vollständige Bild von sowjetischer Kontrolle. Aber wir waren keine Tagesreise von der Stadt entfernt auf unserem Rückweg nach Moskau, da bekamen wir schon wieder die gleichen Gerüchte zu hören. Der Sieg der polnischen Truppen und der voreilige Rückzug der Roten Armee befeuerte die überdrehte Vorstellungskraft der Menschen. Überall waren die Wege mit Militärzügen blockiert und die Bahnhöfe voll mit Soldat*innen, die die Panik des Rückzugs verbreiteten.

An einigen Orten bereiteten sich die sowjetischen Autoritäten darauf vor, diese bei den ersten Anzeichen von Gefahr verlassen zu können. Die Bevölkerung war dazu jedoch nicht in der Lage. An den Bahnhöfen entlang unserer Route standen Menschen in Gruppen herum und diskutierten über den bevorstehenden Angriff. Erzählungen von Kämpfen in Rostow, anderen Städten, die bereits in der Hand Wrangels seien, Bandit*innen, die Züge anhalten und Brücken in die Luft sprengen würden, sowie ähnliche Geschichten versetzten alle in Panik. Es war natürlich unmöglich, den Wahrheitsgehalt der Gerüchte zu überprüfen. Aber wir wurden darüber informiert, dass wir unmöglich nach Rostow am Don weiterreisen könnten, da diese Stadt bereits im militärischen Sperrgebiet läge. Wir wurden angewiesen, in Richtung Kiew aufzubrechen und von dort nach Moskau zurückzukehren. Es war schwer für uns, unseren Plan nach Baku zu reisen aufzugeben, aber wir hatten keine Wahl. Wir konnten kein zu großes Risiko eingehen, besonders nicht, da unser Erlaubnisschein für den Waggon in kurzer Zeit ablaufen würde. Wir entschieden uns über Kiew nach Moskau zurückzukehren.

Als wir Petrograd verließen, hatten wir versprochen, aus dem Süden etwas Zucker, Weizenmehl und Getreide für unsere hungernden Freund*innen mitzubringen, denen diese Notwendigkeiten seit drei Jahren fehlten. Auf dem Weg von Kiew nach Odessa hatten wir die Lebensmittelpreise relativ günstig vorgefunden, aber nun waren die Preise um mehrere hundert Prozent gestiegen. Ein*e Freund*in aus Odessa hatte uns von einem Ort 20 Werst [etwa 13 Meilen][109] von Rachno, einem kleinen Dorf bei Schmerynka, erzählt, wo mensch Zucker, Honig und Apfelgelee zu günstigen Preisen kaufen könne. Uns war es nicht erlaubt, Lebensmittel nach Petrograd zu transportieren, obwohl unser Waggon gegen die üblichen Durchsuchungen der Tscheka immun war. Aber wir hatten nicht die Absicht irgendetwas zu verkaufen, wir fanden es gerechtfertigt, einige Lebensmittel für Menschen mitzubringen, die seit Jahren hungerten. Unser Waggon wurde in Schmerynka abgekoppelt und zwei Männer der Expedition und ich gingen nach Rachno.

Es war keine einfache Aufgabe die Bäuer*innen von Schmerynka dazu zu bringen uns in das nächste Dorf zu bringen. Ob wir ihnen Salz, Nägel oder andere Waren geben könnten? Andernfalls würden sie uns nicht befördern. Wir vergeudeten den Großteil des Tages mit einer vergeblichen Suche, aber schließlich fanden wir einen Mann, der einwilligte uns im Austausch für Kerenski-Rubel zu dem Ort zu fahren. Die Fahrt erinnerte mich an den steinigen Weg der guten Absichten: Es ging auf und ab und wir wurden vor und zurück geworfen, wie so viele Würfel. Nach einer scheinbar endlosen Reise erreichten wir das Dorf mit Schmerzen in allen Gliedern. Es war ärmlich und verkommen, Jüd*innen machten den Großteil der Bevölkerung aus. Die Bäuer*innen lebten entlang der Straße nach Rachno und besuchten den Ort nur an Markttagen. Die sowjetischen Beamt*innen waren Nichtjüd*innen.

Wir hatten ein Empfehlungsschreiben für eine Ärztin, der Schwester unserer*unseres bundistischen Freund*in aus Odessa, mitgebracht. Sie sollte uns helfen, die Lebensmittel zu beschaffen. Als wir das Haus der Ärztin betraten, fanden wir sie in zwei kleinen Räumen lebend vor, die schlecht gepflegt und unsauber waren, mit einem schmutzigen Baby, das umherkrabbelte. Die Frau war damit beschäftigt, Apfelgelee zu kochen. Sie war eine der desillusionierten Intellektuellen, die mensch in Russland nun so häufig traf. Von ihr erfuhr ich, dass sie und ihr Mann, ebenfalls ein Arzt, an diesen trostlosen Ort versetzt worden seien. Sie waren vollständig isoliert von jedem intellektuellen Leben, hatten weder Papiere, Bücher noch Gleichgesinnte. Ihr Ehemann würde seine Runden früh am Morgen beginnen und spät in der Nacht zurückkehren, während sie sich neben ihren eigenen Patient*innen um ihr Baby und den Haushalt kümmern müsse. Sie hatte sich erst kürzlich von Typhus erholt und es fiel ihr schwer Holz zu hacken, Wasser zu schleppen, zu waschen und zu kochen und nach ihren Kranken zu sehen. Aber was ihr Leben unerträglich mache, sei die allgemeine Feindschaft gegenüber der Intelligenzija. Ihnen werde beständig vorgeworfen, dass sie bourgeois und konterrevolutionär seien und sie würden der Sabotage beschuldigt werden. Nur wegen ihres Kindes würde sie ihr schäbiges Leben fortsetzen, sagte die Frau, »andernfalls wäre es besser tot zu sein.«

Eine junge Frau, ärmlich gekleidet, aber sauber und gepflegt, betrat das Haus und wurde als Schullehrerin vorgestellt. Sie begann sofort, sich mit mir zu unterhalten. Sie sei eine Kommunistin, erklärte sie, die »selbst denke«. »Moskau mag autokratisch sein«, sagte sie, »aber die Autoritäten in den Städten und Dörfern hier übertreffen Moskau. Sie tun, was sie wollen.« Die Beamt*innen der Provinz seien vom großen Sturm angespültes Treibgut. Sie hätten keine revolutionäre Vergangenheit – sie hätten für ihre Ideale nicht gelitten. Sie seien nur Sklav*innen in Machtpositionen. Wenn sie selbst keine Kommunistin gewesen wäre, wäre sie schon vor langer Zeit beseitigt worden, aber so sei sie dazu bestimmt, gegen die Missstände in ihrem Bezirk zu kämpfen. Die Schulen täten ihr Möglichstes unter den gegebenen Umständen, aber das sei nicht besonders viel. Ihnen mangele es an allem. Im Sommer sei es nicht so schlimm, aber im Winter müssten die Kinder zu Hause bleiben, da die Klassenzimmer nicht beheizt seien. Ob es stimme, dass Moskau glühende Artikel über den großen Rückgang von Analphetismus veröffentliche? Nun, das sei mit Sicherheit übertrieben. In ihrem Dorf sei der Fortschritt nur sehr langsam. Sie hatte sich oft gefragt, ob es wirklich so sehr auf sogenannte Bildung ankäme. Angenommen die Bäuer*innen würden lesen und schreiben lernen, würde sie das zu besseren und lieberen Menschen machen? Wenn das so wäre, warum gibt es dann so viel Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Konflikte in Ländern, in denen die Menschen keine Analphabet*innen sind? Die russischen Bäuer*innen könnten nicht lesen und schreiben, aber sie hätten einen angeborenen Sinn für Gerechtigkeit und Schönheit. Sie könnten wundervolle Dinge mit ihren Händen vollbringen und sie seien nicht brutaler als der Rest der Welt.

Ich war begeistert, einen so ungewöhnlichen Standpunkt bei jemand so jungem und an einem so abgelegenen Ort zu finden. Die kleine Lehrerin konnte kaum älter als fünfundzwanzig Jahre alt sein. Ich ermutigte sie ihre Meinung zur allgemeinen Politik und den Methoden ihrer Partei zu erzählen. Befürworte sie sie, hielt sie sie für geboten durch den revolutionären Prozess? Sie sei keine Politikerin, sagte sie, sie würde sich da nicht auskennen. Sie könne nur die Ergebnisse bewerten und die seien alles andere als zufriedenstellend. Aber sie hätte Vertrauen in die Revolution. Sie hätte den Boden entwurzelt, sie hätte dem Leben eine neue Bedeutung gegeben. Sogar die Bäuer*innen seien nicht mehr dieselben – keine*r sei mehr wie vorher. Aus all dem Durcheinander müsse etwas Großes entstehen.

Die Ankunft des Arztes lenkte die Unterhaltung in andere Bahnen. Nachdem er über unseren Auftrag informiert worden war, ging er, um einige Händler*innen zu suchen, kehrte jedoch sogleich zurück, um uns zu sagen, dass er nichts tun könne: Es war der Abend von Jom Kippur und alle Jüd*innen seien in der Synagoge. Ungläubig wie ich bin, hatte ich nicht gewusst, dass ich am Abend dieses heiligsten Feiertags gekommen war. Da wir nicht noch einen Tag bleiben konnten, beschlossen wir unverrichteter Dinge wieder zurückzukehren.

Dabei ergab sich eine neue Schwierigkeit. Unser Fahrer würde nicht losfahren, außer wir würden von einer bewaffneten Wache begleitet werden. Er hatte Angst vor Bandit*innen: Zwei Tage zuvor, sagte er, hätten sie Reisende im Wald angegriffen. Es wurde notwendig, sich an den Vorsitzenden der Bürgerwehr zu wenden. Der war bereit uns zu helfen, aber alle seine Männer waren in der Synagoge, um zu beten. Ob wir warten könnten, bis die Feierlichkeiten vorüber seien?

Schließlich strömten die Menschen aus der Synagoge und uns wurden zwei bewaffnete Milizionäre zugeteilt. Diese beiden jüdischen Burschen traf es hart, denn es galt als Sünde an Jom Kippur zu reiten. Aber nichts konnte den Bauern dazu veranlassen den Weg durch die Wälder ohne militärische Begleitung zu wagen. Das Leben erzählt in der Tat die verrücktesten Geschichten. Der Bauer, ein überzeugter Ukrainer, hätte keinen Moment gezögert, Jüd*innen während eines Pogroms zu schlagen und auszurauben, doch nun fühlte er sich unter dem Schutz von Juden sicher vor möglichen Angriffen seiner eigenen Glaubensgenoss*innen.

Wir ritten hinaus in die helle Herbstnacht; der Himmel war mit Sternen übersät. Es herrschte eine beruhigende Stille, die ganze Natur war in einen Schlaf gefallen. Der Fahrer und unsere Wachen unterhielten sich über die Bandit*innen und eiferten mit ihren haarsträubenden Geschichten über die von ihnen begangenen Gewalttaten um die Wette. Als wir den dunklen Wald erreichten, stellte ich die Überlegung an, dass ihre lauten Stimmen unsere Ankunft jeder*jedem Straßenräuber*in verkünden würden, die*der sich auf die Lauer gelegt hätte. Die Soldaten richteten sich auf dem Wagen auf und hielten ihre Gewehre im Anschlag, der Bauer bekreuzigte sich und peitschte die Pferde zu einem wilden Galopp, den er beibehielt, bis wir zurück auf der offenen Straße waren. All das war ziemlich aufregend, aber wir begegneten keinen Bandit*innen. Sie mussten in dieser Nacht gestreikt haben.

Wir erreichten den Bahnhof zu spät, um Anschluss zu finden und mussten daher bis zum nächsten Morgen warten. Ich verbrachte die Nacht in Gesellschaft eines Mädchens in Soldat*innenuniform, einer Kommunistin. Sie erzählte, dass sie an jeder Front und auch gegen zahlreiche Bandit*innen gekämpft habe. Sie war eine Art Heldin [Playboy] der Östlichen Welt[110], die stündlich neue Geschichten erzählte. Ihre Lieblingsgeschichten handelten von Erschießungen. »Einige Konterrevolutionär*innen, Soldat*innen der Weißen Armeen und Spekulant*innen«, sagte sie, »sollten alle erschossen werden.« Ich dachte an die kleine Schullehrerin, die entzückende Seele des Dorfes, die sich dem harten und schmerzhaften Dienst gegenüber den Kindern widmete, gegenüber der Schönheit im Leben, während ihrer Genossin hier, ebenfalls eine junge Frau, jedoch abgebrüht und grausam, jeder Sinn für revolutionäre Werte fehlte. Beide waren Kinder der gleichen Schule und doch waren sie so verschieden.

Am Morgen schlossen wir uns wieder der Expedition in Schmerynka an und setzten unsere Reise nach Kiew fort, wo wir Ende September ankamen und die Stadt völlig verändert vorfanden. Die Panik vor der Zwölften Armee lag in der Luft; der Feind wurde lediglich 150 Werst [ungefähr 99 Meilen][111] entfernt vermutet und viele sowjetische Einrichtungen wurden evakuiert, was zur allgemeinen Besorgnis und Angst beitrug. Ich besuchte Wetoschkin, den Vorsitzenden des Revkoms und seinen Sekretär. Letzterer fragte nach Odessa, begierig zu wissen, wie die Dinge dort standen, ob der Handel unterdrückt sei und wie die sowjetischen Einrichtungen arbeiteten. Ich erzählte ihm von der allgemeinen Sabotage, der Spekulation und den Schrecken der Tscheka. Hinsichtlich des Handels seien alle Geschäfte geschlossen und alle Hinweisschilder entfernt, aber auf den Märkten würden große Geschäfte gemacht werden. »Tatsächlich? Nun, das musst du dem Genossen Wetoschkin erzählen«, rief der Sekretär vergnügt aus. »Wie du dir sicher denken kannst, war Rakowski[112] hier und hat uns wahre Wundergeschichten über die Errungenschaften in Odessa erzählt. Er setzte uns unter Druck, weil wir nicht so viel erreicht hätten. Du musst Wetoschkin alles über Odessa erzählen, er wird diesen Witz über Rakowski geniesen.«

Ich traf Wetoschkin auf der Treppe, als ich das Büro verlassen wollte. Er sah dünner aus als das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte und sehr besorgt. Als ich ihn zur bevorstehenden Gefahr befragte, brachte er Licht in die Sache. »Wir werden nicht evakuieren«, sagte er, »wir werden hier bleiben. Es ist der einzige Weg, die Öffentlichkeit zu beruhigen.« Auch er fragte mich über Odessa aus. Ich versprach, ihn später wieder zu besuchen, da ich gerade keine Zeit hatte, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, Wetoschkin wiederzusehen, um ihm den Witz über Rakowski zu erzählen. Wir verließen Kiew zwei Tage später.

In Brjansk, einem Industriezentrum nicht weit entfernt von Moskau, sahen wir große Plakate, die verkündeten, dass Machno wieder in der Gunst der Bolschewiki stand und dass er sich durch Heldentaten gegen Wrangel auszeichne. Das war angesichts der Tatsache, dass die sowjetischen Zeitungen Machno immer als Banditen, Konterrevolutionär und Verräter dargestellt hatten, eine überraschende Nachricht. Was war passiert, dass es zu diesem Wandel der Einstellung und des Tons gekommen war? Das aufregende Abenteuer, dass unser Waggon aufgehalten und wir als Gefangene von den Machnowtschist*innen entführt würden, hatte nicht geklappt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir den Bezirk erreichten, in dem Machno im September gewesen war, war er von uns abgeschnitten. Es wäre sehr interessant gewesen, den Anführer der Bäuer*innen von Angesicht zu Angesicht zu treffen und von ihm aus erster Hand zu erfahren, wie er so drauf sei. Er war unzweifelhaft die pittoreskeste und lebendigste Figur, die durch die Revolution im Süden hervorgebracht worden war – und nun war er wieder einmal mit den Bolschewiki verbündet. Was war passiert? Es gab keinen Weg das herauszufinden, bevor wir Moskau erreichen würden.

Aus einer Ausgabe der Iswestija, die uns auf unserer Reise in die Hände gefallen war, erfuhren wir die traurige Nachricht von John Reeds Tod. Für diejenigen von uns, die Jack gekannt hatten, war das ein schwerer Schlag. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, war im Gästehaus von Petrograd, dem Hotel International gewesen. Er war gerade nach seiner Verhaftung dort aus Finnland zurückgekehrt und lag krank im Bett. Mir war gesagt worden, dasss Jack alleine sei und sich keine*r richtig um ihn kümmere, also war ich gekommen, um ihn zu pflegen. Er war in schlechtem Zustand gewesen, überall aufgeschwollen und mit einem hässlichen Ausschlag an seinen Armen, ein Ergebnis von Unterernährung. In Finnland hatte mensch ihn fast ausschließlich mit getrocknetem Fisch ernährt und ihn auch anderweitig elendig behandelt. Er war sehr krank, aber im Geiste war er der Alte geblieben. Unabhängig davon, wie radikal sich die eigenen Ansichten von denen von Jack unterschieden, konnte eine*r nicht umhin, Jack für seinen großen, edelmütigen Geist zu lieben. Und nun war er tot, hatte sein Leben im Dienste der Revolution geopfert, wie er glaubte.

Als ich in Moskau ankam, besuchte ich sofort das Gästehaus, den Delowoj Dwor, wo Louise Bryant, Jacks Ehefrau, wohnte. Ich traf sie furchtbar aufgewühlt an und sie war froh darüber, eine zu sehen, die Jack so gut gekannt hatte. Wir sprachen über ihn, über seine Krankheit, sein Leiden und schließlich seinen Tod. Sie war sehr verbittert darüber, dass Jack, wie sie sagte, nach Baku bestellt worden sei, um dem Kongress der Völker des Ostens[113] beizuwohnen, obwohl er damals bereits sehr krank gewesen sei. Er kehrte im Sterbenliegend zurück. Aber selbst damals hätte er noch gerettet werden können, wenn mensch ihm kompetente medizinische Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Eine Woche lang hatte er in seinem Zimmer gelegen, ohne dass die Ärzt*innen sich dazu entscheiden konnten eine Diagnose über die Ursache seiner Erkrankung zu stellen. Dann war es zu spät gewesen. Ich konnte Louises Gefühle gut nachvollziehen, auch wenn ich davon überzeugt war, dass mensch alles Menschenmögliche für Reed getan hatte. Ich wusste, dass, was auch immer mensch den Bolschewiki vorwerfen konnte, die Vernachlässigung derer, die ihnen dienten, nicht dazu gehörte. Im Gegenteil: Sie waren großzügige Herrscher*innen. Aber Louise hatte das, was ihr am kostbarsten gewesen war, verloren.

Während unserer Unterhaltung fragte sie nach meinen Erfahrungen und ich erzählte ihr von dem Konflikt in mir, von der verzweifelten Anstrengung, die ich unternommen hatte, um Ordnung in das Durcheinander zu bringen und dass ich nun, wo sich der Nebel lichtete, damit begann zwischen den Bolschewiki und der Revolution zu unterscheiden. Seit ich nach Russland gekommen war, hatte ich begonnen zu fühlen, dass etwas mit dem bolschewistischen Regime nicht stimmte und ich hatte mich wie in einer Falle gefangen gefühlt. »Wie unheimlich!« Louise packte mich plötzlich am Arm und sah mich mit großen Augen an. »›Gefangen in einer Falle‹ waren genau die Worte, die Jack in seinem Delirium wiederholte.« Ich begriff, dass der arme Jack ebenfalls begonnen hatte, hinter die Kulissen zu blicken. Sein freier, uneingeschränkter Geist strebte nach den wahren Werten des Lebens. Er würde sich aufreiben, wenn er von einem Dogma, das sich selbst als unveränderbar bezeichnete, eingeschränkt würde. Würde Jack noch leben, würde er sich tapfer an das Ding klammern, das ihn in der Falle gefangen hielt. Aber im Angesicht des Todes hat der menschliche Verstand manchmal eine Erleuchtung: Er sieht plätzlich klar, was ihm unter normalen Umständen schleierhaft und vor ihm verborgen ist. Besonders überrascht war ich nicht, dass Jack genauso gefühlt hatte, wie ich es tat, immerhin muss jede*r, die*der kein*e Fanatiker*in ist, in Russland so fühlen – wie in einer Falle gefangen.

Kapitel 24: Zurück in Petrograd

Die Expedition sollte am nächsten Tag nach Petrograd weiterreisen, aber Louise bat mich, zur Beerdigung zu bleiben. Am Sonntag, den 23. Oktober, fuhren einige Freund*innen mit ihr zum Gewerkschaftshaus, wo Reeds Körper aufgebahrt war. Ich begleitete Louise, als die Prozession zum Roten Platz aufbrach. Dort gab es Reden – äußerst kalte und klischeehafte Deklamationen über den Wert Jack Reeds für die Revolution und die Kommunistische Partei. Sie alle klangen mechanisch, weit entfernt vom Geist des toten Mannes im frischen Grab. Nur eine Rednerin wurde dem echten Jack Reed gerecht – Alexandra Kollontai. Sie hatte die Künstlerseele des Verstorbenen verstanden, die so viel tiefgründiger und schöner als irgendein Dogma gewesen war. Sie nutzte die Gelegenheit um ihre Genoss*innen zu ermahnen. »Wir nennen uns selbst Kommunist*innen«, sagte sie, »aber sind wir das wirklich? Ziehen wir nicht die Lebenskraft von denen, die zu uns kommen, und lassen sie fallen, wenn sie uns nicht weiter von Nutzen sind, vernachlässigt und vergessen? Unser Kommunismus und unsere Kameradschaft sind tote Worte, wenn wir uns nicht denjenigen, die uns brauchen, widmen. Lasst uns uns vor einem solchen Kommunismus hüten. Er tötet die besten unter uns. Jack Reed war einer der Besten.«

Die ernsten Worte von Kollontai missfielen den hohen Parteimitgliedern. Bucharin[114] runzelte seine Stirn, Reinstein zappelte herum und andere grummelten. Aber ich war froh über das, was Kollontai gesagt hatte. Nicht nur weil das, was sie gesagt hatte, Jack Reed besser charakterisierte als irgendetwas anderes, was an diesem Tag gesagt worden war, sondern auch, weil es sie mir näher brachte. In Amerika hatten wir wiederholt versucht uns zu treffen, aber es nie geschafft. Als ich im März 1920 nach Moskau kam, war Kollontai krank. Ich konnte sie nur kurz treffen, bevor ich nach Petrograd zurückkehrte. Wir sprachen über die Dinge, die mich beschäftigten. Während unseres Gesprächs hatte Kollontai bemerkt: »Ja, es gibt viele düsteren Seiten in Russland.« »Düster«, fragte ich, »nichts weiter?« Ich war unangenehm betroffen von einer aus meiner Sicht ziemlich oberflächlichen Sichtweise. Aber ich versicherte mich, dass Kollontais unzureichendes Englisch dafür verantwortlich war, das, was für mich ein totaler Zusammenbruch aller Ideale war, als »düster« zu bezeichnen.

Unter anderem hatte Kollontai damals gesagt, dass ich ein großartiges Arbeitsfeld unter den Frauen finden würde, da bis zu dieser Zeit nur sehr wenig getan worden war, sie aufzuklären und zu stärken. Wir schieden voneinander in Freundschaft, aber ich fühlte bei ihr nicht das gleiche Gefühl von Wärme und Verbundenheit, das ich gegenüber Angelica Balabanowa empfand. Hier, am offenen Grab von Reed brachten ihre Worte sie mir näher. Auch sie war tief bewegt, dachte ich.

Louise Bryant war in eine tiefe Ohnmacht gefallen und lag mit dem Gesicht nach unten auf der feuchten Erde. Nur durch große Anstrengung konnten wir sie wieder auf die Beine bringen. Aufgelöst brachten wir sie im wartenden Wagen zu ihrem Hotel und legten sie ins Bett. Draußen war der Himmel grau verhangen und er weinte auf das frische Grab von Jack Reed. Und ganz Russland schien ein frisches Grab zu sein.

Bei unserem Aufenthalt in Moskau hatten wir die Erklärung für den plötzlichen Sinneswandel der kommunistischen Presse gegenüber Machno gefunden. Die Bolschewiki, von Wrangel ziemlich unter Druck gesetzt, suchten die Hilfe der ukrainischen Armee der povstantsi. Ein politisch-militärisches Abkommen zwischen der sowjetischen Regierung und Nestor Machno stand kurz vor dem Abschluss. Letzterer sollte beim Feldzug gegen den konterrevolutionären Feind vollständig mit der Roten Armee kooperieren. Auf der anderen Seite akzeptierten die Bolschewiki die folgenden Bedingungen Machnos:

1.


Die sofortige Freilassung und ein Ende der Verfolgung aller Machnowtschist*innen und Anarchist*innen außer in den Fällen, in denen sie mit Waffengewalt gegen das sowjetische Regime rebelliert hatten.

1.


Vollständige Rede- und Pressefreiheit für Machnowtschist*innen und Anarchist*innen, jedoch ohne das Recht zu bewaffeneten Aufständen gegen die sowjetische Regierung aufzurufen und Unterwerfung unter die militärische Zensur.

1.

Freie Teilnahme an den Wahlen der Sowjets, das Recht der Machnowtschist*innen und Anarchist*innen zu kandidieren und den fünften Allukrainischen Rätekongress[115] auszurichten.

Die Vereinbarung beinhaltete auch das Recht der Anarchist*innen, einen Kongress in Charkiw einzuberufen und erste Vorbereitungen waren getroffen worden, um diesen im Oktober abzuhalten. Zahlreiche Anarchist*innen wollten daran teilnehmen und waren beschwingt von dieser Aussicht. Aber mein Vertrauen in die Bolschewiki hatte zu viele Rückschläge erlitten. Ich glaubte nicht nur nicht daran, dass der Kongress stattfinden würde, sondern ich sah darin einen Komplott der Bolschewiki, alle Anarchist*innen an einem Ort zu versammeln, um sie zu vernichten. Fakt war jedoch, dass einige Anarchist*innen, unter ihnen der bekannte Autor und Redner Volin[116], bereits entlassen worden waren und sich nun auf freiem Fuß in Moskau befanden.


***


Wir brachen nach Petrograd auf, um dem Museum die Wagenladung wertvoller Materialien zu bringen, die wir im Süden gesammelt hatten. Noch wertvoller waren die Erfahrungen der Mitglieder der Expedition, die durch den persönlichen Kontakt mit Menschen unterschiedlichster Ansichten oder ohne Ansichten und durch den Eindruck des sozialen Panoramas, wie es sich täglich vor einer*einem ausbreitete, bereichert worden waren. Das war ein Schatz von viel größerem Wert als alle Papierdokumente. Aber der bessere Einblick in die Situation hatte meine inneren Zweifel verstärkt. Ich hatte mich danach gesehnt meine Augen und Ohren zu schließen, um nicht die anschuldigende Hand zu sehen, die auf die blauäugigen Fehler und bewussten Verbrechen deutete, die die Revolution erdrückten. Ich hatte die unerbittliche Stimme der Tatsachen nicht hören wollen, die nun keinerlei persönliche Bindungen mehr zum Schweigen bringen konnten. Ich wusste, dass die Revolution und die Bolschewiki, von denen behauptet wurde, sie seien ein und dasselbe, Gegensätze waren, widersprüchlich in ihrem Sinn und Zweck. Die Revolution hatte ihre Wurzeln tief im Leben der Menschen. Der kommunistische Staat basierte auf einem Programm, das von einer politischen Partei mit Gewalt durchgesetzt wurde. Im Wettkampf war die Revolution erschlagen worden, aber die Mörderin rang ebenfalls nach Luft. In Amerika hatte ich geglaubt, dass die Interventionist*innen, die Blockade und die Verschwörung der Imperialist*innen die Revolution zerstörten. Aber was ich damals nicht gekannt hatte, war die Rolle der Bolschewiki in diesem Prozess. Nun begriff ich, dass sie die Totengräber*innen waren.

Mir war erdrückend bewusst, was ich den Arbeiter*innen Europas und Amerikas schuldete: Ich musste ihnen die Wahrheit über Russland erzählen. Aber wie konnte ich das aussprechen, wo das Land doch noch immer an mehreren Fronten belagert wurde? Das würde bedeuten, Polen und Wrangel in die Hände zu spielen. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich mich zurück, gewichtige soziale Missstände zu enthüllen. Ich fühlte mich, als würde ich das Vertrauen der Massen missbrauchen, besonders das der amerikanischen Arbeiter*innen, deren Vertrauen ich besonders schätzte.

In Petrograd angekommen, lebte ich vorübergehend im Hotel International. Ich beabsichtigte, irgendwo anders ein Zimmer zu finden, entschlossen von der Regierung keine Privilegien mehr anzunehmen. Das International war voll mit Besucher*innen aus dem Ausland. Viele hatten keine Ahnung, warum oder wofür sie gekommen waren. Sie hatten sich einfach in dem Land, von dem sie dachten, dass es das Paradies der Arbeiter*innen sei, versammelt. Ich erinnere mich an meine Erlebnisse mit einem bestimmten I.W.W.-Kerl. Er hatte eine kleine Menge an Vorräten nach Russland gebracht: Nadeln, Faden und andere ähnliche Notwendigkeiten. Er bestand darauf, dass er mit mir teilen dürfe. »Aber du wirst jedes bisschen davon selbst brauchen«, sagte ich ihm. Natürlich wusste er, dass es eine große Knappheit in Russland gab. Aber das Proletariat sei an der Macht und als Arbeiter könne er alles bekommen, was er brauche. Oder er würde »ein Stück Land bekommen und eine Heimstätte errichten.« Er sei fünfzehn Jahre in der Wobbly[117]-Bewegung gewesen und er hätte »nichts dagegen, sesshaft zu werden.« Was hätte ich zu einem solch arglosen Menschen sagen sollen? Ich hatte nicht den Mut, ihn zu desillusionieren. Ich wusste, er würde es bald genug selbst lernen. Dennoch war es herzergreifend, solche Menschen in das verhungernde Russland strömen zu sehen. Dennoch konnten sie Russland nicht den Schaden zufügen, den die andere Art anrichtete – Kreaturen aus allen Ecken der Welt, für die die Revolution eine Goldmine darstellte. Von ihnen gab es viele im Hotel International. Sie alle erzählten Märchen vom wundersamen Wachstum des Kommunismus in Amerika, Irland, China, Palästina. Solche Geschichten waren Balsam für die hungrigen Seelen der Männer an der Macht. Sie hießen sie willkommen, wie eine alte Magd die Schmeicheleien ihres ersten Verehrers begrüßt. Sie schickten diese Betrüger*innen finanziell gut ausgestattet zurück nach Hause, damit sie Lobeshymnen auf die Arbeiter*innen- und Bäuer*innenrepublik sängen. Es war sowohl tragisch als auch komisch, die Brut dabei zu beobachten, wie sie sich alle mit »wichtigen Geheimaufträgen« aufplusterten.

Ich empfing viele Besucher*innen in meinem Zimmer, unter ihnen meine kleine Nachbarin vom Astoria mit ihren beiden Kindern, eine*n Kommunist*in der französischen Sektion und einige der Ausländer*innen. Meine Nachbarin sah krank und besorgt aus, seit ich sie zuletzt im Juni 1920 gesehen hatte. »Bist du krank?«, fragte ich sie bei einer Gelegenheit. »Nicht wirklich«, sagte sie, »ich bin die meiste Zeit hungrig und erschöpft. Der Sommer war hart: Als Inspekteur*in von Kinderhäusern muss ich viel laufen. Ich komme total erschöpft nach Hause zurück. Meine neunjährige Tochter besucht eine Kindersiedlung, aber ich kann es nicht riskieren, meinen Baby-Sohn dort hinzuschicken, wegen seiner Erfahrungen im letzten Jahr, als er so vernachlässigt wurde, dass er fast gestorben wäre. Ich musste ihn den ganzen Sommer in der Stadt behalten, was es für mich doppelt so anstrengend macht. Dennoch wäre das alles nicht so schlimm, wenn es nicht die subotniki und voskresniki (freiwillige samstägliche und sonntägliche Arbeitstage der Kommunist*innen) gäbe. Die zehren meine Kraft vollständig auf. Du erinnerst dich daran, wie sie angefangen haben – wie ein Picknick mit Trompeten und Gesang, Märschen und Festlichkeiten. Wir fühlten uns inspiriert, besonders wenn wir unsere führenden Genoss*innen Spitzhacke und Schaufel aufnehmen und zulangen sahen. Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Die subotniki sind grau und inspirationslos geworden, zu einer auferlegten Pflicht ohne Rücksicht auf Lust, körperliche Fitness oder die ganze übrige Arbeit, die eine*r zu erledigen hat. Nichts hat jemals Erfolg in unserem armen Russland. Wenn ich nur hier raus käme, nach Schweden, Deutschland, irgendwohin, weit weg von all dem.« Arme kleine Frau. Sie war nicht die einzige, die das Land aufgeben wollte. Es war ihre Liebe zu Russland und ihre bittere Enttäuschung, die in den meisten Menschen das Verlangen weckte wegzulaufen.

Einige andere Kommunist*innen, die ich in Petrograd kannte, waren sogar noch verbitterter. Immer wenn sie mich besuchten, wiederholten sie ihre Entschlossenheit aus der Partei auszutreten. Sie sagten, sie würden in der Atmosphäre von Intrigen, blindem Hass und gefühlloser Verfolgung ersticken. Aber es erforderte eine beachtliche Willenskraft die Partei zu verlassen, die das Schicksal von mehr als einhundert Millionen Menschen absolut kontrollierte und meinen kommunistischen Besucher*innen fehlte die Kraft dazu. Aber das minderte nicht ihr Elend, das sogar ihren gesundheitlichen Zustand beeinträchtigte, obwohl sie die größten Rationen bekamen und ihre Mahlzeiten im exklusiven Speisesaal des Smolny[118] einnahmen. Ich erinnere mich an meine Überraschung darüber, dass es zwei getrennte Restaurants im Smolny gab, eines, in dem den bedeutenden Mitgliedern des Petrograder Sowjets und der Dritten Internationale gesunde und ausreichend Speisen serviert wurden, während das andere für die gewöhnlichen Angestellten der Partei war. Es hatte sogar einmal drei Restaurants gegeben. Irgendwie hatten die Matros*innen von Kronstadt davon erfahren. Sie kamen als Masse herunter und schlossen zwei der Speisesäle. »Wir haben die Revolution gemacht, damit alle gleich sind,« sagten sie. Eine zeitlang gab es nur ein Restaurant, aber später wurde das zweite eröffnet. Aber selbst in letzterem waren die Mahlzeiten denen in den sowjetischen Speisesälen für die »einfachen Leute« weit überlegen.

Einige der Kommunist*innen hatten diese Diskriminierung beanstandet. Sie sahen den Pfusch, die Intrigen, die Zerstörung des Lebens, die im Namen des Kommunismus betrieben wurden, aber sie hatten nicht die Stärke und den Mut zu protestieren oder sich von der Partei, die für diese Ungerechtigkeiten und Brutalitäten verantwortlich war, zu trennen. Oft schütteten sie mir ihr Herz über die Angelegenheiten aus, über die sie es nicht wagten, in ihren eigenen Kreisen zu sprechen. Dadurch erfuhr ich eine Menge über die innere Funktionsweise der Partei und der Dritten Internationale, was vor der Außenwelt üblicherweise sorgfältig verborgen wurde. Darunter war die Geschichte von der mutmaßlichen finnischen weißen Verschwörung, die in der Ermordung von sieben führenden finnischen Kommunist*innen in Petrograd resultierte. Ich hatte davon in den sowjetischen Zeitungen gelesen, als ich in der Ukraine gewesen war. Ich erinnere mich an das Gefühl neuer Ungeduld gegenüber mir selbst, dass ich dem bolschewistischen Regime zu einer Zeit kritisch gegenüberstünde, zu der konterrevolutionäre Aktivitäten noch immer so aktiv seien. Aber von meinen kommunistischen Besucher*innen erfuhr ich, dass der veröffentlichte Bericht von vorne bis hinten erlogen war. Es sei keine weiße Verschwörung gewesen, sondern ein Konflikt zwischen zwei Gruppen der Bolschewiki: Den moderaten finnischen Kommunist*innen, die verantwortlich waren für die Propaganda, die von Petrograd aus verbreitet wurde, und dem linken Flügel, der in Finnland arbeitete. Die Moderaten waren Anhänger*innen Sinowjews und waren durch ihn an ihre Position gekommen. Die Linken hatten sich in der Dritten Internationale wiederholt über den Konservatismus und die Kompromisse ihrer Genoss*innen in Petrograd beschwert und den Schaden kritisiert, den diese in der Bewegung in Finnland anrichten würden. Sie baten darum, dass die Verantwortlichen abgesetzt werden würden. Mensch ignorierte sie. Am 31. August 1920 kamen die Linken nach Petrograd und gingen zum Hauptquartier der Moderaten. Bei einer Sitzung letzterer forderten sie, dass das Exekutivkomitee zurücktreten und ihnen alle Bücher und Konten übergeben solle. Weil ihre Forderungen abgelehnt wurden, eröffneten die jungen finnischen Kommunist*innen das Feuer und töten sieben ihrer Genoss*innen. Die Affäre wurde der Welt als konterrevolutionäre Verschwörung weißer Finn*innen verkündet.

Am 7. November (nach alter Zeitrechnung am 25. Oktober) wurde der dritte Jahrestag der Oktoberrevolution gefeiert. Ich hatte so viele offizielle Demonstrationen gesehen, dass ich das Interesse an ihnen verloren hatte. Dennoch ging ich zum Versammlungsort, weil ich hoffte, eine neue Variation zu sehen zu bekommen. Es stellte sich als Wiederaufguss der gleichen Sache heraus, die ich immer und immer wieder zu sehen bekommen hatte. Besonders der Festzug war eine Demonstration der kommunistischen Ideenarmut. Kerenski und sein Kabinett, Tschernow und die Konstituierende Versammlung und die Erstürmung des Winterpalasts dienten erneut als Marionetten, um die Rolle der Bolschewiki als »Retter*innen der Revolution« zu betonen. Das Ganze war schlecht gespielt und armselig inszeniert und kam nicht an. Mich erinnerten die Feierlichkeiten mehr an eine Beerdigung als an die Geburt der Revolution.

Während des ganzen Novembers herrschte eine große Aufregung in Petrograd. Es kursierten zahlreiche Gerüchte über Streiks, Festnahmen und Zusammenstöße zwischen Arbeiter*innen und Soldat*innen. Es war schwierig, die Fakten zu überprüfen. Aber die außerordentliche Kommissionssitzung, die von der Partei im Ersten Haus der Sowjets einberufen worden war, war ein Zeichen dafür, dass die Lage ernst war. Am frühen Nachmittag war der gesamte Platz vor dem Astoria mit Autos einflussreicher Kommunist*innen vollgestellt, die zur Teilnahme an der Sondersitzung herbestellt worden waren. Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass die Petrograder Sitzung in Übereinstimmung mit dem Moskauer Dekret entschieden hatte, einige wichtige bolschewistische Arbeiter*innen in die Fabriken und Läden zu mobilisieren. Dreihundert Mitglieder der Partei, einige von ihnen hohe Regierungsbeamt*innen und andere, die verantwortungsvolle Positionen im Petrograder Sowjet inne hatten, wurden auf der Stelle zum Arbeiten beordert, um dem Proletariat zu beweisen, dass Russland tatsächlich eine Arbeiter*innenregierung hätte. Auf diese Art und Weise wollte mensch die wachsende Unzufriedenheit unter den Proletarier*innen beruhigen und dem Einfluss anderer politischer Parteien unter ihnen entgegenwirken. Zorin war einer der dreihundert.

Dennoch ließen sich die Malochenden von diesem Schachzug nicht täuschen. Sie wussten, dass die meisten der mobilisierten Männer auch weiterhin im Astoria lebten und in ihren Autos zur Arbeit kamen. Sie sahen sie in warmer Kleidung und guten Schuhen, während sie selbst beinahe nackt waren und in verwahrlosten Quartieren ohne Licht und Wärme lebten. Die Arbeiter*innen nahmen diesen Täuschungsversuch übel. Die Angelegenheit wurde zum Diskussionsthema in den Läden und viele unerfreuliche Szenen folgten. Eine Frau, eine prominente Kommunistin, wurde in der Fabrik so sehr gequält, dass sie die Nerven verlor und abberufen wurde. Einige der mobilisierten Bolschewiki, unter ihnen Zorin und andere, meinten es zwar wirklich ernst, aber sie waren dem Dasein als Malochende entwachsen und konnten der Mühsal in den Fabriken nicht standhalten. Nach einigen Wochen kollabierte Zorin und musste an einen Erholungsort gebracht werden. Auch wenn er allgemein beliebt gewesen war, wurde sein Zusammenbruch von den Arbeiter*innen als List interpretiert, um dem Elend der proletarischen Existenz zu entfliehen. Der Bruch zwischen den Massen und der neuen bolschewistischen Bürokratie war zu tief. Er konnte nicht wieder gutgemacht werden.

Kapitel 25: Archangelsk und Rückkehr

Am 28. November machte sich die Expedition erneut auf den Weg, dieses Mal mit nur drei Mitgliedern: Alexander Berkman, der Sekretärin und mir selbst. Wir reisten über Moskau nach Archangelsk mit Aufenthalten in Wologda und Jaroslawl. Wologda war der Sitz verschiedener ausländischer Botschaften gewesen, die den Feind*innen der Revolution inoffiziell Unterstützung leisteten. Wir hatten erwartet dort historisches Material zu finden, aber uns wurde gesagt, dass das meiste davon vernichtet worden sei oder anderweitig zerstört wurde. Die sowjetischen Institutionen waren uninteressant: Es war eine schwerfällige, verschlafene Stadt der Provinz. In Jaroslawl, wo die sogenannten Sawinkow-Aufstände[119] zwei Jahre zuvor stattgefunden hatten, konnten wir keine Daten finden, die von Interesse waren.

Wir reisten weiter nach Archangelsk. Die Geschichten, die wir vom gefrorenen Norden gehört hatten, stimmten uns eher besorgt. Aber zu unserer großen Erleichterung war es in der Stadt nicht kälter als in Petrograd und viel trockener.

Der Vorsitzende des Ispolkom von Archangelsk war ein Kommunist von der angenehmen Sorte, nicht gerade übereifrig oder ernst. Sobald wir den Zweck unserer Mission erklärt hatten, griff er zum Telefon. Jedes Mal, wenn er eine*n Beamt*in erreichte, grüßte er ihn als »lieber tovarishtch[120]« und informierte sie*ihn, dass »liebe tovarishtchi aus dem Zentrum« in der Stadt seien und ihnen jede Hilfe gewährt werden müsse. Er war der Überzeugung, dass unser Aufenthalt ergiebig sein würde, da sehr viele wichtige Dokumente zurückgeblieben wären, als die Alliierten sich zurückgezogen hatten. Es gäbe Archive alter Zeitungen, die von der Tschaikowski-Regierung[121] herausgegeben und Fotografien der Brutalitäten, die von den Weißen an den Kommunist*innen verübt worden waren. Der Vorsitzende selbst hatte seine gesamte Familie inklusive seiner zwölfjährigen Schwester verloren. Da er am nächsten Tag nach Moskau aufbrechen würde, um dort an der Konferenz der Sowjets teilzunehmen, versprach er uns, zu veranlassen, dass mensch uns Zugang zu den Archiven gewähre.

Als wir das Ispolkom verließen, um unsere Runden zu machen, wurden wir von drei Schlitten überrascht, die dank der Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf uns warteten. In Pelzdecken eingewickelt und mit klirrenden Glocken startete jedes Mitglied der Expedition in eine andere Richtung, um die ihr*ihm zugewiesenen Ämter abzuarbeiten. Die sowjetischen Beamt*innen in Archangelsk schienen großen Respekt vor dem »Zentrum« zu haben, das Wort wirkte wie magisch und öffnete jede Tür.

Der Vorsitzende des Amtes für Bildung war ein gastfreundlicher und gütiger Mann. Nachdem er mir die von seiner Institution geleisteten Arbeit im Detail erklärt hatte, rief er einige Angestellte in sein Büro, informierte sie über den Zweck der Expedition und bat sie, die Materialien vorzubereiten, die sie für das Museum sammeln könnten. Unter diesen sowjetischen Arbeiter*innen war eine Nonne, eine junge Frau mit schönem Gesicht. Was für eine seltsame Sache, eine Nonne in einem sowjetischen Amt zu finden, dachte ich. Der Vorsitzende bemerkte meine Überraschung. Er habe einige Nonnen in seinem Amt, sagte er. Als die Klöster nationalisiert worden waren, hätten die armen Frauen nicht gewusst, wohin sie gehen sollten. Er habe die Idee gehabt, ihnen die Gelegenheit zu bieten, nützliche Arbeit in der neuen Welt zu verrichten. Er habe keine Veranlassung dazu, seine Handlung zu bereuen: Er habe die Nonnen nicht zum Kommunismus bekehren können, aber sie hätten großes Vertrauen geschöpft und seien fleißige Arbeiterinnen geworden und die jüngeren von ihnen hätten ihren Geist sogar ein wenig erweitert. Er lud mich ein, das kleine Kunstatelier zu besuchen, in dem einige Nonnen beschäftigt seien.

Das Atelier war ein recht ungewöhnlicher Ort – weniger wegen seines künstlerischen Wertes, sondern vielmehr wegen der Menschen, die dort arbeiteten: Zwei alte Nonnen, die vierzig bzw. fünfundzwanzig Jahre im Kloster gelebt hatten, einem jungen weißen Offizier und einem älteren Arbeiter. Letztere waren beide als Konterrevolutionäre verhaftet und zum Tode verurteilt worden, aber der Vorsitzende hatte sie gerettet, um ihnen nützliche Arbeit zu geben. Er wollte denen eine Chance geben, die durch Ignoranz oder Zufall Feind*innen der Revolution gewesen waren. Eine revolutionäre Periode, bemerkte er, erfordere harte Maßnahmen, sogar Gewalt, aber mensch sollte zunächst andere Methoden versuchen. Er habe viele in seinem Amt, die als Konterrevolutionär*innen gegolten hätten, aber nun alle gute Arbeit leisten würden. Das war das Außergewöhnlichste, was ich je von einer*einem Kommunist*in gehört hatte. »Wirst du nicht als sentimentaler Bourgeois betrachtet?«, fragte ich. »Ja, in der Tat«, antwortete er lächelnd, »aber das macht nichts. Die Hauptsache ist, dass es mir gelungen ist zu zeigen, dass meine Sentimentalität funktioniert, wie du selbst sehen kannst.«

Der Schreiner war der Künstler des Ateliers. Auch wenn ihm das Schnitzen nie gelehrt worden war, vollbrachte er wundervolle Schnitzereien und war ein Meister in jeder Art von Holzarbeit. Die Nonnen fertigten Farbgemälde von Blumen und Gemüse, die von Lehrenden in den Dörfern zur Veranschaulichung genutzt wurden. Sie malten auch Plakate, hauptsächlich für die Kinder-Festivals.

Ich besuchte das Atelier mehrere Male alleine, um frei mit dem Schreiner und den Nonnen zu reden. Sie hatten wenig Verständnis für die grundlegenden Tatsachen, die sie aus ihrer Verankerung gerissen hatten. Der Schreiner beklagte sich darüber, dass die Zeiten hart gewesen seien, weil es ihm nicht erlaubt gewesen war, seine Handarbeiten zu verkaufen. »Ich hatte eine hübsche Summe an Geld verdient, aber nun bekomme ich kaum genug zu essen«, sagte er. Die Schwestern beklagten sich nicht. Sie akzeptierten ihr Schicksal als Wille Gottes. Dennoch gab es sogar in ihnen eine Veränderung. Statt in einem Kloster eingeschlossen zu sein, kamen sie nun in Berührung mit dem echten Leben und sie waren menschlicher geworden. Ihr Ausdruck war weniger abweisend, ihre Arbeit offenbarte Zeichen der Verwandtschaft mit der Welt um sie herum. Ich konnte das besonders in ihren Gemälden von Kindern und Kinderspielen feststellen. Darin lag eine Zärtlichkeit, die von dem lange unterdrückten Mutterinstinkt zeugte, der nach Ausdruck verlangte. Der ehemalige weiße Offizier war der intelligenteste der vier – er war durch die Feuerprobe des Lebens gegangen. Er habe den Unsinn und das Verbrechen des Interventionismus kennengelernt, sagte er, und er würde dieser nicht noch einmal seine Hilfe entbieten. Was ihn überzeugt habe? Die Interventionist*innen selbst. Sie waren in Archangelsk gewesen und hätten sich verhalten, als ob ihnen die Stadt gehöre. Die Alliierten hätten viel versprochen, aber sie hätten nichts getan, außer wenigen Personen zu Reichtum zu verhelfen, die mit den Vorräten spekulierten, die dazu gedacht waren die Bevölkerung zu versorgen. Jede*r habe sich zunehmend gegen die Interventionist*innen gewandt. Ich fragte mich, wie viele der zahllosen als Konterrevolutionär*innen Erschossenen für das neue Regime gewonnen hätten werden können und nun nützliche Arbeit leisten würden, wenn jemand ihre Leben gerettet hätte.

Ich hatte so viele Schauschulen gesehen, dass ich entschieden hatte, nichts davon zu sagen, Bildungseinrichtungen besuchen zu wollen, bis ich sie in einem unerwarteten Moment überrumpeln könnte. An unserem ersten Samstag in Archangelsk war eine Sonderaufführung von Leonid Andrejews[122] Theaterstück »Savva« organisiert worden. Für ein provinzielles Theater war die Aufführung ziemlich gut gelungen, wenn mensch zudem beachtete, dass kaum Zeit zur Vorbereitung gewesen war.

Nach der Aufführung teilte ich dem Vorsitzenden des Amtes, X. mit, dass ich früh am nächsten Morgen seine Schulen besuchen wolle. Ohne zu zögern willigte er ein und schlug sogar vor, die anderen Mitglieder der Expedition mitzunehmen. Wir besuchten mehrere Schulen und was die Sauberkeit, den Komfort und die allgemeine Heiterkeit anging, waren diese eine Offenbarung. Es war ebenfalls schön, das zärtliche Verhältnis zwischen den Kindern und X. zu beobachten. Ihre Freude war unwillkürlich und aufrichtig bei seinem Anblick. Wenn er auftauchte, stürzten sie sich auf ihn und schrien vor Begeisterung, sie kletterten auf ihn und hingen an seinem Nacken. Und er? Niemals zuvor hatte ich einen solchen Anblick in irgendeiner Schule in Petrograd oder Moskau gesehen. Er warf sich auf den Boden, die Kinder auf ihm und spielte und scherzte mit ihnen, als ob es seine eigenen Kinder wären. Er war einer von ihnen, das wussten sie und sie fühlten sich mit ihm wohl.

Ähnlich schöne Beziehungen beobachtete ich in jeder Schule und jedem Kinderheim, das wir besuchten. Die Kinder strahlten, wenn X. auftauchte. Sie waren die ersten glücklichen Kinder, die ich in Russland sah. Es stärkte meine Überzeugung über die Bedeutung von Persönlichkeit und die Wichtigkeit von gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Liebe zwischen Lehrer*in und Schüler*in. Wir besuchten viele Schulen an diesem Tag. Nirgendwo konnte ich irgendeine Diskriminierung beobachten. Überall hatten die Kinder geräumige Schlafsäle, makellos saubere Räume und Betten, gutes Essen und gute Kleidung. Die Atmosphäre in den Schulen war warm und vertraut.

Wir fanden in Archangelsk viele historische Dokumente, einschließlich der Korrespondenz zwischen Tschaikowski, von der Übergangsregierung, und General Miller, dem Vertreter der Alliierten. Es war erbärmlich, die flehenden, beinahe unterwürfigen Worte des alten Pioniers der revolutionären Bewegung in Russland zu lesen, dem Gründer der Tschaikowski-Zirkel[123], dem Mann den ich seit Jahren gekannt hatte, der mich inspiriert hatte. Die Briefe enthüllten die Schwäche des Tschaikowski-Regimes und die willkürliche Herrschaft der alliierten Truppen. Besonders bedeutend war der Abschiedsbrief eines Matrosen, kurz vor seiner Hinrichtung durch die Weißen. Er beschrieb seine Haft und das Kreuzverhör und das verfluchte Kreuzverhör durch einen englischen Soldaten unter Vorhaltung einer Pistole. Unter den von uns gesammelten Materialien waren auch Ausgaben verschiedener revolutionärer und anarchistischer Publikationen, die von sub rosa veröffentlicht worden waren. Vom Amt für Bildung erhielten wir zahlreiche interessante Poster und Gemälde, sowie Pamphlete und Bücher und eine Sammlung von Proben der Arbeiten der Kinder. Unter ihnen war eine samtene Tischdecke, die von den Nonnen gemalt worden war und die die Kinder von Archangelsk in fröhlichen Farben zeigten, die uns als Gruß an die Kinder in Amerika präsentiert wurde.

Die Schulen und der großartige Mann an ihrer Spitze waren nicht die einzigen erwähnenswerten Charakterzüge von Archangelsk. Die anderen sowjetischen Institutionen stellten sich ebenfalls als effizient heraus. Es gab keine Sabotage, die unerschiedlichen Ämter arbeiteten wohlgeordnet und der allgemeine Geist war ernsthaft und fortschrittlich.

Die Verteilung von Lebensmitteln war besonders gut organisiert. Anders als an den meisten anderen Orten musste mensch keine Zeit oder Energie verschwenden, um seine Rationen zu beschaffen. Und das obwohl Archangelsk nicht besonders gut mit Vorräten versorgt war. Mensch konnte es sich nicht verkneifen, den großen Unterschied diesbezüglich zwischen dieser Stadt und Moskau festzustellen. Archangelsk hatte möglicherweise durch den Kontakt mit den Amerikaner*innen gelernt sich zu organisieren – was natürlich das letzte war, was die Alliierten gewollt hatten.

Der Besuch in Archangelsk war so interessant und ertragreich, dass die Expedition ihre Abfahrt hinauszögerte und wir viel länger blieben als ursprünglich geplant. Bevor wir die Stadt verließen, besuchte ich X. Ich fragte ihn, was er am meisten begehre, wenn ihm irgendetwas aus »dem Zentrum« geschickt werden könnte. »Farben und Leinwände für unser kleines Atelier«, antwortete er. »Triff dich mit Lunatscharski und bewege ihn dazu, uns einige zu schicken.« Was für eine großartige, liebenswürdige Persönlichkeit!

Wir verließen Archangelsk in Richtung Murmansk, aber wir waren nicht weit gekommen, als wir von einem schweren Schneesturm überrascht wurden. Mensch teilte uns mit, dass wir Murmansk nicht vor zwei Wochen erreichen würden, obwohl die Reise unter normalen Umständen drei Tage dauerte. Außerdem gab es die Gefahr, dass wir nicht rechtzeitig nach Petrograd zurückkehren könnten, da der Schnee die Wege oft wochenlang blockierte. Daher entschieden wir, nach Petrograd zurückzukehren. Als wir ungefähr 75 Werst [ungefähr 50 Meilen][124] von der Stadt entfernt waren, gerieten wir in einen Blizzard. Es würde Tage dauern, bis die Gleise so weit geräumt sein würden, dass wir weiterreisen könnten. Keine guten Nachrichten, aber glücklicherweise hatten wir Brennstoff und genug Vorräte für einige Zeit.

Es war Ende Dezember und wir feierten Weihnachten in unserem Waggon. Die Nacht war klar und der Himmel wunderschön mit Sternen bedeckt, die Erde in weiß gekleidet. Eine kleine Kiefer, kustvoll von unserer Sekretärin dekoriert und in unserem Wohnzimmer thronend, verlieh dem Anlass den nötigen Glanz. Der Schein der kleinen Wachskerzen verlieh der Szene einen Hauch Romantik. Geschenke für unsere Reisegefährt*innen kamen den ganzen Weg aus Amerika. Sie waren uns von Freund*innen im Dezember 1919 überreicht worden, als wir auf Ellis Island unsere Abschiebung erwarteten. Seitdem war ein Jahr vergangen, ein fürchterliches Jahr.

Als wir in Petrograd ankamen, war die Stadt von der hitzigen Diskussion um die Rolle der Gewerkschaften aufgewühlt. Die Zustände in letzteren hatten zu so großer Unzufriedenheit an der Basis geführt, dass die Kommunistische Partei schließlich gezwungen war, sich des Problems anzunehmen. Bereits im Oktober war die Frage der Gewerkschaften bei den Sitzungen der Kommunistischen Partei aufgebracht worden. Die Diskussionen hielten während des Novembers und Dezembers an und erreichten ihren Höhepunkt auf dem Achten Allrussischen Kongress der Sowjets. Alle führenden Kommunist*innen nahmen an der großen Diskussion über das Schicksal der Arbeiter*innenorganisationen teil. Es offenbarten sich vier unterschiedliche Standpunkte. Erstens, der der Lenin-Sinowjew-Fraktion, die die hauptsächliche »Funktion der Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats« darin sahen, »als Schulen des Kommunismus zu dienen.« Zweitens die vom alten Kommunisten Rjasanow[125] vertretene Gruppe, die darauf bestand, dass die Gewerkschaften als Forum der Arbeiter*innen und als ihr ökonomischer Schutzpatron fungieren müssten. Trotzki vertrat die dritte Fraktion. Er war der Ansicht, dass die Gewerkschaften im Laufe der Zeit die Verwalter*innen und Leiter*innen der Industrien werden würden, aber sie gegenwärtig einer strikten militärischen Disziplin unterworfen werden und den Bedürfnissen des Staats vollständig unterworfen sein müssten. Die vierte und wichtigste Strömung war die der Arbeiter*innenopposition, vertreten durch Madame Kollontai und Schljapnikow[126], die die Stimmung der Arbeiter*innen ausdrückten und ihre Unterstützung genossen. Diese Opposition argumentierte, dass die Einstellung der Regierung gegenüber den Gewerkschaften das Interesse der Malochenden am ökonomischen Wiederaufbau des Landes zerstört habe und ihre produktiven Kapazitäten gelähmt habe. Sie betonten, dass in der Oktoberrevolution dafür gekämpft worden war, dass das Proletariat die Kontrolle über das industrielle Leben des Landes erlange. Sie forderten die Befreiung der Massen vom Joch des bürokratischen Staates und seines korrupten Beamt*innentums und die Gelegenheit zur Entfaltung der kreativen Energien der Arbeiter*innen. Die Arbeiter*innenopposition brachte die Unzufriedenheit und die Sehnsüchte der Basis zum Ausdruck.

Es war eine heftige Auseinandersetzung, in der Trotzki und Sinowjew sich gegenseitig in verschiedenen Spezialzügen durch das Land jagten, um gegenseitig ihre Argumente zu widerlegen. In Petrograd zum Beispiel war Sinowjews Einfluss so gewaltig, dass es eines großen Kampfes bedurfte, bis Trotzki überhaupt die Erlaubnis erhielt, zu den örtlichen Kommunist*innen über seine Ansichten in der Kontroverse zu sprechen. Letztere riefen heftige Gefühle hervor und drohten eine Zeit lang die Partei zu zerreißen.

Auf dem Kongress denunzierte Lenin die Arbeiter*innenopposition als »anarcho-syndikalistische Mittelklasseideologie« und befürwortete ihre vollständige Auslöschung. Schljapnikow, einer der einflussreichsten Anführer*innen der Opposition wurde von Lenin als »angefressener Kommissar« bezeichnet und wurde darauffolgend zum Schweigen gebracht, indem er zu einem Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gemacht wurde. Madama Kollontai wurde ermahnt, ihre Zunge zu zügeln oder die Partei zu verlassen, ihr Pamphlet, das die Ansichten der Opposition darlegte, wurde verboten. Einige der kleineren Lichter der Arbeiter*innenopposition erhielten einen Urlaub bei der Tscheka und sogar Rjasanow, ein alter und verdienter Kommunist, wurde für sechs Monate von allen Gewerkschaftsaktivitäten ausgeschlossen.

Kurz nach unserer Ankunft in Petrograd wurden wir vom Sekretär des Museums darüber informiert, dass eine neue Institution, bekannt als das Ispart, in Moskau gegründet worden sei, um Materialien über die Geschichte der Kommunistischen Partei zu sammeln. Diese Organisation schlug außerdem vor, alle zukünftigen Expeditionen des Museums der Revolution zu beaufsichtigen und sie unter die Führung einer*eines politischen Kommissar*in zu stellen. Es wurde notwendig nach Moskau zu gehen, um die Fakten diese Angelegenheit betreffend zu ermitteln. Wir hatten zu viele Missstände gesehen, die durch die Diktatur einer*eines politischen Kommissar*in verursacht worden waren, die allgegenwärtige Spionage und Beeinträchtigung unabhängiger Bemühungen. Wir konnten uns mit der in Aussicht stehenden Änderung des Charakters unserer Expeditionen nicht einverstanden erklären.

Kapitel 26: Tod und Beerdigung von Peter Kropotkin

Als ich Moskau im Januar 1921 erreichte, erfuhr ich, dass Peter Kropotkin sich eine Lungenentzündung eingefangen hatte. Ich bot sofort an, ihn zu pflegen, aber da bereits ein*e Pfleger*in vor Ort war und das Häuschen der Kropotkins zu klein war, um weitere Besucher*innen zu beherbergen, einigten wir uns darauf, dass Sascha Kropotkin[127], die zu diesem Zeitpunkt in Moskau war, nach Dmitrow gehen sollte, um herauszufinden, ob ich gebraucht würde. Ich hatte mich zuvor darauf eingerichtet am nächsten Tag nach Petrograd zu fahren. Bis zum Augenblick der Abreise wartete ich auf einen Anruf aus dem Dorf, aber es kam keiner. Ich schloss daraus, dass es Kropotkin besser ging. Zwei Tage später, in Petrograd, wurde ich von Rawitsch darüber informiert, dass es Kropotkin schlechter ging und dass mensch mich bitte, sofort nach Moskau zu kommen. Ich brach sofort auf, aber unglücklicherweise war mein Zug zehn Stunden zu spät, so dass ich zu spät in Moskau ankam, um noch nach Dmitrow weiterzureisen. Damals gab es morgens keine Züge in das Dorf und so gelang es mir nicht vor dem Abend des 7. Februar in einem Zug Platz zu finden, der dorthin fuhr. Dann ging der Treibstoff für den Zug aus und er konnte bis 1 Uhr morgens des nächsten Tages nicht weiterfahren. Als ich schließlich am 8. Februar am Häuschen der Kropotkins eintraf, erfuhr ich die schreckliche Nachricht, dass Peter rund eine Stunde zuvor verstorben sei. Er hatte wiederholt nach mir gefragt, aber ich war nicht da gewesen, um meinem geliebten Lehrer und Genossen, einem der weltweit größten und nobelsten Geister, die letzte Ehre zu erweisen. Es war mir nicht vergönnt gewesen, in seinen letzten Stunden bei ihm zu sein. Ich würde zumindest bleiben, bis er zu seiner letzten Ruhestätte gebracht würde.

Zwei Dinge hatten mich bei meinen vorherigen Besuchen bei Kropotkin besonders beeindruckt: Das Fehlen von Bitterkeit gegenüber den Bolschewiki und die Tatsache, dass er nicht einmal seine eigenen Strapazen und Entbehrungen erwähnt hatte. Erst jetzt, da seine Familie die Beerdigung vorbereitete, erfuhr ich einige Details über sein Leben unter dem bolschewistischen Regime. Früh im Jahr 1918 hatte Kropotkin einige der fähigsten Spezialist*innen zu politischer Ökonomie um sich versammelt. Er beabsichtigte, eine sorgfältige Studie über die Ressourcen Russlands anzustellen, diese in Einzelwerken zu sammeln und sie für den industriellen Wiederaufbau des Landes in praktischen Nutzen zu verwandeln. Kropotkin war der Chefredakteur dieses Unterfangens gewesen. Ein Band wurde fertiggestellt, jedoch niemals veröffentlicht. Die Föderalistische Liga, wie diese wissenschaftliche Gruppe sich nannte, wurde von der Regierung aufgelöst und alle Materialien wurden beschlagnahmt.

Bei zwei Gelegenheiten wurden die Wohnungen der Kropotkins in Moskau beschlagnahmt, und die Familie war gezwungen gewesen eine neue Bleibe zu suchen. Aufgrund dieser Erfahrungen zogen die Kropotkins nach Dmitrow, wo der alte Peter unfreiwillig im Exil lebte. Kropotkin, in dessen Haus sich in der Vergangenheit diejenigen mit den besten Ideen und Gedanken aus der ganzen Welt versammelt hatten, war nun gezwungen gewesen, das Leben eines Einsiedlers zu führen. Seine einzigen Besucher*innen waren Bäuer*innen und Arbeiter*innen aus dem Dorf und einige Mitglieder der Intelligenzija, deren Gepflogenheit es war, ihn mit ihren Problemen und ihrem Unglück aufzusuchen. Er war mit der Welt immer durch zahlreiche Publikationen in Kontakt geblieben, aber in Dmitrow hatte er keinen Zugang zu diesen Quellen. Seine einzigen Informationskanäle waren nun die zwei Zeitungen der Regierung, die Prawda und die Iswestija. Er war außerdem in seiner Arbeit an seiner neuen »Ethik« stark eingeschränkt, solange er in dem Dorf lebte. Er war mental ausgehungert, was für ihn eine größere Folter war als körperliche Mangelernährung. Es stimmte, dass ihm eine bessere payock, als einer durchschnittlichen Person zuteil wurde, aber selbst das war unzureichend, um seine schwindende Stärke zu bewahren. Glücklicherweise erhielt er gelegentlich aus verschiedenen Quellen Unterstützung in Form von Vorräten. Seine Genoss*innen aus dem Ausland, sowie die Anarchist*innen aus der Ukraine sandten ihm oft Pakete mit Nahrungsmitteln. Einmal erhielt er einige Geschenke von Machno, als dieser gerade von den Bolschewiki als Terrrorist der Konterrevolution im Süden Russlands dargestellt wurde. Besonders hart empfanden die Kropotkins das Fehlen von Licht. Als ich sie im Jahr 1920 besuchte, waren sie glücklich darüber, in der Lage zu sein auch nur einen Raum zu erleuchten. Die meiste Zeit arbeitete Kropotkin beim Flackern einer kleinen Öllampe, was ihn beinahe erblinden ließ. Während der kurzen Stunden am Tag transkribierte er seine Notizen mithilfe einer Schreibmaschine, auf der er langsam und schmerzhaft jeden Buchstaben einhämmerte.

Dennoch waren es nicht seine eigenen Beschwerden, die seine Kräfte auslaugten. Es waren der Gedanke an die Revolution, die gescheitert war, die Strapazen Russlands, die Verfolgungen, die endlosen raztrels, die die letzten zwei Jahre seines Lebens zu einer so großen Tragödie gemacht hatten. Bei zwei Gelegenheiten versuchte er die Herrscher*innen Russlands zur Vernunft zu bringen: Einmal im Protest gegen das Verbot aller nicht-kommunistischen Publikationen, das andere Mal gegen die barbarische Praxis der Sippenhaft. Seit die Tscheka ihre Aktivitäten aufgenommen hatte, hatte die Regierung die Sippenhaft genehmigt. Alte und Junge, Mütter, Väter, Schwestern, Brüder, sogar Kinder wurden als Geiseln genommen für eine angebliche Straftat einer*eines ihrer Verwandten, von der sie meistens nichts wussten. Kropotkin betrachtete solche Methoden als unentschuldbar in jeder Hinsicht.

Im Herbst 1920 gelang es Mitgliedern der Sozialrevolutionären Partei, dass aus dem Ausland mit Vergeltung gedroht wurde, wenn die kommunistische Verfolgung ihrer Genoss*innen weitergehe. Die bolschewistische Regierung verkündete daraufhin in ihrer offiziellen Presse, dass sie für jedes kommunistische Opfer zehn Sozialrevolutionär*innen hinrichten würde. Damals protestierten die berühmte Revolutionärin Vera Figner und Peter Kropotkin bei den Machthaber*innen Russlands. Sie betonten, dass solche Praktiken die größte Schande für die Russische Revolution wären und ein Übel, das bereits furchtbare Ergebnisse gebracht habe: Die Geschichte würde solche Methoden niemals vergeben.

Der andere Protest richtete sich gegen den Plan der Regierung, alle privaten Verlage, inklusive die der Genossenschaften, zu »liquidieren«. Der Protest war an das Präsidium des Allrussischen Kongresses der Sowjets gerichtet, der damals tagte. Es ist interessant zu bemerken, dass Gorki, ein Beamter des Kommissariats für Bildung, eine ähnliche Beschwerde gestellt hatte. In seinem Statement richtete Kropotkin die Aufmerksamkeit auf die Gefahren einer solchen Politik für jeglichen Fortschritt, sogar jegliches Denken und betonte, dass ein solches staatliches Monopol jegliche kreative Arbeit gänzlich unmöglich machte. Aber sein Protest hatte keinen Erfolg. Daraufhin gewann Kropotkin den Eindruck, dass es sinnlos wäre, an eine Regierung zu appellieren, die vor Macht verrückt geworden war.[128]

Während der zwei Tage, die ich im Haushalt der Kropotkins verbrachte, lernte ich mehr über sein persönliches Leben als während all der Jahre, in denen ich ihn gekannt hatte. Sogar seine engsten Freund*innen hatten keine Ahnung, dass Peter Kropotkin ein talentierter Künstler und Musiker gewesen war. Unter seinen Habseligkeiten entdeckte ich eine Sammlung an Gemälden, die von großer Handwerkskunst zeugten. Er hatte Musik leidenschaftlich geliebt und war selbst ein Musiker von ungewöhnlicher Begabung gewesen. Seine Freizeit verbrachte er oft am Klavier.

Und nun lag er auf seiner Couch inmitten des kleinen Arbeitszimmers, als würde er friedlich schlafen, sein Gesicht im Angesicht des Todes so sanft, wie es im Leben gewesen war. Tausende Menschen pilgerten zum Häuschen der Kropotkins, um diesem großen Sohns Russlands die Ehre zu erweisen. Als seine sterblichen Überreste zum Bahnhof gebracht wurden, um nach Moskau transportiert zu werden, nahm die gesamte Dorfbevölkerung an der beeindruckenden Beerdigungsprozession teil, um dem Mann, der unter ihnen als ihr Freund und Genosse gelebt hatte, einen letzten liebevollen Gruß zu entbieten.

Die Freund*innen und Genoss*innen Kropotkins entschieden, dass ausschließlich anarchistische Organisationen die Beisetzung organisieren sollten und es wurde eine Begräbniskommission für Peter Kropotkin in Moskau gebildet, die aus Repräsentant*innen der verschiedenen anarchistischen Gruppen bestand. Das Komitee sandte Lenin ein Telegramm, um ihn darum zu bitten, alle in der Hauptstadt inhaftierten Anarchist*innen freizulassen, um ihnen die Gelegenheit zu bieten, an der Beisetzung teilzunehmen.

Wegen der Nationalisierung aller öffentlicher Bekanntmachungen, Verlage, usw. war die anarchistische Begräbniskommission gezwungen, den Moskauer Sowjet zu bitten, sie zu bevollmächtigen das Programm der Beerdigung erfolgreich zu verbreiten. Da die Anarchist*innen ihrer eigenen Presse beraubt worden waren, musste die Kommission sich zur Publikation der notwendigen Inhalte, die für die Vorbereitungen der Beisetzung notwendig waren, auf die Autoritäten verlassen. Nach einer beachtlichen Diskussion wurde die Erlaubnis erteilt, zwei Flugblätter zu drucken und ein vierseitiges Mitteilungsblatt im Gedenken an Peter Kropotkin herauszugeben. Die Kommission bat darum, dass das Blatt ohne Zensur herausgegeben werden dürfe und versicherte, dass die Lektüre aus Würdigungen unseres verstorbenen Genossen bestehen würde, ohne irgendwelche polemischen Beiträge. Diese Bitte wurde kategorisch abgelehnt. Weil sie keine Wahl hatte, war die Kommission gezwungen einzuwilligen und die Manuskripte zur Zensur einzuschicken. Um zu verhindern, dass mensch wegen einer Verzögerungstaktik der Regierung am Ende ohne eine Gedenkschrift dastünde, entschied sich die Begräbniskommission dazu, in eigener Verantwortung eine bestimmte anarchistische Druckerei zu öffnen, die von der Regierung versiegelt worden war. Das Mitteilungsblatt und die beiden Flugblätter wurden dort gedruckt.

Als Antwort auf das Telegramm an Lenin beschloss das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee »der Allrussischen Außerordentlichen Kommission (Veh-Tscheka) vorzuschlagen, die inhaftierten Anarchist*innen nach ihrem Ermessen für die Teilnahme an der Beerdigung Peter A. Kropotkins freizulassen.« Die Delegierten, die zu der Tscheka geschickt worden waren, wurden gefragt, ob die Begräbniskommission die Rückkehr der Gefangenen garantieren würde. Sie antworteten, dass über diese Frage nicht diskutiert worden sei. Daraufhin weigerte sich die Tscheka, die Anarchist*innen freizulassen. Die Begräbniskommission garantierte, nachdem sie über die neuesten Entwicklungen in dieser Angelegenheit informiert worden war, sofort, dass die Gefangenen nach der Beerdigung zurückkehren würden. Daraufhin antwortete die Tscheka, dass »es keine Anarchist*innen im Gefängnis gäbe, die nach Einschätzung des Vorsitzenden der Außerordentlichen Kommission für die Beerdigung freigelassen werden könnten.«

Die sterblichen Überreste des Verstorbenen lagen aufgebahrt in der Säulenhalle des Moskauer Tempels der Arbeit. Am Morgen der Beerdigung entschied die Begräbniskommission für Kropotkin, die versammelten Menschen über den Vertrauensbruch seitens der Autoritäten zu informieren und demonstrativ alle Kränze, die von offiziellen kommunistischen Würdenträger*innen niedergelegt worden waren, zu entfernen. Aus Angst vor einer öffentlichen Bloßstellung versprachen die Repräsentant*innen des Moskauer Sowjets die sofortige Freilassung aller in Moskau inhaftierten Anarchist*innen zur Teilnahme an der Beerdigung. Aber auch dieses Versprechen wurde gebrochen: Nur sieben Anarchist*innen wurden aus dem »inneren Gefängnis« der Außerordentlichen Kommission entlassen, keine*r der in der Butyrka sitzenden Anarchist*innen nahm an der Beerdigung teil. Die offizielle Erklärung war, dass die zwanzig Anarchist*innen, die in diesem Gefängnis eigesperrt waren, das Angebot der Autoritäten abgelehnt hätten. Später besuchte ich die Gefangenen, um die Fakten in dieser Angelegenheit zu überprüfen. Sie erzählten mir, dass ein Vertreter der Außerordentlichen Kommission auf individuelle Teilnahme beharrte, für die er in einigen Fällen Ausnahmen genehmigen würde. Die Anarchist*innen, die wussten, dass das Versprechen der zeitweisen Entlassung kollektiv gewesen war, forderten, dass die Vereinbarungen eingehalten würden. Der Vertreter der Tscheka sagte, er müsse mit seinen Vorgesetzten telefonieren. Er sei nicht zurückgekommen.

Die Beerdigung war ein äußerst beeindruckender Anblick. Es war eine einzigartige Demonstration, die nie zuvor in irgendeinem anderen Land gesehen worden war. Lange Reihen von Mitgliedern anarchistischer Organisationen, Gewerkschaften, wissenschaftlicher und literarischer Gesellschaften und Student*innen marschierten über zwei Stunden vom Tempel der Arbeit zum Ort der Beisetzung sieben Werst [fast fünf Meilen][129] entfernt. Die Prozession wurde angeführt von Student*innen und Kindern, die Kränze von verschiedenen Organisationen trugen. Anarchistische Banner in schwarz und scharlachrote sozialistische Embleme flatterten über der Menschenmenge. Die meilenlange Prozession verzichtete vollständig auf die Dienste der offiziellen Hüter*innen des Friedens. Eine perfekte Ordnung wurde von der Menschenmenge selbst aufrechterhalten, die sich selbst spontan in mehreren Reihen formierte, während Student*innen und Arbeiter*innen eine Menschenkette auf beiden Seiten der Marschierenden bildeten.[130] Als der Trauerzug das Tolstoi-Museum passierte, hielt er an und die Banner wurden im Gedenken an einen anderen großen Sohn Russlands gesenkt. Eine Gruppe Tolstoianer*innen spielte auf den Stufen des Museums Chopins Trauermarsch als Ausdruck ihrer Liebe und ihres Respekts für Kropotkin.

Die funkelnde Wintersonne versank am Horizont, während die sterblichen Überreste Kropotkins in das Grab gesenkt wurden, nachdem Redner*innen vieler politischer Strömungen ihrem großen Lehrer und Genossen die letzte Ehre erwiesen hatten.

Kapitel 27: Kronstadt

Im Februar 1921 traten die Arbeiter*innen mehrerer Fabriken in Petrograd in den Streik. Der Winter war außergewöhnlich hart und die Menschen in der Stadt litten sehr unter der Kälte, dem Hunger und der Erschöpfung. Sie baten um eine Erhöhung ihrer Nahrungsmittel-Rationen, etwas Brennstoff und Kleidung. Die von den Autoritäten ignorierten Beschwerden der Streikenden nahmen bald einen politischen Charakter an. Hier und da wurde auch die Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung und freiem Handel laut. Der Versuch der Streikenden auf den Straßen zu demonstrieren wurde unterdrückt, die Regierung hatte die militärischen kursanti hinausbefohlen. Lisa Zorin, die von all den Kommunist*innen, die ich getroffen hatte, den Menschen am verbundensten geblieben war, war bei der Auflösung der Demonstration. Eine Frau wurde über die Brutalität des Militärs so wütend, dass sie Lisa angriff. Letztere, getreu ihrer proletarischen Instinkte, rettete die Frau vor der Verhaftung und begleitete sie nach Hause. Dort fand sie die erschreckendsten Zustände vor. In einem dunklen, feuchten Raum lebte eine Arbeiter*innenfamilie mit ihren sechs Kindern, halbnackt in der bitteren Kälte. Später sagte Lisa zu mir: »Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass ich im Astoria lebte.« Später zog sie dort aus.

Als die Kronstädter Matros*innen davon erfuhren, was in Petrograd gerade geschah, drückten sie ihre Solidarität mit den ökonomischen und revolutionären Forderungen der Streikenden aus, aber sie weigerten sich irgendeine Forderung nach einer verfassungsgebenden Versammlung zu unterstützen. Am 1. März organisierten die Matros*innen eine Massenversammlung in Kronstadt, an der auch der Vorsitzende des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees, Kalinin[131] (der vorsitzende Präsident der Russischen Republik), der Kommandant der Kronstädter Festung, Kusmin, und der Vorsitzende des Kronstädter Sowjets, Wassiljew, teilnahmen. Das im Wissen des Exekutivkomitees des Kronstädter Sowjets abgehaltene Treffen erließ eine Resolution, die von den Matros*innen, der Garnison und der Bürger*innenversammlung von 16.000 Menschen verabschiedet wurde. Kalinin, Kusmin und Wassiljew sprachen sich gegen die Resolution aus, die später die Grundlage für den Konflikt zwischen Kronstadt und der Regierung werden würde. Sie enthielt die gängige Forderung nach Sowjets, die vom Volk frei gewählt werden würden. Es macht Sinn, das vollständige Dokument abzudrucken, so dass die*der Leser*in in der Lage dazu ist, den wahren Charakter der Forderungen von Kronstadt zu bewerten. Die Resolution lautete:

Nachdem der Bericht der von der Generalversammlung der Schiffsmannschaften zur Untersuchung der Situation in Petrograd dahin entsandten Vertreter*innen gehört wurde, wurde folgendes beschlossen:

1.

Angesichts der Tatsache, dass die derzeitigen Sowjets nicht den Willen der Arbeiter*innen und Bäuer*innen vertreten, das Abhalten sofortiger Neuwahlen durch geheime Abstimmungen, deren Wahlkampagnen im Vorfeld vollständige Agitationsfreiheit bei den Arbeiter*innen und Bäuer*innen genießen,

1.

Die Wiederherstellung der Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter*innen und Bäuer*innen, für Anarchist*innen und linke sozialistische Parteien,

1.

Die Sicherung der Versammlungsfreiheit für Gewerkschaften und Bäuer*innenorganisationen,

1.

Die Einberufung einer nicht-parteiischen Konferenz der Arbeiter*innen, Rote-Armee-Soldat*innen und Matros*innen von Petrograd, Kronstadt und der Petrograder Provinz bis spätestens 10. März 1921,

1.

Die Freilassung aller politischen Gefangenen sozialistischer Parteien, sowie von Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Soldat*innen und Matros*innen, die im Zusammenhang mit Arbeiter*innen- und Bäuer*innenbewegungen verhaftet wurden,

1.

Die Bildung einer Kommission, die die Fälle derer überprüft, die in Gefängnissen und Konzentrationslagern gefangen gehalten werden,

1.

Die Abschaffung aller politodeli[132], da keiner Partei besondere Privilegien in der Verbreitung ihrer Ideen gewährt werden sollte und keine Partei finanzielle Unterstützung der Regierung für diese Zwecke erhalten sollte. Stattdessen sollten Kommissionen für Bildung und Kultur gebildet werden, die lokal gewählt und von der Regierung finanziert werden,

1.

Die sofortige Abschaffung aller zagryaditeliye otryadi[133],

1.

Die Angleichung aller Rationen derer, die arbeiten sollen, mit Ausnahme derer, die in Branchen beschäftigt sind, die gesundheitsschädliche Auswirkungen haben,

1.

Die Abschaffung der kommunistischen Kampfabteilungen in allen Teilen der Armee, sowie der kommunistischen Wärter*innen, die ihren Dienst in Minen und Fabriken leisten. Sollten solche Wärter*innen oder Militärabteilungen für notwendig erachtet werden, können sie in der Armee von der Basis und in den Fabriken gemäß der Beurteilung der Arbeiter*innen geschaffen werden,

1.

Volle Handlungsfreiheit hinsichtlich ihres Lands für die Bäuer*innen sowie das Recht Vieh zu halten, unter der Bedingung, dass die Bäuer*innen mit ihren eigenen Mitteln auskommen, das bedeutet, ohne Arbeiter*innen anzustellen,

1.

Alle Abteilungen der Armee, sowie unsere Genoss*innen, die militärischen kursanti[134], dazu aufzurufen, unsere Resolution zu unterzeichnen,

1.

Wir fordern, dass die Presse unseren Resolutionen die größte Aufmerksamkeit verschafft.

1.

Die Bildung einer Kontrollkommission für Reisende,

1.

Die Erlaubnis für freie kustarnoye[135] Produktion durch eigene Bemühungen.

Am 4. März würde sich der Petrograder Sowjet treffen und die allgemeine Wahrnehmung war, dass sich dabei das Schicksal Kronstadts entscheiden würde. Trotzki würde zu der Versammlung sprechen und ich hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, ihn in Russland zu hören. Ich war neugierig darauf, an der Versammlung teilzunehmen. Ich hatte mir noch keine feste Meinung zu Kronstadt gebildet. Ich konnte nicht glauben, dass die Bolschewiki die Geschichte über General Koslowski als Anführer der Matros*innen bewusst erfunden haben sollten[136]. Ich erwartete, dass das Treffen des Sowjets die Angelegenheit aufklären würde.

Das Taurische Palais war überfüllt und ein Spezialkommando von kursanti bewachte die Bühne. Die Stimmung war ziemlich angespannt. Alle warteten auf Trotzki. Aber als er um 10 Uhr noch nicht erschienen war, eröffnete Sinowjew die Versammlung. Er hatte noch keine Viertelstunde gesprochen, da war ich überzeugt, dass er die Geschichte von Koslowski selbst nicht glaubte. »Natürlich ist Koslowski alt und nicht in der Lage etwas zu tun«, sagte er, »aber die weißen Offizier*innen stehen hinter ihm und täuschen die Matros*innen.« Seit Tagen hatten die sowjetischen Zeitungen General Koslowski als die treibende Kraft des »Aufstands« dargestellt. Kalinin, dem die Matros*innen erlaubt hatten, Kronstadt unbehelligt zu verlassen, tobte wie ein Fischverkäufer. Er denunzierte die Matros*innen als Konterrevolutionäre und sprach sich für ihre sofortige Unterwerfung aus. Mehrere andere Kommunist*innen folgten seinem Beispiel. Als die Versammlung zur Diskussion überging, verlangte ein Arbeiter der Petrograder Waffenfabrik das Wort. Er sprach mit großen Emotionen und erklärte furchtlos, die ständigen Unterbrechungen ignorierend, dass die Arbeiter*innen von der Indifferenz der Regierung gegenüber ihren Beschwerden zum Streik gezwungen worden seien und die Kronstädter Matros*innen, weit davon entfernt Konterrevolutionär*innen zu sein, der Revolution dienen würden. Er erinnerte Sinowjew daran, dass sich die bolschewistischen Autoritäten gegenüber den Arbeiter*innen und Matros*innen so verhielten, wie damals die Kerenski-Regierung gegenüber den Bolschewiki. »Damals wurdet ihr als Konterrevolutionär*innen und deutsche Agent*innen denunziert«, sagte er. »Wir, die Arbeiter*innen und Matros*innen, hielten zu euch und verhalfen euch zur Macht. Nun denunziert ihr uns und seid bereit uns mit Waffen anzugreifen. Denkt daran, dass ihr mit dem Feuer spielt.«

Daraufhin sprach ein Matrose. Er bezog sich auf die glorreiche revolutionäre Vergangenheit Kronstadts, appellierte an die Kommunist*innen, sich nicht an einem Geschwistermord zu beteiligen und verlas die Resolution von Kronstadt, um die friedfertige Einstellung der Matros*innen zu beweisen. Aber die Stimmen dieser Söhne des Volkes trafen auf taube Ohren. Der Petrograder Sowjet, dessen Gemüter von der bolschewistischen Demagogie erregt waren, verabschiedete die Resolution Sinowjews, die Kronstadt unter Androhung seiner Vernichtung befahl, sich zu ergeben.

Die Kronstädter Matros*innen waren immer die Ersten gewesen, die der Revolution gedient hatten. Sie hatten eine wichtige Rolle bei der Revolution von 1905 gespielt, sie waren 1917 in den ersten Reihen. Unter Kerenskis Regime riefen sie die Kommune von Kronstadt aus und begaben sich in Feindschaft zur Konstituierenden Versammlung. Sie waren die Vorhut der Oktoberrevolution gewesen. Im großen Kampf gegen Judenitsch leisteten die Matros*innen die kampfesstärkste Verteidigung von Petrograd und Trotzki lobte sie als »Stolz und Ruhm der Revolution.« Doch nun hatten sie es gewagt, ihre Stimme gegen die neuen Herrscher*innen Russlands zu erheben. Das war aus Sicht der Bolschewiki Hochverrat. Die Matros*innen von Kronstadt waren verdammt.

Petrograd war aufgebracht über die Entscheidung des Sowjets, sogar einige der Kommunist*innen, besonders die der französischen Sektion, empfanden Empörung. Aber keine*r von ihnen hatte den Mut gegen das geplante Massaker zu protestieren, nicht einmal in Parteikreisen. Sobald die Resolution des Petrograder Sowjets bekannt wurde, versammelte sich eine Gruppe bekannter Literat*innen aus Petrograd, um sich darüber zu beraten, ob mensch denn nichts gegen das geplante Verbrechen unternehmen könne. Jemand schlug vor, dass mensch Gorki bitte, Kopf eines Komitees zu sein, dass gegen die sowjetischen Autoritäten protestieren solle. Mensch hoffte, dass er seinem glorreichen Landsmann Tolstoi nacheifern würde, der in seinem berühmten Brief an den Zaren seine Stimme gegen das furchtbare Massaker an den Arbeiter*innen erhoben hatte. Auch nun wurde eine solche Stimme benötigt und mensch hielt Gorki für den richtigen Mann, um zu den jetzigen Zaren zu sprechen, sich zu besinnen. Aber die meisten Anwesenden bei der Versammlung verschmähten diese Idee. Gorki sei einer der Bolschewiki sagten sie, er würde nichts tun. Mensch hätte sich bereits früher mehrmals an ihn gewandt, aber er hätte es abgelehnt zu intervenieren. Die Konferenz brachte keine Ergebnisse. Dennoch gab es einige Menschen in Petrograd, die nicht schweigen wollten. Sie sandten dem Sowjet der Verteidigung folgenden Brief:

An den Petrograder Sowjet der Arbeit und Verteidigung, Vorsitzender Sinowjew:

Es ist unmöglich, ja sogar kriminell, jetzt zu schweigen. Die jüngsten Ereignisse veranlassen uns Anarchist*innen dazu, zu sprechen und unsere Haltung gegenüber der aktuellen Situation zu erklären.

Der Geist der Unruhe und Unzufriedenheit, der sich unter den Arbeiter*innen und Matros*innen breit gemacht hat, ist das Ergebnis von Ursachen, die unserer vollsten Aufmerksamkeit bedürfen. Kälte und Hunger haben Unzufriedenheit geschaffen und die Ermangelung jeder Möglichkeit der Diskussion und Kritik zwingt die Arbeiter*innen und Matros*innen dazu, ihrem Unmut offen Luft zu machen.

Gruppen weißer Gardist*innen wünschen und könnten versuchen, diese Unzufriedenheit für die Interessen ihrer eigenen Klasse auszunutzen. Indem sie sich hinter den Arbeiter*innen und Matros*innen verstecken, verwenden sie Formeln der Konstituierenden Versammlung, die Forderung nach freiem Handel und Ähnliches. Wir Anarchist*innen haben seit jeher die Lügen dieser Forderungen enttarnt und wir erklären vor der ganzen Welt, dass wir mit Waffengewalt gegen jeden Versuch des konterrevolutionären Umsturzes zusammen mit allen Freund*innen der sozialen Revolution und Hand in Hand mit den Bolschewiki kämpfen werden.

Was den Konflikt zwischen der sowjetischen Regierung und den Arbeiter*innen und Matros*innen betrifft, sind wir der Meinung, dass er nicht durch Waffengewalt geklärt werden darf, sondern durch Kameradschaft, eine geschwisterliche revolutionäre Vereinbarung. Die Zuflucht zum Blutvergießen auf Seiten der sowjetischen Regierung wird – in der gegebenen Situation – die Arbeiter*innen weder einschüchtern noch zum Schweigen bringen. Im Gegenteil, es wird Zustände nur noch verschlimmern und die Bande zwischen Entente[137] und der internen Konterrevolution stärken.

Schlimmer noch, der Einsatz von Gewalt gegen Arbeiter*innen und Matros*innen durch die Arbeiter*innen- und Bäuer*innen-Regierung wird einen rückschrittlichen Effekt auf die internationale revolutionäre Bewegung haben und wird der Sozialen Revolution überall unberechenbaren Schaden zufügen.

Genoss*innen Bolschewiki, besinnt euch, bevor es zu spät ist. Spielt nicht mit dem Feuer: Ihr seid dabei, einen äußerst schwerwiegenden und folgenreichen Schritt zu machen.

Wir schlagen euch hiermit folgendes vor: Lasst eine Kommission aus fünf Personen, darunter zwei Anarchist*innen, bilden. Die Kommission soll nach Kronstadt gehen, um den Konflikt auf friedlichem Weg zu klären. In der gegebenen Situation ist das die radikalste Methode. Sie wäre von internationaler revolutionärer Bedeutung.

Petrograd,

den 5. März 1921.

Alexander Berkman.

Emma Goldman.

Perkus.

Petrowski.


Aber dieser Protest wurde ignoriert.

Am 7. März begann Trotzki mit dem Bombardement Kronstadts und am 17. wurde die Festung und die Stadt nach zahlreichen Angriffen, die ein schreckliches menschliches Opfer forderten, eingenommen. So war Kronstadt »liquidiert« und die »konterrevolutionäre Verschwörung« in Blut ertränkt worden. Die »Eroberung« der Stadt zeichnete sich durch rücksichtslose Grausamkeit aus, obwohl nicht einer der von den Kronstädter Matros*innen verhafteten Kommunist*innen von ihnen verletzt oder getötet worden war. Vor der Erstürmung der Festung richteten die Bolschewiki sogar kurzerhand zahlreiche Soldat*innen der Roten Armee hin, deren revolutionärer Geist und Solidarität sie dazu brachte, sich zu weigern an dem Blutbad teilzunehmen.

Einige Tage nach dem »glorreichen Sieg« über Kronstadt sagte Lenin auf dem Zehnten Kongress der Kommunistischen Partei Russlands: »Die Matros*innen wollten die Konterrevolutionär*innen nicht, aber uns wollten sie auch nicht.« Und – Ironie des Bolschewismus! – auf demselben Kongress setzte sich Lenin für den freien Handel ein – ein reaktionärerer Schritt als jeder, der den Kronstädter Matros*innen vorgeworfen worden war.

Zwischen dem 1. und dem 17. März wurden mehrere Regimente der Petrograder Garnison und alle Matros*innen des Hafens entwaffnet und in die Ukraine und den Kaukasus befehligt. Die Bolschewiki trauten ihnen in der Situation um Kronstadt nicht: Beim ersten psychologischen Moment könnten sie sich mit Kronstadt verbünden. Tatsächlich hatten auch viele Rote Soldat*innen der Krasnaja Gorka und der umliegenden Garnisonen Sympathien für Kronstadt und wurden unter Vorhaltung von Waffen gezwungen, die Matros*innen anzugreifen.

Am 17. März verkündete die kommunistische Regierung ihren »Sieg« über das Kronstädter Proletariat und am 18. März gedachte sie den Märtyrer*innen der Pariser Kommune. Allen, die stumme Zeug*innen der von den Bolschewiki begangenen Gräueltaten geworden waren, war klar, dass das Verbrechen gegen Kronstadt viel schlimmer als das Massaker der Kommunard*innen 1871 gewesen war, da es im Namen der Sozialen Revolution, im Namen der Sozialistischen Republik verübt worden war. Die Geschichte kann nicht getäuscht werden. In den Annalen der Russischen Revolution werden die Namen Trotzkis, Sinowjews und Dybenkos[138] denen von Thiers[139] und Gallifet[140] hinzugefügt werden.

Siebzehn fürchterliche Tage, fürchterlicher als irgendetwas, das ich in Russland gesehen hatte. Qualvolle Tage, wegen meiner vollständigen Machtlosigkeit angesichts der furchtbaren Dinge, die sich vor meinen Augen abspielten. Es war just zu dieser Zeit, dass ich einen Freund besuchte, der monatelang Patient in einem Krankenhaus gewesen war. Er war äußerst verzweifelt. Viele derer, die beim Angriff auf Kronstadt verletzt worden waren, waren in dasselbe Krankenhaus eingeliefert worden, hauptsächlich kursanti. Ich hatte die Gelegenheit mit einem von ihnen zu sprechen. Sein physischer Zustand, sagte er, sei nichts im Vergleich zu seinen mentalen Höllenqualen. Er habe zu spät bemerkt, dass er von dem Geschrei von »Konterrevolution« übertölpelt worden sei. Es habe keine zaristischen Generäle in Kronstadt gegeben, keine weißen Gardist*innen – er habe nur seine eigenen Kamerad*innen vorgefunden, Matros*innen und Soldat*innen, die heroisch für die Revolution gekämpft hatten.

Die Rationen der gewöhnlichen Patient*innen in dem Krankenhaus waren alles andere als ausreichend, aber die verwundeten kursanti bekamen von allem das Beste und ein dafür gebildetes Komitee von Kommunist*innen war damit beauftragt worden, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Einige der kursanti, darunter der Mann, mit dem ich gesprochen hatte, weigerten sich, die Privilegien anzunehmen. »Sie wollen uns für Mord bezahlen«, sagten sie. Weil sie fürchteten, dass die gesamte Institution von diesen erwachten Opfern infiziert werden könnte, ordnete das Management an, sie in eine separate Station zu verlegen, die »Kommunistische Station«, wie die Patient*innen sie nannten.

Kronstadt sprengte die letzte Kette, die mich an die Bolschewiki gebunden hatte. Das schamlose Gemetzel, das sie angezettelt hatten, sprach deutlicher gegen sie als irgendetwas anderes. Was immer sie in der Vergangenheit vorgegeben hatten zu sein, stellten sich die Bolschewiki nun als die schädlichsten Feind*innen der Revolution heraus. Ich konnte nicht länger irgendetwas mit ihnen zu tun haben.

Kapitel 28: Die Verfolgung der Anarchist*innen

In einem Land, das sich so umfassend in der Hand und unter Kontrolle des Staates befindet wie Russland, ist es beinahe unmöglich, ohne die »Gnade« der Regierung zu leben. Dennoch war ich entschlossen, den Versuch zu wagen. Ich würde nichts von den mit dem Blut der tapferen Kronstädter Matros*innen befleckten Händen annehmen, nicht einmal Brotrationen. Glücklicherweise hatte ich etwas Kleidung, die mir von einem Freund aus Amerika überlassen worden war, die konnte ich gegen Vorräte eintauschen. Ich hatte außerdem etwas Geld von meinen Leuten aus den Vereinigten Staaten erhalten. Das würde mir eine Zeitlang erlauben zu leben.

In Moskau bezog ich ein kleines Zimmer, das einst von der Tochter Peter Kropotkins bewohnt worden war. Ab diesem Tag lebte ich wie tausende andere Russ*innen, schleppte Wasser, hackte Holz, wusch und kochte, und das alles in meinem kleinen Zimmer. Aber ich fühlte mich dadurch freier und besser.

Die Neue Ökonomische Politik[141] verwandelte Moskau in einen gewaltigen Marktplatz. Handel wurde zur neuen Religion. Läden und Geschäfte tauchten über Nacht auf und waren mysteriöserweise mit Köstlichkeiten gefüllt, die mensch in Russland seit Jahren nicht gesehen hatte. Große Mengen an Butter, Käse und Fleisch wurden zum Verkauf angeboten, mensch konnte Gebäck, seltene Früchte und Süßigkeiten jeder Art kaufen. Im Gebäude des Ersten Hauses der Sowjets hatte eines der größten Gebäckgeschäfte eröffnet. Männer, Frauen und Kinder standen mit verkniffenen Gesichtern und hungrigen Augen davor, starrten in die Schaufenster und sprachen über das große Wunder: Was bis gestern noch als ein abscheuliches Verbrechen gegolten hatte, wurde nun vor ihren Aufen offen und legal zur Schau gestellt. Zufällig hörte ich, wie ein*e Rote*r Soldat*in sagte: »Und dafür haben wir die Revolution gemacht? Dafür mussten unsere Genoss*innen sterben?« Die Parole »Beraubt die Räuber*innen« hatte sich jetzt in »Respektiert die Räuber*innen« verwandelt und wieder wurde die Heiligkeit des Privateigentums ausgerufen.

Russland kehrte dadurch schrittweise zu den sozialen Zuständen zurück, die die Revolution zerstört hatte. Aber die Rückkehr zum Kapitalismus veränderte die Einstellung der Bolschewiki gegenüber den linken Elementen keineswegs. Bourgeoise Ideen und Praktiken wurden gefördert, um das industrielle Leben Russlands zu entwickeln, aber revolutionäre Tendenzen wurden unterdrückt wie zuvor.

In Verbindung mit Kronstadt kam es zu allgemeinen Razzien gegen Anarchist*innen in Petrograd und Moskau. Die Gefängnisse wurden mit diesen Opfern gefüllt. Beinahe jede*r bekannte Anarchist*in war verhaftet worden und die anarchistischen Buchläden und Druckereien von »Golos Truda«[142] wurden in beiden Städten von der Tscheka versiegelt. Die ukrainischen Anarchist*innen, die am Abend der Konferenz in Charkiw verhaftet worden waren (obwohl ihnen durch die Vereinbarung der Bolschewiki mit Machno Immunität zugesichert worden war), wurden nach Moskau gebracht und dort in die Butyrka verlegt, sodass dieses Gefängnis der Romanows wieder seinem alten Zweck diente – ja sogar einige der einst dort inhaftierten Revolutionär*innen saßen wieder darin. Bald wurde bekannt, dass die politischen Gefangenen in der Butyrka von der Tscheka brutal misshandelt und heimlich zu unbekannten Orten deportiert worden waren. Moskau war sehr aufgebracht über dieses Wiederaufleben der schlimmsten Gefängnispraktiken des Zarismus. Der Moskauer Sowjet führte Befragungen zu diesem Thema durch und die Empörung der Abgeordneten war so groß, dass der*die Vertreter*in der Tscheka von der Bühne geschrieen wurde. Einige anarchistische Gruppen aus Moskau sandten einen energischen Protestbrief an die Autoritäten, den ich hier in Teilen wiedergeben möchte:

Die unterzeichnenden anarcho-syndikalistischen Organisationen drücken hiermit nach einer sorgfältigen Untersuchung der Situation, die jüngst durch die Verfolgung von Anarchist*innen in Moskau, Petrograd, Charkiw und anderen Städten Russlands und der Ukraine entstanden ist, und die unter anderem in der gewaltsamen Unterdrückung anarchistischer Organisationen, Clubs, Publikationen, usw. besteht, ihren entschlossenen und energischen Protest über diese despotische Vernichtung von nicht nur agitatorischen und propagandistischen Aktivitäten, sondern sogar aller rein kulturellen Arbeit anarchistischer Organisationen aus.

Die systematische Menschenjagd auf Anarchist*innen im Allgemeinen und auf Anarcho-Syndikalist*innen im Besonderen, mit dem Resultat, dass jedes Gefängnis im sowjetischen Russland mit unseren Genoss*innen gefüllt ist, deckt sich zeitlich und inhaltlich mit Lenins Rede auf dem Zehnten Kongress der russischen Kommunistischen Partei. Bei dieser Gelegenheit verkündete Lenin, dass denen, die er »kleinbürgerliche anarchistische Elemente« nannte und die sich ihm zufolge wegen der »anarcho-syndikalistischen Tendenzen der Arbeiter*innenopposition« selbst innerhalb der Kommunistischen Partei ausbreiten würden, der gnadenloseste Krieg erklärt werden müsse. Am gleichen Tag, an dem Lenin die oben ausgeführten Aussagen von sich gab, wurden im ganzen Land zahlreiche Anarchist*innen ohne jeden Grund oder Erklärung verhaftet. Gegen keine*n der eingesperrten Genoss*innen konnten irgendwelche Vorwürfe erhoben werden, obwohl einige von ihnen bereits ohne Anhörung oder Prozess und in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind. Die Bedingungen ihrer Haft sind außergewöhnlich niederträchtig und brutal. Einer der Eingesperrten, Genosse Maximoff[143], wurde dadurch, nach vielen vergeblichen Beschwerden gegen die unglaublichen unhygienischen Zustände, in denen er gezwungen wurde zu leben, zum einzigen Mittel des Protests, das ihm noch blieb, getrieben – zu einem Hungerstreik. Ein anderer Genosse, Jartschuk, der nach sechs Tagen Haft entlassen worden war, wurde kurz darauf erneut verhaftet, ohne dass ihm irgendetwas vorgeworfen werden konnte.

Wir haben aus einer verlässlichen Quelle erfahren, dass einige der inhaftierten Anarchist*innen in das Gefängnis von Samara[144] gebracht werden sollen, weit entfernt von zu Hause und von Freund*innen, und so auch noch der kleinen kamaradschaftlichen Hilfe, die sie näher an ihrer Heimat erhalten hätten können, beraubt werden. Eine große Zahl anderer Genoss*innen sah sich durch die furchtbaren Bedingungen ihrer Haft gezwungen in Hungerstreik zu treten. Eine*r von ihnen ist nach zwölf Tagen des Hungers gefährlich erkrankt.

Sogar physische Gewalt wird unseren Genoss*innen im Gefängnis angetan. Die Stellungnahme der Anarchist*innen im Butyrka-Gefängnis, die von achtunddreißig Genoss*innen unterzeichnet wurde und am 16. März an das Exekutivkomitee der Allrussischen Außerordentlichen Komission gesandt wurde, enthält neben anderen Dingen folgende Aussage: »Am 15. März wurde der Genosse T. Kashirin in Anwesenheit des Gefängnisdirektors Dukis im Gefängnis der Spezialabteilung der Außerordentlichen Kommission von Ihrem Agenten Mago und seinen Helfer*innen brutal angegriffen und zusammengeschlagen.«

Neben den umfassenden Verhaftungen unserer Genoss*innen und der physischen Gewalt ihnen gegenüber führt die Regierung einen systematischen Krieg gegen unsere Bildungsarbeit. Sie hat zahlreiche unserer Clubs sowie das Moskauer Büro des Verlags der anarcho-syndikalistischen Organisation Golos Truda geschlossen. Eine ähnliche Menschenjagd fand am 15. März in Petrograd statt. Zahlreiche Anarchist*innen wurden ohne Grund verhaftet, die Druckerei von Golos Truda wurde geschlossen und ihre Arbeiter*innen eingesperrt. Gegen die verhafteten Genoss*innen wurden keine Vorwürfe erhoben, dennoch befinden sich alle noch immer hinter Gittern.

Diese unerträglichen autokratischen Taktiken der Regierung gegenüber den Anarchist*innen sind unbestreitbar das Ergebnis der allgemeinen Politik des ausschließlich unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei befindlichen bolschewistischen Staates gegenüber Anarchismus, Syndikalismus und ihren Anhänger*innen.

Dieser Zustand zwingt uns dazu, laut gegen die beunruhigende und brutale Unterdrückung der anarchistischen Bewegung durch die bolschewistische Regierung zu protestieren. Hier in Russland ist unsere Stimme nur schwach. Sie ist erstickt. Die Politik der herrschenden Kommunistischen Partei dient dazu, absolut jede Möglichkeit oder Bemühung anarchistischer Aktivitäten oder Propaganda zu zerstören. Die Anarchist*innen in Russland werden daher in den Zustand eines vollständigen moralischen Hungerstreiks gezwungen, da die Regierung uns selbst die Möglichkeit raubt, die Pläne und Projekte umzusetzen, die sie selbst erst kürzlich versprach zu unterstützen.

Weil wir die Richtigkeit unseres anarchistischen Ideals und die dringende Notwendigkeit seiner Anwendung auf unser Leben klarer als jemals zuvor erkannt haben, sind wir davon überzeugt, dass das revolutionäre Proletariat der ganzen Welt auf unserer Seite steht.

Nach der Februarrevolution sind russische Anarchist*innen aus allen Ländern nach Russland zurückgekehrt, um sich revolutionären Aktivitäten zu widmen. Die Bolschewiki haben den anarchistischen Slogan »Die Fabriken für die Arbeiter*innen, das Land für die Bäuer*innen« übernommen und damit die Sympathien der Anarchist*innen gewonnen. Sie sahen in den Bolschewiki Verfechter*innen der sozialen und ökonomischen Revolution und verbündeten sich mit ihnen.

Während der Oktoberperiode arbeiteten die Anarchist*innen Hand in Hand mit den Kommunist*innen zusammen und kämpften Seite an Seite mit ihnen, um die Revolution zu verteidigen. Dann kam der Vertrag von Brest-Litowsk, den viele Anarchist*innen als Verrat an der Revolution betrachteten. Es war für sie das erste Warnsignal dafür, dass an den Bolschewiki irgendetwas faul war. Aber Russland war noch immer der Intervention aus dem Ausland ausgesetzt und die Anarchist*innen hatten das Gefühl, dass sie weiterhin zusammen gegen den gemeinsamen Feind kämpfen mussten.

Im April 1918 folgte ein weiterer Schlag. Auf Befehl Trotzkis wurde das anarchistische Hauptquartier in Moskau mit Artillerie angegriffen, wobei zahlreiche Anarchist*innen verwundet wurden, eine große Anzahl verhaftet und alle anarchistischen Aktivitäten »liquidiert.« Diese vollkommen unerwartete Gewalttat entfremdete die Anarchist*innen weiter von der herrschenden Partei. Dennoch stand die Mehrheit von ihnen weiterhin an der Seite der Bolschewiki: Sie hatten trotz der inneren Verfolgung das Gefühl, dass sie den konterrevolutionären Kräften in die Hände spielen würden, wenn sie sich gegen die Bolschewiki wenden würden. Die Anarchist*innen beteiligten sich an jeder sozialen, Bildungs- und ökonomischen Anstrengung, sie arbeiteten sogar in den militärischen Einheiten, um Russland zu helfen. In der Roten Garde[145], den Freiwilligenbataillonen und später in der Roten Armee, als Organisator*innen und Verwalter*innen von Fabriken und Läden, als Leiter*innen der Brennstoff-Büros, als Lehrer*innen – Überall übernahmen die Anarchist*innen schwierige und verantwortungsvolle Ämter. Aus ihren Reihen kamen einige der fähigsten Männer[146], die mit Tschitscherin und Kharakan im Auswärtigen Amt arbeiteten, in den verschiedenen Pressebüros, als bolschewistische Diplomat*innen in Turkestan, Buchara und der Fernöstlichen Republik. In ganz Russland arbeiteten Anarchist*innen im Glauben, dass sie dadurch der Revolution dienen würden, mit und für die Bolschewiki. Aber die Hingabe und der Eifer der Anarchist*innen hielt die Kommunist*innen nicht davon ab, die anarchistische Bewegung erbarmungslos zu verfolgen.

Die seltsame allgemeine Situation und die Begriffsverwirrung, die vom bolschewistischen Experiment in allen revolutionären Kreisen geschaffen wurde, teilte die anarchistischen Kräfte Russlands in mehrere Fraktionen und schwächte dadurch ihren Einfluss auf den Verlauf der Revolution. Es gab einige Gruppen, die alle getrennt und vergeblich gegen die furchtbare Maschine kämpften, die sie selbst geschaffen hatten. In dem dichten politischen Nebel verloren viele ihren Orientierungssinn: Sie konnten nicht zwischen Bolschewiki und Revolution unterscheiden. In ihrer Verzweiflung wurden einige Anarchist*innen in den Untergrund getrieben, so wie sie es während des Zarenregimes gewesen waren. Aber solche Aktivitäten waren unter den neuen Herrscher*innen schwieriger und gefährlicher und sie öffneten auch den finsteren Machenschaften von Provokateur*innen die Tür. Die größeren anarchistischen Organisationen wie die Nabat in der Ukraine, Golos Truda in Petrograd und Moskau und die Gruppe Wolny Trud – von denen letztere beiden der anarcho-syndikalistischen Stömung angehören – setzten ihre Arbeit so gut sie konnten offen fort.

Unglüchlicherweise, ebenso wie unvermeidbar unter diesen Umständen, fanden einige böse Geister Zugang zu den anarchistischen Reihen – Treibholz, das von der revolutionären Flut angespült worden war. Sie waren Typen, für die die Revolution nur Zerstörung bedeutete[147], gelegentlich sogar zum eigenen Vorteil. Sie gingen zwielichtigen Tätigkeiten nach und verwandelten sich oft in Verräter*innen und schlossen sich der Tscheka an, wenn sie verhaftet und ihre Leben bedroht wurden. Besonders in Charkiw und Odessa gedieh diese giftige Saat. Die Gesamtheit der Anarchist*innen waren die Ersten, die sich gegen dieses Phänomen engagierten. Die Bolschewiki, die immer daran interessiert waren, sich die Dienste der anarchistischen Wracks zu sichern, verdrehten systematisch die Fakten. Sie verleumdeten, verfolgten und jagten die anarchistische Bewegung als Ganze. Es war dieser Verrat und Despotismus der Kommunist*innen, der dazu führte, dass eine Bombe in die Versammlung der Moskauer Sektion der Kommunistischen Partei im September 1919 geworfen wurde. Es war ein Akt des Protests, an dem sich Mitglieder der verschiedenen politischen Strömungen beteiligten. Die anarchistischen Organisationen Golos Truda und Wolny Trud aus Moskau verurteilten solche Methoden öffentlich, aber die Regierung antwortete mit Repressalien gegen alle Anarchist*innen. Dennoch, trotz ihrer bitteren Erfahrungen und dem Martyrium unter dem bolschewistischen Regime, klammerten sich die meisten Anarchist*innen beharrlich an die Hand, die sie erschlug. Es bedurfte der Gräueltaten gegenüber Kronstadt, um sie von dem hypnotischen Bann des bolschewistischen Aberglaubens zu erwecken.

Macht korrumpiert und Anarchist*innen bilden da keine Ausnahme. Mensch muss zugeben, dass bestimmte anarchistische Elemente davon zersetzt wurden, die großé Mehrheit jedoch bewahrte ihre Integrität. Weder die Verfolgung durch die Bolschewiki noch die oft versuchte Bestechung mit guten Positionen und all ihren Sonderprivilegien hatten Erfolg darin, die große Masse der Anarchist*innen von ihren Idealen zu entfremden. Deshalb wurden sie kontinuierlich schikaniert und eingekerkert. Ihr Dasein in den Gefängnissen war eine ununterbrochene Qual: In den meisten herrschte noch immer das alte Regime und nur die kollektiven Kämpfe der Gefangenen hatten gelegentlich Erfolg darin, Reformen und Verbesserungen zu erzwingen. Daher bedurfte es wiederholter »Hemmnisse« und Hungerstreiks in der Butyrka, bevor die Autoritäten zu Zugeständnissen gezwungen werden konnten. Den politischen Gefangenen gelang es, eine Art Universität zu gründen, Vorträge zu organisieren und Besuche und Nahrungsmittelpakete zu empfangen. Aber die Tscheka missbilligte derartige »Freiheiten«. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde der angemessenen[148] Behandlung ein Ende gesetzt, die Butyrka wurde gerazzt und die mehr als 400 Gefangenen, die verschiedenen revolutionären Flügeln angehörten, wurden gewaltsam aus ihren Zellen geholt und in andere Strafanstalten verlegt. Ein Brief aus dieser Zeit, datiert auf den 27. April, von einem der Opfer lautet:

Konzentrationslager von Rjasan.

In der Nacht des 25. April wurden wir von Roten Soldat*innen und bewaffneten Tschekist*innen angegriffen, uns wurde befohlen uns anzuziehen und uns darauf vorzubereiten, die Butyrka zu verlassen. Einige der politischen Gefangenen, die befürchteten, dass sie exekutiert werden würden, weigerten sich zu gehen und wurden heftigst zusammengeschlagen. Besonders die Frauen wurden misshandelt, einige von ihnen wurden an ihren Haaren die Stufen hinuntergeschleift. Viele haben ernsthafte Verletzungen erlitten. Ich selbst wurde so heftig zusammengeschlagen, dass sich mein ganzer Körper wie eine einzige Wunde anfühlt. Wir wurden mit Gewalt in unseren Schlafanzügen hinausbefördert und in Waggons geworfen. Die Genoss*innen in unserer Gruppe wussten nichts über den Aufenthaltsort der übrigen politischen Gefangenen, darunter Menschewiki, Sozialrevolutionär*innen, Anarchist*innen und Anarcho-Syndikalist*innen.

Zehn von uns, darunter Fanya Baron, wurden hierher gebracht.[149] Die Zustände in diesem Gefängnis sind unerträglich. Kein Freigang, keine frische Luft, das Essen ist knapp und verdreckt, überall sind furchtbarer Dreck, Bettwanzen und Läuse. Wir beabsichtigen in einen Hungerstreik für bessere Behandlung zu treten. Gerade wurde uns gesagt, dass wir unsere Sachen packen sollen. Sie werden uns wieder verlegen. Wohin wissen wir nicht.

[Unterzeichnet] T.

Als die Umstände der Razzien in der Butyrka bekannt wurden, hielten die Student*innen der Moskauer Universität eine Protestversammlung ab und verabschiedeten Resolutionen, die die Gräueltaten verurteilten. Daraufhin wurden die Anführer*innen der Student*innen verhaftet und die Universität geschlossen. Den nicht aus Moskau stammenden Student*innen wurde unter dem Vorwand fehlender Nahrungsmittel befohlen, Moskau innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Die Student*innen erboten sich, auf ihr payok zu verzichten, aber die Regierung bestand darauf, dass sie die Hauptstadt verlassen müssten. Später, als die Universität wiedereröffnet wurde, ermahnte Preobraschenski[150], der Dekan, die Student*innen unter Androhung des Rauswurfs von der Universität, jede politische Äußerung zu unterlassen. Einige der verhafteten Student*innen wurden der Universität verwiesen, unter ihnen einige weibliche Studentinnen, deren einziges Verbrechen die Mitgliedschaft in einem Zirkel war, dessen Ziel es gewesen war, die Arbeiten Kropotkins und anderer anarchistischer Autor*innen zu studieren. Im bolschewistischen Russland wurden die Methoden des Zaren von seinen Thronfolger*innen wiederbelebt.


***


Nach dem Tod von Peter Kropotkin hatten seine Freund*innen und Genoss*innen entschieden, ein Kropotkin-Museum zu Ehren des großen anarchistischen Lehrers und zur Förderung seiner Ideen und Ideale zu gründen. Ich zog nach Moskau, um bei der Organisation der geplanten Gedenkstätte mitzuwirken, aber das Museumskomitee hatte bereits seit langem beschlossen, dass das Projekt derzeit nicht realisiert werden konnte. Da alles dem Monopol des Staates unterlag, konnte nichts ohne die Genehmigung der Autoritäten gemacht werden. Die Hilfe der Regierung zu akzeptieren wäre jedoch ein wissentlicher Verrat am Geiste Kropotkins gewesen, der sein Leben lang die Zusammenarbeit mit dem Staat verweigert hatte. Als Kropotkin einst krank und auf Hilfe angewiesen war, bot ihm die bolschewistische Regierung eine große Summe für das Recht an, seine Werke zu veröffentlichen. Kropotkin lehnte ab. Er war durch seine Krankheit gezwungen, Rationen und medizinische Unterstützung zu akzeptieren, aber er würde weder einwilligen, dass seine Werke vom Staat publiziert würden, noch irgendeine andere Hilfe von ihm annehmen. Das Komitee des Kropotkin-Museums vertrat die gleiche Auffassung. Es nahm vom Moskauer Sowjet das Haus an, in dem Kropotkin geboren worden war und das in ein Museum zu Ehren Kropotkins verwandelt werden sollte, aber es würde die Regierung um nichts weiter bitten. Das Haus wurde zu dieser Zeit von einer Militärorganisation genutzt, es hätte Wochen gedauert es zu räumen und dann hätten die Mittel gefehlt es zu renovieren. Einige der Mitglieder des Komitees waren der Meinung, dass ein Kropotkin-Museum im bolschewistischen Russland fehl am Platz sei, solange Dsepotismus um sich griff und die Gefängnisse mit politisch Andersdenkenden gefüllt waren.

Als ich zu einem kurzen Besuch in Petrograd war, wurde das Moskauer Appartement, in dem mein Zimmer war, von der Tscheka durchsucht. Ich erfuhr, dass das übliche Spiel gespielt worden war und alle, die den Ort während der zassada aufgesucht hatten, verhaftet worden waren. Ich besuchte Rawitsch, um gegen ein solches Vorgehen zu protestieren und teilte ihr mit, dass wenn das Ziel gewesen sei, mich in Haft zu nehmen, ich dazu bereit sei. Rawitsch hatte nichts davon mitbekommen, aber versprach, sich mit Moskau in Verbindung zu setzen. Einige Tage später wurde ich darüber informiert, dass sich die Tschekist*innen aus dem Appartement zurückgezogen hätten und die verhafteten Freund*innen freigelassen werden würden. Als ich einige Zeit darauf in mein Zimmer zurückkehrte, waren die meisten von ihnen wieder frei. Zeitgleich waren zahlreiche Anarchist*innen in verschiedenen Teilen der Hauptstadt verhaftet worden und keine*r wusste etwas über ihr Schicksal oder den Grund für ihre Verhaftung. Einige Wochen später, am 30. August, veröffentlichte die Moskauer Iswestija den offiziellen Bericht der WeTscheKa über »anarchistisches Bandit*innentum,« der mitteilte, dass zehn Anarchist*innen ohne Anhörung und Prozess als »Bandit*innen« erschossen worden waren.

Es war zur gängigen Praxis der bolschewistischen Regierung geworden, ihr barbarisches Vorgehen gegen Anarchist*innen mit dem allgemeinen Vorwurf des Bandit*innentums zu verschleiern. Diese Anschuldigung wurde gegen praktisch alle verhafteten Anarchist*innen und oft sogar gegen Sympathisant*innen der Bewegung erhoben. Eine besonders gängige Methode, eine unliebsame Person loszuwerden: So konnte jede*r heimlich hingerichtet und begraben werden.

Unter den zehn Opfern waren zwei der bekanntesten russischen Anarchist*innen, deren Idealismus und lebenslange Hingabe im Namen der Menschlichkeit die zaristischen Kerker und das Exil und Verfolgung und Leiden in anderen Ländern überdauert hatten. Es waren Fanya Baron, die einige Monate zuvor aus dem Gefängnis von Rjasan ausgebrochen war und Lew Tschorny[151], der unter dem alten Regime viele Jahre seines Lebens in der Katorga und im Exil verbracht hatte. Die Bolschewiki hatten nicht den Mut zuzugeben, dass sie Lew Tschorny erschossen hatten; in der Liste der Hingerichteten tauchte er unter dem Namen »Turtschaninow« auf, unter dem er, obwohl das sein richtiger Name war, selbst einigen seiner engsten Freund*innen nicht bekannt gewesen war. Tschorny war in ganz Russland als begabter Dichter und Autor bekannt gewesen. 1907 hatte er ein Werk über »Assoziierenden Anarchismus« verfasst und seit seiner Rückkehr aus Sibirien im Jahre 1917 hatte er große Beliebtheit unter den Arbeiter*innen Moskaus als Redner und Gründer der »Föderation der geistigen Arbeiter*innen« genossen. Er war ein äußerst begabter Mann, liebevoll und sympathisch in jeder Hinsicht. Kein Mensch konnte weiter vom Bandit*innentum entfernt sein als er.[152]

Die Mutter von Tschorny hatte sich wiederholt beim Ossoby Otdel (Spezialabteilung der Tscheka) nach dem Schicksal ihrers Sohnes erkundigt. Jedes Mal wurde ihr gesagt, sie solle am nächsten Tag wiederkommen, dann würde mensch ihr erlauben ihn zu sehen. Wie sich später herausstellte, war Tschorny bereits erschossen worden, als diese Versprechungen gemacht wurden. Nach seinem Tod weigerten sich die Autoritäten seinen Leichnahm an seine Verwandten und Freund*innen zu übergeben, damit sie ihn beerdigen könnten. Es gab anhaltende Gerüchte darüber, dass die Tscheka Tschorny nicht töten wollte, sondern dass er durch Folter gestorben sei.

Fanya Baron war der Typ russische Frau, die sich vollkommen der Sache der Menschlichkeit verschrieben hatte. Als sie in Amerika gewesen war, investierte sie ihre gesamte Freizeit und einen guten Teil ihres mageren Einkommens in einer Fabrik, um anarchistische Propaganda weiter zu fördern. Jahre später, als ich sie in Charkiw traf, war ihr Eifer und ihre Hingabe durch die Verfolgung, die sie und ihre Genoss*innen seit ihrer Rückkehr nach Russland erlitten hatten, nur noch gesteigert worden. Sie besaß grenzenlosen Mut und einen großmütigen Geist. Sie bewältigte die schwierigsten Aufgaben und beraubte sich dabei des letzten Stücks Brot mit Güte und völliger Selbstlosigkeit. Unter furchtbaren Reisebedingungen reiste Fanya durch die ganze Ukraine, um die Nabat zu verbreiten, die Arbeiter*innen und Bäuer*innen zu organisieren oder um für ihre eingesperrten Genoss*innen Hilfe und Unterstützung zu leisten. Sie war eines der Opfer der Razzien in der Butyrka gewesen, wo sie an den Haaren herumgeschleift und heftig zusammengeschlagen worden war. Nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis von Rjasan marschierte sie zu Fuß nach Moskau, wo sie mittellos und in Lumpen ankam. Es war ihre verzweifelte Lage, die sie dazu brachte, beim Bruder ihres Mannes Schutz zu suchen, in dessen Haus sie dann von der Tscheka gefunden wurde. Diese großherzige Frau, die der sozialen Revolution ihr Leben gewidmet hatte, wurde von den Menschen ermordet, die vorgaben, die Vorhut der Revolution zu sein. Die sowjetische Regierung gab sich nicht mit dem Verbrechen, Fanya Baron zu ermorden, zufrieden, sie verpasste dem Andenken ihres toten Opfers auch noch das Stigma des Bandit*innentums.

Kapitel 29: Handelsreisende der Revolution

Mit großem Aufwand bereiteten die Kommunist*innen den Dritten Kongress der Dritten Internationale und den Ersten Kongress der Roten Gewerkschafts-Internationale vor. Ein Komitee zur Vorbereitung war bereits im Sommer 1920 gebildet worden, als Delegierte aus verschiedenen Ländern in Moskau waren. Wie sehr die Bolschewiki vom Ersten Kongress der Roten Gewerkschafts-Internationale abhingen, verdeutlicht eine Bemerkung eines alten Kommunisten: »Wir haben keine Arbeiter*innen in der Dritten Internationale«, hatte er gesagt, »wenn es uns nicht gelingt, das weltweite Proletariat in der Roten Gewerkschafts-Internationale zusammenzuschweißen, wird die Dritte Internationale nicht mehr lange existieren.«

Das im vorigen Jahr renovierte Hôtel de Luxe wurde zum Gästehaus der ausländischen Mitglieder der Dritten Internationale und wurde dafür festlich geschmückt. Nach und nach trafen die Delegierten in Moskau ein.

Während meines Aufenthalts in Russland konnte ich drei verschiedene Arten von Besucher*innen ausmachen, die kamen, um die »Revolution zu studieren«. Die erste Kategorie bestand aus aufrichtigen Idealist*innen, für die die Bolschewiki zum Symbol der Revolution geworden waren. Unter ihnen waren viele Emigrant*innen aus Amerika, die alles, was sie besaßen, aufgegeben hatten, um in das gelobte Land zurückzukehren. Die meisten von ihnen wurden in den ersten paar Wochen bitter enttäuscht und versuchten Russland zu verlassen. Andere, die nicht als Kommunist*innen gekommen waren, traten der Kommunistischen Partei aus selbstsüchtigen Gründen bei und heulten mit den Wölfen. Es gab auch anarchistische Abgeschobene, die gegen ihren eigenen Willen kamen. Die meisten von ihnen unternahmen jede Anstrengung, um Russland zu verlassen, nachdem sie den gewaltigen Schwindel, der der Welt vorgespielt wurde, durchschaut hatten.

Zur zweiten Kategorie gehörten Journalist*innen, Zeitungsredakteur*innen und einige Abenteurer*innen. Sie verbrachten zwischen zwei Wochen und zwei Monate in Russland, üblicherweise in Petrograd oder Moskau als Gäste der Regierung und in Obhut bolschewistischer Reiseführer*innen. Kaum eine*r von ihnen konnte die Sprache und sie drangen nie bis unter die Oberfläche der Dinge vor. Dennoch wagten es viele von ihnen auf gebieterische Art und Weise über die Situation in Russland zu schreiben und zu sprechen. Ich erinnere mich an mein Erstaunen, als ich in einer bestimmten Londoner Zeitung las, dass die Lehren Jesu »in Russland verwirklicht« worden seien. Eine groteske Lüge, die von keiner*keinem anderen als einem Scharlatan erdacht sein konnte. Andere Autor*innen waren der Wahrheit nicht viel näher. Wenn sie überhaupt kritisch gegenüber den Bolschewiki waren, dann auf Kosten der gesamten russischen Bevölkerung, denen sie vorwarfen, »vulgäre, primitive Wilde« zu sein, »zu ungebildet, um die Bedeutung der Revolution zu begreifen.« Diesen Autor*innen zufolge war es die russische Bevölkerung, die den Bolschewiki deren grausamen und despotischen Methoden aufzwang. Es kam diesen sogenannten investigativen Reporter*innen nicht in den Sinn, dass die Revolution von diesen einfachen und ungebildeten Menschen gemacht worden war, und nicht von den derzeitigen Herrscher*innen im Kreml. Sicher mussten sie einige Qualitäten besitzen, die es ihnen erlaubt hatten, den revolutionären Sturm zu entfesseln – Qualitäten, die, wenn sie richtig gelenkt worden wären, den Ruin und die Zerstörung Russlands verhindert hätten. Aber diese Qualitäten wurden von den Apologet*innen der Bolschewiki beständig übersehen, die, in ihrer Entschlossenheit, mildernde Umstände für das von den Bolschewiki angerichtete Durcheinander zu finden, jede Wahrheit opfern. Nur wenige schrieben mit einem Verständnis für die komplexen Probleme und mit Sympathie für die Menschen in Russland. Aber ihre Stimmen waren in dem gängigen Wahn, zu dem der Bolschewismus geworden war, wirkungslos.

Die dritte Kategorie – die Mehrheit der Besucher*innen, Delegierte und Mitglieder verschiedener Kommissionen – befielen Russland, um zu Agent*innen der herrschenden Partei zu werden. Diese Menschen hatten jede Gelegenheit dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie waren, die Menschen in Russland zu treffen und von ihnen die ganze schreckliche Wahrheit zu erfahren. Aber sie bevorzugten es, die Seite der Regierung zu wählen, ihren Interpretationen von den Ursachen und Wirkungen Glauben zu schenken. Dann zogen sie aus, um im Sinne der Bolschewiki die Situation absichtlich falsch darzustellen und zu lügen, so wie die Agent*innen der Entente über die Russische Revolution gelogen und sie falsch dargestellt hatten.

Auch die aufrichtigen Kommunist*innen begriffen die Schande der Situation nicht – nicht einmal Angelica Balabanowa. Dennoch besaß sie eine gute Menschenkenntnis und wusste, wie die Menschen, die Russland besuchten, einzuschätzen waren. Ihre Erfahrungen mit Frau Clare Sheridan[153] waren charakteristisch dafür. Die Dame hatte sich nach Russland eingeschmuggelt, bevor mensch in Moskau realisierte, dass sie die Cousine von Winston Churchill war. Sie war besessen von dem Verlangen, prominente Kommunist*innen »in Stein zu meißeln«. Sie hatte auch Angelica gebeten, für sie Modell zu stehen. »Lenin, Trotzki und die anderen Anführer*innen werden es tun, warum nicht du?«, bat sie. Angelica, die Sensationsgier in jeder Hinsicht hasste, verübelte diesen oberflächlichen Besucher*innen ihre Anwesenheit in Russland. »Ich habe sie gefragt«, erzählte sie später, »ob sie auf die Idee gekommen wäre, Lenin drei Jahre zuvor ›in Stein zu meißeln‹, als die englische Regierung ihn als deutschen Spion denunzierte. Lenin hat die Revolution nicht gemacht. Die Menschen in Russland haben sie gemacht. Ich habe Mrs. Sheridan gesagt, dass sie lieber russische Arbeiter und Frauen, die die wahren Held*innen der Revolution sind, ›in Stein meißeln‹ solle. Ich wusste, dass ihr das nicht gefiel, aber es war mir egal. Ich kann Menschen nicht ausstehen, für die der Kampf in Russland nur eine Vorlage für armselige Nachbildungen oder billige Schauspiele ist.«

Als die neuen Delegierten ankamen, wurden sie alle königlich willkommen geheißen und gefeiert. Mensch zeigte ihnen Schauschulen, Kinderheime, Siedlungen und Modellfabriken. Es waren die traditionellen potenkimschen Dörfer[154], die mensch den Besucher*innen zeigte. Sie wurden liebenswürdig aufgenommen und Lenin und Trotzki »unterhielten sich« mit ihnen, sie wurden zu Theateraufführungen, Konzerten, zum Ballett, Ausflügen und Militärparaden ausgeführt. Kurz gesagt: Es wurde nichts unversucht gelassen, die Delegierten in einen Gemütszustand zu versetzen, der sie für den großen Plan günstig stimmen sollte, der ihnen bei den Kongressen der Roten Gewerkschafts-Internationale und der Dritten Internationale vorgestellt werden würde. Es gab auch kontinuierliche private Treffen, bei denen die Delegierten einem regelrechten Kreuzverhör durch Losowski[155] – ein prominenter bolschewistischer Arbeiter*innenführer – und seinem Gefolge unterzogen wurden, um ihre Einstellung gegenüber der Dritten Internationale, der Diktatur des Proletariats und anderen Themen zu überprüfen. Hier und da weigerte sich ein*e Delegierte*r die Anweisungen seiner Organisation auszuplaudern, weil sie*er gelobt hatte, diese nur auf dem Kongress zu äußern. Aber solche naiven Menschen hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sie waren schnell geächtet und auf dem Kongress wurde ihnen keine Gelegenheit gegeben, sich wirklich Gehör zu verschaffen.

Die Mehrheit der Delegierten war beugsamer. Sie lernten schnell, dass Versprechen und Verantwortung als bourgeoiser Aberglaube betrachtet wurden. Um ihre Ultraradikalität zu zeigen, entledigten sie sich ihrer schnell. Sie wurden zu den Echos von Sinowjew, Losowski und anderer Anführer*innen.

Die amerikanischen Delegierten der Roten Gewerkschafts-Internationale fielen besonders durch ihren fehlenden Charakter auf. Sie akzeptierten jeden Antrag und Vorschlag der Vorsitzenden ohne Nachfrage. Die offenkundigsten Intrigen und politischen Machenschaften und unverschämte Unterdrückung derer, die nicht in blinden Gehorsam geschmeichelt oder schikaniert worden waren, fanden bereitwillige Unterstützung durch die Delegierten der amerikanischen Kommunist*innen und der Berater*innen, die sie mitgebracht hatten.

Die Bolschewiki wussten, wie sie sich in Szene setzen konnten. In der Inszenierung der zwei im Juli 1921 abgehaltenen Kongresse übertrafen sie sich selbst. Die Kulisse des Kongresses der Dritten Internationale war der Kreml. In den königlichen Hallen, in denen einst die allmächtigen Romanows gesessen hatten, hingen die eingeschüchterten Delegierten mit angehaltenem Atem an den Lippen ihres Papstes Lenin und der anderen Grandseigneurs der kommunistischen Kirche. Am Abend des Kongresses wurde ein großes Treffen im großen Theater abgehalten, an dem nur diejenigen teilnehmen durften, deren Pässe von der Allrussischen Tscheka bewilligt worden waren. Die Straßen, die zum Theater führten, wurden in ein wahrhaftiges Militärlager verwandelt.

Tschekist*innen und Soldat*innen zu Fuß und zu Pferd erzeugten die passende Atmosphäre für die kommunistische Konklave. Bei dem Treffen wurden Resolutionen verabschiedet, die um geschwisterliche Grüße an »die Revolutionär*innen in kapitalistischen Gefängnissen« erweitert wurden. Zu diesem Zeitpunkt war jedes russische Gefängnis mit Revolutionär*innen gefüllt, doch an sie wurden keine Grüße geschickt. So durchdringend war die Hypnose Moskaus, dass sich nicht eine einzige Stimme erhob, um die Farce der bolschewistischen Sympathie für politische Gefangene zu entlarven.

Der Kongress der Roten Gewerkschaften wurde in einem weniger prahlerischen Umfang im Gewerkschaftshaus abgehalten. Aber kein Detail war vergessen worden, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. »Delegierte« aus Palästina und Korea – Männer, die Russland seit Jahren nicht mehr verlassen hatten –, Delegierte aus den großen Industriezentren von Buchara, Turkestan und Aserbaidschan[156] blähten die kommunistische Stimme auf dem Kongress auf und halfen dabei, jeden kommunistischen Antrag anzunehmen. Sie waren da, um die Arbeiter*innen Europas und Amerikas zu lehren, ihre jeweiligen Länder umzugestalten und nach der Weltrevolution Kommunismus zu etablieren.

Der von Moskau während des Jahres 1920/21 perfektionierte Plan, der eine vollständige Umkehrung kommunistischer Prinzipien und Taktiken darstellte, wurde sehr geschickt und subtil – in kleinen Schritten – vor den leichtgläubigen Delegierten entrollt. Die Rote Gewerkschafts-Internationale sollte alle revolutionären und syndikalistischen Organisationen weltweit umfassen, mit Moskau als ihrem Mekka und der Dritten Internationale als ihrer Prophetin. Alle kleineren revolutionären Arbeiter*innenorganisationen sollten aufgelöst, und in den erhaltenen Gewerkschaftskörperschaften stattdessen kommunistische Einheiten gebildet werden. Dieselben Personen, die ein Jahr zuvor das berühmte Einundzwanzig-Punkte-Programm[157] verabschiedet hatten, die, die jede*n Ketzer*in exkommuniziert hatten, die*der nicht willens gewesen war, den Befehlen des Heiligen Stuhls – der Dritten Internationale – zu gehorchen, und die, die jede Arbeiter*innenorganisation in den 2. und 2 ½. Internationalen beschimpft hatten, gingen nun auf Kuschelkurs mit den reaktionärsten Arbeiter*innenorganisationen und »entschieden« gegen die größten Bemühungen der revolutionären Pionier*innen in den Gewerkschaftsbewegungen aller Länder.

Auch hier bewiesen die amerikanischen Delegierten, dass ihr Engagement jeden Penny wert gewesen war. Die meisten von ihnen waren durch die Industrial Workers of the World groß geworden, waren auf den Schultern dieser militanten amerikanischen Arbeiter*innenorganisation wahrhaft zu »Ruhm und Ehre« gelangt. Einige der Delegierten hatten sich heldenhaft in Sicherheit gebracht, indem sie uneigennützig das Hôtel de Luxe dem Bundesgefängnis Leavenworth vorzogen und ihre Genoss*innen in den amerikanischen Gefängnissen zurückließen und ihren Freund*innen die Rückerstattung der Schulden, die sie so heldenhaft aufgenommen hatten, hinterließen.[158] Während Industrial Workers im kapitalistischen Amerika weiterhin unter Verfolgung litten, lebten die abtrünnigen I.W.W.s in Moskau bequem und sicher, verleumdeten und attackierten ihre ehemaligen Genoss*innen und planten ihre Organisation zu zerstören. Gemeinsam mit den Bolschewiki schickten sie sich an, die von den amerikanischen Vigilant*innen[159] und dem Ku-Klux-Klan[160] begonnene Aufgabe zu beenden, die I.W.W. zu vernichten. Les extrêmes ce touchent.[161]

Während die Kommunist*innen wortgewandte Resolutionen des Protests gegen die Inhaftierung von Revolutionär*innen in anderen Ländern verabschiedeten, wurden die Anarchist*innen in den bolschewistischen Gefängnissen von Russland durch ihre lange Inhaftierung ohne jede Gelegenheit einer Anhörung oder eines Prozesses zur Verzweiflung getrieben. Um die Regierung zum Handeln zu zwingen, entschieden die im Taganka (Moskau) inhaftierten Anarchist*innen in einen Hungerstreik bis zum Tode zu treten. Als die französischen, spanischen und itallienischen Anarcho-Syndikalist*innen davon erfuhren, versprachen sie, diese Angelegenheit gleich bei einer der ersten Sitzungen des Arbeiter*innenkongresses zur Sprache zu bringen. Einige jedoch schlugen vor, zunächst die Regierung auf diese Angelegenheit anzusprechen. Daraufhin wurde ein Delegiertenkomitee ausgewählt, in dem auch der bekannte Arbeiter*innenanführer Tom Mann[162] aus England war, um beim Kleinen Vater im Kreml vorzusprechen. Das Komitee besuchte Lenin. Letzterer weigerte sich, die Anarchist*innen zu entlassen, da sie »zu gefährlich« seien, aber das endgültige Ergebnis des Treffens war ein Versprechen, dass mensch ihnen erlauben würde, Russland zu verlassen; sollten sie jedoch ohne eine Erlaubnis zurückkehren, würden sie hingerichtet werden. Am nächsten Tag wurde Lenins Versprechen durch einen Brief vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, unterschrieben von Trotzki, untermauert, in dem wiederholt wurde, was Lenin gesagt hatte. Natürlich war die Drohung mit Erschießung in dem offiziellen Schreiben weggelassen worden.

Die Hungerstreikenden im Taganka akzeptierten die Bedingungen der Abschiebung. Sie hatten vier Jahre lang für die Revolution gekämpft und geblutet und waren nun gezwungen, Ahasverusse[163] in fremden Landen zu werden oder einen langsamen geistigen und physischen Tod in den bolschewistischen Kerkern zu erleiden. Die Moskauer anarchistischen Gruppen wählten Alexander Berkman und A. Schapiro[164] als ihre Vertreter*innen in das Delegiertenkomitee, um mit der Regierung die Bedingungen der Haftentlassung und Abschiebung der inhaftierten Anarchist*innen zu verhandeln.

Angesichts dieser Abmachung verwarfen die Delegierten ihre Absicht, beim Kongress öffentlich zu protestieren. Ihre Verblüffung war groß, als Bucharin kurz vor Ende des Kongresses im Namen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei einen niederträchtigen Angriff auf die Anarchist*innen startete.

Einige der Delegierten aus dem Ausland, die über das unredliche Vorgehen erzürnt waren, verlangten eine Gelegenheit zu antworten. Dieser Forderung wurde schließlich einem*einer Vertreter*in der französischen Delegation stattgegeben, nachdem der Vorsitzende Losowski alle demagogischen Tricks ausprobiert hatte, in dem verzweifelten Versuch, die Abweichler*innen zum Schweigen zu bringen.

Während der langwierigen Verhandlungen im Namen der inhaftierten Anarchist*innen und der jüngsten, unwürdigen Entwicklungen auf dem Kongress der Roten Gewerkschaften protestierten die amerikanischen kommunistischen Delegierten nicht ein einziges Mal. Laut hatten sie nach einer politischen Amnestie in Amerika geschrien, aber hinsichtlich der Befreiung politischer Gefangener in Russland hatten sie kein Wort verloren. Eine*r der Gruppe, der*dem mensch sich im Namen der Hungerstreikenden genähert hatte, rief aus: »Was sind einige Leben oder gar einige hundert Leben im Vergleich zur Revolution!« Solchen kommunistischen Köpfen gemäß hatte die Revolution keine Auswirkungen auf Gerechtigkeit und Menschlichkeit.

Angesichts des bitteren Verlangens, angesichts der Männer, Frauen und Kinder, die mit hungrigen Augen beobachteten, wie in der an das Luxushotel angrenzenden Bäckerei Weißbrot für die Delegierten gebacken wurde, schrieb einer der amerikanischen brüderlichen Abgesandten einer Publikation in seinem Heimatland, dass »die Arbeiter*innen in Russland die Fabriken kontrollieren und die Geschicke des Landes lenken; Sie bekommen alles umsonst und brauchen kein Geld.« Dieser noble Delegierte lebte im prunkvollen Anwesen des ehemaligen Zuckerkönigs Russlands und genoss auch die Gastfreundschaft des Hôtel de Luxe. Er brauchte in der Tat kein Geld. Aber er wusste, dass den Arbeiter*innen selbst die einfachsten Notwendigkeiten fehlten und dass sie ohne Geld in Russland ebenso hilflos wie in jedem anderen Land waren, da die wöchentliche payok kaum für zwei Tage zum Leben reichte. Ein*e andere*r Delegierte*r veröffentlichte glühende Artikel, die von der Abwesenheit von Prostitution und Verbrechen in Moskau faselten. Zeitgleich richtete die Tscheka täglich Räuber*innen hin und auf der Twerskaja und dem Puschkin- Boulevard, nahe des Hôtels de Luxe, bedrängten Prostituierte die Delegierten mit ihren Angeboten. Ihre besten Kund*innen waren genau die Delegierten, die so enthusiastisch wurden, wenn sie über die Wunder des bolschewistischen Regimes berichteten.

Die Bolschewiki erkannten den Wert solcher Verteidiger*innen und schätzten ihre Dienste. Sie sandten sie hinaus in die Welt, in jeder Hinsicht großzügig ausgestattet, um das monströse Trugbild aufrechtzuerhalten, dass die Bolschewiki und die Revolution identisch seien und dass die Arbeiter*innen »unter der Diktatur des Proletariats« zu ihrem Recht gekommen seien. Wehe denen, die es wagen, die Maske von dem lügenden Gesicht zu reißen. In Russland werden sie an die Wand gestellt, in Gebiete verbannt, in denen Hunger herrscht, um dort einen langsamen Tod zu finden, oder aus dem Land vertrieben. In Europa und Amerika werden solche Ketzer*innen durch den Dreck gezogen und moralisch gelyncht. Überall verbreiten die skrupellosen Methoden der großen Schaumschlägerin, der Dritten Internationale, Argwohn und Feindseligkeiten unter den Arbeiter*innen und Radikalen. Früher waren Ideale und Integrität der Impuls für revolutionäre Aktivitäten. Soziale Bewegungen bildeten sich gemäß der inneren Bedürfnisse eines jeden Landes. Sie wurden aufrechterhalten und unterstützt durch das Interesse und den Eifer der Arbeiter*innen selbst. Nun wird all das als wertlos verworfen. Stattdessen verlässt mensch sich auf den Goldregen aus Moskau, um eine reiche Ernte kommunistischer Organisationen und Publikationen zu gewinnen. Sogar Aufstände werden organisiert, um die Menschen hinsichtlich der Qualität und Stärke der Kommunistischen Partei zu beschwindeln und irrezuführen. Tatsächlich beruht alles auf einem Fundament, das in dem Moment einstürzen wird, in dem Moskau seine finanzielle Unterstützung entzieht.

Während der beiden Kongresse im Juli 1921 brachten die Freund*innen und Genoss*innen von Maria Spiridinowa eine öffentliche Erklärung in Umlauf, die sie an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und an die Hauptverantwortlichen der Regierung geschickt hatten, und in der sie auf den Zustand Spiridinowas aufmerksam machten und ihre Freilassung zugusten einer adäquaten medizinischen Behandlung und Pflege forderten.

Mensch zog eine prominente weibliche Delegierte des Dritten Kongresses der Kommunistischen Internationale aus dem Ausland ins Vertrauen. Sie versprach Trotzki zu treffen und später berichtete sie, dass er gesagt habe, dass Spiridinowa »immer noch zu gefährlich« sei, »um freigelassen zu werden«. Erst nachdem Berichte über ihren Zustand in der europäischen sozialistischen Presse erschienen, wurde sie unter der Bedingung, dass sie nach ihrer Genesung in das Gefängnis zurückkehre, entlassen. Ihre Freund*innen, in deren Obhut sie sich derzeit befindet, haben nun die Wahl Spiridinowa sterben zu lassen oder sie der Tscheka zu übergeben.

Kapitel 30: Bildung und Kultur

Der größte Stolz der Bolschewiki sind Bildung, Kunst und Kultur. Kommunistische Propagandaschriften und bolschewistische Agent*innen im In- und Ausland singen beständig Lobeshymnen auf diese großen Errungenschaften.

Auf den ersten Blick mag es tatsächlich so aussehen, als hätten die Bolschewiki Wunder auf diesem Gebiet bewirkt. Sie haben mehr Schulen organisiert, als unter dem Zar existiert hatten, und sie haben diese für die Massen zugänglich gemacht. Das gilt für größere Städte. Aber in den Provinzen erregten die existierenden Schulen die Feindschaft der lokalen Bolschewiki, die die meisten von ihnen unter dem vorgeschobenen Grund konterrevolutionärer Aktivitäten oder wegen des Mangels an kommunistischen Lehrer*innen schlossen. Während der Anteil an Kindern, die Schulen besuchen, und die Zahl höherer Bildungsinstitute in den großen Zentren größer ist als in der Vergangenheit, gilt das nicht für ganz Russland. Dennoch, wenn mensch die Zahlen berücksichtigt, verdienen die Bolschewiki Anerkennung für ihre Bildungsarbeit und die allgemeine Verbreitung von Bildung.

Hinsichtlich der Theater waren keine Einschränkungen vorgenommen worden. Allen war es erlaubt, ihre Darbietungen fortzusetzen, während Fabriken wegen Mangels an Treibstoff heruntergefahren wurden. Oper, Ballett und Lunatscharskis Stücke wurden kunstvoll aufgeführt und der Proletkult der organisiert worden war, um proletarische Kultur voranzubringen[165] – wurde sogar, als die Hungersnot auf ihrem Höhepunkt war, großzügig subventioniert. Es stimmt auch, dass die Druckpressen der Regierung Tag und Nacht arbeiteten, um Propagandaliteratur und alte Klassiker zu produzieren. Zugleich versammelten sich die Imagist*innen[166] und Futurist*innen[167] unbehelligt im Café Domino und an anderen Orten. Die Paläste und Museen wurden vortrefflich in Schuss gehalten. In jedem anderen hungernden, blockierten und angegriffenen Land wäre all das eine lobenswerte Leistung.

In Russland jedoch hatten zwei Revolutionen stattgefunden. Offen gesagt war die Februarrevolution nicht weitgehend genug. Dennoch brachte sie politische Veränderungen, ohne die es keinen Oktober gegeben hätte. Sie befreite auch große kulturelle Kräfte aus den Gefängnissen und Sibirien, ohne die die Bildungsarbeit der Bolschewiki nicht hätte gelingen können.

Es war die Oktoberrevolution, die bis ins Innenleben Russlands vordrang. Sie entwurzelte die alten Werte und bereitete den Boden für neue Konzeptionen und Lebensformen. Da die Bolschewiki zum einzigen Medium des Ausdrucks und der Interpretation des Versprechens der Revolution wurden, wird der*die gewissenhafte Student*in nicht ausschließlich mit der wachsenden Zahl an Schulen, der Fortsetzung von Ballett oder dem guten Zustand der Museen zufrieden sein. Er*sie wird wissen wollen, ob Bildung, Kultur und Kunst im bolschewistischen Russland den Geist der Revolution widerspiegeln, ob sie dazu dienen, die Fantasie anzuregen und den Horizont zu erweitern und vor allem, ob sie die latenten Qualitäten der Massen entfesselten und dabei halfen, diese anzuwenden.

Kritische Nachfragen sind in Russland eine gefährliche Angelegenheit. Kein Wunder, dass so viele Neuankömmlinge es vermieden, Blicke hinter die Fassade zu werfen. Ihnen genügte es, dass das Montessori-System[168], die Bildungsideen von Professor Dewey[169] und Tanz nach der Methode von Dalcroze[170] von Russland »übernommen« worden waren. Ich möchte nicht gegen diese Innovationen argumentieren. Aber ich bestehe darauf, dass diese keinerlei Bedeutung für die Revolution haben, sie beweisen nicht, dass das bolschewistische Bildungsexperiment ähnlichen Bestrebungen in anden Ländern überlegen sei, in denen diese ohne eine Revolution und den furchtbaren Preis, den diese kostet, erreicht worden sind.

Das staatliche Bildungsmonopol interpretiert Bildung überall, um den eigenen Interessen zu dienen. Ähnlich nutzen auch die Bolschewiki, für die der Staat am wichtigsten ist, Bildung zu ihren eigenen Zwecken. Aber während es dem Bildungsmonopol in anderen Ländern nicht gelang, den Geist unabhängigen Denkens und kritischer Analyse vollständig zu kontrollieren, hat die »Diktatur des Proletariats« jeden Versuch unabhängiger Überlegungen vollständig gelähmt. Der kommunistische Maßstab ist dominant. Schon die geringste Abweichung vom offiziellen Dogma und der offiziellen Meinung seitens der Lehrer*innen, Ausbilder*innen oder Schüler*innen stellt diese unter den Verdacht der Konterrevolution, was in Absonderung und Ausschluss resultiert, wenn nicht in noch Schlimmerem.

In einem vorangegangenen Kapitel habe ich den Fall der Student*innen der Moskauer Universität erwähnt, die der Uni verwiesen und verbannt wurden, weil sie gegen die Gewalt der Tscheka gegenüber den politischen Gefangenen in der Butyrka protestiert hatten. Aber es waren nicht nur derartige »politische« Verstöße, die bestraft wurden. Verstöße rein akademischer Natur wurden auf die gleiche Weise bestraft. Daher wurden auch die Einwände einiger Professor*innen gegen die kommunistische Einmischung in die Lehrmethoden streng unterdrückt. Lehrer*innen und Student*innen, die sich auf die Seite der Professor*innen stellten, wurden schwer bestraft. Ich kenne einen Professor der Soziologie und Literatur, ein brillanter Lehrer und Revolutionär, der von der Moskauer Universität verbannt worden war, weil er als Anarchist das kritische Denken seiner Schüler*innen förderte. Er ist nur ein Beispiel der zahlreichen Fälle nicht-kommunistischer Intellektueller, die unter verschiedenen Vorwänden systematisch gejagt und schließlich aus bolschewistischen Institutionen beseitigt wurden. Die kommunistischen »Zellen«, die die Kontrolle über jedes Klassenzimmer haben, haben eine Atmosphäre des Misstrauens und der Verdächtigungen geschaffen, in denen echte Bildung nicht gedeihen kann.

Es stimmt, dass die Bolschewiki anstrebten, Bildung und Kultur in die Rote Armee und die Dörfer zu bringen. Aber auch hier herrschen die gleichen Zustände. Kommunismus ist die Staatsreligion und wie alle andere Religionen verhindert sie kritische Einstellungen und missbilligt jede unabhängige Untersuchung. Ohne die Fähigkeit zum Parallelismus und der Gelegenheit zur Überprüfung ist Bildung wertlos.

Der Proletkult ist das Lieblingskind der Bolschewiki. Wie die meisten Eltern behaupten sie, ihr Nachwuchs habe besondere Begabungen. Sie halten ihn für das große Genie, das dazu bestimmt ist, die Welt mit neuen Werten zu bereichern. Fortan sollen die Massen nicht länger vom vergifteten Gut bourgeoiser Kultur trinken. Aus eigenem kreativen Impuls und durch eigene Anstrengungen soll das Proletariat große Schätze der Literatur, Kunst und Musik hervorbringen. Aber wie die meisten Wunderkinder konnte der Proletkult den frühen Versprechungen nicht gerecht werden. In kürzester Zeit stellte er sich als unterdurchschnittlich heraus, unfähig zur Innovation, ohne jede Originalität und ohne anhaltende Kraft. Bereits 1920 war mir von zweien der herausragendsten Väter des Proletkults, Gorki und Lunatscharski, gesagt worden, dass er gescheitert sei.

In Petrograd, Moskau und während meiner Reisen hatte ich die Gelegenheit, die Errungenschaften des Proletkults zu studieren. Ob in gedruckter Form, auf der Bühne, als Modell oder in Farbe, es fehlte ihnen an Ideen und Visionen und sie zeigten keine Spur des inneren Verlangens, der kreative Künste antreibt. Sie waren hoffnungslos banal. Ich bezweifle nicht, dass die Massen eines Tages eine neue Kultur schaffen werden, neue künstlerische Werte und neue Formen der Schönheit. Aber diese werden durch das innere Bedürfnis der Menschen zum Leben erweckt werden und nicht durch einen tyrannischen Willen, der ihnen auferlegt wird.

Der mechanistische Ansatz hinsichtlich Kunst und Kultur und die idée fixe, dass sich nichts außerhalb der Kanäle des Staates ausdrücken darf, haben den kulturellen und künstlerischen Ausdruck der Menschen in Russland verkümmern lassen. In Dichtung und Literatur, im Drama, in der Malerei und der Musik wurde in fünf Jahren nicht ein Werk über die Revolution erschaffen. Das ist umso bemerkenswerter, wenn mensch bedenkt, wie reich Russland an Werken der Kunst war und wie verbunden die Autor*innen und Dichter*innen der Seele der Menschen in Russland waren. Dennoch hatte es während des größten Umbruchs in der Weltgeschichte keine*r gewagt, dem Wunder mit Stift, Pinsel oder Leier künstlerischen Ausdruck zu verleihen oder den Sturm, der die Menschen Russlands hinwegfegte, musikalisch festzuhalten. Kunstwerke, gleich neugeborenen Menschen, entstehen durch Schmerz und Plackerei. Die fünf Jahre der Revolution hätten wahrhaftig einen spirituellen und kreativen Reichtum bringen müssen. Denn in diesen Jahren erlitt die Seele Russland tausend Kreuzigungen. Jedoch war Russland in dieser Hinsicht noch nie so arm und trostlos gewesen.

Die Bolschewiki behaupten, dass eine revolutionäre Periode den kreativen Künsten nicht zuträglich sei. Diese Behauptung wird von der Französischen Revolution nicht gestützt. Mensch erwähne nur die Marseillaise, die großartige Musik darüber, was lebt und leben wird. Die Französische Revolution war reich an geistigen Errungenschaften, an Dichtung, Malerei, Wissenschaft und an ihrer großen Literatur und ihren Briefen. Andererseits war die Französische Revolution niemals so vollständig von einer dogmatischen Idee dominiert, wie das in Russland der Fall war. Die Jakobiner*innen strebten wahrlich sehr danach, den Geist der Französischen Revolution in Ketten zu legen und haben dafür teuer bezahlt. Die Bolschewiki haben die destruktiven Elemente der Französischen Revolution kopiert, aber sie haben nichts getan, das sich mit den konstruktiven Errungenschaften dieser Periode vergleichen lässt.

Ich habe gesagt, dass nichts Außergewöhnliches in Russland geschaffen worden sei. Um genau zu sein, muss ich das großartige revolutionäre Gedicht »Zwölf« von Alexander Blok ausnehmen. Aber sogar dieses begabte Genie, zutief inspiriert von der Revolution und mit dem Feuer erfüllt, das alles Leben gereinigt hatte, hörte bald auf, schöpferisch tätig zu sein. Seine Erlebnisse mit der Tscheka (er wurde 1919 verhaftet), der Terror um ihn herum, die sinnlose Verschwendung von Leben und Energie, das Leiden und die Hoffnungslosigkeit unterdrückten seinen Geist und machten ihn krank. Bald war Alexander Blok nicht mehr.[171]

Sogar ein Blok konnte mit einem eisernen Band – das eiserne Band des bolschewistischen Misstrauens, der Verfolgung und der Zensur –, das sein Hirn einengte, nichts erschaffen. Wie weitreichend letzteres war, erfuhr ich aus einem Dokument, das die Museumsexpedition in Wologda entdeckt hatte. Es war ein »sehr vertraulicher, geheimer« Befehl, erlassen im Jahre 1920 und unterschrieben von Uljanowa[172], der Schwester Lenins und Vorsitzenden des zentralen Bildungsamtes. Er wies die Bibliotheken in ganz Russland an, alle »nicht-kommunistische Literatur« mit Ausnahme der Bibel, des Korans und der Klassiker, ja sogar kommunistische Schriften, die sich mit Problemen beschäftigten, die vom existierenden Regime »auf andere Weise gelöst« worden seien, zu vernichten. Die verdammte Literatur sollte »wegen der Papierknappheit« an die Papiermühlen geschickt werden.

Solche Erlasse und das staatliche Monopol an allen Materialien, Druckmaschinen und aller im Umlauf befindlichen Medien verhinderten jede Möglichkeit der Entstehung kreativer Arbeiten. Der Herausgeber einer kleinen kooperativen Zeitung veröffentlichte einmal ein anonymes, brillantes Gedicht. Es war der Schrei einer gequälten Dichter*innenseele aus Protest gegen den anhaltenden Terror. Der Herausgeber wurde sofort verhaftet und sein kleines Büro geschlossen. Der*die Autor*in wäre vermutlich erschossen worden, hätte mensch seinen*ihren Aufenthalt gekannt. Ohne Zweifel gibt es viele gequälte Schreie in Russland, aber es sind gedämpfte Schreie. Keine*r darf sie zu Ohren bekommen oder ihre Bedeutung interpretieren. Alleine die Zukunft besitzt den Schlüssel zu den künstlerischen und kulturellen Schätzen, die heute vor den Argusaugen des Amts für Bildung und den zahlreichen anderen Zensurbehörden versteckt sind.

Russland ist heute Müllhalde für Mittelmäßigkeiten in Kunst und Kultur. Sie passen in die schmale Spur, sie scharwenzeln um die allmächtigen Politkommissar*innen herum. Sie leben im Kreml und sahnen das Beste des Lebens ab, während die echten Poet*innen – wie Blok und andere – vor Kummer und Verzweiflung sterben.

Die Leere in Literatur, Dichtung und Kunst erlebt mensch am stärksten in den Theatern, besonders den staatlichen Theatern. Ich saß einmal in einer fünfstündigen Aufführung von »Othello« mit Andrejewa[173], Gorkis Ehefrau, als Desdemona im Alexandrowski-Theater in Petrograd. Es ist schwer, sich eine scheußlichere Darbietung vorzustellen. Ich habe auch die meisten anderen Stücke in den Staatstheatern gesehen und nicht eines von ihnen gab auch nur einen Hinweis auf das Erdbeben, das Russland erschüttert hatte. Es gab keine neuen Akzente in der Interpretation, dem Szenenbild oder der Methode. Alles war gewöhnlich und unzulänglich, sogar bar der Fortschritte, die die dramaturgische Kunst in bourgeoisen Ländern gemacht hatte, unbeeinflusst und geradezu belanglos angesichts der Revolution.

Die einzige Ausnahme war das Moskauer Kunsttheater. Seine Inszenierung von Gorkis »Nachtasyl« war besonders beeindruckend. Echte Kunst wurde auch im Stanislawski-Studio dargeboten. Das waren die einzigen Oasen in der künstlerischen Wüste Russlands. Aber selbst das Kunsttheater bezog sich nicht auf die großen revolutionären Ereignisse, die Russland durchlebte. Das Repertoire, das das Kunsttheater vor einem Vierteljahrhundert berühmt gemacht hatte, wurde Nacht für Nacht wiederholt. Es gab keine neuen Ibsens, Tolstois oder Tschechows, die mit ihrem Protest gegen die neuen Misstände wetterten und selbst wenn es sie gegeben hätte, hätte sie kein Theater aufgeführt. Es war sicherer, die Vergangenheit zu interpretieren, als die Stimme der Gegenwart sprechen zu lassen. Dennoch, obwohl das Kunsttheater sich strikt an die Vergangenheit hielt, hatte Stanislawski[174] oft Schwierigkeiten mit den Behörden. Er hatte Verhaftungen erlitten und war einmal zwangsweise aus seinem Studio geworfen worden. Er war gerade an einen neuen Ort gezogen, als ich ihn gemeinsam mit Louise Bryant besuchte, die mich gebeten hatte, als ihre Dolmetscherin mitzukommen. Stanislawski sah zwischen seinen immer noch unausgepackten Kisten mit Theaterrequisiten verloren und entmutigt aus. Ich hatte ihn bereits bei mehreren anderen Gelegenheiten getroffen, bei denen er beinahe hoffnungslos bezüglich der Zukunft des Theaters in Russland gewesen war. »Das Theater kann nur durch die Inspiration neuer Kunstwerke wachsen«, hatte er gesagt, »ohne die ist die*der interpretative Künstler*in zum Stillstand und das Theater zum Verfall verurteilt.« Aber Stanislawski war selbst zu sehr kreativer Künstler, um zu stagnieren. Er suchte nach anderen Formen der Interpretation. Sein jüngstes Unterfangen war der Versuch, Gesang und dramatisches Schauspiel in Harmonie miteinander zu bringen. Ich besuchte eine Kostümprobe einer solchen Inszenierung und fand sie sehr beeindruckend. Der Effekt der Stimme wurde durch die realistische Raffinesse, die Stanislawski in der dramaturgischen Kunst erzielte, großartig unterstützt. Aber diese Errungenschaften waren ganz das Werk von ihm und seinem kleinen Kreis von Kunststudent*innen, sie hatten nichts mit den Bolschewiki des Proletkult zu tun.

Es gibt noch einige andere Innovationen, die lange vor dem Aufkommen der Bolschewiki begonnen hatten und deren Fortgang von ihnen erlaubt wurde, weil sie keinerlei Haltung zur russischen Realität haben. Das Kammertheater drückt seinen Protest gegen das Aufzwingen von Stücken durch die Darbietung aus, gegen die Begrenzung des Ausdrucks, die Teil der orthodoxen Interpretation dramatischer Kunst ist. Es erzielt bemerkenswerte Resultate durch die neue Methode des Schauspiels, die durch originelle Szenerie und Musik ergänzt wird, allerdings vor allem in Stücken von leichterem Genre.

Ein anderer einzigartiger Versuch wird vom Semperante-Theater ausprobiert. Er basiert auf dem Gedanken, dass das geschriebene Drama das Wachstum und die Vielfalt des*der interpretierenden Künstlers*in einschränkt. Stücke sollten daher improvisiert werden und dadurch mehr Wert auf die Spontaneität, Inspiration und die Laune der Künstler*innen legen. Es ist ein neues Experiment, aber da die improvisierten Stücke ebenfalls innerhalb der Grenzen der staatlichen Zensur bleiben müssen, leidet die Arbeit der Semperantist*innen unter fehlenden Ideen.

Die interessanteste kulturelle Anstrengung, die ich in Kiew gesehen hatte, war die Arbeit der jüdischen Kulturliga. Ihr Kern bildete sich 1918, um sich um die Bedürfnisse der Opfer der Pogrome zu kümmern. Für sie musste gesorgt, sie mussten einquartiert, ernährt und gekleidet werden. Junge jüdische Literat*innen und ein fähiger Organisator riefen die Kulturliga ins Leben. Sie beschränkten sich nicht darauf, sich nur um die physischen Bedürfnisse der Unglückseligen zu kümmern. Sie gründeten Kinderheime, öffentliche Schulen, Hochschulen, Abendkurse; später kamen ein Seminar und eine Kunstschule dazu. Als wir Kiew besuchten, besaß die Kulturliga eine Druckerei und ein Studio neben ihren anderen Bildungseinrichtungen und hatte erfolgreich 230 Zweigstellen in der Ukraine gegründet. An einem Leseabend und bei einer Sonderaufführung, die zu Ehren der Expedition gegeben worden war, konnten wir uns von den außergewöhnlichen Errungenschaften der Kulturliga überzeugen.

Bei dem Leseabend wurde Perezs Gedicht »Die vier Jahreszeiten« in Form von kollektivem Sprechgesang dargeboten. Es war beeindruckend. Die Natur des erwachenden Frühlings, Vögel singen ihre fröhlichen Gesänge der Liebe, das Geheimnis und die Romantik der Paarung liegen in der Luft, die Extase der Erneuerung und des Werdens, das Grollen des herannahenden Sturms, der Zusammenbruch der mächtigen Giganten, wenn sie vom Blitz getroffen werden, der leise fallende Regen, die Blätter, die zur Erde flattern, die Düsterkeit und das Pathos des Herbstes, der letzte verzweifelte Widerstand der Natur gegen den Tod, die weiß verschleierten Bäume – das alles wurde durch die neue Form des kollektiven Sprechgesangs anschaulich zum Leben erweckt. Jede Nuance der Natur wurde von der Gruppe Künstler*innen auf der improvisierten kleinen Bühne der Kulturliga herausgehoben.

Am nächsten Tag besuchten wir die Kunstschule. Am interessantesten war der Unterricht für die Kinder. Es gab keine Disziplin, keine festen Regeln, keine mechanistische Kontrolle ihrer küsntlerischen Impulse. Die Kinder zeichneten, malten und modellierten – hauptsächlich jüdische Motive: Eine Stadt nach einem Pogrom von einem vierzehnjährigen Jungen, ein gläubiger Jude im Gebet in der Synagoge, dem die Todesangst vor den Heimsuchungen der Pogrome in jedem Detail anzusehen war, eine alte jüdische Frau, die tragische Hinterbliebene einer abgeschlachteten Familie und ähnliche Szenen aus dem Leben der russischen Jüd*innen. Die Arbeiten waren oft primitiv, aber sie hatten nichts von der gestelzten Art, die charakteristisch für den Proletkult war. Es gab keinen Versuch, dem künstlerischen Ausdruck ein eindeutiges Muster aufzuerlegen.

Später besuchten wir das Studio. In einem kahlen Raum führten die Künstler*innen der Kulturliga verschiedene Einakter ohne Szenerie, Beleuchtung, Kostüme oder Makeup auf und boten auch eine unveröffentlichte Arbeit dar, die im Besitz eines*einer Bühnenautor*in gefunden worden war. Die Aufführung hatte eine künstlerische Art und einen Feinschliff, die ich zuvor nur selten gesehen hatte. Das Stück hieß »Das Ende der Welt«. Der Zorn Gottes breitet sich wie Donner über der Welt aus und befiehlt den Menschen, sich auf das Ende vorzubereiten. Aber die Menschen beachten ihn nicht. Dann werden die Elemente entfesselt und verfolgen einander in wilder Raserei; der Sturm wütet und schreit und das Stöhnen der Menschen wird von der ungeheuren Stunde des Jüngsten Gerichts ertränkt. Die Welt geht unter und alles ist tot.

Dann beginnt sich wieder etwas zu rühren. Schwarze Schatten, die halb Tier, halb Mensch symbolisieren, mit entstellten Gesichtern und zögernden Bewegungen, kriechen aus ihren Höhlen. In Ehrfurcht und Angst strecken sie ihre zitternden Hände nacheinander aus. Zuerst stockend, dann mit wachsendem Vertrauen, versuchen die Menschen sich durch gemeinsame Anstrengung mit ihren Mitmenschen aus ihrer schwarzen Leere zu erheben. Licht beginnt hervorzubrechen. Wieder rollt eine donnernde Stimme über die Erde. Es ist die Stimme der Erfüllung.

Es war eine ergreifende künstlerische Leistung.

Als die Liga damals gegründet wurde, unterstützten die Bolschewiki ihre Arbeit. Später, als sie nach dem Rückzug Denikins nach Kiew zurückkehrten, unterstützten sie die Bildungseinrichtungen der Kulturliga nur noch sehr spärlich. Diese unfreundliche Einstellung kam durch die Jewkom, die Jüdische Kommunistische Sektion, die gegen jede unabhängige jüdische kulturelle Anstrengung intrigierte. Als wir Kiew verließen, waren die eifrigen Arbeiter*innen der Liga sehr besorgt um die Zukunft der Organisation. Während ich das schreibe, bin ich nicht in der Lage dazu zu sagen, ob die Liga in der Lage war, ihre Arbeit fortzusetzen oder ob sie vollkommen abgeschafft wurde. So lobenswert die Innovationen der Kulturliga und die Anstrengungen des Kammertheaters und des Semperante hinsichtlich neuer Formen des Ausdrucks jedenfalls waren, kann mensch nicht sagen, dass sie irgendwelche Auswirkungen auf die Revolution hatten.

Staatliche Unterstützung für sogenannte Kunst wird hauptsächlich an Lunatscharskis dramatische Unternehmungen und andere kommunistische Interpretationen von Kultur vergeben. Als ich Lunatscharski das erste Mal traf, sah ich in ihm weniger den Politiker als den Künstler. Ich hörte mir einen Vortrag von ihm vor einem großen Publikum aus Arbeiter*innen an der Swerdlow-Universität an, bei dem er über den Ursprung und die Entwicklung der Kunst erzählte. Es war ein großartiger Vortrag. Als ich ihn wieder traf, war er so vollständig in den Fängen der Parteidisziplin und so vollständig seiner Macht beraubt, dass jede seiner Anstrengungen enttäuscht wurde. Dann begann er Theaterstücke zu schreiben. Das war sein Untergang. Er konnte das Material der herrschenden Zustände nicht verarbeiten und die Februarrevolution, Kerenski und die Konstituierende Versammlung waren bereits zum Erbrechen karikiert worden. Lunatscharski widmete sich der Deutschen Revolution. Er schrieb »Der Schmied und der Ratsherr«, eine Art Burleske. Das Stück ist so amateurhaft und gewöhnlich, dass sich kein Theater außerhalb Russlands dafür interessiert hätte, es aufzuführen. Aber Lunatscharski hatte die Macht über die Theater – warum sie nicht für seine eigenen Arbeiten nutzen? Das Stück wurde mit großem finanziellem Aufwand aufgeführt, zu einer Zeit, als an der Wolga Millionen verhungerten. Aber selbst das wäre verzeihlich gewesen, wenn das Stück irgendeine Bedeutung oder irgendeinen Vorschlag hinsichtlich der Tragödie Russlands gehabt hätte. Stattdessen fehlte ihm jedes Leben und es war nur reich an vulgären Szenen, die Ludendorff, den abtrünnigen sozialdemokratischen Präsidenten, einen degenerierten Aristokraten und eine Prinzessin der Halbwelt porträtierten. Die betrunkenen Männer balgen sich krampfhaft um das Eigentum an der Frau, und reißen ihr buchstäblich die Kleider vom Leib. Eine ekelhafte Szene und dennoch wurde im gesamten Publikum voller Lehrer*innen und Mitglieder des Amtes für Bildungswesen nicht eine Stimme des Protests gegen diese Kränkung des Geschmacks und der Intelligenz des revolutionären Russlands laut. Im Gegenteil, sie applaudierten dem Bühnenautor, da die Rationen dieser Kriecher*innen von Lunatscharski abhingen. Sie konnten es sich nicht leisten, kritisch zu sein.

Eitelkeit und Macht brechen den stärksten Charakter und Lunatscharski ist nicht stark. Es ist das Fehlen eines festen Willens, das ihn entgegen seines besseren Urteils unterwürfig gegenüber der ärgerlichen Disziplin und Spionage machte, die ihm auferlegt wurde. Vielleicht rächte er sich, indem er der Öffentlichkeit und den Schauspieler*innen unter seinem Befehl seine dramatischen Werke aufzwang.

Nach einer sorgfältigen Analyse der Bildungs- und Kulturbestrebungen der Bolschewiki wird die*der gewissenhafte Student*in zu den folgenden Schlussfolgerungen gelangen: Erstens zählt eher die Quantität als die Substanz in der Bildung des heutigen Russlands, zweitens erhalten die Theater, das Ballett und die Museen großzügige Unterstützung von der Regierung, aber die Gründe dafür sind weniger die Liebe zur Kunst als die Notwendigkeit eine Ablenkung für die kontrollierten und unterdrückten Sehnsüchte der Menschen zu finden.

Die politische Diktatur der Bolschewiki unterdrückte auf einen Schlag die sozialen Lebensbereiche in Russland. Es gab kein Forum mehr, nicht einmal für die friedfertigsten sozialen Begegnungen, keine Clubs, keine Versammlungsorte, keine Restaurants, ja nicht einmal einen Tanzsaal. Ich erinnere mich an den schockierten Ausdruck Zorins, als ich ihn fragte, ob die jungen Menschen sich nicht gelegentlich zu einem Tanz frei von kommunistischer Kontrolle treffen könnten. »Tanzsäle sind Versammlungsorte für Konterrevolutionär*innen, wir haben sie geschlossen«, informierte er mich. Die emotionalen und menschlichen Bedürfnisse der Menschen wurden als gefährlich für das Regime betrachtet.

Auf der anderen Seite laugte die miserable Existenz – Hunger, Kälte und Dunkelheit – die Menschen aus. Dunkelheit und Verzweiflung am Tag, Blutwallungen, fehlendes Licht und Hitze in der Nacht und kein Entkommen. Natürlich gab es das politische Leben der Kommunistischen Partei – ein ernstes und abweisendes Leben, ein Leben ohne Farbe und Wärme. Die Massen hatten keine Berührung mit und kein Interesse an diesem Leben und ihnen war es nicht erlaubt, selbst etwas zu haben. Ein unterdrücktes Volk ist eine Bedrohung. Es muss etwas Ablenkung geboten werden, etwas Entlastung von der dunklen Verzweiflung. Die Theater, die Oper und die Museen waren diese Entlastung. Was, wenn die Theater keine neuen Stücke aufführten? Was, wenn in der Oper schlecht gesungen wurde? Und das Ballett die alten Pirouetten drehte? Die Orte waren warm, sie waren beleuchtet. Sie boten die Gelegenheit menschlicher Gesellschaft und mensch konnte die Misere und Einsamkeit vergessen – mensch konnte sogar die Tscheka vergessen. Das Theater, die Oper, das Ballett und das Museum wurden zum Sicherheitsventil des bolschewistischen Regimes. Und da in den Theatern keine Stimme des Protests, nichts Neues oder Lebendiges aufgeführt wurde, war es ihnen erlaubt, zu existieren. Sie lösten ein großes und schwieriges Problem und boten eine exzellente Vorlage für Propaganda im Ausland.

Kapitel 31: Die Ausnutzung der Hungersnot

Gegen Ende des Sommers 1921 kamen die erschütternden Nachrichten der Hungersnot. Für die, die sich mit den inneren Zuständen auseinandergesetzt hatten, kamen diese Nachrichten nicht gerade überraschend. Wir hatten während der ersten Hälfte des Sommers erfahren, dass ein großer Teil der Bevölkerung zum Tode durch Verhungern verdammt war. Damals hatte sich eine Gruppe von Landwirt*innen in Moskau versammelt. Ihr Bericht offenbarte, dass der bürokratischen Zentralisierung, Korruption und Verzögerung der Aussaat geschuldet rechtzeitige und ausreichende Aussaat verhindert worden war. Die sowjetische Presse hielt den Bericht der Landwirtschaftskonferenz vor der Öffentlichkeit zurück. Aber im Juli begannen Artikel in der Prawda und der Iswestija zu erscheinen, die von einer schrecklichen Trockenheit in der Region der Wolga und den beängstigenden Zuständen in den von Hungersnöten geplagten Regionen berichteten.

Sofort erklärten sich verschiedene Gruppen und Individuen bereit, mit der Regierung bei der Bewältigung dieser Katastrophe zu kooperieren. Die linken Kräfte – Anarchist*innen, Sozialrevolutionär*innen und Maximalist*innen[175] – boten an, Hilfsleistungen zu organisieren und Spenden zu sammeln. Aber sie bekamen keinen Zuspruch von den sowjetischen Autoritäten. Auf der anderen Seite wurden Kräfte der Rechten, die Kadetten[176] (Konstitutionelle Demokrat*innen) mit offenen Armen empfangen. Kischkin, Finanzminister unter Kerenski, Mine, Kuskowa[177], Prokopowitsch[178] und andere prominente Konservative, die erbittert gegen die Revolution gekämpft hatten, wurden von den Bolschewiki akzeptiert. Diese Menschen waren als Konterrevolutionär*innen denunziert und wiederholt verhaftet und eingesperrt worden, doch nun wurde ihnen der Vorzug gewährt und ihnen erlaubt, eine Gruppe namens Bürger*innenkomitee zu gründen. Als diese sich weigerten unter der Schirmherrschaft des Moskauer Sowjets zu arbeiten und auf vollständige Autonomie und das Recht, eine eigene Zeitung herauszugeben, bestanden, willigte die Regierung ein. Für diese Diskriminierung derer, die der Revolution treu geblieben waren, zugunsten der Reaktionären, konnte es nur zwei Erklärungen geben. Erstens betrachteten es die Bolschewiki als gefährlich, den linken Kräften freien Zugang zu der Bäuer*innenschaft zu gewähren, zweitens war es notwendig, in Europa Eindruck zu schinden, was mithilfe der konservativen Gruppe besser erreicht werden konnte. Das wurde klar, bevor das Bürger*innenkomitee seine Hilfsarbeit begann.

Zunächst erhielt das Komitee volle Unterstützung von der Regierung. Ihm wurde ein eigenes Gebäude als Hauptquartier zugeteilt und ihm wurde das Recht zugesprochen, eine eigene Zeitung namens Pomoschtch (Unterstützung) herauszugeben. Mitgliedern des Komitees wurde außerdem die Erlaubnis zugesichert, nach Westeuropa zu gehen, um dort Interesse und Unterstützung für die Hungersnot zu erwecken. Zwei Ausgaben der Zeitung wurden herausgegeben. Ihr Erscheinen verursachte bedeutende Aufmerksamkeit: Es war eine exakte Reproduktion hinsichtlich Größe, Typ und allgemeiner Form der alten Wjedomosti, dem reaktionärsten Blatt unter dem ehemaligen Regime. Die Publikation war natürlich sehr gewählt in ihrem Ton; aber zwischen den Zeilen konnte mensch die Feindschaft gegenüber der herrschenden Partei herauslesen. Die erste Ausgabe enthielt einen Brief des Metropoliten Tichon[179], in dem er die Gläubigen aufforderte ihm ihre Spenden zu senden. Er versicherte seiner Gemeinde, dass er vollständige Kontrolle über die Verteilung der Spenden hätte. Dem Bürger*innenkomitee wurde eine Blankovollmacht in der Fortsetzung ihrer Arbeit erteilt, und diese Tatsache wurde von den Bolschewiki als Beweis ihrer Freizügigkeit und ihres Willens, mit allen Kräften zur Bekämpfung der Hungersnot zusammenzuarbeiten, verkündet.

Derzeit hatte die sowjetische Regierung eine Vereinbarung mit der American Relief Administration[180] und anderen europäischen Organisationen hinsichtlich der Hilfe für die Leidenden an der Wolga getroffen und anschließend das Hauptquartier des Bürger*innenkomitees gerazzt, ihre Zeitung verboten und die führenden Mitglieder des Komitees wegen des üblichen Verdachts der Konterrevolution der Tscheka übergeben. Dabei war doch ersichtlich, dass Madame Kuskowa und ihre Mitarbeiter*innen nicht konterrevolutionärer gewesen waren, als ihnen erlaubt wurde, Unterstützung für die Wolga-Region zu organisieren, als sie es jeher seit 1917 gewesen waren. Warum hatte der kommunistische Staat dann ihre Hilfe akzeptiert, während er die Hilfe von wahren Revolutionär*innen abgelehnt hatte? Ausschließlich aus Propagandagründen. Als das Bürger*innenkomitee diesen Zweck erfüllt hatte, wurde es in guter bolschewistischer Tradition über Bord geworfen. Nur eine Person wagte die Tscheka nicht anzufassen – Wera Nikolajewna Figner, die ehrwürdige Revolutionärin. Als die große Humanistin, die sie ist, trat sie dem Bürger*innenkomitee bei und widmete sich ihrer Arbeit mit demselben Eifer, der sie so effektiv zu einem der führenden Geister der Narodnaja Wolja gemacht hatte. Zweiundzwanzig Jahre lebendigen Todes in Schlüsselburg hatten nicht gereicht, um ihre Leidenschaft zu zerstören. Als das Bürger*innenkomitee verhaftet wurde, forderte Wera Nikolajewna, dasselbe Schicksal zu teilen, aber die Tscheka wusste um den geistigen Einfluss dieser Frau in Russland und im Ausland und so wurde sie in Frieden gelassen. Die anderen Mitglieder des Bürger*innenkomitees wurden für eine lange Zeit im Gefängnis gefangen gehalten und dann in entlegene Teile Russlands verbannt und schließlich abgeschoben.

Bis auf die ausländischen Organisationen, die Hilfsarbeit in Russland leisteten, konnte die sowjetische Regierung nun vor der Welt als einzige Spenderin von Hilfe für die Verhungernden in den Regionen der Hungersnot auftreten. Kalinin, der marionettenhafte Präsident der Sozialistischen Republik, veranstaltete, ausgerüstet mit zahlreicher Propagandaliteratur und umgeben von einem großen Personal an sowjetischen Würdenträger*innen und ausländischen Korrespontent*innen, seinen Triumphmarsch durch die betroffene Region. Das wurde überall auf der Welt verkündet und der gewünschte Effekt wurde erzielt. Aber die eigentliche Arbeit in den Regionen der Hungersnot wurde weniger von der offiziellen Maschinerie geleistet, als von der großen Schar unbekannter Männer und Frauen aus den Reihen des Proletariats und der Intelligenzija. Hingebungsvoll und mit völliger Aufopferung gaben sie ihre eigene dezimierte Energie. Viele von ihnen starben an Typhus, Überanstrengung und Erschöpfung, einige wurden von der Macht der Dunkelheit getötet, die jetzt mehr noch als zu Zeiten Tolstois viele Regionen Russlands in ihrem Griff hat. Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen und Hilfsleistende wurden oft von den Unglücklichen, denen zu helfen sie gekommen waren, getötet, wie von bösen Geistern, die die Hungersnot und die Unglücksserie Russlands gewollt hatten. Das waren die wahren Held*innen und Märtyrer*innen, unbekannt und unbesungen.

Kapitel 32: Die Sozialistische Republik flüchtet sich in Abschiebungen

Die Tscheka hatte Erfolg damit, alle Menschen zu terrorisieren. Die einzige Ausnahme waren die politischen, deren Courage und Hingabe zu ihren Idealen den Bolschewiki trotzten, wie sie den Romanows getrotzt hatten. Ich kannte viele dieser mutigen Geister und ich sah in ihnen die einzige Hoffnung, um es inmitten des allgemeinen Ruins auszuhalten. Sie waren der lebendige Beweis für die Machtlosigkeit von Terror gegenüber einem Ideal.

Typisch für diese Art von Menschen war ein bestimmter Anarchist, der von der Tscheka lange als ein wichtiger Machnowtschik gesucht worden war. Er war Mitglied des militärischen Personals der revolutionären povstantsi der Ukraine und enger Freund und Berater von Machno. Er hatte ihn bereits gut gekannt, als sie zusammen in den Tagen der Zaren in der katorga gewesen waren. Er hatte all die Mühsal und die Gefahren des Lebens als povstantsi geteilt und sich an ihren Kampagnen gegen die Feind*innen der Revolution beteiligt. Nach dem Sieg über Wrangel und dem jüngsten Verrat der Bolschewiki gegenüber Machno, bei dem die Armee des letzteren zerstreut und viele ihrer Mitglieder getötet worden waren, gelang es diesem Mann den bolschewistischen Fängen zu entkommen. Er entschloss sich nach Moskau zu gehen und dort eine Geschichte der Machnowtschina zu schreiben. Es war eine lebensgefährliche Reise unter schwierigsten Umständen, bei der der Tod ihm ständig auf den Fersen war. Unter falschem Namen verschaffte er sich einen kleinen Raum in der Umgebung der Hauptstadt. Er lebte in jämmerlichster Armut, stets in Lebensgefahr und besuchte seine Frau in der Stadt nur im Schutze der Dunkelheit. Einmal alle vierundzwanzig Stunden kam er zu dem vereinbarten Treffpunkt für etwas Erholung und sein einziges Mahl des Tages, bestehend aus Kartoffeln, Hering und Tee. Er riskierte jederzeit entdeckt zu werden, da er in Moskau bekannt war, und eine Entdeckung würde seine Hinrichtung bedeuten. Auch seine Frau würde das gleiche Schicksal erleiden, wenn sie entdeckt werden würde – die hingebungsvolle Frau war ihm, obwohl sie zu dieser Zeit schwanger war, nach Moskau gefolgt. Nach einer verzweifelten Suche nach einer Anstellung fand sie eine Stelle in einer Kinderkrippe, aber da schwangere Frauen in solchen Institutionen nicht geduldet waren, musste sie ihre Umstände verbergen. Den ganzen Tag war sie auf den Beinen, um ihren Pflichten nachzukommen und lebte in ständiger Angst um die Sicherheit ihres Ehemannes.

Als das Baby geboren wurde, verschlechterte sich ihre Situation. Die Frau wurde von ihren Vorgesetzten schikaniert, weil sie die Stelle bekommen hatte, ohne dass sie von ihrer Schwangerschaft gewusst hatten. Die kleinliche Bürokratie und die harte Arbeit verschlangen ihre Energie und die tägliche Sorge um den Mann, den sie liebte, machten sie verrückt. Dennoch war nie auch nur ein Zeichen von all dem zu sehen, wenn der Mann sie besuchte.

Ich verbrachte viele Abende mit diesem Paar. Sie waren vollständig abgeschnitten von der Außenwelt und früheren Freund*innen, ganz alleine, sich nur der Angst vor Entdeckung und vor dem Tode sicher, die ihre ständige Begleiterin war. In dem trostlosen, feuchten Raum, während das Baby schlief, verbrachten wir viele Stunden damit, mit gedämpften Stimmen über die ukrainische Bäuer*innenschaft und die Machno-Bewegung zu sprechen. Mein Freund kannte jede ihrer Phasen aus eigener Erfahrung, die er nun in sein Buch über Machno aufnahm. Er war vollkommen von dieser Arbeit absorbiert, die der Welt das erste Mal die Wahrheit über Machno und die povstantsi erzählen sollte. In großer Sorge um seine Frau und sein Kind war er vollkommen nachlässig gegenüber seiner eigenen Sicherheit, obwohl er wusste, dass das Netz der Tscheka um ihn mit jedem Tag enger wurde. Mit großen Schwierigkeiten wurde er schließlich davon überzeugt, sein geliebtes Russland zu verlassen, da das der einzige Weg sei, seine Familie zu retten. Was für ein Zeugnis der Sozialistischen Republik, deren mutigste und treueste Söhne sich verstecken müssen oder ihren Heimatboden verlassen müssen![181]

Das Leben in Russland war für mich zu einer beständigen Qual geworden; ich hatte das dringende Bedürfnis, mein zweijähriges Schweigen zu brechen. Den ganzen Sommer lang tobte in mir der Konflikt zwischen der Notwendigkeit zu gehen und meiner Unfähigkeit, mich von dem, was für mich ein Ideal gewesen war, zu lösen. Es war wie das tragische Ende einer großen Liebe, an die mensch sich noch lange klammert, nachdem sie bereits erloschen ist.

Inmitten meines Kampfes mit mir selbst passierte etwas, das ein weiterer Beweis für den vollständigen Untergang der Bolschewiki als Revolutionär*innen war. Es war die Ankündigung der Rückkehr des zaristischen Generals Slastschew, einer der reaktionärsten und brutalsten Militarist*innen des alten Regimes, nach Russland. Er hatte die Revolution von Anfang an bekämpft und Teile von Wrangels Truppen auf der Krim angeführt. Er war teuflischen Barbareien an Kriegsgefangenen schuldig und als Urheber von Pogromen berüchtigt. Nun war Slastschew umgekehrt und kehrte in »sein Vaterland« zurück. Dieser Erz-Konterrevolutionär und Jüd*innenhasser wurde zusammen mit mehreren anderen zaristischen Generäl*innen und weißen Soldat*innen von den Bolschewiki mit einer Militärparade empfangen. Ohne Zweifel war es bloß ein Racheakt, dass der Antisemit dem Juden Trotzki, seinem militärischen Vorgesetzten, salutieren musste. Aber für die Revolution und die Menschen in Russland war die triumphale Rückkehr der Imperialist*innen ein Frevel.

Der alte General hatte seine Farben gewechselt, nicht aber seine Natur. In seinem Brief an die Offizier*innen und Männer der Armee Wrangels hatte er folgendes geschrieben:

Ich, Slastschew Krimsky, befehle euch, in euer Vaterland und in den Schoß der Roten Armee zurückzukehren. Unser Land braucht unsere Verteidigung gegen seine Feind*innen. Ich befehle euch zurückzukehren.

Als Belohnung für seine neu entwickelte Liebe zum sozialistischen Vaterland wurde Slastschew »Krimsky« beauftragt, die karelischen[182] Bäuer*innen niederzuschlagen, die Selbstbestimmung forderten und Slastschew hatte Gelegenheit, der autokratischen Macht, die er erhalten hatte, freien Lauf zu lassen.

Militärische Empfänge und Ehren für den Mann, der führend darin gewesen war, zu versuchen, die Revolution niederzuschlagen, und für die Einsperrung und den Tod der Verfechter*innen der Freiheit zu sorgen. Zugleich werden die wahren Söhne [und Töchter] Russlands, die die Revolution gegen jeden Angriff verteidigten und den Bolschewiki zu politischer Macht verhalfen, durch Deportation in fremde Regionen ihrer Heimat beraubt. Nie zuvor hat die Geschichte ein tragischeres Debakel erlebt. Die ersten, die von der »revolutionären« Regierung verschleppt wurden, waren zehn Anarchist*innen, die meisten von ihnen in der internationalen revolutionären Bewegung bekannt als erprobte Idealist*innen und Märtyrer*innen für ihre Sache. Unter ihnen war Volin, ein äußerst kultivierter Mann, ein begabter Autor und Redner, der in Europa und Amerika Herausgeber verschiedener anarchistischer Publikationen gewesen war. Nachdem er 1917 nach Russland zurückgekehrt war, half er dabei, die ukrainische Förderation Nabat aufzubauen und war eine Zeit lang Dozent für das sowjetische Bildungsamt in Charkiw. Volin war Mitglied einer anarchistischen Partisan*innenmilitäreinheit gewesen, die gegen die austro-deutsche Besetzung gekämpft hatte und für eine beachtliche Zeit leistete er auch Bildungs- und Kulturarbeit in Machnos Armee. Während des Jahres 1921 wurde er von den Bolschewiki gefangen genommen und nach dem Hungerstreik der Anarchist*innen im Taganka, der zehneinhalb Tage dauerte, abgeschoben.

In der gleichen Gruppe war auch G. Maximoff, ein langjähriger Anarchist. Vor der Revolution war er unter den Student*innen der Petrograder Universität und auch unter den Bäuer*innen aktiv gewesen. Er nahm an allen revolutionären Kämpfen seit der Februarrevolution teil, war einer der Herausgeber der Golos Truda und Mitglied des Allrussischen Sekretariats der Anarcho-Syndikalist*innen. Er war ein begabter und berühmter Autor und Redner.

Mark Mratschni[183], ebenfalls einer der Deportierten, war ein Anarchist seit 1907. Als Hetman Skoropadsky[184] die Ukraine mithilfe deutscher Bajonette regierte, war Mratschni Mitglied des Revolutionären Büros der Student*innen in Charkiw. Er hatte die Position eines Ausbilders im sowjetischen Schulministerium von Charkiw inne, später in dem von Sibirien. Er gab die Nabat während der Zeit der Übereinkunft zwischen Machno und den Bolschewiki heraus und wurde später zusammen mit den anderen Anarchist*innen, die für die anarchistische Konferenz nach Charkiw gekommen waren, verhaftet.

Ebenfalls unter den Verschleppten war Jartschuk, bekannt als einer der Anführer*innen der Kronstädter Matros*innen beim Aufstand im Juli 1917, ein Mann, der außergewöhnlichen Einfluss unter den Matros*innen und Arbeiter*innen genoss und dessen Idealismus und Hingabe historisch dokumentiert sind. In der Gruppe waren auch einige Student*innen – Jugendliche, die am anarchistischen Hungerstreik im Taganka-Gefängnis teilgenommen hatten.

Länger im bolschewistischen Russland zu bleiben war untragbar geworden. Ich war gezwungen, mein Schweigen zu brechen und beschloss das Land zu verlassen. Freund*innen versuchten eine geheime Reise ins Ausland zu arrangieren, aber gerade als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, erfuhren wir von neuen Entwicklungen. Berliner Anarchist*innen hatten von der sowjetischen Regierung gefordert, dass Reisepässe für Alexander Berkman, A. Schapiro und mich ausgestellt würden, damit wir am Internationalen Anarchistischen Kongress, der im Dezember 1921 in Berlin stattfinden sollte, teilnehmen könnten. Ob wegen dieser Forderung oder aus anderen Gründen, jedenfalls stellte die sowjetische Regierung schließlich die erforderlichen Papiere aus und am 1. Dezember 1921 verließ ich Russland gemeinsam mit Alexander Berkman und A. Schapiro. Es war nur ein Jahr und elf Monate, nachdem ich meinen Fuß auf das Land gesetzt hatte, das ich für das gelobte Land gehalten hatte. Mein Herz war schwer, erfüllt von der Tragödie Russlands. Ein Gedanke überwog alle anderen: Ich muss meine Stimme gegen die Verbrechen erheben, die im Namen der Revolution begangen werden. Egal ob Freund*in oder Feind*in, ich muss gehört werden.

Kapitel 33: Nachwort

I

Nicht-Bolschewistische, sozialistische Kritiker*innen des russischen Reinfalls behaupten, dass die Revolution in Russland gar nicht erfolgreich sein konnte, da die industrielle Entwicklung in diesem Land nicht den nötigen Höhepunkt erreicht hätte. Sie verweisen auf Marx, der gelehrt hat, dass eine soziale Revolution nur in Ländern mit einer hochentwickelten Industrie und dem dazugehörigen sozialen Antagonismus möglich sei. Dementsprechend behaupten sie, dass die Russische Revolution keine soziale Revolution gewesen sein könne und dass sie sich historisch entlang rechtsstaatlicher, demokratischer Linien begleitet von einer wachsenden Industrie bewegen müsse, um das Land ökonomisch für den grundlegenden Wandel reifen zu lassen.

Diese orthodox-marxistische Ansicht lässt einen wichtigen Faktor unberücksichtigt – einen Faktor, der möglicherweise sogar noch bedeutender für die Entstehung und den Erfolg einer sozialen Revolution ist als die Industrie. Das ist die Psychologie der Massen zu einer bestimmten Zeit. Warum gibt es beispielsweise keine soziale Revolution in den Vereinigten Staaten, Frankreich oder sogar Deutschland? Diese Länder haben gewiss die industrielle Entwicklung erreicht, die von Marx als Höhepunkt vorausgesetzt wird. In Wahrheit sind industrielle Entwicklung und starke soziale Unterschiede an sich keineswegs ausreichend, um eine neue Gesellschaft hervorzubringen oder um eine soziale Revolution loszutreten. Das notwendige soziale Bewusstsein, die erforderliche Massenpsychologie fehlt in Ländern wie den Vereinigten Staaten und den anderen genannten. Das erklärt, warum dort keine soziale Revolution stattgefunden hat.

In dieser Hinsicht ist Russland anderen, industrialisierteren und »zivilisierteren« Ländern voraus. Es stimmt, dass Russland industriell nicht so entwickelt war wie seine westlichen Nachbarländer. Aber die russische Massenpsychologie, inspiriert und intensiviert von der Februarrevolution, reifte so schnell, dass die Menschen innerhalb weniger Monate für so ultrarevolutionäre Slogans wie »Alle Macht den Räten« und »Das Land den Bäuer*innen, die Fabriken den Arbeiter*innen« bereit waren.

Die Bedeutung dieser Parolen sollte nicht unterschätzt werden. Indem sie in großem Maße den instinktiven und halb-bewussten Willen der Menschen ausdrückten, deuteten sie die vollständige soziale, ökonomische und industrielle Neuorganisation Russlands an. Welches Land in Europa oder Amerika ist bereit, solche revolutionären Mottos auf das Leben zu übertragen? In Russland wurden diese Slogans in den Monaten Juni und Juli 1917 populär und wurden von einem Großteil der industriellen und bäuerlichen Bevölkerung von mehr als 150 Millionen in Form direkter Aktion enthusiastisch und aktiv aufgegriffen. Das war ein hinreichender Beweis für die »Reife« der Menschen in Russland für die soziale Revolution.

Hinsichtlich der ökonomischen »Bereitschaft« im marxschen Sinne darf auch nicht vergessen werden, dass Russland hauptsächlich ein landwirtschaftliches Land ist. Marxs Diktum setzt die Industrialisierung der bäuerlichen und landwirtschaftlichen Bevölkerung in jeder hochentwickelten Gesellschaft als einen Schritt in Richtung soziale Eignung für eine Revolution voraus. Aber die Ereignisse von 1917 in Russland zeigten, dass die Revolution diesen Prozess der Industrialisierung nicht abwartet und – was noch wichtiger ist – nicht gezwungen werden kann, ihn abzuwarten. Die russischen Bäuer*innen fingen an, die Landbesitzer*innen zu enteignen und die Arbeiter*innen nahmen die Fabriken in Besitz, ohne das marxistische Diktum zur Kenntnis zu nehmen. Diese aus dem einfachen Volk kommende Aktion brachte kraft ihrer eigenen Logik die soziale Revolution in Russland in Gang und warf alle marxschen Berechnungen über den Haufen. Die Psychologie der Slaw*innen stellte sich als stärker heraus als sozialdemokratische Theorien.

Teil dieser Psychologie war das Verlangen nach Freiheit, das von einem Jahrhundert revolutionärer Agitation in allen Klassen der Gesellschaft genährt worden war. Die Menschen in Russland waren glücklicherweise von der Korruption und Verwirrung politisch unbeeinflusst und unberührt geblieben, die beim Proletariat in anderen Ländern durch die »demokratische« Freiheit und Selbstbestimmung ausgelöst worden waren. Die Russ*innen blieben in dieser Hinsicht natürlich und einfach, unvertraut mit den Feinheiten der Politik, dem parlamentarischen Schwindel und gesetzlicher Notbehelfe. Stattdessen war ihr primitiver Sinn für Recht und Gerechtigkeit ausgeprägt und lebendig, ganz ohne die zersetzende Finesse der Pseudo-Zivilisation. Sie wussten, was sie wollten und sie warteten nicht auf die »historische Zwangsläufigkeit«, damit sie ihnen das brächte: Sie nutzten die direkte Aktion. Für sie war die Revolution eine Angelegenheit des Lebens, keine bloße Theorie, die zur Diskussion stand.

Dadurch fand die Revolution in Russland trotz der industriellen Rückständigkeit des Landes statt. Aber die Revolution zu machen war nicht genug. Um sie voranzubringen und auszuweiten, war es notwendig den ökonomischen und sozialen Wiederaufbau voranzubringen. Die Phase der Revolution erforderte größtmöglichen Spielraum für persönliche Initiative und kollektive Bemühungen. Die Entwicklung und der Erfolg der Revolution hingen von der größtmöglichen Ausübung des kreativen Genies der Menschen, von der Zusammenarbeit des intellektuellen und handarbeitenden Proletariats ab. Das Gemeininteresse ist das Leitmotiv aller revolutionären Bestrebungen, besonders in ihren schöpferischen Aspekten. Der Geist gegenseitigen Interesses und der Solidarität trug Russland in den ersten Tagen der Oktober-/Novemberrevolution auf einer gigantischen Welle fort. Diesem Enthusiasmus wohnten Kräfte inne, die Berge hätten versetzen können, wenn sie klug und ausschließlich im Interesse des Wohls aller Menschen geführt worden wären. Das Medium für eine solche effektive Führung war vorhanden: Die Arbeiter*innenorganisationen und die Genossenschaften, von denen Russland überzogen war wie von einem Netz aus Brücken, die die Stadt mit dem Land verknüpften; die Sowjets, die den Bedürfnissen der Menschen in Russland entsprangen; und schließlich die Intelligenzija, deren Traditionen ein Jahrhundert lang die heroische Hingabe für die Sache der Emanzipation Russlands verkörperten.

Aber eine solche Entwicklung war keineswegs Teil des Programms der Bolschewiki. Einige Monate lang duldeten sie, dass die volkstümlichen Kräfte in Erscheinung traten, dass die Menschen die Revolution in immerzu größer werdende Bahnen lenkten. Aber sobald die Kommunistische Partei sich fest im Sattel der Regierung wähnte, begann sie den Einfluss der vom Volke ausgehenden Aktivitäten zu beschränken. Alle folgenden Handlungen der Bolschewiki, ihre weitere Politik, Strategieänderungen, ihre Kompromisse und ihre Rückzüge, ihre Methoden der Unterdrückung und Verfolgung, ihr Terror und die Vernichtung aller anderen politischen Ansichten – alle dienten nur als Mittel zu einem einzigen Zweck: der Erhaltung der Staatsmacht in den Händen der Kommunistischen Partei. Tatsächlich machten die Bolschewiki selbst (in Russland) darum gar kein Geheimnis. Die Kommunistische Partei, argumentierten sie, sei die Vorhut des Proletariats und die Diktatur müsse in ihren Händen liegen. Leider hatten die Bolschewiki die Rechnung ohne die*den Wirt*in gemacht – ohne die Bäuer*innenschaft, die weder die Razwjorstka[185], die Tscheka, noch die massenhaften Erschießungen überzeugen konnten, das bolschewistische Regime zu unterstützen. Die Bäuer*innenschaft wurde zu dem Felsen, an dem die bestausgearbeiteten Pläne und Entwürfe Lenins zerschellten. Aber Lenin, ein geschickter Akrobat, war geübt darin, sich innerhalb der engsten Grenzen zu bewegen. Die Neue Ökonomische Politik wurde gerade rechtzeitig eingeführt, um das Unglück, das langsam aber sicher das ganze kommunistische Gedankengebäude einholte, abzuwenden.

II

Die »Neue Ökonomische Politik« überraschte und schockierte die meisten Kommunist*innen. Sie sahen darin eine Umkehrung von allem, wofür ihre Partei gestanden hatte, eine Verkehrung des Kommunismus selbst. Aus Protest verließen einige der ältesten Mitglieder der Partei, Männer, die den Gefahren und Verfolgungen des alten Regimes ins Gesicht geblickt hatten, während Lenin und Trotzki im Ausland in Sicherheit lebten, die Kommunistische Partei verbittert und enttäuscht. Die Führer*innen verkündeten dann einen Ausschluss. Sie wiesen die Säuberung der Parteiränge von allen »skeptischen« Elementen an. Jede*r, die*der einer unabhängigen Einstellung verdächtigt wurde und diejenigen, die die neue ökonomische Politik nicht als der revolutionären Weisheit letzter Schluss akzeptierten, wurden ausgestoßen. Unter ihnen waren Kommunist*innen, die seit Jahren treue Dienste geleistet hatten. Einige von ihnen, zutiefst verletzt von dem ungerechten und brutalen Vorgehen und zutiefst erschüttert vom Zusammenbruch dessen, was sie für das Höchste gehalten hatten, flüchteten sich in den Freitod. Aber die Verwirklichung von Lenins neuem Evangelium musste gesichert werden, dem Evangelium von Privatbesitz und der Freiheit halsabschneiderischen Wettbewerbs errichtet auf den Ruinen der vier Jahre Revolution.

Allerdings zeigte die kommunistische Entrüstung über die Neue Ökonomische Politik lediglich die geistige Verwirrung auf Seiten von Lenins Gegner*innen. Was, wenn nicht geistige Verwirrung hätte sonst die zahlreichen akrobatischen politischen Stunts Lenins absegnen können und nun, angesichts des endgültigen Überschlags, dem logischen Höhepunkt, entrüstet sein? Das Problem mit den frommen Kommunist*innen war, dass sie sich an die unbefleckte Empfängnis des kommunistischen Staates klammerten, der mithilfe der Revolution die Welt erlösen würde. Aber die meisten führenden Kommunist*innen hatten sich diesem Irrglauben nie hingegeben. Am wenigsten von allen Lenin.

Während meiner ersten Unterredung [mit Lenin] gewann ich den Eindruck, dass er ein gerissener Politiker war, der genau wusste, was er tat und der vor nichts zurückschrecken würde, um seine Ziele zu erreichen. Nachdem ich ihn bei verschiedenen Gelegenheiten reden gehört und seine Arbeiten gelesen hatte, war ich überzeugt davon, dass Lenin kaum Interesse an der Revolution hatte und dass Kommunismus für ihn eine sehr entfernte Angelegenheit war. Der zentralisierte politische Staat war Lenins Gottheit, der alles andere geopfert werden musste. Jemand sagte einmal, dass Lenin die Revolution opfern würde, um Russland zu retten. Lenins Politik bewies jedoch, dass er bereit war beides zu opfern, die Revolution und das Land – oder zumindest einen Teil von letzterem –, um in dem, was von Russland übrig blieb, seine politischen Vorstellungen zu verwirklichen.

Lenin war der anpassungsfähigste Politiker, den die Geschichte gesehen hatte. Er konnte zur selben Zeit ultrarevolutionär, kompromissbereit und konservativ sein. Als der Ruf »Alle Macht den Räten« wie eine riesige Welle über Russland hinwegfegte, schwamm Lenin mit dem Strom. Als die Bäuer*innen das Land in Besitz nahmen und die Arbeiter*innen die Fabriken, befürwortete Lenin diese direkte Methode nicht nur, er ging sogar weiter. Er prägte den berühmten Slogan »Beraubt die Räuber*innen«, ein Slogan, der dazu diente, den Verstand der Menschen zu vernebeln und der dem revolutionären Idealismus unermesslichen Schaden zufügte. Niemals zuvor hatte irgendein*e Revolutionär*in soziale Enteignung als einen Transfer des Wohlstands von einer Gruppe Individuen auf eine andere interpretiert. Dennoch war das genau das, was Lenins Slogan bedeutete. Die willkürlichen und unverantwortlichen Razzien, die Akkumulation des Wohlstands der ehemaligen Bourgeoisie durch die neue sowjetische Bürokratie, die Schikane denen gegenüber, deren einziges Verbrechen ihr früherer Stand gewesen war, all das war das Ergebnis von Lenins »Beraubt die Räuber*innen«-Politik. Die gesamte weitere Geschichte der Revolution ist ein lebhaftes Zeugnis für Lenins Kompromisse und des Verrats an seinen eigenen Parolen.

Die Handlungen und Methoden der Bolschewiki seit den Oktobertagen scheinen im Widerspruch zu der Neuen Ökonomischen Politik zu stehen. Aber tatsächlich sind sie Glieder in der Kette, die die allmächtige, zentralisierte Regierung mit Staatskapitalismus als ihrem ökonomischen Ausdruck bildete. Lenin besaß eine klare Vorstellung und einen eisernen Willen. Er wusste, wie er seine Genoss*innen in Russland und von außerhalb Glauben machte, dass sein Plan wahrer Sozialismus sei und seine Methoden die der Revolution. Kein Wunder, dass Lenin eine solche Verachtung für seine Gefolgschaft empfand, die er niemals zögerte, ihnen ins Gesicht zu schleudern. »Nur ein*e Idiot*in kann glauben, dass momentan Kommunismus in Russland möglich ist«, war Lenins Antwort an die Opponent*innen der Neuen Ökonomischen Politik.

Tatsächlich lag Lenin richtig. Wahrer Kommunismus wurde in Russland nie versucht, außer irgendeine*r betrachtet dreiunddreißig Lohnklassen, unterschiedliche Essensrationen, Privilegien für einige und Gleichgültigkeit gegenüber der großen Masse als Kommunismus.

Im Anfangsstadium der Revolution war es für die Kommunistische Partei verhältnismäßig einfach gewesen, an die Macht zu gelangen. Alle revolutionären Elemente, die von den ultrarevolutionären Versprechungen der Bolschewiki mitgerissen wurden, verhalfen ihnen an die Macht. Aber als sie erst in Besitz des Staates waren, begannen die Kommunist*innen ihren Prozess der Unterdrückung. Alle politischen Parteien und Gruppen, die sich weigerten, sich der neuen Diktatur unterzuordnen, mussten beseitigt werden. Zuerst die Anarchist*innen und Linken Sozialrevolutionäre, dann die Menschewiki und andere Gegner*innen von Rechts und schließlich jede*r, die*der es wagte, sich eine eigene Meinung zu bilden. Das Schicksal aller unabhängigen Organisationen war ähnlich. Sie wurden entweder den Bedürfnissen des neuen Staates untergeordnet oder vollkommen zerstört, so wie die Sowjets, die Gewerkschaften und die Genossenschaften – drei große Faktoren zur Realisierung der Hoffnungen der Revolution.

Die Sowjets gründeten sich das erste Mal während der Revolution von 1905. Sie spielten eine wichtige Rolle in dieser kurzen, aber bedeutenden Periode. Auch wenn die Revolution niedergeschlagen wurde, blieb die sowjetische Idee in den Köpfen und Herzen der russischen Massen verankert. Bei der ersten Dämmerung, die Russland im Februar 1917 erhellte, lebten die Sowjets wieder auf und erblühten in kürzester Zeit. Für die Menschen bedeuteten die Sowjets keineswegs eine Beeinträchtigung des Geistes der Revolution. Im Gegenteil, die Revolution sollte ihren größten, freiesten praktischen Ausdruck durch die Sowjets erfahren. Das war der Grund dafür, dass sich die Sowjets so spontan und schnell überall in Russland verbreiteten. Die Bolschewiki erkannten die Bedeutung dieses populären Trends und stimmten in den Ruf ein. Aber als sie erst die Kontrolle über die Regierung erlangt hatten, sahen die Kommunist*innen in den Sowjets eine Bedrohung für die Vorherrschaft des Staates. Sie konnten diese jedoch nicht willkürlich zerstören, ohne ihr eigenes Ansehen zu Hause und im Ausland als Befürworter*innen des sowjetischen Systems zu untergraben. Sie begannen schrittweise ihre Macht zu beschneiden und sie schließlich ihren eigenen Bedürfnissen unterzuordnen.

Die russischen Gewerkschaften ließen sich viel leichter entmachten. Zahlenmäßig und im Hinblick auf ihre revolutionäre Ader steckten sie noch immer in den Kinderschuhen. Durch die obligatorische Verbundenheitserklärung mit Gewerkschaften gewannen die russisschen Arbeiter*innenorganisationen an Größe, aber mental blieben sie im Kindesalter stecken. Der kommunistische Staat wurde zur Amme der Gewerkschaften. Im Gegenzug dienten die Organisationen als Lakaien des Staates. »Eine Schule für den Kommunismus«, sagte Lenin in der berühmten Kontroverse über die Funktionen der Gewerkschaften. Ganz richtig. Aber eine veraltete Schule, in der der Geist des Kindes gefesselt und gebrochen wird. Nirgendwo auf der Welt sind Arbeiter*innenorganisationen dem Willen und den Befehlen des Staates gegenüber so unterwürfig wie im bolschewistischen Russland.

Das Schicksal der Genossenschaften ist zu gut bekannt, als dass es einer Erläuterung bedürfe. Die Genossenschaften waren das bedeutendste Bindeglied zwischen der Stadt und dem Land. Ihr Wert für die Revolution als beliebtes und erfolgreiches Medium des Austauschs und der Verteilung und für den Wiederaufbau Russlands war unschätzbar. Die Bolschewiki verwandelten sie in Zahnräder im Getriebe der Regierung und zerstörten dadurch ihre Nützlichkeit und ihre Effizienz.

III

Es ist nun klar, warum die Revolution, so wie sie von der Kommunistischen Partei ausgeführt wurde, ein Fehlschlag war. Die politische Macht der Partei, organisiert und zentralisiert im Staat, strebte danach, sich mit allen verfügbaren Mitteln selbst zu erhalten. Die zentralen Autoritäten versuchten die Aktivitäten der Menschen in Bahnen zu lenken, die im Einklang mit den Absichten der Partei standen. Das einzige Ziel davon war es, den Staat zu stärken und alle ökonomischen, politischen und sozialen Aktivitäten – ja sogar alle kulturellen Ausdrucksformen – zu monopolisieren. Die Revolution hatte ein gänzlich anderes Anliegen verfolgt und ihr schierer Charakter war die Negation von Autorität und Zentralisierung. Sie strebte danach, immer größere Möglichkeiten proletarischen Ausdrucks zu eröffnen und die Phasen individueller und kollektiver Anstrengung zu vervielfachen. Die Ziele und Absichten der Revolution waren denen der herrschenden politischen Partei diametral entgegengesetzt.

Ebenso diametral entgegengesetzt waren die Methoden der Revolution und des Staates. Die der ersteren waren inspiriert vom Geist der Revolution selbst: das bedeutet, von der Emanzipation von allen unterdrückerischen und einengenden Kräften, kurz gesagt: von libertären Prinzipien. Die Methoden des Staates – des bolschewistischen Staates ebenso wie jedes anderen Staates – auf der Gegenseite basierten auf Zwang, der sich im Verlauf der Dinge notwendigerweise in systematische Gewalt, Unterdrückung und Terror verwandelte. Diese beiden entgegengesetzten Bestrebungen kämpften um die Vorherrschaft: Der bolschewistische Staat gegen die Revolution. Das war ein Kampf auf Leben und Tod. Die beiden Beweggründe, einander in Zielen und Methoden entgegengesetzt, konnten nicht miteinander harmonieren: Der Triumph des Staates bedeutete die Niederschlagung der Revolution.

Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass die Revolution nur wegen des Charakters der Bolschewiki gescheitert sei. Grundsätzlich war ihr Scheitern das Ergebnis der Prinzipien und Methoden des Bolschewismus. Es waren der autoritäre Geist und die Vorsteher*innen des Staates, die alle libertären und befreienden Bestrebungen erstickten. Wäre irgendeine andere politische Partei an der Macht in Russland gewesen, wäre das Resultat im Grunde dasselbe gewesen. Es waren weniger die Bolschewiki, die die Revolution in Russland getötet hatten, sondern vielmehr die bolschewistische Idee. Es war Marxismus, wenn auch abgewandelt, kurz fanatische Staatsgläubigkeit. Nur dieses Verständnis der zugrundeliegenden Kräfte, die die Revolution niedergeschmettert hatten, kann die wahre Lehre dieser weltbewegenden Ereignisse offenbaren. Die Russische Revolution spiegelt in einem kleinen Rahmen den jahrhundertealten Kampf des libertären Prinzips gegen das autoritäre wider. Wofür gibt es Fortschritt, wenn nicht für die größere allgemeine Akzeptanz der Prinzipien der Freiheit statt denen des Zwangs? Die Russische Revolution war ein libertärer Schritt, niedergeschlagen vom bolschewistischen Staat durch den temporären Sieg der reaktionären, der regierenden Idee.

Dieser Sieg hatte eine Reihe von Gründen. Die meisten habe ich bereits in den vorangehenden Kapiteln behandelt. Der Hauptgrund jedoch war nicht die industrielle Rückständigkeit Russlands, wie von vielen Autor*innen zu diesem Thema behauptet. Die Ursache lag in der Kultur, die obwohl sie den Menschen in Russland bestimmte Vorteile gegenüber ihren hochentwickelten Nachbar*innen verlieh, einige fatale Nachteile mit sich brachte. Die Russ*innen waren »kulturell rückschrittlich« in dem Sinne, dass sie von politischer und parlamentarischer Korruption unberührt waren. Dieser Zustand beinhaltete auf der anderen Seite mangelnde Erfahrung im politischen Spiel und einen naiven Glauben an die übernatürliche Macht der Partei, die am lautesten schrie und die größten Versprechungen machte. Dieses Vertrauen in die Macht der Regierung diente dazu, die Menschen in Russland zu Sklav*innen der Kommunistischen Partei zu machen, bevor die große Masse überhaupt realisierte, dass ihr ein Joch um den Nacken gebunden worden war.

Das libertäre Prinzip war sehr stark in den ersten Tagen der Revolution, das Bedürfnis nach freiem Ausdruck war fesselnd. Aber als die erste Welle des Enthusiasmus zum nüchternen, alltäglichen Leben abebbte, wurde eine starke Überzeugung benötigt, um die Feuer der Freiheit am Leben zu halten. Es gab verhältnismäßig nur eine Handvoll in der großen Weite Russlands, die diese Feuer am Brennen hielten, die Anarchist*innen, deren Zahl klein war und deren Engagement unter dem Zaren vollständig unterdrückt war, hatten nicht genug Zeit gehabt, damit ihre Arbeit Früchte tragen konnte. Die Menschen in Russland, zu einem gewissen Grad instinktive Anarchist*innen, waren zu wenig vertraut mit den wahren libertären Prinzipien und Methoden, um diese effektiv auf ihr Leben anzuwenden. Die meisten der russischen Anarchist*innen waren unglücklicherweise selbst im Netz beschränkter Gruppenaktivitäten und individualistischer Unterfangen im Vergleich zu den viel wichtigeren sozialen und kollektiven Bestrebungen gefangen. Die Anarchist*innen, so wird die*der zukünftige, unvoreingenommene Historiker*in zugeben, spielten eine sehr bedeutende Rolle in der Russischen Revolution – eine weitaus bedeutendere und fruchtbarere Rolle, als mensch aufgrund ihrer verhältnismäßig kleinen Zahl erwartet hätte. Dennoch zwingen mich Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit dazu zu behaupten, dass ihre Arbeit von unendlich größerem praktischen Nutzen gewesen wäre, wenn sie besser organisiert und ausgestattet gewesen wären, um die entfesselten Energien der Menschen auf die Neuorganisierung des Lebens auf einer libertären Basis zu lenken.

Aber das Scheitern der Anarchist*innen in der Russischen Revolution, wie es hier beschrieben wurde, bedeutet keineswegs die Vernichtung der libertären Idee. Im Gegenteil: Die Russische Revolution hat ohne Zweifel gezeigt, dass die Idee eines Staates, Staatssozialismus in all seinen Formen (ökonomisch, politisch, sozial und bildend) vollkommen und hoffnungslos bankrott ist. Niemals zuvor in der ganzen Geschichte haben Autorität, Regierung und der Staat sich als so grundsätzlich statisch, reaktionär und sogar konterrevolutionär herausgestellt. Kurz gesagt: die genaue Antithese der Revolution.

Es bleibt wahr, was während jedes Fortschritts galt, dass nur der libertäre Geist und libertäre Methoden den Menschen in seinem ewigen Streben nach einem besseren, feineren und freieren Leben einen Schritt voran bringen können. Hinsichtlich der großen sozialen Umbrüche, die als Revolutionen bekannt sind, gilt diese Tendenz ebenso wie für den gewöhnlichen evolutionären Prozess. Die autoritäre Methode war ein großes Versagen in der gesamten Geschichte und nun ist sie in der Russischen Revolution erneut gescheitert. Bisher hat der menschliche Einfallsreichtum kein anderes Prinzip außer dem Libertären entdeckt, denn der Mensch äußerte in der Tat die größte Weisheit, als er sagte, dass die Freiheit die Mutter der Ordnung sei, nicht ihre Tochter. Ungeachtet aller politischen Lehren und Parteien kann keine Revolution wirklich und dauerhaft erfolgreich sein, wenn sie nicht entschiedenen Einspruch gegen jede Tyrannei und Zentralisierung erhebt und zielstrebig dafür kämpft, die Revolution zu einer echten Neubewertung aller ökonomischen, sozialen und kulturellen Werte zu machen. Nicht der bloße Austausch einer politischen Partei gegen eine andere an der Regierung, nicht die Verschleierung von Autokratie durch proletarische Parolen, nicht die Diktatur einer neuen Klasse über eine alte, keine politischen Machenschaften jedweder Art, sondern alleine die vollständige Umkehr all dieser autoritären Prinzipien wird der Revolution dienen.

Im Bereich der Wirtschaft muss diese Transformation in den Händen der Massen liegen: Letztere haben die Wahl zwischen einem industriellen Staat und Anarchosyndikalismus. Im Falle des Ersteren ist die Bedrohung für die konstruktive Entwicklung der neuen Sozialstruktur ebenso groß wie durch den politischen Staat. Er würde zu einer schweren Last für die Entwicklung der neuen Formen des Lebens werden. Genau aus diesem Grund ist Syndikalismus (oder Industrialismus) alleine nicht ausreichend, wie seine Befürworter*innen behaupten. Nur wenn der libertäre Geist die ökonomischen Organisationen der Arbeiter*innen durchdringt, können sich die vielfältigen kreativen Energien der Menschen entfalten und die Revolution beschützt und verteidigt werden. Nur die freie Initiative und allgemeine Beteiligung in den Angelegenheiten der Revolution kann den fürchterlichen Pfusch, wie er in Russland begangen wurde, verhindern. Beispielsweise hätte es mit Brennstoffen nur 100 Werst [ungefähr 66 Meilen][186] von Petrograd entfernt keine Notwendigkeit für diese Stadt gegeben, zu frieren, wenn die ökonomischen Organisationen der Arbeiter*innen Petrograds frei gewesen werden, Initiative für das Gemeinwohl zu ergreifen. Die Bäuer*innen der Ukraine wären an der Bestellung ihres Landes nicht gehindert worden, wenn sie Zugang zu den Gerätschaften gehabt hätten, die sich in den Lagerhallen von Charkiw und anderen industriellen Zentren stapelten und auf Befehl aus Moskau für ihre Verteilung warteten. Das sind charakteristische Beispiele der bolschewistischen Regierung und Zentralisierung, die den Arbeiter*innen von Europa und Amerika eine Warnung vor den zerstörerischen Folgen des Etatismus sein sollten.

Die industrielle Macht der Massen, ausgedrückt durch ihre libertären Verbindungen – Anarcho-Syndikalismus – ist alleine in der Lage, das ökonomische Leben zu organisieren und die Produktion fortzuführen. Auf der anderen Seite funktionieren die Genossenschaften, wenn sie im Einklang mit der Industrie arbeiten, als Verteilungs- und Austauschmedium zwischen Stadt und Land und zugleich als Bindeglied des geschwisterlichen Bundes aus industriellen und agrarischen Massen. Ein gemeinsames Band gegenseitiger Fürsorge und Hilfe wird geknüpft, das das stärkste Bollwerk der Revolution ist – weitaus effektiver als Zwangsarbeit, die Rote Armee oder Terror. Nur auf diesem Weg kann die Revolution als Treibstoff zur Beschleunigung der Entwicklung neuer sozialer Formen dienen und die Massen zu größeren Errungenschaften inspirieren.

Aber libertäre industrielle Organisationen und Gewerkschaften sind nicht das einzige Medium im Wechselspiel der komplexen Phasen des sozialen Lebens. Es gibt noch die kulturellen Kräfte, die, auch wenn sie eng mit den ökonomischen Aktivitäten verbunden sind, dennoch ihre eigene Aufgabe zu erfüllen haben. In Russland wurde der kommunistische Staat zum einzigen Vermittler für alle Bedürfnisse des sozialen Gefüges. Wie bereits beschrieben war das Ergebnis ein vollständiger kultureller Stillstand und die Lähmung aller kreativen Unterfangen. Wenn ein solches Debakel in Zukunft vermieden werden soll, müssen die kulturellen Kräfte trotz ihrer Verwurzelung mit der Ökonomie ihren unabhängigen Wirkungsbereich und ihre Ausdrucksfreiheit bewahren. Nicht die Treue zur herrschenden politischen Partei, sondern die Hingabe für die Revolution, Wissen, Fähigkeiten und – vor allem anderen – der kreative Impuls sollten die Kriterien für die Eignung für kulturelle Arbeit sein. In Russland wurde das fast von Beginn der Oktoberrevolution an durch die gewaltsame Trennung der Intelligenzija und der Massen unmöglich gemacht. Es stimmt, dass die ursprünglichen Schuldigen in diesem Fall die Intelligenzija, besonders die technische Intelligenzija, waren, die in Russland – wie auch in anderen Ländern – hartnäckig am Rockzipfel der Bourgeoisie hingen. Dieses Element, unfähig die Bedeutung der revolutionären Ereignisse zu verstehen, strebte danach den Lauf der Dinge durch umfassende Sabotage aufzuhalten. Aber in Russland gab es auch eine andere Art der Intelligenzija – eine mit einer hundertjährigen ruhmreichen revolutionären Vergangenheit. Dieser Teil der Intelligenzija hielt den Menschen die Treue, auch wenn sie die neue Diktatur nicht vorbehaltlos anerkennen konnte. Der fatale Fehler der Bolschewiki war, dass sie zwischen diesen beiden Elementen keinen Unterschied machten. Sie begegneten der Sabotage mit umfassendem Terror gegen die Intelligenzija als Klasse und begannen eine Kampagne des Hasses, die schlimmer war als die Verfolgung der Bourgeoisie selbst – eine Methode, die eine Kluft zwischen der Intelligenzija und dem Proletariat öffnete und eine Barriere gegen konstruktive Arbeit errichtete.

Lenin war der erste, der diesen kriminellen Fehler erkannte. Er betonte, dass es ein tödlicher Fehler war, die Arbeiter*innen glauben zu lassen, dass sie die Industrie wiederaufbauen und sich in kultureller Arbeit engagieren könnten, ohne die Hilfe und Zusammenarbeit mit der Intelligenzija. Das Proletariat besaß weder das Wissen noch die Übung für diese Aufgabe, und die Intelligenzija musste hinsichtlich des industriellen Lebens wiederhergestellt werden. Aber die Erkenntnis eines Fehler rettete Lenin und seine Partei keineswegs davor sofort einen anderen zu begehen. Die technische Intelligenzija wurde zu Bedingungen zurückbeordert, die der Feindschaft gegenüber dem Regime Zersetzung hinzufügte.

Während die Arbeiter*innen weiterhin hungerten, bekamen Ingenier*innen, industrielle Expert*innen und Techniker*innen hohe Gehälter, Sonderprivilegien und die besten Rationen. Sie wurden zu den verhätschelten Angestellten des Staates und zu den neuen Sklaventreiber*innen der Massen. Letztere, die jahrelang mit den trügerischen Lehren, dass alleine Muskelkraft für eine erfolgreiche Revolution notwendig sei und dass nur körperliche Arbeit produktiv sei, gefüttert worden waren und die von der Kampagne des Hasses, die jede*n Intellektuelle*n als Spekulant*in und Konterrevolutionär*in abgestempelt hatte, aufgehetzt worden waren, konnten keinen Frieden mit denen schließen, die zu verachten und denen zu misstrauen sie gelehrt worden waren.

Unglücklicherweise ist Russland nicht das einzige Land, in dem diese proletarische Einstellung gegen die Intelligenzija vorherrscht. Überall spielen politische Demagog*innen mit der Ignoranz der Massen, lehren sie, dass Bildung und Kultur bourgeoise Vorurteile seien, dass die Arbeiter*innen ohne sie zurecht kommen könnten, und dass sie alleine in der Lage dazu seien, die Gesellschaft zu erneuern. Die Russische Revolution hat sehr deutlich gezeigt, dass beides, Muskeln und Verstand, unverzichtbar für die Arbeit der sozialen Regeneration sind. Geistige und körperliche Arbeit sind im sozialen Gefüge so eng verbunden wie Hirn und Hand im menschlichen Organismus. Ohne das eine kann das andere nicht funktionieren.

Es stimmt, dass sich die meisten Intellektuellen als Teil einer höheren Klasse als der der Arbeiter*innen verstehen, aber die sozialen Zustände rütteln überall am hohen Stand der Intelligenzija. Sie werden gezwungen sein, zu erkennen, dass auch sie Proletarier*innen sind, die sogar noch abhängiger von ihren ökonomischen Herr*innen sind als die körperlichen Arbeiter*innen. Die intellektuellen Proletarier*innen können nicht einfach wie die körperlichen Proletarier*innen ihre Werkzeuge nehmen und in die Welt hinaus ziehen, auf der Suche nach einer Veränderung einer beschissenen Situation. Sie sind fester in ihrer spezifischen sozialen Umgebung verwurzelt und können nicht so einfach ihre Tätigkeit oder ihre Lebensart ändern. Daher ist es von äußerster Wichtigkeit, den Arbeiter*innen die rapide Proletarisierung der Intellektuellen und die dadurch entstehende Verbindung zwischen ihnen zu vermitteln. Wenn die westliche Welt von den Lehren Russlands profitieren will, muss die demagogische Schmeichelei gegenüber den Massen und die blinde Feindschaft gegenüber der Intelligenzija ein Ende finden. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass die Arbeiter*innen sich vollständig auf die intellektuellen Elemente verlassen sollen. Im Gegenteil: Die Massen müssen sofort damit anfangen sich für die große Aufgabe, die die Revolution ihnen abverlangt, vorzubereiten und auszurüsten. Sie sollten sich das Wissen und die technischen Fertigkeiten aneignen, die notwendig sind, um die komplizierten Mechanismen der industriellen und sozialen Strukturen ihrer jeweiligen Länder zu verwalten und zu steuern. Aber auch im besten Fall werden die Arbeiter*innen die Kooperation der fachkundigen und kulturellen Elemente brauchen. Genauso müssen letztere erkennen, dass ihre wahren Interessen mit denen der Massen identisch sind. Wenn diese beiden sozialen Kräfte sich zu einer harmonischen Einheit verbinden, können die tragischen Aspekte der Russischen Revolution größtenteils verhindert werden. Keine*r würde erschossen werden, weil sie*er einst »eine Bildung genossen hatte«. Der*die Wissenschaftler*in, der*die Ingenieur*in, der*die Spezialist*in, der*die Forscher*in, der*die Lehrer*in und der*die kreative Künstler*in, ebenso wie der*die Schreiner*in, der*die Mechaniker*in und der Rest sind alle integraler Bestandteil der kollektiven Kraft, die die Revolution zur großen Architektur des neuen sozialen Gebäudes formt. Nicht Hass, sondern Einheit, nicht Feindschaft, sondern Kameradschaft, nicht Erschießungen sondern Sympathie – Das ist die Lektion des großen russischen Debakels, sowohl für die Intelligenzija als auch für die Arbeiter*innen. Alle müssen den Wert gegenseitiger Hilfe und libertärer Zusammenarbeit lernen, auch wenn jede*r in der Lage sein muss, in seinem*ihrem Bereich unabhängig zu bleiben und in Harmonie zu sein mit dem Besten, das sie*er zur Gesellschaft beitragen kann. Nur auf diesem Weg werden sich produktive Arbeit und bildungs- und kulturelle Anstrengungen in immer neueren und vielfältigeren Formen ausdrücken. Das ist für mich die allumfassende und entscheidende Moral der Russischen Revolution.

IV

Auf den vorangehenden Seiten habe ich versucht darzulegen, warum die bolschewistischen Prinzipien, Methoden und Taktiken scheiterten und dass ähnliche Prinzipien und Methoden, wenn sie in anderen Ländern angewandt werden, auch in denen mit der fortgeschrittensten industriellen Entwicklung, ebenso scheitern müssen. Ich habe außerdem gezeigt, dass es nicht nur der Bolschewismus ist, der gescheitert ist, sondern der Marxismus selbst. Das bedeutet, dass sich die IDEE DES STAATES, das autoritäre Prinzip, durch die Erfahrung der Russischen Revolution als Bankrott herausgestellt hat. Wenn ich mein ganzes Argument in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Die grundsätzliche Tendenz des Staates ist es, einzuschränken, zu begrenzen und alle sozialen Aktivitäten zu vereinnahmen, die Natur der Revolution dagegen ist es, zu wachsen, sich auszudehnen und sich in immer weiteren Kreisen zu verbreiten. Mit anderen Worten: Der Staat ist institutionell und statisch, die Revolution fließend und dynamisch. Diese beiden Tendenzen sind unvereinbar und zerstören sich gegenseitig. Die Idee des Staates tötete die Russische Revolution und sie wird dasselbe Resultat bei allen anderen Revolutionen haben, wenn nicht die libertäre Idee obsiegt.

Jetzt gehe ich noch viel weiter. Es sind nicht nur Bolschewismus, Marxismus und Gouvernementalismus, die fatal für die Revolution und allen lebendigen menschlichen Fortschritt sind. Die Hauptursache für die Niederschlagung der Russischen Revolution liegt viel tiefer. Sie liegt in der gesamten sozialistischen Konzeption der Revolution selbst.

Die dominante, beinahe allgemeine Idee der Revolution – besonders der sozialistischen Idee – ist, dass Revolution eine gewaltsame Veränderung der sozialen Bedingungen sei, durch die eine soziale Klasse, die Arbeiter*innenklasse, die Macht über eine andere Klasse, die kapitalistische Klasse, erlangt. Das ist das Konzept einer ausschließlich materiellen Veränderung und als solche besteht sie nur aus politischen Umwälzungen und institutionellen Neuordnungen. Die bourgeoise Diktatur wird durch eine »Diktatur des Proletariats« ersetzt – bzw. durch die ihrer »Avantgarde«, der Kommunistischen Partei. Lenin nimmt den Platz der Romanows ein, das Kaiserliche Kabinett wird in Sowjet der Volkskommissare umbenannt, Trotzki wird zum Kriegsminister berufen und ein Arbeiter wird zum militärischen Generalgouverneur von Moskau. Das ist im Wesentlichen die bolschewistische Konzeption von Revolution, wie sie derzeit in die Praxis umgesetzt wird. Und mit nur wenigen kleinen Veränderungen ist das auch die Idee von Revolution aller anderen sozialistischen Parteien.

Diese Konzeption ist grundsätzlich und verheerend falsch. Revolution ist in der Tat ein gewaltsamer Prozess. Aber wenn sie bloß zu einem Wechsel der Diktatur, zu einer Änderung von Namen und politischen Persönlichkeiten führt, dann ist sie die Mühe kaum wert. Sie ist sicherlich nicht all die Kämpfe und Opfer, den gewaltigen Verlust an Menschenleben und kulturellen Werten, die jede Revolution zur Folge hat, wert. Selbst wenn eine solche Revolution einen größeren sozialen Wohlstand bringen würde (was sie in Russland nicht getan hat), wäre sie ebenfalls nicht den schrecklichen Preis, den mensch für sie zahlen muss, wert: Bloße Verbesserungen können ohne eine blutige Revolution erreicht werden. Es sind nicht Linderungsmittel und Reformen, die die wahren Ziele und Zwecke einer Revolution sind, wie ich sie verstehe.

Meiner Meinung nach – tausendfach bestärkt durch die Russische Erfahrung – ist der große Auftrag der Revolution, der SOZIALEN REVOLUTION, eine grundlegende Umwertung der Werte. Eine Umwertung nicht nur der sozialen, sondern auch der menschlichen Werte. Letztere sind sogar wichtiger als erstere, da sie die Basis aller sozialen Werte sind. Unsere Institutionen und Verhältnisse resultieren aus eingefleischten Ideen. Diese Verhältnisse zu ändern und gleichzeitig die zugrundeliegenden Ideen und Werte intakt zu lassen, würde nur eine künstliche Umgestaltung bedeuten, eine, die weder permanent sein könnte noch wahre Verbesserung bringen würde. Es wäre nur ein Wandel des Erscheinungsbildes, nicht des Wesens, wie Russland so tragisch bewiesen hat.

Es ist zugleich ein großes Scheitern und eine große Tragödie, dass die Russische Revolution (angeführt von der herrschenden politischen Partei) nur versuchte, Institutionen und Umstände zu verändern, während sie die menschlichen und sozialen Werte, für die die Revolution stand, vollkommen ignorierte. Schlimmer noch, in seinem verrückten Streben nach Macht versuchte der kommunistische Staat sogar noch die Ideen und Konzeptionen, die zu zerstören die Revolution sich aufgemacht hatte, zu stärken und zu vertiefen. Er unterstützte und beförderte die schlimmsten anti-sozialen Eigenschaften und zerstörte die bereits erweckten, neuen revolutionären Werte systematisch. Den Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit, die Liebe zur Freiheit und zur menschlichen Geschwisterschaft, diese Grundlagen einer echten Erneuerung der Gesellschaft wurden vom kommunistischen Staat bis zum Punkt ihrer Auslöschung bekämpft. Der instinktive Sinn der Menschen für Gerechtigkeit wurde als schwache Sentimentalität gebrandmarkt, die menschliche Würde und Freiheit wurden zu einem bourgeoisen Aberglauben, die Heiligkeit des Lebens, die die grundlegende Essenz der sozialen Erneuerung ist, wurde als arevolutionär, beinahe konterrevolutionär verurteilt. Diese angsteinflößende Verkehrung fundamentaler Werte trug den Keim der Zerstörung in sich. Der Konzeption folgend, dass die Revolution nur ein Mittel zur Sicherung der politischen Macht sei, war es unvermeidbar, dass alle revolutionären Werte den Bedürfnissen des sozialistischen Staates untergeordnet werden mussten, ja sogar ausgenutzt werden würden, um die Sicherheit der neu erlangten Regierungsmacht zu gewährleisten. »Zwecke des Staates«, getarnt als »Interessen der Revolution und des Volkes« wurden zum einzigen Kriterium der Handlung, ja sogar des Empfindens. Gewalt, die tragische Unvermeidlichkeit revolutionärer Erhebungen, wurde zu einer verbreiteten Sitte, zu einer Angewohnheit und wurde kürzlich zur mächtigsten und »idealsten« Institution gekrönt. Hatte nicht Sinowjew selbst Dserschinski[187], den Leiter der verdammten Tscheka, zum »Heiligen der Revolution« kanonisiert? Hatte der Staat nicht Urizki[188], dem Gründer und sadistischen Chef der Petrograder Tscheka, die größten Ehren erwiesen?

Diese Perversion der ethischen Werte manifestierte sich schon bald im alles beherrschenden Slogan der Kommunistischen Partei: DER ZWECK HEILIGT ALLE MITTEL. Auf ähnliche Weise hatten sich in der Vergangenheit die Inquisition und die Jesuiten dieses Mottos bedient und ihm jegliche Moralität untergeordnet. Das rächte sich sowohl bei den Jesuiten als auch an der Russischen Revolution. Infolge dieses Slogans kam es zu Lügen, Betrug, Heucheleien, Verrat und Mord, sowohl versteckt, als auch offen. Es sollte den Student*innen der sozialen Psychologie von dringendem Interesse sein, dass zwei Bewegungen, die so unterschiedlich hinsichtlich ihrer Epoche und ihrer Ideen sind, wie der Jesuitismus und der Bolschewismus, exakt die gleichen Resultate in der Entwicklung des Prinzips, dass der Zweck alle Mittel heilige, erzielten. Diese bisher beinahe vollständig vernachlässigte historische Parallele hält eine wichtige Lehre für alle kommenden Revolutionen, ebenso wie für die gesamte Zukunft der Menschheit bereit.

Es gibt keinen größeren Trugschluss als den Glauben, dass Ziele und Absichten eine Sache seien, während Methoden und Taktiken eine andere sind. Diese Konzeption ist eine gewaltige Bedrohung für die soziale Erneuerung. Alle menschlichen Erfahrungen lehren, dass Methoden und Mittel nicht von ihrem letztlichen Ziel getrennt werden können. Die angewandten Mittel werden durch individuelle Gewohnheiten und soziale Gepflogenheiten fester Bestandteil des endgültigen Zwecks, sie beeinflussen ihn, verändern ihn und schließlich werden Zweck und Mittel identisch. Seit dem Tag meiner Ankunft in Russland fühlte ich das, zuerst nur vage, dann immer bewusster und klarer. Die großen und inspirierenden Ziele der Revolution wurden durch die von der herrschenden politischen Macht genutzten Methoden so vernebelt und verdunkelt, dass es schwer wurde zu unterscheiden, was temporäres Mittel und was endgültiger Zweck war. Sowohl psychologisch als auch sozial beeinflussten und veränderten die Mittel die Ziele notwendigerweise. Die gesamte Geschichte der Menschheit ist ein kontinuierlicher Beweis der Maxime, dass die Trennung der Methoden von den ethischen Vorstellungen dazu führt, dass mensch in den Tiefen völliger Demoralisierung versinkt. Darin liegt die wahre Tragödie der bolschewistischen Philosophie, wie sie in der Russischen Revolution zur Anwendung kam. Möge diese Lektion nicht vergeblich gewesen sein.

Keine Revolution kann jemals unter dem Aspekt der Befreiung erfolgreich sein, wenn nicht die eingesetzten MITTEL im Sinne der zu erreichenden ZWECKE sind. Revolution ist die Negation des Bestehenden, ein gewaltsamer Protest gegen die Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen in all den eintausendundeinen Formen der Sklaverei, die diese umfasst. Sie ist eine Zerstörung der dominanten Werte, auf denen durch Ignoranz und Brutalität ein komplexes System der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und des Falschen errichtet wurde. Sie ist Botin NEUER WERTE, die durch die Veränderung der grundlegenden Beziehungen zwischen dem Menschen zum Menschen und dem Menschen zur Gesellschaft eingeführt werden. Sie ist keine bloße Reformerin, die einige soziale Missstände flickt, keine bloße Veränderungen der Formen und Institutionen, nicht nur eine Neuverteilung des sozialen Wohlstands. Sie ist all das, aber mehr, viel mehr. Sie ist zuerst und vor allem die UMWERTUNG, die Überbringerin neuer Werte. Sie ist die große LEHRERIN der NEUEN ETHIK, die den Menschen mit einem neuen Konzept des Lebens und seines Ausdrucks in sozialen Beziehungen inspiriert. Sie ist die mentale und spirituelle Erneuerung.

Ihr erster ethischer Grundsatz ist die Identität der angewendeten Mittel und angestrebten Ziele. Das ultimative Ziel jedes revolutionären sozialen Wandels ist es, die Heiligkeit des menschlichen Lebens, die Würde des Menschen und das Recht jedes menschlichen Wesens auf Freiheit und Wohlergehen zu schaffen. Externe soziale Veränderungen können und wurden durch den normalen, evolutionären Prozess erreicht (werden). Revolution dagegen bedeutet nicht bloß externe Veränderung, sondern interne, grundlegende, fundamentale Veränderung. Diese interne Veränderung von Konzepten und Ideen durchdringt immer größere soziale Schichten und gipfelt schließlich in der gewaltsamen Erhebung, die als Revolution bekannt ist. Sollte dieser Höhepunkt den Prozess der Umwertung umkehren, sich gegen sie wenden, sie verraten? Das ist in Russland passiert. Die Revolution muss im Gegenteil den Prozess, deren wachsender Ausdruck sie ist, beschleunigen und vertiefen, ihre wichtigste Mission ist es, ihn zu inspirieren und ihn zu größeren Höhen zu tragen, ihm die größtmögliche Ausdrucksfreiheit ermöglichen. Nur dadurch bleibt sich die Revolution selbst treu.

In der Praxis bedeutet das, dass die Periode der eigentlichen Revolution, die sogenannte Übergangsphase, die Einleitung, das Vorspiel für die neuen sozialen Verhältnisse sein muss. Sie ist die Schwelle zum NEUEN LEBEN, dem neuen GEFÜGE DER MENSCHHEIT UND MENSCHLICHKEIT. Als solche muss sie dem Geist des neuen Lebens entsprechen und mit der Erbauung des neuen Gefüges harmonieren.

Heute ist der Ursprung von Morgen. Die Gegenwart wirft ihren Schatten weit in die Zukunft. Das ist das Gesetz des Lebens, sowohl individuell, als auch sozial. Eine Revolution, die sich selbst von ethischen Werten lossagt, legt dadurch die Grundlage für Unrecht, Schwindel und Unterdrückung in der zukünftigen Gesellschaft. Die Mittel, die genutzt werden, um die Zukunft einzuleiten, werden zu ihren Eckpfeilern. Die tragischen Verhältnisse in Russland bezeugen das. Die Methoden der staatlichen Zentralisierung haben individuelle Initiative und Anstrengung gelähmt, die Tyrannei der Diktatur hat die Menschen zu sklavischem Gehorsam eingeschüchtert und die Feuer der Freiheit gelöscht, der organisierte Terror hat die Massen verdorben und entmenschlicht und jeden idealistischen Anspruch erstickt, der institutionalisierte Mord hat das menschliche Leben verbilligt und jeden Sinn für Würde und den Wert des Lebens eliminiert, Zwang bei jedem Schritt machte alle Bemühungen zur Qual, Arbeit als Bestrafung verwandelte die gesamte Existenz in ein System gegenseitiger Hinterlist und erweckte die niedersten und brutalsten Instinkte der Menschen. Ein jämmerliches Erbe, um damit ein neues Leben in Freiheit und Geschwisterlichkeit zu beginnen.

Es kann nicht genug betont werden, dass die Revolution sinnlos ist, wenn sie nicht von ihrem ultimativen Ideal inspiriert wird. Revolutionäre Methoden müssen im Einklang mit den revolutionären Zielen sein. Die Mittel, die eingesetzt werden, um die Revolution voranzubringen, müssen mit ihren Zielen harmonieren. Kurz gesagt, die ethischen Werte, die die Revolution in der neuen Gesellschaft etablieren wird, müssen mit den revolutionären Aktivitäten der sogenannten Übergangsphase angestoßen werden. Letztere kann nur dann als echte und verlässliche Brücke zum besseren Leben dienen, wenn sie aus dem gleichen Material errichtet ist, wie das Leben, das erreicht werden soll. Die Revolution ist der Spiegel der zukünftigen Tage, sie ist das Kind, das der*die Erwachsene von morgen sein wird.

[1] Der sogenannte Matros*innenaufstand von Kronstadt fand von Ende Februar bis zum 18. März 1921 statt. Die Aufständischen forderten unter anderem ein Ende der bolschewistischen Diktatur. Als Kronstadt von einer Übermacht der Roten Armee erstürmt wurde, konnten nur wenige Aufständische fliehen. 500 Aufständische und Zivilist*innen wurden nach der Kapitulation von der Roten Armee ohne Verfahren erschossen. 2000 weitere Aufständische wurden im späteren Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt, die übrigen Aufständischen landeten zur großen Mehrheit in Konzentrationslagern und rund 2500 Zivilist*innen aus Kronstadt wurden nach Sibirien ins Exil geschickt. Kritik an diesem Massaker ließ die bolschewistische Diktatur nicht gelten. Für sie war das Massaker auch 17 Jahre später noch ein notwendiges Exempel um »die Zahl der Opfer auf ein Minimum zu reduzieren« (vgl. Trotzki. Das Zetergeschrei um Kronstadt. 1938). Emma Goldman hatte vor der Erstürmung Kronstadts durch die Rote Armee versucht zu vermitteln und ein solches Massaker zu verhindern.

[2] Die russische Hungersnot von 1921–1922, auch bekannt als Powolschje-Hungersnot, war eine schwere Hungersnot in Sowjetrussland, welche fünf Millionen Menschenleben forderte. Hauptsächlich betroffen von der Hungersnot, die im Frühjahr 1921 begann und bis Ende 1922 andauerte, waren die Regionen an der Wolga und dem Ural. Die Hungersnot entstand durch ökonomische Rückwirkungen des Ersten Weltkriegs und des mehrjährigen Bürgerkriegs in Verbindung mit der Politik des Kriegskommunismus, besonders durch die Prodraswjorstka-Kampagne (Nahrungsmittelrequirierung). Ein schlechtes Schienenverkehrsnetz trug zur Verschärfung der Ernährungslage bei, weil Lebensmittel nicht effizient verteilt werden konnten. Eine der periodisch wiederkehrenden Dürren in der Geschichte Russlands verschärfte die Situation zu einer nationalen Katastrophe.

[3] Originaltitel: »The Truth About the Bolsheviki«, Mother Earth Publishing Association, New York, February 1917. (Anm. d. Übers.)

[4] In den USA wurden nach dem Ersten Weltkrieg Ausländer*innen und »ausländische Ideen« immer weniger toleriert. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis 1919 wurde Emma Goldman auf Befehl Hoovers, damaliger Director of Intelligence für das US Justice Department, sofort wieder verhaftet. Hoover überzeugte die Gerichte, Goldman die Staatsbürger*innenschaft zu entziehen. Durch diese Maßnahme war es möglich, Emma Goldman über den 1918 verabschiedeten »Alien Act« abzuschieben. Der »Alien Act« erlaubte es den Behörden, jede*n Anarchisten*in ohne US-amerikanische Staatsbürger*innenschaft abzuschieben. Am 21. Dezember 1921 wurden Emma Goldman und 248 andere ausländische Anarchist*innen in die Sowjetunion abgeschoben.

[5] Die Tscheka (russisch ВЧК) war die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage. Dabei handelte es sich um die schon am 20. Oktober 1917 gegründete Staatssicherheit. Ende 1922 ging aus ihr die politische Polizei hervor. Bis dahin exekutierte die Tscheka Schätzungen zufolge zwischen 50.000 und 250.000 Menschen (vgl. Christopher Andrew, Vasili Mitrokhin. The Sword and The Shield. 1999. S. 28).

[6] John Brown war ein US-amerikanischer Abolitionist, der die Abschaffung der Sklaverei durch bewaffneten Aufstand durchsetzen wollte. Er wurde 1859 in Folge eines gescheiterten bewaffneten Aufstands hingerichtet.

[7] Der Russische Bürgerkrieg dauerte von 1918 bis 1922 und endete mit dem Sieg der Bolschewiki und der Gründung der Sowjetunion. Dieser Bürgerkrieg fand an vielen Fronten statt, die Rote Armee der Bolschewiki kämpfte gegen die Weiße Armee, einer heterogenen Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten, gegen die Entente und die Mittelmächte. Des Weiteren wurde auch massiv die Zivilbevölkerung bekämpft, was um die acht bis zehn Millionen Opfer forderte.

[8] Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin war ein sowjetischer Politiker. 1918 bis 1930 war er Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten (also faktisch Außenminister der Sowjetunion).

[9] Die Katorga, abgeleitet vom griechischen kateirgon (»zwingen«), war nach der Todesstrafe die schwerste Strafe im Russischen Zarenreich, bei welcher der Sträfling Zwangsarbeit zu leisten hatte. Zudem wurden die Sträflinge verbannt, beispielsweise nach Sibirien oder auf die Insel Sachalin und ihrer Bürger*innenrechte enthoben. Nach Ablauf ihrer Strafzeit durften die Verurteilten nicht zurückkehren, sondern mussten ihr Leben in der Verbannung weiterführen. In den 1940er Jahren führte der bolschewistische Diktator Stalin die Katorga wieder ein.

[10] dt. Mütterchen Russland (Anm. d. Übers.)

[11] Sergej Semjonowitsch Zorin (Sergej Gumberg) (1891–1937) war der Erste Sekretär des Petrograder Stadtkomitees, was ungefähr der Position einer*s Bürgermeisters*in entspricht. Er bekleidete diese Position zwischen November 1919 und Februar 1921.

[12] Heute heißt Petrograd St. Petersburg.

[13] Tammany Hall war eine politische Seilschaft in New York, die 1786 als Tammany Society gegründet wurde. Sie war die Organisation der Demokratischen Partei in New York City und kontrollierte über Jahrzehnte hinweg die Politik in der Stadt. Tammany gab den Immigrant*innen und den Unterschichten in der Stadt eine Stimme, doch zugleich nutzte die Organisation diese Gruppen mit erheblicher Skrupellosigkeit aus, um ihre eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Tammany Hall berühmt berüchtigt wegen der Skandale und des Missbrauchs städtischer Ressourcen und Posten als Versorgungsmittel für die Klientel der Partei und zur Gewinnung finanzieller Unterstützung. Bis heute gilt Tammany Hall als Synonym für korrupte Parteipolitik insbesondere in Großstädten.

[14] Charles Francis »Silent Charlie« Murphy (1858-1924), auch als Boss Murphy bekannt, war ein Amerikanischer Politiker und Kopf der Tammany Hall von 1902 bis 1924.

[15] Nikolai Nikolajewitsch Judenitsch (1862-1933) war ein General der russischen Armee und der antikommunistischen Weißen Garde. Am 19. Oktober 1919 erreichten seine Truppen die Außenbezirke von Petrograd, schafften es jedoch nicht, den Moskau-Petrograd Zug zu erobern, sodass der Revolutionäre Militärrat massive Verstärkung schicken konnte, um den Fall der Stadt zu verhindern. Judenitschs Offensive wurde in den letzten Oktobertagen niedergeschlagen und die Weiße Armee wurde im November bis nach Estland zurückgedrängt.

[16] Die Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), eine sozialrevolutionäre Geheimgesellschaft, verübte am 01. März 1881 ein erfolgreiches Bombenattentat auf den Zaren Alexander II. Sie war aus der Spaltung der Bewegung Land und Wille (bzw. Land und Freiheit; russisch Semlja i wolja) 1879 hervorgegangen, die die Revolution ins Volk tragen wollte („Volkstümler*innen“). Die Ziele der Organisation waren der Sturz des Zaren, freie und allgemeine Wahlen, Volksvertreter*innen und Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit und eine Verfassung. Ihr gehörten viele Anarchist*innen und Nihilist*innen an. Durch einen Informanten im Exekutivkomitee der Organisation, Sergei Degajew, der von dem Petersburger Inspektor Georgi Sudeikin angeworben worden war, gelang es der Ochrana (Geheimpolizei im Zarenreich), Druckereien und Bombenlabors sowie die gesamte Organisation zu zerschlagen. Viele Mitglieder wurden für die Beteiligung am Attentat hingerichtet, verbannt oder starben während langjähriger Festungshaft, darunter auch Wera Figner und Wladimir Lenins großer Bruder, Alexander Uljanow.

[17] dt. Das Rote Amtsblatt (Anm. d. Übers.)

[18] Alexander Iwanowitsch Herzen (1812-1870) war russischer Philosoph, Schriftsteller und Publizist, der als »Vater des russischen Sozialismus« bekannt wurde.

[19] Die Romanows waren ein russisches Zarengeschlecht der zweiten Dynastie.

[20] Die Kolokol (dt. Die Glocke) war die erste unzensierte russische Wochenzeitung. Sie erschien von 1857 bis 1867 in London und Genf und wurde von Alexander Herzen und Nikolai Ogarjow in russischer und französicher Sprache herausgegeben. Obwohl sie in Russland verboten war, hatte sie großen Einfluss auf die revolutionäre Bewegung.

[21] John »Jack« Reed (1887-1920) war ein US-amerikanischer Journalist und 1919 Begründer und Vorsitzender der ersten kommunistischen Partei der USA, der Kommunistischen Arbeiter*innenpartei, aus der – zusammen mit anderen revolutionär-sozialistischen Gruppierungen – nur wenig später die Kommunistische Partei der USA hervorging. Im September 1920 starb er in Moskau an Typhus.

[22] Am 25. September 1919 verübte die Gruppe Anarchistinnen im Untergrund (Anarkhisty Podpol'ia) gemeinsam mit einigen Sozialrevolutionär*innen einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier des Moskauer Komitees der Kommunistischen Partei Russlands in der Leontiewstraße, während dort eine Sitzung stattfand, um sich für die Verhaftung mehrerer Genoss*innen zu rächen. Dabei wurden 12 Personen getötet und 55 verletzt. Die Gruppe Anarchistinnen im Untergrund – eine Gruppe im Untergrund, die von Kasimir Kowalewitsch, einem Mitglied der Moskauer Bahnarbeiter*innenunion, und einem ukrainischen Anarchisten namens Petr Sobolew gegründet worden war und der unter anderen auch Lew Tschorny angehört hatte –, euphorisch über den Erfolg, rief daraufhin in der zweiten Ausgabe ihrer Zeitung Anarkhija vom 23. Oktober 1919 eine neue »Ära des Dynamits« aus. Bereits in der ersten Ausgabe ihrer Zeitung, die wenige Tage nach dem Attentat erschien, am 29. September 1919, hatten sie die bolschewistische Diktatur als schlimmste Tyrannei der Menschheitsgeschichte bezeichnet. Ihr Erfolg war jedoch nur von kurzer Dauer, denn es folgte eine massive Repressionswelle gegen Anarchist*innen im Allgemeinen, die auch die Mitglieder der Anarchist*innen im Untergrund traf. Dabei konnten sie nicht einmal auf den Rückhalt anderer Anarchist*innen zählen, die sich scharenweise von der Aktion distanzierten und lieber ihre uneingeschränkte Treue zu der Partei bekundeten, die offen die Einrichtung einer Diktatur unter ihrer Führung propagierte und die Anarchist*innen permanent verfolgte, einsperrte und hinrichtete. Sechs Personen aus der Gruppe sprengten sich in der von ihnen enteigneten Kraskow-Villa in die Luft, nachdem die beiden Gründer, Kowalewitsch und Sobolew, von der Tscheka erschossen worden waren. Viele andere Mitglieder wurden ebenfalls erschossen.

[23] Karl Radek (1885-1939) war ein Journalist und Politiker, der in Polen, Deutschland und der Sowjetunion wirkte. In den 1920er Jahren gehörte Radek als Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU (bis 1924) zur Opposition um Trotzki, wurde 1927 aus der Partei ausgeschlossen und nach Sibirien verbannt. Nach seiner Rückkehr und seiner »Selbstkritik«, d. h. der willenlosen Unterwerfung unter die offizielle Linie der Partei 1929, war er als international geschätzter Journalist und Kulturfunktionär tätig. 1934 gab ein Prawda-Artikel von Radek das Startsignal zum Personenkult um Stalin. Jedoch wurde der Stalinismus Radek zum Verhängnis. 1937 wurde er als Anhänger Trotzkis im zweiten Moskauer Schauprozess angeklagt und im Februar 1937 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Radek wurde angeblich in seiner Haftzeit in einem sowjetischen Arbeitslager von Mithäftlingen umgebracht, wahrscheinlich 1939.

[24] Adolf Abramowitsch Joffe (1883-1927) war ein russisch-sowjetischer Revolutionär und Weggefährte Leo Trotzkis. 1905 nahm er in Russland an der Revolution teil. Nach ihrer Zerschlagung ging er nach Wien ins Exil, wo er Leo Trotzki kennenlernte. Ab 1912 wurde er in Russland erst nach Tobolsk verbannt und dann nach Sibirien. 1917 floh er aus Sibirien und wirkte an der Vorbereitung der Oktoberrevolution mit. Er hatte unterschiedliche Posten in der bolschewistischen Regierung inne und war insbesondere als Botschafter tätig. Als Trotzki aus der KPdSU ausgeschlossen wurde, beging Joffe aus Solidarität Suizid.

[25] Die Duma war seit 1906 bis zur Revolution das Unterhaus, die 2. Parlamentskammer der Förderationsversammlung von Russland. Sie wurde direkt vom Volk gewählt.

[26] Grigori Jewsejewitsch Sinowjew (1883-1936) war ein sowjetischer Politiker. Er war von 1921 bis 1926 Mitglied im Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Ursprünglich ein enger Weggefährte von Josef Stalin, wurde er im Zuge der stalinistischen Säuberungen hingerichtet.

[27] Die Menschewiki (dt. wörtl. Minderheitler) waren eine Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Ihre parteiinternen Gegner waren die Bolschewiki (dt. wörtl. Mehrheitler). Die Menschewiki waren der Ansicht, dass nicht die Partei, sondern die Massen eine Führungsrolle in der Revolution einnehmen müssten.

[28] Koltschak war ein ehemaliger General der russischen Marine und Monarchist. Er war ein erbitterter Gegner des Bolschewismus. Koltschak wurde am 07. Februar 1920 von den Bolschewiki hingerichtet und sein Leichnam in einem Eisloch in der Angara versenkt.

[29] Maxim Gorki (1868-1936) war ein russischer Schriftsteller. Er stellte sich öffentlich gegen das Zarenregime, was ihm mehrere Gefängnisstrafen einbrachte. 1905 verließ er Russland und kehrte 1913 erst zurück. Zeitweise war er eng mit Lenin und den Bolschewist*innen verbunden, kritisierte sie ab 1917 aber zunehmend. Aus Angst vor Repression und von Tuberkulose gezeichnet, verließ Gorki Russland im Oktober 1921. Durch Stalin ermutigt kehrte Gorki ab 1929 wiederholt in die Sowjetunion zurück und richtete sich ab 1932 defintiv wieder in der UdSSR ein. Er wurde Mitglied der sowjetischen Elite und unterstützte die Propaganda des Regimes, das ihn ehrte, aber auch überwachte. Er starb 1936 unter Umständen, die jahrelang Verschwörungstheorien rund um seinen Tod befeuerten. Heute geht mensch aber davon aus, dass er eines natürlichen Todes starb.

[30] Demjan Bedny (1883-1945) war ein russicher Dichter. Nach der Oktoberrevolution verfasste Bedny politische Lieder und Gedichte, die ihn sehr populär machten. 1937 forderte er im Auftrag der stalinistischen Staatsführung in Gedichten die Erschießung von »Volksfeinden«. 1938 wurde er aus der KPdSU ausgeschlossen. Während des Zweiten Weltkriegs schrieb Bedny antideutsche Fabeln und Spottgedichte, konnte seine frühere Popularität jedoch nicht wiedererlangen.

[31] dt. etwa Berechtigungsschein (Anm. d. Übers.)

[32] Buchweizengrütze (Anm. d. Übers.)

[33] Ein russischer Wasserkocher zur Zubereitung von Tee (Anm. d. Übers.)

[34] Balabanoff ist die männliche Form von Balabanova (Anm. d. Übers.)

[35] Die Prawda (dt. Wahrheit) war eine der bedeutendsten Tageszeitungen nach 1917 in Russland. Sie wurde von Lenin im Exil gegründet und wurde nach der Russischen Revolution zum Parteiorgan der Bolschewiki.

[36] Der Friedensvertrag von Bresk-Litowsk wurde während des Ersten Weltkriegs zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten geschlossen. Der Vertrag beendete den Krieg für Russland, enthielt aber einige Passagen zuungunsten Sowjetrusslands hinsichtlich der Gebiete der heutigen Länder Polen, Litauen und Teilen Lettlands (Kurland). Noch während den Verhandlungen des Friedensvertrags verloren die Bolschewiki bei demokratischen Wahlen ihre Macht (25. November 1917). Durch die Auflösung des gewählten Parlaments und der Einsetzung von Räten am 19. Januar 1918 sicherten sich die Bolschewiki ihre Macht jedoch wieder.

[37] Kh. Z. »Efim« Jartschuck (1882 oder 1886-1937) war einer der Gründer der Gruppe Chernoe Znamia (Das schwarze Banner) – der größten anarchistischen Terrororganisation im Zarenreich – in Bialystok vor der Revolution 1905. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 wurde er für fünf Jahre nach Sibirien verbannt und wanderte nach seiner Freilassung 1913 in die USA aus, wo er sich der Russischen Arbeiter*innenunion anschloss und Mitarbeiter ihrer Zeitung, Golos Truda (Die Stimme der Arbeit), wurde. Im Frühling 1917 kehrte er nach Russland zurück und ließ sich in Kronstadt nieder. Dort wurde er zum Sowjet des Marinestützpunkts und spielte eine wichtige Rolle bei den Julitagen im Vorfeld der Oktoberrevolution. Ab November 1918 war er als Anarchosyndikalist in Moskau tätig, war Sekretär und Schatzmeister eines Exekutivbüros, das zur Aufgabe hatte eine »Allrussischen Konföderation der Anarchosyndikalist*innen« aufzubauen – ohne Erfolg – und gab die nicht sehr lange bestehende Volnyi Golos Truda (Die freie Stimme der Arbeit) – die Nachfolgezeitung der Golos Truda, nachdem diese verboten worden war – mit heraus. Er wurde sechsmal von den Bolschewiki verhaftet und saß während des Kronstädter Aufstandes im Gefängnis. 1921 war er Teil der gefangenen Anarchist*innen im Taganka-Gefängnis, die in einen elf Tage andauernden Hungerstreik traten und die im Januar 1922 nach der Fürsprache internationaler Anarcho-Syndikalist*innen sowie Alexander Berkman und Emma Goldman abgeschoben wurden. Er ließ sich erst in Berlin nieder, wo er gemeinsam mit Maximoff und Schapiro ein Periodikum namens Rabochii Put (Der Weg der Arbeiter*innen) veröffentlichte, zog dann nach Paris, wo er Erfahrungsberichte unterschiedlicher Zeug*innen über Kronstadt veröffentlichte. 1925 zog er nach Russland zurück und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei. Er wurde 1937 nach einem Schauprozess hingerichtet.

[38] Die russische konstituierende Versammlung war eine demokratisch gewählte verfassungsgebende Körperschaft in Sowjetrussland nach der Oktoberrevolution von 1917. Sie bestand vom 18. Januar 1918 16 Uhr abends bis 19. Januar 1918 5 Uhr morgens für 13 Stunden und wurde von der Regierung der Bolschewiki aufgelöst.

[39] Anatoli Schelesnjakow (1895-1919) war ein russischer Anarchist und Revolutionär. Während der Februarrevolution war er Matrose in Kronstadt. Als die während der Februarrevolution besetzte Villa von P. P. Durnowo – dem Moskauer Gouverneur-General während der Russischen Revolution von 1905 – in Petrograd, die in ein »Ruhehaus« verwandelt worden war, durch die provisorische Regierung und den Petrograder Sowjet von Räumung bedroht war, eilten 50 Matros*innen aus Kronstadt – darunter Schelesnjakow – zur Verteidigung der Besetzung. Nachdem in der Villa mehreren Gefangenen, die aus dem Gefängnis im selben Viertel befreit worden waren, Unterschlupf gewährt wurde, wurden während einer Razzia der Villa auch Schelesnjakow verhaftet und zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Wenige Wochen später entkam er jedoch aus dem Gefängnis. Schelesnjakow, nun Kommandant der Taurischen Palastgarde, führte auf Befehl der neuen bolschewistischen Regierung während der Oktoberrevolution 1918 die Truppe an, die die Konstituierende Versammlung nach einem Tag der Existenz auflöste. Während des Russischen Bürger*innenkriegs führte er eine Flotille und einen Panzerzug der Roten Armee an. Er wehrte sich gegen die Reorganisierung der Roten Armee durch Trotzki, die die Selbstorganisierung abschaffte und wurde von den Bolschewiki zeitgleich mit den Schwarzen Garden und Machnos Schwarzer Armee zum Feind erklärt. Später durfte er doch wieder einen Panzerzug befehligen und wurde von der Artillerie Denikins am 26. Juli 1919 getötet.

[40] Wilhelm Maria Theodor Ernst Richard Graf von Mirbach-Harff (1871-1918) war ein deutscher Diplomat und Botschafter. Vom 16. Dezember 1917 bis zum 10. Februar 1918 stand er der deutschen Gesandtschaft in Petrograd vor, die nach Unterzeichnung des Waffenstillstands von Brest-Litowsk eingerichtet wurde. Vom 2. April 1918 bis zu seiner Ermordung war Wilhelm Graf von Mirbach-Harff Außerordentlicher Gesandter und Bevollmächtigter Minister des Deutschen Reichs in Sowjetrussland.

[41] Trial and Speeches of Alexander Berkman and Emma Goldman before the Federal Court of New York, June-July 1917, Mother Earth Publishing Co., New York

[42] Alice Stone Blackwell (1857-1950) war eine US-amerikanische Feministin, Suffragistin, Journalistin, radikale Sozialistin und Kämpferin für Menschenrechte.

[43] Die Kommunistische Internationale (kurz Komintern, auch KI), auch Dritte Internationale genannt, war ein internationaler Zusammenschluss kommunistischer Parteien zu einer weltweiten gemeinsamen Organisation. Die Gründung erfolgte 1919 in Moskau auf Initiative Lenins, der die Zweite Internationale mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 für tot erklärt hatte. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde die Komintern im Zuge der sogenannten Bolschewisierung der kommunistischen Parteien weitgehend von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion dominiert und diente als Einflussinstrument auf kommunistische Parteien und Organisationen in anderen Ländern. Die Komintern gilt als eine der wichtigsten politischen Organisationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihr ursprüngliches Ziel war eine proletarische Weltrevolution, die – basierend auf einzelnen nationalen Revolutionen – alle Länder der Erde ergreifen sollte. Dieses Ziel verlagerte sich jedoch im Verlauf der 1920er Jahre nach dem Scheitern des Deutschen Oktobers – war doch die Durchsetzung der Revolution in Deutschland anfangs als unabdingbare Voraussetzung für den internationalen Erfolg angesehen worden – zu einer Interessenpolitik im Sinne des Stalinismus mit seiner Doktrin vom Sozialismus in einem Land, der Sowjetunion.

[44] Der Rotbannerorden (oder auch Rotbannerkampforden) war eine Auszeichnung, die erstmals im Spetember 1918 von der Regierung Sowjetrusslands gestiftet wurde und die später als Auszeichnung der UdSSR fortbestand. Mit dieser Auszeichnung wurden »militärische Heldentaten« gewürdigt.

[45] Die Industrial Workers of the World (IWW, deren Mitglieder oft auch als Wobblies bezeichnet werden) waren und sind immer noch eine weltweite Gewerkschaft. Gegründet auf einem Kongress am 27. Juni 1905 in Chicago von Delegierten verschiedener Einzelgewerkschaften, Sozialist*innen, Anarchist*innen und militanten Arbeiterführer*innen, organisierte sie insbesondere die von der traditionellen Arbeiter*innenbewegung vernachlässigten gesellschaftlichen Gruppen. Eine Stärke der IWW war die Organisation der Arbeiter*innen als Klasse anstatt in rivalisierenden Berufsgruppen. Des Weiteren sah die IWW direkte Aktionen stets als wichtiges, wenn auch nicht unumstrittenes Mittel im Arbeitskampf. Die Gewerkschaft spielte in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts eine einflussreiche bis maßgebliche Rolle bei zahlreichen spektakulären Streiks. Zunehmende Repression während und nach dem Ersten Weltkrieg sowie ein wachsender Einfluss der Kommunistischen Partei der USA ließen sie ab Mitte der 1920er nach mehreren Spaltungen zu einer Randerscheinung werden. Auf ihrem organisatorischen Höhepunkt 1923 hatte die IWW 100.000 Mitglieder, Ende der 1950er Jahre weniger als hundert.

[46] Wera Nikolajewna Figner (1852-1942) war eine russische Revolutionärin und Volkstümlerin (Narodniki). Sie war Tochter eines russischen Adligen. Sie war Teil der Organisation Narodnaja Wolja (Volkswille) und wurde wegen der Beteiligung an der Planung von Attentaten auf den Zaren Alexander II. von 1881 bis 1883 zum Tode verurteilt. Ihre Strafe wurde jedoch in lebenslange Haft umgewandelt und in den folgenden 20 Jahren in Schlüsselburg vollstreckt. 1904 wurde sie entlassen. 1910 gründete sie in Paris ein Komitee zur Unterstützung politischer Gefangener in Russland. Zum Beginn des Ersten Weltkrieges kehrte sie nach Russland zurück und wohnte erneut unter Polizeiaufsicht in Nischni Nowgorod, bevor sie im Dezember 1916 die Erlaubnis bekam, sich in Sankt Petersburg niederzulassen. Nach der Februarrevolution 1917 amnestiert, leitete sie das Komitee zur Hilfeleistung für befreite Sträflinge und Verbannte, das zwei Millionen Rubel an ca. 4000 Menschen verteilte. Sie war Mitglied der Konstituante, die am 19. Januar 1918 von den Bolschewiki aufgelöst wurde. Während des Russischen Bürgerkrieges lebte Wera Figner bei Verwandten im Gouvernement Orjol. Zurückgekehrt nach Moskau, wurde sie 1921 Vorsitzende des Komitees zur Ehrung Kropotkins, das ein Museum in Kropotkins Geburtshaus einrichtete. Bis zu ihrem Tod 1942 reiste sie mehrmals nach Kasan, um soziale und kulturelle Einrichtungen zu unterstützen.

[47] Sarra Naumowna »Olga« Rawitsch (1879-1957) war eine russische Revolutionärin. Rawitsch lebte ab 1907 im Schweizer Exil. 1908 wurde sie in München im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Bank von Tiflis, organisiert von Josef Stalin, verhaftet. Ab 1914 war sie Mitarbeiterin Lenins. 1917 begleitete sie Lenin nach Russland. 1925 gehörte sie der Leningrader Opposition an. 1935 wurde sie aus der KPdSU ausgeschlossen und danach mehrfach verhaftet und in Gulag-Arbeitslagern inhaftiert. 1954 wurde sie, bereits schwer krank, freigelassen.

[48] Zu dt. »Steininsel«. Eine kleine Insel vor St. Petersburg (Petrograd). (Anm. d. Übers.)

[49] Eine adlige russische Familie. Die meisten Mitglieder der Familie bekleideten hohe Ämter im Staatsdienst des Zarenreichs. Die Familie besaß große Ländereien in ganz Russland.

[50] Ebenfalls eine noble Familie.

[51] Emma Goldman spricht hier wörtlich von »Behinderten« [defectives]. Da sich aus dem Kontext des Textes kein Grund ergibt, diese als diskriminierend empfundene Sprache in der Übersetzung zu reproduzieren, haben wir uns als Übersetzer*innen dagegen entschieden. Wir sind jedoch auch der Meinung, dass der Sprachgebrauch eines Textes nicht losgelöst von seinem Inhalt ist, daher haben wir uns dazu entschieden, unseren Eingriff transparent zu machen (Anm. d. Übers.).

[52] Coney Island war zu Emma Goldman's Zeiten eine Insel vor Brooklyn. Coney Island war zuerst Amüsier- und Rückzugsort für die Oberschicht und die reiche Mittelschicht (mit Pferderennbahnen und teuren Seehotels). Vom Seebad entwickelte sich die Insel mit der Öffnung für weniger noble Menschen (aus der Mittelschicht) ab circa 1910 zur »Feierinsel« mit zwielichtigen Bars, drittklassigen Theatern, Showbühnen und regelrechten Trinkmeilen. Zu der Zeit wurden dort auch die ersten Fahrgeschäfte errichtet.

[53] Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881-1970) war ein russischer Politiker und zeitweise Chef der Übergangsregierung zwischen Februar- und Oktoberrevolution im Jahr 1917. Er musste bei der Machtübernahme der Bolschewiki fliehen und lebte in Frankreich im Exil. Nach dem deutschen Einmarsch in Paris 1940 flüchtete Kerenski in die Vereinigten Staaten, wo er auch starb.

[54] Väterchen (Anm. d. Übers.)

[55] Mütterchen (Anm. d. Übers.)

[56] Ethel Snowden, geborene Anakin (1881-1951) war eine britische sozialistische und feministische Politikerin. Ethel Snowden war christliche Sozialistin und Labourpolitikerin und ist vor allem bekannt als eine der führenden Persönlichkeiten in der Bewegung für das Frauenwahlrecht in Großbritannien. Sie engagierte sich auch in der Abstinenzbewegung und in der Friedensbewegung während des Ersten Weltkriegs. In ihrem Buch »Through Bolshevik Russia« von 1920 äußerte sie sich sehr kritisch zur politischen Entwicklung in Russland nach der Machtübernahme der Bolschewiki, weshalb es in der damaligen britischen Linken sehr umstritten war.

[57] Bertrand Russell (1872-1970) war ein britischer Philosoph, Mathematiker und Logiker, Atheist und Rationalist. Als weltweit bekannter Aktivist für Frieden und Abrüstung war er eine Leitfigur des Pazifismus, auch wenn er selbst kein strikter Pazifist war. Russell kehrte von seiner Reise in die Sowjetunion desillusioniert zurück und äußerte sich äußerst negativ über den russischen Sozialismus. So schrieb er in einem Brief: „Bis zum einfachsten Bauern herunter sind sie ein Volk von Künstlern; die Bolschewiken haben sich zum Ziel gesetzt, sie so weit wie möglich zu industrialisieren und zu Yankees zu machen.“ Russell, der zuvor mit dem Sozialismus sympathisiert hatte, war fortan ein ausgesprochener Gegner des Kommunismus. Später gründete er zusammmen mit seiner Frau Dora Black die libertäre experimentelle Beacon Hill School.

[58] Der militärische Dienstgrad des Hetman bezeichnet den zweithöchsten Offizier nach dem König.

[59] Matwij Oleksandrowitsch Hryhorjew, bekannt als Nikifor Grigorjew (1884-1919) war zuerst ein Offizier der kaiserlich-russischen Armee. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk tat er seinen Dienst zuerst in der neu gegründeten Ukrainischen Armee, stellte jedoch ab Dezember 1918 eine Partisanenarmee auf, um gegen die von den Mittelmächten beeinflusste Regierung und die von der Entente geschickte Truppen vorzugehen. Er ist dafür bekannt, während des ukrainischen Bürgerkriegs mehrmals die Seiten gewechselt zu haben. Ab 1919 führte er dann eine anarchistische Bauernarmee in der Ukraine an und arbeitete mit Nestor Machno zusammen. Dies ging jedoch nicht lange gut und schließlich wurde Grigorjew von Machnos Männern getötet.

[60] Werst ist eine Maßeinheit für die Länge, die im russischen Reich (1721-1917) verbreitet war. 1 Werst entspricht etwa 1.068,7 Meter.

[61] Gelbe Ausweise (yellow tickets) waren während des Zaren-Regimes persönliche Identifikationsdokumente für Prostituierte. Prostituierte mussten ihren richtigen Personalausweis und die Aufenthaltserlaubnis im örtlichen Polizeirevier hinterlegen und erhielten stattdessen einen »gelben Ausweis«. Der enthielt neben Informationen zur Identität einer Person eine Aufenthaltserlaubnis, eine Lizenz, die das Ausüben von Prostitution erlaubte und eine medizinische Untersuchungskarte, die dazu verpflichtete, sich regelmäßig einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Die Bezeichnungen Zhyolty bilet (»gelbe Karte«) und zheltobiletnitsa (»Inhaber*in einer gelben Karte«) sind im Russischen Euphemismen für Prostitution und Protistuierte geworden.

[62] Molly Stimer, auch bekannt als Mollie Steimer, eigentlich Marthe Alperine (1897-1980), war eine russische Anarchistin und Autorin. Nachdem ihre Familie 1913 in die USA emigriert war, wurde sie 1918 zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, weil sie Antikriegs-Flugblätter verteilt hatte, 1921 wurde sie dann nach Russland deportiert. Dort gründete Mollie Steimer mit Senja Fleschin, der ihr lebenslanger Partner wurde, eine Organisation zur Unterstützung anarchistischer Gefangener in Russland, war Mitglied der Nabat und arbeitet mit Volin zusammen. Am 01. November 1922 wurde sie zusammen mit Fleschin wegen der »Unterstützung krimineller Elemente« verhaftet. Auf Druck von Emma Goldman und anderen Anarchist*innen wurden Mollie Steimer und Senja Fleschin 1923 von den Bolschewiki nach Deutschland abgeschoben. Sie wohnten anschließend abwechselnd in Paris und Berlin und Stimer steuerte viele Artikel zu anarchistischen Zeitungen bei. In späteren Jahren wohnte sie mit Fleschin in Mexiko City, wo sie ein Fotoatelier betrieben. Steimer starb 1980 an einem Herzinfarkt.

[63] Zu deutsch etwa »Kinderlaufsteg« (Anm. d. Übers.)

[64] Als Dekabrist*innen werden die Teilnehmer*innen an dem Offiziersaufstand für eine konstitutionelle Verfassung in Russland im Jahre 1825 bezeichnet.

[65] Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski (1828-1889) war ein russischer Schriftsteller, Publizist, Literaturkritiker und Revolutionär. In der Zeit von 1853 bis 1862 lebte Tschernyschewski in Sankt Petersburg. Er war Mitarbeiter unabhängiger Zeitschriften und Autor. Er kritisierte die Unterdrückung der Menschen im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts ebenso wie die kleinbürgerliche Einstellung seiner Zeitgenossen. 1862 wurde Tschernyschewski aus politischen Gründen verhaftet. Im Gefängnis schrieb er 1863 den Roman »Was tun?«, in dem er der Frage nachgeht, wie idealistische Menschen die Welt im Kleinen verändern können. Dieser Roman war für die junge Emma Goldman prägend gewesen und legte den Grundstein für ihre eigenen anarchistischen Ideen und ihre unabhängige Einstellung. 1864 wurde Tschernyschewski zunächst zu einer Scheinhinrichtung (eine Foltermethode, bei der das Opfer in dem Glauben gelassen wird, dass es hingerichtet wird, die entsprechende Prozedur jedoch kurz vor der eigentlichen Hinrichtung abgebrochen wird) und anschließend zur Verbannung nach Sibirien (ab 1872 in Wiljuisk) verurteilt, das er erst 1883 wieder verlassen durfte. 1889 starb er in seiner Geburtsstadt Saratow.

[66] Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) war russischer Schriftsteller. Dostojewski schrieb elf Romane, zahlreiche Novellen und Erzählungen und ein umfangreiches Korpus an nichtfiktionalen Texten. Das literarische Werk beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreiches, das sich im 19. Jahrhundert fundamental im Umbruch befand. In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre stand Dostojewski dem Frühsozialismus nahe und nahm an Treffen des revolutionären Petraschewski-Zirkels teil. Dies führte 1849 zu seiner Festnahme, Verurteilung zunächst zum Tode und dann – nach Umwandlung der Strafe – zu Haft und anschließendem Militärdienst in Sibirien. Nach der Entlassung 1859 begann er zunächst mit kleineren Arbeiten und dann mit den »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« seine Reputation als Schriftsteller wiederherzustellen.

[67] Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876) war ein russischer Revolutionär und Anarchist. Bakunin entstammte einer alten russischen Adelsfamilie, war Artillerieoffizier und Mathematiklehrer. Durch seinen Aufenthalt in Westeuropa mit vielen revolutionären Persönlichkeiten bekannt, nahm er 1848 an den Erhebungen in Paris und Prag sowie 1849 an führender Stelle in Dresden teil. Nach der Niederschlagung des Dresdner Maiaufstands wurde Bakunin festgenommen und interniert. Er verbrachte acht Jahre in Gefängnissen und weitere vier Jahre in sibirischer Verbannung, bis ihm die Flucht gelang. Seine darauf folgenden revolutionären Aktivitäten konzentrierte er im Wesentlichen auf das zu seiner Zeit dreigeteilte Polen und das neugegründete Italien. Bakunin entwickelte die Idee des kollektivistischen Anarchismus. In der Internationalen Arbeiterassoziation war Bakunin die Hauptfigur der Antiautoritären und mit Generalratsmitglied Karl Marx im Konflikt, was zur Spaltung der Internationale führte und gleichzeitig zur Trennung der anarchistischen von der kommunistischen Bewegung und der Sozialdemokratie.

[68] Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842-1921) war ein russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller undstammte aus einer aristokratischen Familie. Nach dem Tod seiners Vaters 1872 bereiste Kropotkin Westeuropa, schloss sich der libertären Juraföderation in Neuschâtel an und bekannte sich zum Anarchismus. Nach seiner Rückkehr nach Russland schloss er sich dem Tschaikowski-Kreis an, der viele progressive Mitglieder verband, die sich später auch der radikaleren Narodnaja Wolja anschlossen. Kropotkin wurde 1874 deswegen verhaftet. Die Festnahme Kropotkins sorgte in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen, da sich mit Kropotkin erstmals auch ein ranghoher Adliger und persönlicher Bediensteter des Zaren an der antizaristischen Bewegung beteiligt hatte. Kropotkin wurde in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg festgehalten. Da er aufgrund der schlechten Haftbedingungen lebensgefährlich erkrankte, wurde er zur Erholung in ein kleineres Gefängnis beim St. Petersburger Militärspital gebracht, wo ihm ein spektakulärer Ausbruch aus dem Gefängnis gelang. Kropotkin engagierte sich daraufhin in Großbritannien, der Schweiz und in Frankreich in der anarchistischen Bewegung. 1882 wurde Kropotkin in Frankreich für seine Mitgliedschaft in der Internationale zu fünf Jahren Haft verurteilt. 1886 wurde er auf Druck der Öffentlichkeit vorzeitig entlassen. Nach seiner Entlassung ließ er sich für längere Zeit in London nieder. Ab 1887 konzentrierte Kropotkin sich auf das Schreiben von Artikeln für anarchistische Zeitschriften und Vortragsreisen über den Anarchismus. Im Juni 1917 kehrte Kropotkin nach der Februarrevolution nach Russland zurück. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki blieb er aufgrund seiner Popularität verhältnismäßig unbehelligt, musste aber dennoch diverse Razzien und Schikanen über sich ergehen lassen. 1921 starb er an einer Lungenentzündung. Er hinterließ viele Schriften, darunter die revolutionäre Schrift »Die Eroberung des Brotes« und sein wissenschaftliches Werk »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt«.

[69] Golgota ist der Ort (ein Berg), an dem dem Neuen Testament zufolge der im christlichen Glauben als »Gottes Sohn« verehrte Jesus gekreuzigt worden sein soll. Übersetzt bedeutet Golgota soviel wie »Ort des Schädels«.

[70] Sergei Gennadijewitsch Netschajew (1847-1882) war ein russischer Revolutionär, der der nihilistischen Bewegung nahestand. 1868–1869 leitete Netschajew, damals Lehrer an einer Kirchspielsschule in St. Petersburg, während der Studentenunruhen eine radikale Studentengruppe. Im Januar 1869 flüchtete er nach Genf und schloss enge Freundschaft mit Michail Bakunin und Nikolai Ogarjow. Er verfasste dort sein Programm, den »Revolutionären Katechismus«, in dem er seine autoritären Vorstellungen über den »Berufsrevolutionär« darlegte. Dabei sollte dieser sich vollkommen dem Ziel der Revolution unterordnen und nur für dieses Ziel leben. Er forderte eiserne Disziplin und vollkommene Selbstaufgabe. Dabei waren ihm jedes Mittel zur Erreichung der Revolution recht. Er war »weniger ein aufrechter Anarchist als ein Apostel der revolutionären Diktatur, mehr interessiert an den Mitteln der Verschwörung und des Terrors als mit dem erhabenen Ziel einer staatslosen Gesellschaft.« (Avrich: »Russian Anarchists«). Er liebte Intrigen und schuf einen ganzen Kult um seine Figur, insbesondere als er im August 1869 nach Russland zurückkehrte und dort die Geheimorganisation Narodnaja Rasprawa (»Volksvergeltung«) gründete. Als Iwan Iwanowitsch Iwanow, ein Mitglied der Gruppe, aufgrund von Meinungsverschiedenheiten die Gruppe verließ und ein Verrat seinerseits befürchtet wurde, wurde er von Netschajew und seiner Gruppe verprügelt und erschossen. Bald darauf wurde die Gesellschaft entdeckt und siebenundachtzig Personen vor Gericht gestellt. Netschajew selbst gelang 1870 die Flucht nach Zürich und schrieb eine Zeit lang für die Zeitung Kolokol. Doch als er begann, private Schriften und Briefe von Bakunin und anderen Exilanten zu stehlen, um diese, falls nötig, zu erpressen und in Bakunins Namen eine Morddrohung an dessen Verleger sendete, distanzierten sich Bakunin und viele andere von Netschajew. Inzwischen wurde von Russland die Auslieferung gefordert und die schweizerische Polizei nahm die Fahndung auf. 1872 wurde er an die Polizei in Zürich verraten, anschließend festgenommen und an Russland ausgeliefert. Er wurde wegen Mordes zu einundzwanzig Jahren Haft verurteilt. 1882 starb Sergei Netschajew in der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg an Wassersucht. Er wird oft als »Bolschewik vor den Bolschewiki« bezeichnet und seine Ideen haben Wladimir Lenin stark beeinflusst, der ihn als »Titan der Revolution« bezeichnete. Unter Stalin wurde Netschajew rehabilitiert.

[71] German Alexandrowitsch Lopatin (1845-1918) war ein russischer Revolutionär, Journalist und Schriftsteller. Er war einer der ersten russischen Revolutionäre, der sich intensiv mit den Schriften von Marx und Engels auseinandersetzte. Er war Teil der Internationale und mit Marx und Engels befreundet. Beim Versuch, den revolutionären Schriftsteller Tschernyschewski aus der sibirischen Verbannung zu befreien, wurde Lopatin 1870 selbst festgenommen. 1873 entkam er aus Sibirien und kehrte nach Westeuropa zurück. 1879 reiste er erneut heimlich nach Russland, um an der Arbeit revolutionärer Geheimorganisationen (erst »Land und Freiheit«, später »Der Volkswille«) teilzunehmen. Er wurde jedoch wieder verhaftet und floh 1883 ein weiteres Mal aus Sibirien. Als er 1884 erneut heimlich nach Russland reiste, wurde er erneut festgenommen und zu lebenslänglicher Haft in der Festung Schlüsselburg verurteilt. Lopatin wurde bei der fehlgeschlagenen Russischen Revolution von 1905 befreit. Aufgrund seiner durch die Haft ruinierten Gesundheit zog er sich zurück und ließ sich in Vilno nieder. 1913 kehrte er nach St. Petersburg zurück. Er begrüßte die Februarrevolution 1917 enthusiastisch, sprach sich aber gegen die Oktoberrevolution aus. 1918 starb Lopatin an Krebs.

[72] Alexander Iljitsch Uljanow (1866-1887) war ein russischer Revolutionär, der dem terroristischen Flügel der Narodniki angehörte. Er war der ältere Bruder Lenins. Alexander Uljanow stammte aus einer Familie niederen Adels. 1883 schrieb sich Alexander an der St. Petersburger Universität ein und studierte Biologie. Gemeinsam mit weiteren Student*innen war er Teil der terroristischen Fraktion der Narodnaja Wolja, die nach dem erfolgreichen Attentat auf den russischen Zaren Alexander II. im März 1881 auch die Ermordung seines Nachfolgers Alexander III. plante. Als Uljanow mit seinen Genoss*innen die Fahrtroute des Zaren zur St. Petersburger Kathedrale erkundete, wurden sie durch Zufall von der Petersburger Polizei entdeckt. Uljanow wurde in der Peter-und-Paul-Festung gefangen gehalten und wurde 1887 wegen der Beteiligung am fehlgeschlagenen Attentat zum Tode verurteit und in der Festung Schlüsselburg gehängt.

[73] Iwan Platonowitsch Kaljajew (1877-1905) war ein russischer Dichter, Terrorist und Mitglied der Sozialrevolutionäre. Kaljajew war 1904 am Attentat auf den Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe beteiligt. 1905 verübte er ein Attentat auf den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch Romanow und wurde dafür in Schlüsselburg hingerichtet.

[74] Stepan Balmaschew (1881-1902) war Mitglied der Sozialrevolutionären Partei und russischer Terrorist. 1902 ermordete er den zaristischen Innenminister Dimitri Sitiagin und wurde dafür in Schlüsselburg gehängt.

[75] »Frankensteins Monster«, das hier vermutlich mit der Bezeichnung »Frankenstein« gemeint ist, ist eine Figur aus dem Roman »Frankenstein« von Mary Shelley. Der Wissenschaftler Frankenstein erschafft, getrieben von dem Wunsch, künstlich Leben zu schaffen, einen Menschen, den er – und auch alle anderen Menschen, denen dieser begegnet – als äußerst hässlich und furchterregend empfindet. Aufgrund der Ablehnung, die der künstlich geschaffene Mensch von seinem Schöpfer und anderen Menschen erfährt, ermordet er aus Rache mehrere Menschen im Umfeld seines Schöpfers.

[76] Wiktor Michailowitsch Tschernow (7173-1952) war 1902 Gründer der Partei der Sozialrevolutionäre. Nach der Februarrevolution 1917 wurde er Landwirtschaftsminister in der Provisorischen Regierung. Nach der Oktoberrevolution stellte er sich als führender Kopf gegen die Bolschewiki. 1920 emigrierte er ins Ausland, von wo er weiterhin gegen die Bolschwiki auftrat.

[77] Fjodor Iljitsch Dan (1871-1947) war ein russischer Arzt und führender Menschewik. Nach der Februarrevolution 1917 war er Mitglied des Petrograder Sowjets, nach der Oktoberrevolution kämpfte er gegen die Regierung der Bolschewiki. 1921 wurd er verhaftet und 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen. Danach lebte er in Berlin, Paris und New York.

[78] Maria Alexandrowna Spiridonowa (1884-1941) war eine russische Sozialrevolutionärin und Politikerin aus der Partei der Sozialrevolutionäre. 1906 verübte sie am Bahnhof von Borissoglebsk ein Attentat auf den Vizegouverneur von Tambow, Gawriil Nikolajewitsch Luschenowski. Sie wurde für diese Tat zum Tode verurteilt. Wegen ihrer schlechten Gesundheit wurde die Strafe jedoch in eine Zuchthausstrafe umgewandelt, die sie in Sibirien verbüßen musste. Im Zuge einer Generalamnestie nach der Februarrevolution 1917 wurde sie freigelassen. Anfangs war Spiridonowa für eine Zusammenarbeit mit den Bolschewiki, im Juli 1918 jedoch leitete sie den Aufstand der Linken Sozialrevolutionäre gegen die Bolschewiki. 1919 wurde sie verhaftet, brach jedoch aus dem Gefängnis aus, lebte für kurze Zeit frei in Klandestinität (in dieser Zeitspanne traf sie auch Emma Goldman), und wurde im Oktober 1920 erneut verhaftet, wegen »Wahnsinns« verurteilt und in eine Psychiatrie gesperrt. 1923 scheiterte ein Fluchtversuch und sie wurde für drei Jahre ins Exil nach Kaluga geschickt. 1931 wurde sie erneut für insgesamt fünf Jahre ins Exil nach Ufa geschickt. 1937 wurde sie erneut verhaftet und zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt. 1941 wurde sie im Gefängnis in Orjol erschossen.

[79] Der ursprünglich anders verwendete Begriff Junker wurde im 19. Jahrhundert zunächst zu einem Kampfbegriff der Liberalen und später der Sozialisten, um eine starke Bastion ihrer konservativen und reaktionären Gegner – den ostelbischen Landadel – zu bezeichnen. Die pejorative Bezeichnung Junker setzte sich spätestens seit dem Junkerparlament im liberalen politischen Sprachgebrauch fest. Die Junker besaßen insbesondere im 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im östlich der Elbe gelegenen Kerngebiet Preußens eine bedeutende politisch-ökonomische Machtstellung. Der Landadel galt als sehr konservativ, militaristisch und antiliberal. Er war die reaktionäre Stütze der Monarchie der Hohenzollern und des preußischen Staats- und Militärwesens.

[80] Graf Wilhelm von Mirbach führte die Verhandlungen über den Waffenstillstand von Brest und war später Botschafter des deutschen Reichs in Sowjetrussland. Mirbach wurde am 6. Juli 1918 von Jakow Bljumkin und Nikolai Andrejew, zwei linken Sozialrevolutionären, in der deutschen Botschaft in Moskau erschossen.

[81] Die Demokratische Fernöstliche Republik, kurz zumeist nur Fernöstliche Republik, war eine zwischen dem 6. April 1920 und dem 15. November 1922 bestehende sozialistische Sowjetrepublik in Russisch-Fernost und in Süd- und Ostsibirien. Sie war zwar nominell unabhängig, wurde aber faktisch größtenteils von Sowjetrussland kontrolliert. Sie war von Sowjetrussland als Pufferstaat gegründet worden, um einen direkten Krieg mit Japan zu verhindern.

[82] Ein russischer Wasserkocher zur Zubereitung von Tee (Anm. d. Übers.)

[83] Die Tolstoianer waren Anhänger einer um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert verbreiteten Form des christlichen Anarchismus und Pazifismus. Inspiriert waren sie von den Werken Leo Tolstois. Der vor allem als Schriftsteller berühmte Tolstoi war christlicher Anarchist und kümmerte sich insbesondere um die Einrichtung von Dorfschulen und um die Reformierung der Pädagogik. Seine Theorien hatten viel Einfluss auf die späteren Freien Schulen wie Summerhill.

[84] Das Landgut Jasnaja Poljana (dt. »Helle Lichtung«) war der Geburts- und Wohnort von Leo Tolstoi.

[85] Fanja Baron (1887-1921), geborene Greck in Vilnius zog in die Vereinigten Staaten, wo sie eine Beziehung mit dem Bäcker Aron Baron (alias Kantorowitsch) anfing. Fanya war in der anarchistischen Bewegung in Chicago und bei den Industrial Workers of the World (I.W.W.) aktiv. Sie war an den Hungerdemonstrationen von 1915 beteiligt und wurde von einem Bullen bewusstlos geschlagen. Sie und fünf andere russische Frauen und fünfzehn Männer wurden verhaftet. Sie kehrte 1917 mit Aron und Boris Jelenskij nach Russland zurück. Zwischen 1919 und 1920 war sie bei der Nabat in der Ukraine aktiv. Sie wurde zusammen mit vielen anderen Anarchist*innen bei einer Konferenz in Charkiw am 25. November 1920 von der Tscheka verhaftet.
Ab dem Frühjahr 1921 war sie im Gefängnis von Rjasan. Sie entkam von dort mithilfe der Anarchist*innen im Untergrund am 10. Juli 1921, mit neun anderen Anarchist*innen. Sie wollte Aron helfen, aus dem Gefängnis in Moskau zu fliehen und suchte Zuflucht bei Arons Bruder, Semion, einem Mitglied der bolschewistischen Partei. Am 17. August wurde sie in seiner Wohnung von der Tscheka verhaftet. Semion wurde auf der Stelle hingerichtet. Fanya wurde am 29. September 1921 auf direkten Befehl von Lenin von der Tscheka erschossen, nachdem man sie der »Komplizenschaft antisowjetischer Verbrechen« für schuldig befunden hatte. Gleichzeitig ermordet wurde der Dichter Lew Tschorny mit neun weiteren Anarchist*innen. Ihr Tod wurde zum Symbol der Unterdrückung gegen den russischen Anarchismus. Aron starb 1937 in den Arbeitslagern.

[86] Auch bekannt als Senya Fleshin (Anm. d. Übers.).

[87] Senja Fleschin (1894-1981) war ein anarchistischer Revolutionär und Fotograf. Er wurde in Kiew geboren. Mit 16 Jahren emigrierte er mit seiner Familie in die USA. Er arbeitete mit Emma Goldman für die »Mother Earth«. 1917 kehrte er nach Russland zurück. Als Fleschin einen kritischen Artikel über die Bolschewiki schrieb, wurde er inhaftiert. Nach seiner Entlassung gründete er mit Molly Steimer zusammen eine »Hilfsgesellschaft für anarchistische Gefangene«. 1922 wurden beide wegen der »Hilfe von kriminellen Elementen« verhaftet und zu zwei Jahren in einem sibirischen Arbeitslager verurteilt. Durch die Erklärung eines Hungerstreiks kamen sie allerdings frei, wurden jedoch kurze Zeit später, Ende 1923, wieder verhaftet. Ein erneuter Hungerstreik sowie der Protest ausländischer Anarchosyndikalist*innen einschließlich Emma Goldman führte dazu, dass sie entlassen, dafür allerdings aus dem Land ausgewiesen wurden. Sie ließen sich in Berlin nieder und eröffneten ein Fotostudio. Nach der Machtergreifung Hitlers flohen sie nach Paris. Steimer wurde 1940 verhaftet und in ein Kriegsgefangenenlager gesteckt. Nach sieben Wochen schaffte sie es mit der Hilfe französischer Anarchist*innen zu entkommen. Steimer und Fleschin flohen daraufhin nach Mexiko und ließen sich dort nieder und betrieben wieder ein Fotostudio. Senja Fleschin starb in Mexico City in hohem Alter.

[88] Von Emma Goldmann in den Jahren von 1906 bis 1917 herausgegebene Zeitschrift (Anm. d. Übers.).

[89] Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, die älteste, größte und bevölkerungsreichste Unionsrepublik der Sowjetunion (UdSSR).

[90] Auch bekannt als »Yussuf, der Emigrant« (Anm. d. Übers.).

[91] Ein Roman von Emile Zola. Der Roman erzählt die Geschichte eines Bergarbeiter*innenstreiks, angestiftet und angeführt vom Sozialisten Etienne Lantier. Der Streik scheitert, jedoch sprengt der Anarchist Suwarin just am Tag der Arbeitswiederaufnahme einen Schacht, der um die zwanzig Arbeiter*innen verschüttet, unter ihnen auch den Protagonisten Etienne Lantier. Er wird als Einziger lebend geborgen und verlässt die Mine, weiterhin von seinen sozialistischen Idealen beseelt.

[92] Das Donezbecken ist ein an der russisch-ukrainischen Grenze gelegenes Gebiet mit einem großen Steinkohlevorkommen. Vermutlich mussten dorthin verschleppte Arbeiter*innen dort in den Minen arbeiten.

[93] Pawel Dybenko (1889-1938) war ein russischer Revolutionär, sowjetischer Marineoffizier und Mitglied der ersten Sowjetregierung im Rat der Volkskommissare. In den späten 1930er Jahren fiel Dybenko als angeblicher Anhänger von Trotzki bei Stalin in Ungnade. 1938 wurde er verhaftet, in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.

[94] Alexandra Michailowna Kollontai (1872-1952) war eine russische Revolutionärin, Diplomatin und Schriftstellerin. Sie war die erste Ministerin und Botschafterin der jüngeren Geschichte. Kollontai setzte sozialreformerische Ideen in ihrer Zeit als Volkskommissarin um und engagierte sich für eine stärkere Bedeutung der Frau in der russischen Gesellschaft. Sie kritisierte wiederholt die Führer Lenin und Stalin, dennoch blieb sie das einzige Mitglied des ZK der KPdSU des Jahres 1927, das die von Stalin initiierte große Säuberung überlebte.

[95] Ca. 107 km.

[96] Stenka Rasin (um 1630-1671) war ein Ataman der Donkosaken. Nachdem in seiner Jugend sein älterer Bruder als Deserteur gehenkt worden war, schwor Stenka Rache und gründete eine Räuberbande mit entflohenen Leibeigenen, die er anführte. Er wurde Pirat und befehligte bald eine Flotte von mehr als 30 eroberten Handelsschiffen. 1670 eroberte er mit seinen zum Heer angewachsenen Anhänger*innen weite Teile Südrusslands. Nachdem sich jedoch die Niederlagen häuften, zerstreute sich Rasins Armee und Rasin wurde von seinen eigenen Leuten festgenommen und später durch Vierteilung hingerichtet.

[97] Sofia Korolenko (1886-1957) arbeitete für mehrere Jahre als Lehrerin in ländlichen Gegenden, wurde 1905 persönliche Sekretärin ihres Vaters und war 1914 Mitherausgeberin einer Gesamtausgabe des Werkes ihres Vaters. Nach dem Tod ihres Vaters 1921 initiierte Sofia die Gründung des Korolenko-Museums in Poltawa, dem sie lange Jahre vorstand.

[98] Wladimir Korolenko (1853-1921) war ein russischer Schriftsteller, Journalist, Humanist und Menschenrechtsaktivist polnisch-ukrainischer Herkunft. Korolenko war ein scharfer Kritiker des Zarenreiches und in seinen letzten Lebensjahren der Bolschwiki.

[99] Nach jüdischem Speisegesetz nicht zum Verzehr geeignetes Fleisch oder Fisch (Anm. d. Übers.).

[100] Die balalaika ist eine russische Laute (Anm. d. Übers.).

[101] Die Westukrainische Volksrepublik war ein von Ende 1918 bis Mai 1919 nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns für kurze Zeit existierender Staat auf dem Gebiet Ostgaliziens, der Nord-Bukowina und Transkarpatiens. Die Westukrainische Volksrepublik war zwar unter dem Eindruck der Oktoberrevolution der russischen Bolschewiki 1917 entstanden, befand sich aber unter dem Einfluss der Zentralna Rada (ukrainisch für »Zentralrat«), einer bürgerlichen Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki, Sozial-Föderalisten und anderen, und stand in Opposition zu den Bolschewiki.

[102] Die Jewkom war ein Kommissariat, das damit beauftragt war, die Diktatur des Proletariats in den jüdischen Gemeinwesen herzustellen. Dazu gehörte beispielsweise, den Übergang des jüdischen Kleinbürgertums zu produktiven Tätigkeiten in Industrie und Landwirtschaft zu begünstigen.

[103] Symon Wassyljowytsch Petljura war ein ukrainischer Politiker, Journalist, Literat und Publizist und von 1919 bis 1920 Präsident der Ukrainischen Volksrepublik.

[104] Galina (Agafja) Andrejewna Kusmenko (1892-1978) war die dritte Ehefrau von Nestor Machno. 1916 wurde sie Lehrerin und unterrichtete die ukrainische Sprache und Literatur in Gulyai-Pol. Sie wurde als Anarchistin und ukrainische Patriotin bekannt. Anfang 1919 heiratete sie Nestor Machno. Ihr lagen insbesondere die Rechte der Frauen und ihre Bildung am Herzen. Ab September 1919 beschäftigte sie sich mit der Einführung von Reformen in der Schulbildung. Sie stellte sich an die Spitze einer Schulsektion, die als Teil der Abteilung für Kultur und Bildung des Rebellenrates für die Kriegs- und Revolutionsangelegenheiten gegründet wurde. Sie beteiligte sich aktiv an den meisten Feldzügen der Machnowtschina, hatte einen großen Einfluss auf die Entscheidungen von Machno und seinem Stab. Sie war Mitglied der Kommission für die Untersuchung der Anti-Machnobewegung-Angelegenheiten und nahm an vielen riskanten Aufklärungs- und Propagandaoperationen teil. Nach der Niederschlagung der Machnowtschina begleitete sie Machno ins Exil und blieb nach dessen Tod 1934 in Frankreich. Während des Zweiten Weltkrieges wurde sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde sie in der UdSSR zu zehn Jahren Haft verurteilt und im Sonderlager DubrawLag interniert. Nach ihrer Entlassung 1954 bis zu ihrem Tod in den 1970er-Jahren lebte sie in Kasachstan.

[105] Baron Pjotr Nikolajewitsch Wrangel (1878-1928) war ein Führer der antikommunistischen Weißen Armee im Russischen Bürgerkrieg. Im militärischen Rang eines Generalleutnants operierte er mit den ihm unterstellten Truppen ab 1918 im Süden Russlands. Im Frühjahr 1919 übernahm er das Kommando über die im gesamten Kaukasus stationierten Freiwilligenverbände der Weißen und fügte durch die Zerschlagung der dortigen Roten Armeegruppe den Sowjets eine empfindliche Niederlage zu.

[106] Bundismus war eine säkulare jüdische sozialistische Bewegung, deren organisationeller Ausdruck der Allgemeine Jüdische Arbeiter*innenbund von Litauen, Polen und Russland war. Der »Bund« hatte zunächst das Ziel, alle jüdischen Arbeiter*innen des zaristischen Russlands in eine sozialistische Partei zu vereinigen und den russischen Jüd*innen zu rechtlicher Anerkennung zu verhelfen. Eine entscheidende Rolle spielten die weißrussischen Bundist*innen in der Russischen Revolution von 1905, die sie in den jüdischen Städten anführten. 1917 waren die Bundist*innen erst Gegner*innen der Oktoberrevolution, unterstützten sie allerdings dann doch, als es zu Pogromen gegen Jüd*innen durch die Weiße Armee kam. Der Bund spaltete sich in pro-bolschewistische Anhänger*innen, die von der Kommunistischen Partei absorbiert wurden und Demokrat*innen, die antikommunistisch eingestellt waren.

[107] Die Jakobiner*innen waren im formellen Sinn die Mitglieder eines politischen Klubs während der Französischen Revolution, im weiteren Sinne die Anhänger*innen von Robespierre. 1792 erzwangen sie gegen den Willen ihrer gemäßigten Gegenspieler*innen, der Girondist*innen, einen Prozess gegen den König. Unter der Führung von Maximilien de Robespierre errichteten sie ab 1793 ein Schreckensregime, die Terrorherrschaft (franz. La Terreur), das hauptsächlich durch Massenhinrichtung politischer Gegner*innen, energische und blutige Unterdrückung von konterrevolutionären Bewegungen in den Provinzen und durch eine Zwangswirtschaft mit Höchstpreisen gekennzeichnet war.

[108] Chaim Nachman Bialik (1871-1934) war ein jüdischer Dichter, Autor und Journalist, der auf Hebräisch und Jiddisch schrieb. Er ist einer der einflussreichsten hebräischen Dichter. Er lebte von 1900 bis 1921 in Odessa.

[109] Ca. 21 km. (Anm. d. Übers.)

[110] Anspielung auf das Theaterstück »Der Held der westlichen Welt« (im Orig. »The Playboy of the Western World«) von John Milington Synge von 1907. Im Stück geht es um einen jungen Mann, der in einem irischen Wirtshaus verzweifelt und nur sehr zögerlich davon erzählt, dass er seinen tyrannischen Vater ermordet habe, was jedoch bei den Dorfbewohner*innen zu Bewunderung ihm gegenüber führt und ihm die Liebe der Wirtstochter einbringt. Als sein Vater lebend auftaucht, verliert er die Bewunderung und Liebe der Menschen, weshalb er seinen Vater ein zweites Mal angreift und vermeintlich tötet. Diesmal jedoch wird er gefangen und soll gerade gehängt werden, als sein Vater blutverschmiert, aber am Leben den Platz betritt. Der junge Mann wird freigelassen, kann die Liebe der Wirtstochter allerdings nicht zurückgewinnen und geht mit seinem Vater, mit dem er sich versöhnt hat, auf Wanderschaft.

[111] Ca. 160 km. (Anm. d. Übers.)

[112] Christian Georgijewitsch Rakowski (1873-1941) war ein bulgarischer sozialistischer Revolutionär, bolschwistischer Politiker und sowjetischer Diplomat. Im Zuge des Großen Terrors wurde er 1937 zu 20 Jahren Zwangsarbeit im Gulag verurteilt. Nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion wurde er auf Weisung Stalins zusammen mit um die 150 weiteren Gefangenen 1941 erschossen.

[113] Der Kongress der Völker des Ostens war ein multilateraler Kongress, der im September 1920 in Baku stattfand. An dem Kongress, der von der Kommunistischen Internationale (Komintern) organisiert wurde, nahmen circa 1900 Delegierte aus Ländern Asiens und Europas teil. Der Kongress stand unter der Losung »Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch!«. Ziele waren die Unterstützung nationaler Bewegungen in kolonisierten Staaten und die Stärkung der Internationalen Arbeiterbewegung.

[114] Nikolai Iwanowitsch Bucharin (1888-1938) war ein russischer Politiker, marxistischer Philosoph und Wirtschaftstheoretiker. Er nahm an den russischen Revolutionen von 1905 bis 1917 teil und wurde im Zuge der Stalinschen Säuberungen erschossen.

[115] Der Allukrainische Rätekongress war von 1917 bis 1938 das oberste Regierungsorgan der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und fand einmal im Jahr, später alle zwei Jahre statt.

[116] Volin, eigentlich Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum, (1882-1945) war ein russischer Anarchist und Revolutionär. 1917 übernahm er die Leitung der »anarchosyndikalistischen Propaganda-Union« zunächst in St. Petersburg, später in Moskau, wo er auch eine Tageszeitung, die »Golos Truda«, herausgab, die zu einem wichtigen Sprachrohr der Anarchist*innen im revolutionären Russland wurde. Ende 1918 bildete Volin mit anderen die anarchistische Föderation der Ukraine. Im Jahr 1919 stieß er bei Odessa zur Machnowtschina. Volin wurde von den Bolschewiki inhaftiert und im Zuge des von Emma Goldman erwähnten Abkommens freigelassen. Er wurde 1921 wieder verhaftet, dann aus Rücksicht auf die in Moskau tagende Gewerkschafts-Internationale freigelassen und aus Russland ausgewiesen. Volin ging nach Berlin und arbeitete eine Zeit lang für die FAUD. Später zog er nach Paris. In Frankreich während des Zweiten Weltkrieges war er innerhalb einer kleinen Gruppe internationaler Anarchist*innen Teil der Résistance gegen die deutschen Besatzer*innen. Er starb 1945 an Tuberkulose. Zwei Jahre nach seinem Tod 1947 erschien sein dreibändiges Hauptwerk »La Révolution Inconnue« (»Die unbekannte Revolution«). Hierin stellt Volin die Vor- und Nachgeschichte der russischen Revolution aus anarchistischer Sicht dar und schildert insbesondere die Rolle der Anarchist*innen, der Machno-Bewegung und des Kronstädter Aufstands.

[117] Als »Wobblies« werden die Mitglieder der I.W.W. bezeichnet.

[118] Das Smolny-Institut war ursprünglich im zarischen St. Petersburg eine Bildungsanstalt für adelige Mädchen, die auf das Leben in der höheren Gesellschaft als Hofdamen vorbereitet wurden. Im August 1917 verlegte der Petrograder Sowjet seinen Tagungsort vom nahegelegenen Taurischen Palais in den Smolny. Hier wurde die Oktoberrevolution geplant und nach der Revolution war hier der Regierungssitz der Sowjetunion. Nachdem Moskau am 10. März 1918 wieder Hauptstadt des Landes geworden war, diente das Smolny-Institut als Sitz der Petrograder/Leningrader KPdSU.

[119] Boris Wiktorowitsch Sawinkow (1879-1925) war ein russischer Politiker, Terrorist und Autor. Als Sozialrevolutionär war er zunächst ein Gegner des zaristischen Staatswesens und wurde nach der Oktoberrevolution ein überzeugter Feind des Sowjetsystems. Als Anführer einer »Gesellschaft zur Verteidigung des Mutterlands und der Freiheit« genannten Gruppe organisierte Sawinkow während des russischen Bürgerkriegs mehrere bewaffnete Erhebungen gegen die Bolschewiki; so unter anderem in Jaroslawl, Rybinsk und Murom. Diese Aufstände konnten jedoch von der Roten Armee und Einheiten der Tscheka niedergeschlagen werden. 1924 wurde er verhaftet und stürzte aus einem Fenster im fünften Stock seines Gefängnisses in den Tod. Ob es Suizid oder Mord war, ist ungeklärt.

[120] »Tovarishtch« bedeutet so viel wie Genoss*in, Freund*in Kolleg*in, usw. (Anm. d. Übers.)

[121] Nikolai Wassiljewitsch Tschaikowski (1850-1926) war ein russischer Sozialrevolutionär. Während der Oktoberrevolution war er ein erbitterter Gegner der Bolschewiki. Er war Mitglied des »Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Regierung«. 1919 stand er der »Regierung Nordrussland« in Archangelsk vor.

[122] Leonid Nikolajewitsch Andrejew (1871-1919) war ein russischer Schriftsteller.

[123] Der Tschaikowski-Zirkel war eine russische literarische Gesellschaft für Selbstbildung, Volksbildung und Propaganda und war eine revolutionäre Organisation der Narodniki in den frühen 1870er Jahren. Er ist nach einem seiner Gründer und prominentem Mitglied Nikolai Wassiljewitsch Tschaikowski benannt. Ebenfalls Mitglied des Tschaikowski-Kreises war Kropotkin, ebenso Menschen, die sich später auch der radikaleren Narodnaja Wolja anschlossen, die 1881 die Ermordung von Zar Alexander II. organisierte.

[124] Ca. 80 km. (Anm. d. Übers.)

[125] David Borissowitsch Rjasanow (1870-1938) nahm an der Oktoberrevolution teil und bezeichnete sich selbst als »weder Bolschewik noch Menschewik noch Leninist, sondern nur ein Marxist, und dahingehend ein Kommunist«. Er war Begründer des Moskauer Marx-Engels-Instituts und wurde in den 20er und 30er Jahren als erster Herausgeber vieler zuvor ungedruckter Werke von Karl Marx und Friedrich Engels bekannt. 1931 wurde er von seinen stalinistischen Gegner*innen verhaftet und nach Saratow verbannt. 1937 wurde er wegen »Rechts-Trotzkismus« erneut verhaftet und Anfang 1938 erschossen.

[126] Alexander Gawrilowitsch Schljapnikow (1885-1937) war ein russischer Gewerkschafter und Politiker. Er war Metallarbeiter und Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Nach der Oktoberrevolution wurde er Mininster für Arbeit in der ersten Sowjetregierung und wichtigster Führer der Arbeiter*innenopposition. 1933 wurde er aus der KPdSU ausgeschlossen und 1935 wegen angeblicher Fortführung dieser oppositionellen Gruppe zu fünf Jahren Haft verurteilt. 1937 wurde er während des Großen Terrors zum Tode verurteilt und erschossen.

[127] Alexandra Petrowna »Sascha« Kropotkin (1887-1966) war die Tochter von Peter Kropotkin.

[128] Als Anarchist*in könnte mensch allerdings auch zu dem Schluss kommen, dass es immer sinnlos ist, an eine Regierung zu appellieren, anstatt die eigenen Belange und Anliegen selbst in die Hand zu nehmen (Anm. d. Übers.)

[129] Ca. 7,5 km (Anm. d. Übers.)

[130] Eine gruselige Vorstellung … (Anm. d. Übers.)

[131] Michail Iwanowitsch Kalinin (1875-1946) war ein sowjetischer Politiker. Er war von März 1919 bis Dezember 1922 formelles Staatsoberhaupt Sowjetrusslands und von 1923 bis 1946 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und damit formelles Staatsoberhaupt der Sowjetunion. Er widersetzte sich nicht den großen Terrorwellen in den 1930er Jahren. Er unterzeichnete Exekutionslisten und konnte nicht einmal seine Frau davor bewahren, 1938 verhaftet und bis 1944 interniert zu werden. Er hatte keine eigene Macht und wurde 1946 auf eigenes Ersuchen von seinen Amtspflichten entbunden. Er starb kurze Zeit später.

[132] Politische Büros

[133] Bewaffnete Einheiten der Bolschewiki zum Zwecke der Unterdrückung des Güterverkehrs und der Konfiszierung von Lebensmitteln.

[134] Kadett*innen. (Anm. d. Übers.)

[135] Individuell, kleiner Umfang

[136] General Alexander Nikolajewitsch Koslowski (1864-1940) war Generalmajor der kaiserlich-russischen Armee und später General der Roten Armee und zum Zeitpunkt des Kronstädter Aufstands Artilleriechef der Kronstädter Festung.

[137] Die Sieger*innenmächte im Ersten Weltkrieg Frankreich, Vereinigtes Königreich, USA und Italien.

[138] Pawel Jefimowitsch Dybenko (1889-1938) war ein russischer Revolutionär, sowjetischer Marineoffizier und Mitglied der ersten Sowjetregierung im Rat der Volkskommissare. Dybenko war mit Alexandra Kollontai verheiratet. 1938 wurde er als Trotzkist erschossen.

[139] Louis Adolphe Thiers (1797-1877) war ein französischer Politiker und Historiker. Er war von 1871 bis 1873 der erste Staatspräsident der Dritten Republik. Er befehligte die Niederschlagung der Pariser Kommune.

[140] Gaston Alexandre Auguste, Marquis de Galliffet (1830-1909) war ein französischer General, der die Brigade der Armee von Versailles während der Niederschlagung des Aufstands der Pariser Kommune befehligte.

[141] Die Neue Ökonomische Politik (Abk. NEP) war ein wirtschaftspolitisches Konzept in der Sowjetunion, das Lenin und Trotzki 1921 gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Partei durchsetzten. Ihr Hauptmerkmal war eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie, die der Wirtschaft teilweise auch marktwirtschaftliche Methoden zugestand. Sie löste die Wirtschaftspolitik des Kriegskommunismus ab, in der nur »Werktätige« Anspruch auf Lebensmittel-Zuteilung hatten, die Produktion nach dem Bedarf diktiert und die Lebensmittelproduktion der Bäuer*innen beschlagnahmt wurde. Die NEP legalisierte die gewinnorientierte Produktion, das Privateigentum in der Konsumgüter-Produktion und den Erwerb von Reichtum und band außerdem die Bäuer*innen durch eine »Naturalsteuer« in das ökonomische System ein. Die NEP blieb bis 1928 reale Politik und führte zu einer Verbesserung der Versorgung und zu relativen gesellschaftlichen Freiheiten.

[142] »Golos Truda« war eine russische anarchosyndikalistische Zeitschrift. In Sankt Petersburg fügte sich die Zeitschrift nach der Februarrevolution in die entstehende anarchosyndikalistische Bewegung ein, verkündete die Notwendigkeit einer sozialen Revolution von und für die Arbeiter*innen und positionierte sich in Opposition zu der Vielzahl von linksradikalen Bewegungen. Im März 1921 sagte Lenin den »kleinbürgerlichen Elementen«, darunter den Anarchosyndikalist*innen, den Kampf an. Dies hatte zur Folge, dass die Verlags- und Druckräumlichkeiten der »Golos Truda« in Sankt Petersburg und ein Buchladen in Moskau von der Tscheka geschlossen wurden und mit Ausnahme von sechs Personen alle Anarchist*innen der »Golos Truda«-Gruppe festgenommen wurden. Trotz des Verbots der Zeitschrift setzte die »Golos Truda«-Gruppe ihre Arbeit fort und publizierte schließlich eine letzte Ausgabe in Form eines Magazins in Sankt Petersburg und Moskau im Dezember 1929. Nach einigen Jahren zurückhaltender Publikationsaktivitäten wurde das Golos Truda-Kollektiv schließlich 1929 vom stalinistischen Regime ausgelöscht.

[143] Grigorij Petrowitsch Maximoff (1893-1950) war ein russischer Anarchosyndikalist und Teil der ukrainischen anarchosyndikalistischen Organisation »Nabat«. In dieser Funktion war er auch in der Redaktion der anarchosyndikalistischen Zeitschrift »Golos Truda« tätig. Zwischen 1918 und 1921 wurde er insgesamt sechs mal verhaftet und eingesperrt.

[144] Samara ist eine Industriestadt im Südosten des europäischen Teils Russlands, am Ostufer der Wolga gelegen. Die Entfernung nach Moskau beträgt ca. 860 Kilometer.

[145] Die Rote Garde war die bewaffnete Arbeiter*innenmiliz der russischen Bolschewiki zur Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution. Sie wurde Ende März 1917 gegründet und ging im ersten Halbjahr 1918 in der neu gegründeten Roten Armee auf.

[146] und, das vergaß Emma Goldman wohl zu erwähnen, Frauen (Anm. d. Übers.)

[147] Es mag auch heute noch solche Typen geben, von denen eine ganze anarchistische Bewegung sagt, dass sie ihren Zielen nur schaden würden. Typen, die sich weigern mit Regierungen zu arbeiten, Typen, die sich weigern politische Bündnisse zu schmieden, Typen, die sich weigern, einem Ideal zu dienen, Typen, die die bestehende Welt brennen sehen wollen, ohne dabei eine neue (autoritäre) Vorstellung zu entwickeln, wie die Dinge danach laufen sollten (Anm. d. Übers.).

[148] Was auch immer eine angemessene Behandlung im Knast sein soll! (Anm. d. Übers.)

[149] Am 25.11.1920 wurden bei einer Konferenz zahlreiche Anarchist*innen verhaftet, unter ihnen auch Fanja Baron. Ab dem Frühjahr 1921 war sie im Gefängnis von Rjasan. Sie entkam von dort mithilfe der Anarchist*innen im Untergrund - einem geheimen anarchistischen Netzwerk - am 10. Juli 1921, mit neun anderen Anarchist*innen. Sie wollte ihrem Ehemann Aron Baron helfen, aus dem Gefängnis in Moskau zu fliehen und suchte Zuflucht bei dessen Bruder, Semion, einem Mitglied der bolschewistischen Partei. Am 17. August wurde sie in seiner Wohnung von der Tscheka verhaftet. Semion wurde auf der Stelle hingerichtet. Fanya wurde am 29. September 1921 auf direkten Befehl von Lenin von der Tscheka erschossen, nachdem man sie der »Komplizenschaft antisowjetischer Verbrechen« für schuldig befunden hatte. Aron Baron hingegen wurde nach 18 Jahren Gefängnis und Exil 1938 überraschend freigelassen. Nachdem er sich allerdings in Charkiw niedergelassen hatte, wurde er erneut festgenommen, woraufhin mensch nie wieder etwas von ihm hörte.

[150] Jewgeni Alexejewitsch Preobraschenski (1886-1937) war ein sowjetischer Revolutionär und Politiker. Von 1920 bis 1921 war er Sekretär des Zentralkomitees und Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei. Zudem war er Chef des Volkskommissariats für Erziehung. 1936 wurde er im Zuge des Großen Terrors (erneut) aus der Partei ausgeschlossen und schließlich verhaftet. 1937 wurde er zum Tode verurteilt und erschossen.

[151] Pawel Dmitrijewitsch Turtschaninow (1878-1921), bekannt unter dem Pseudonym Lew Tschorny, war ein russischer Anarchist und Dichter. Er war beeinflusst von Max Stirner und Benjamin Tucker und verlangte nach der totalen Befreiung der Persönlichkeit von den Fesseln der Gesellschaft. Er forderte die Nietzscheanische Umwertung aller Werte in der russischen Gesellschaft und sah die anarchokommunistischen Ideen Peter Kropotkins als Gefahr für die Freiheit des Individuums und lehnte sie ab. Wegen seiner revolutionären Aktivitäten wurde er vom zaristischen Regime nach Sibirien verbannt. Nach dem Ausbruch der Februarrevolution 1917 kehrte er wieder nach Moskau zurück und wurde Sekretär der neu gegründeten »Moskauer Föderation anarchistischer Gruppen«, die im März des gleichen Jahres gegründet wurde. Obwohl er Bekanntschaften mit führenden Bolschewiki unterhielt, kritisierte er auf einer Kundgebung am 5. März 1918 die sich bildende Sowjetunion heftig und erklärte, dass die Anarchisten genau so Gegner des sozialistischen Staates sind, wie des vorherigen bürgerlichen Staates. Im Wochenblatt »Anarchija« forderte er eine dezentrale Produktionsweise und das Aufbrechen der internen Machtstrukturen. Als die Bolschewiki damit begannen, systematisch Andersdenkende mit repressiven Methoden zum Schweigen zu bringen, bildeten sich im Frühjahr 1918 innerhalb der »Moskauer Föderation anarchistischer Gruppen« bewaffnete Gruppen, die sogenannte »Schwarze Garde«, und Lew Tschorny wurde zum Kopf dieser neugebildeten Arbeitereinheiten. In der Nacht des 11. April stürmten Einheiten der Tscheka ein Gebäude der »Moskauer Föderation« und trafen auf bewaffneten Widerstand der »Schwarzen Garde«. Im darauffolgenden Kampf wurden 40 Anarchist*innen getötet oder verwundet und 500 festgenommen. Tschorny schloss sich daraufhin der Gruppe »Anarchist*innen im Untergrund« an und veröffentlichte zwei Schriften, in denen er die Diktatur der Bolschewiki als grausamste Tyrannei der Menschheitsgeschichte bezeichnete. Am 25. September 1919 verübten die »Anarchist*innen im Untergrund« einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier des Moskauer Komitees der Kommunistischen Partei Russlands, bei dem 12 Kommunist*innen getötet und 55 verletzt wurden, darunter auch Nikolai Bucharin. Obwohl Lew Tschorny nicht an der Tat beteiligt war, wurde er festgenommen und im September 1921 ohne Prozess erschossen.

[152] Lew Tschorny mag das möglicherweise anders gesehen haben. Als Mitglied der »Schwarzen Garden« und später der »Anarchist*innen im Untergrund« führte er einen bewaffneten Kampf gegen die Bolschewiki und rief in mehreren Schriften auch dazu auf. Ob Emma Goldman das bewusst verschweigt oder nicht wusste ist uns unklar, aber wir nehmen an, dass Lew Tschorny eine solche Verharmlosung seiner Taten nicht gutgeheißen hätte (Anm. d. Übers.)

[153] Clare Sheridon (1885-1970) war eine englische Bildhauerin, Journalistin und Autorin, die insbesondere für ihre Büsten berühmter Persönlichkeiten und ihre Reisetagebücher bekannt ist. In den 1920 Jahren besuchte sie die Sowjetunion, wo sie Skulpturen von den führenden Kommunisten Lenin, Trotzki, Dserchinski (Organisator und erster Leiter der Tscheka) und Kamenew (Leiter des Exekutivkomitees des Moskauer Sowjets) schuf.

[154] Als Potemkinsche Dörfer werden Vorgetäuschtes bzw. die »Vorspiegelung falscher Tatsachen« bezeichnet: Durch materiellen und/oder organisatorischen Aufwand (»Attrappen«, Schauspieler*innen usw.) wird die Illusion von vorweisbaren Erfolgen, Wohlstand usw. geschaffen.

[155] Solomon Abramowitsch Losowski (1878-1952) war ein sowjetischer Staats- und Gewerkschaftsfunktionär. Von 1921 bis 1937 war Losowksi Generalsekretär der Roten Gewerkschafts-Internationale. Als nach der Gründung Israels 1948 eine antisemitische Verfolgungswelle in der UdSSR gegen sogenannte »wurzellose Kosmopoliten« einsetzte, erfolgte die politische Demontage Losowskis, der zwischen 1941 und 1948 Sekretär des Jüdischen Antifaschistischen Komitees gewesen war. Er wurde im Januar 1949 verhaftet und im Juli 1952 unter dem Vorwurf der Spionage zum Tode durch Erschießen verurteilt. 1955 erfolgte Losowskis postume Rehabilitierung.

[156] Bucharan, Turkestan und (Nord-)Aserbaidschan waren zu diesem Zeitpunkt alle unter sowjetischer Kontrolle.

[157] Der zweite Weltkongress der Dritten Internationale beschloss 1920 Lenins 21 »Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale«, die verhindern sollten, dass (vermeintlich) reformistische, nicht-revolutionäre kommunistische Organisationen, die teilweise Teil der Zweiten Internationale gewesen waren, Teil der Dritten Internationale werden konnten.

[158] 1917 wurden in Chicago 166 hohe Funktionär*innen der Industrial Workers of the World – einer damals in den USA aktiven und zu der Zeit sehr erfolgreichen militanten Basisgewerkschaft – verhaftet und eingesperrt. Ihnen wurde das Verbreiten von Anti-Kriegs-Propaganda und Spionage vorgeworfen. Auch in anderen Städten wurden Anführer*innen der I.W.W. verhaftet. Die Repressionswelle war einschneidend für die I.W.W. und ihre Anführer*innen. Während viele sich hauptsächlich nur noch darauf konzentrierten, legalistische Antipressionsarbeit zu leisten, distanzierte sich beispielsweise die verhaftete Gurley Flynn von ihren Positionen. Einige andere wurden gegen Kaution, die durch das Aufnehmen von Schulden von anderen gestellt worden war, freigelassen und nutzten die Gelegenheit, um nach Russland zu fliehen. Die meisten anderen vertrauten auf ihre Anwält*innen, die Einspruch eingelegt hatten, wurden jedoch trotzdem zu langen Haftstrafen verurteilt, die sie freiwillig antraten. Die meisten derer, die freiwillig ihre Haftstrafe in der Haftanstalt Leavenworth in Kansas antraten, betrachteten die Geflohenen als Verräter*innen an der I.W.W. und der Arbeiter*innenklasse.

[159] Vigilant*innen sind Personen, die Justiz schon eine geile Sache finden, wenn jedoch die Rechtsprechung nicht in ihrem Sinne ist, auch der Ansicht sind, dass sie auf nicht-staatliche Art und Weise Justiz üben wollen, z. B. in der Form von Lynchmobs, Nachbarschaftswachen und Bürger*innenwehren. Vigilantismus hat gerade in den USA eine lange Geschichte und richtete sich zumeist gegen Angehörige marginalisierter Minderheiten sowie Gewerkschafter*innen und Radikale.

[160] Der Ku-Klux-Klan war und ist ein rassistischer Geheimbund, der sich in den 1920er Jahren unter vielen anderen auch mit vigilantistischen Methoden gegen politisch engagierte Arbeiter*innen und Gewerkschaftsfunktionär*innen wandte.

[161] Zu dt. etwa: Die Extreme berühren sich (Anm. d. Übers.).

[162] Tom Mann (1856-1941) war ein britischer Gewerkschafter und sozialistischer Politiker und einer der bekanntesten und populärsten Vertreter der Arbeiterbewegung. 1920 gründete er unter dem Eindruck der russischen Revolution die Kommunistische Partei Großbritanniens und wurde Vorsitzender der britischen Sektion der Roten Gewerkschafts-Internationale.

[163] Einer christlichen Volkssage zufolge habe ein Jerusalemer Schuster namens Ahasverus dem sein Kreuz tragenden Jesus eine Ruhepause auf seiner Türschwelle verwehrt, weshalb er dazu verflucht sei, nicht eher zur Ruhe zu kommen, bis der Gekreuzigte am Ende der Tage wiederkomme. Seither befinde er sich auf ruheloser Wanderschaft durch die Zeiten, um Zeugnis für Jesus abzulegen.

[164] Alexander Schapiro (1890-1942), auch bekannt unter den Namen Alexander Tanaroff, Sascha Piotr und Sergei, war ein ukrainischer Anarchist jüdischer Abstammung und ein Publizist. 1905 war er bereits als Jugendlicher an revolutionären Umtrieben in Russland beteiligt. Nach der russischen Revolution schloss er sich der Machnowtschina an. 1921 floh er aus der Sowjetunion und lebte teilweise in Berlin und Paris. 1936 nahm er am spanischen Bürger*innenkrieg teil. Nach der Niederlage gegen die Faschist*innen kehrte er nach Frankreich zurück und wurde kurz nach der Besetzung Frankreichs verhaftet, an die deutschen Nazis ausgeliefert und wurde 1942 ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht, wo er als eines der ersten Opfer ermordet wurde.

[165] Proletkult bezeichnet eine kulturrevolutionäre Bewegung der russischen Oktoberrevolution. Vom damaligen Petrograd ausgehend versuchte sie zwischen 1917 und 1925 eine Kultur der neuen herrschenden proletarischen Klasse ohne jeden bourgeoisen Einfluss zu erschaffen.

[166] Die Imagist*innen waren Anhänger*inen einer literarischen Bewegung, die gerade in der Lyrik die Tradition der romantischen und vikotrianischen Literatur hinter sich ließen, deren Gewfühlsüberschwang und Künstlichkeit sie ablehnten. Stattdessen setzten sie auf die Einbeziehung von Umgangssprache, auf eine präzise Bildersprache und klaren, scharfen Ausdruck. Den Regeln von Rhetorik und Metrik sollte keine Bedeutung mehr zugestanden werden. Ein freier Rhythmus bis hin zur Prosa fand immer mehr Zuspruch. Sie sprachen sich aus für eine Rückkehr zu in ihren Augen klassischen Werten wie der direkten Darstellung, der Ökonomie der Sprache und der Bereitschaft, auch mit nicht-traditionellen Formen zu experimentieren.

[167] Der Futurismus war eine avantgardistische Kunstbewegung, die aufgrund des breit gefächerten Spektrums den Anspruch erhob, eine neue Kultur zu begründen. Grundlage des Futurismus war das »Futuristische Manifest« von Filippo Marinetti, ein Manifest, das einen radikalen Bruch mit der bisher bestehenden Kunst und Wissenschaft und ihren Institutionen wie Bibliotheken und Akademien forderte, Gewalt, Patriotismus und Krieg verherrlichte, Frauen und Feminismus verachtete, die Schönheit der Technik und der neuen Geschwindigkeit sowie die Schönheit der modernen Stadt besang. Ebenso besang es die Wut, die Leidenschaft und die Revolution. In Russland war der Futurismus insbesondere eine literarische Bewegung, in anderen Ländern war der Futurismus in allen künstlerischen Bereichen, bildende Kunst, Architektur, Musik und Film, zu finden.

[168] Die Montessoripädagogik ist ein von Maria Montessori ab 1907 entwickeltes pädagogisches Bildungskonzept, das die Zeitspanne vom Kleinkind bis zum jungen Erwachsenen adeckt. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als »Baumeister*in seines Selbst« und verwendet deshalb die Form des offenen Unterrichts und der Freiarbeit. Sie kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den*die Lehrende*n dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess optimal zu fördern. Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung »Hilf mir, es selbst zu tun«.

[169] John Dewey (1859-1952) war ein US-amerikanischer Philosoph und Pädagoge. Gesellschaftspolitisch setzte sich Dewey für die Dem okratisierung sämtlicher Lebensbereiche ein. Dabei sieht er in »Demokratie« die grundsätzliche Anerkennung sozialer Egalität, sprich des Zusammenhangs zwischen individueller Freiheit und den sozial-ethischen Vorbedingungen ebendieser Freiheit. Dies möchte er auch in der Bildung umsetzen mit dem Hauptziel, das Kind zu einem mündigen Bürger hinzuführen und in der weiteren Konsequenz die Arbeitswelt, die sich nach Dewey auch auf die Schule auswirkt, zu humanisieren. Dewey stellt hierbei auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten vor, der profitorientierten Entfremdung durch eine sinnerfüllte und selbstbestimmte Arbeit entgegenzutreten. In seiner Versuchsschule äußerte sich dieses Verständnis in einer intelligenten Selbstführung der Schüler als auch der Lehrenden. Dewey war der Meinung, dass der eigene Willen zum Lernen vorhanden sei und lediglich gefördert werden müsse.

[170] Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950) war ein Schweizer Komponist und Musikpädagoge und gilt als Begründer der rhythmisch-musikalischen Erziehung.

[171] Alexander Alesaxandrowitsch Blok (1880-1921) war ein Dichter der russischen Moderne. Er begrüßte enthusiastisch die Revolution von 1905, was sich auf sein literarisches Schaffen auswirkte, das deutlich politischer wurde. 1918 verfasste er unter dem Eindruck der Russischen Revolution das Gedicht »Zwölf«, das als sein Meisterwerk git. 1921 starb er, desillusioniert von der Revolution, vermutlich an Unterernährung. Zu dem Zeitpunkt hatte er bereits seit drei Jahren nichts mehr geschrieben.

[172] Anna Iljinitschna Jelisarowa-Uljanowa (1864-1935) war eine russische Publizistin und die älteste Schwester von Wladimir Lenin. Seit 1898 war sie Mitglied der Kommunistischen Partei (damals noch die Sozialdemokratische Arbeiter*innenpartei Russlands) und nahm an der gescheiterten Revolution von 1905 aktiv teil. Nach der Revolution übte sie verantwortliche Funktionen im Volkskommissariat für Sozialwesen und im Volkskommissariat für Bildungswesen aus.

[173] Marija Fjodorowna Andrejewa (1868-1953) war eine russische Theaterschauspielerin. Andrejewa führte nach der Jahrhundertwende eine informelle Ehe mit Maxim Gorki. Sie stand in Kontakt mit Lenin und war 1905 Herausgeberin der bolschewistischen Zeitung »Nowaja Schisn«. Nach der Oktoberrevolution hatte sie hohe Ämter im Kulturbereich inne; so wurde sie zur Kommissarin für das gesamte russische Theaterwesen und Ministerin für das ganze Theater- und Kunstwesen ernannt.

[174] Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863-1938) war ein russischer Schauspieler, Schauspiellehrer, Regisseur, Theaterreformer und Vertreter des Naturalismus. Er gründete mit Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko das »Moskauer Künstlertheater« (MChAT). Auf Tourneen im Ausland erfolgreich, aber in der Sowjetunion nur mit Vorbehalten anerkannt, führte Stanislawski ein zurückgezogenes Leben und vermied die Konfrontation mit den Machthabern.

[175] Die »Union der Sozialistisch-Revolutionären Maximalist*innen« war eine Partei, ein radikaler Flügel, der 1906 aus der Sozialrevolutionären Partei ausgeschlossen wurde. Sie forderten die volle Einbindung des »Maximum-Programms« in der erwarteten Revolution: volle Sozialisierung der Ländereien, Fabriken und anderer Produktionsmittel.

[176] Die Konstitutionell-demokratische Partei, auch Kadetten, war eine Anfang des 20. Jahrhunderts in der russischen Duma aktive Gruppierung. Politisch stand sie liberalen Gedanken nahe. Nach der Februarrevolution 1917 stellten die Kadetten mit Fürst Lwow den ersten demokratisch legitimierten Ministerpräsidenten Russlands. Nach der Oktoberrevolution wurden die Kadetten von den Bolschewiki zur »Partei der Volksfeinde« erklärt.

[177] Jekaterina Dmitrijewna Kuskowa (1869-1958) war eine russische Publizistin, gemäßigte Marxistin und Freimaurerin. Nach der erfolgreichen Februarrevolution 1917 unterstützte Kuskowa das neue Regierungssystem und pflegte den Kontakt zu Alexander Fjodorowitsch Kerenski und anderen Führer*innen bis zum Ende der Provisorischen Regierung, zu der auch die Freimaurer Prokopowitsch und Pjotr Ioakimowitsch Paltschinski gehörten. Im Juli 1921 gründeten in Moskau Kuskowa, Prokopowitsch und Kischkin zur Linderung der Hungersnot das Allrussische Komitee für Hungerhilfe (WK Pomgol, WKPG). Aufgrund von Gerüchten im August 1921 über antisowjetische Reden im WKPG wies Lenin Stalin an, das WKPG aufzulösen und die Führer zu verhaften. Im September 1921 wurden Kuskowa, Prokopowitsch und Kischkin auf Beschluss der Tscheka nach Wologda verbannt. Als Kuskowa und Prokopowitsch im folgenden Jahr nach Moskau zurückkamen, wurden sie im Juni 1922 ins Ausland verbannt.

[178] Ehemann von Jekaterina Kuskowa, ebenfalls gemäßigter Marxist und Freimaurer.

[179] Patriarch Tichon (1865-1925) war der erste Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche nach dem Untergang des Zarenreichs.

[180] Zu deutsch etwa: Verwaltung des amerikanischen Hilfswerks. Eine Regierungsunternehmung der Vereinigten Staaten, die nach dem ersten Weltkrieg die Lebensmittelversorgung und den Aufbau der inneren Transportsysteme in Europa und später in Sowjetrussland unterstützte.

[181] Emma Goldman spricht hier mit ziemlicher Sicherheit von Pjotr Andrejewitsch Arschinow (1887-1938). Arschinow war zunächst Bolschewik, ehe er sich 1906 den Ideen des Anarchokommunismus annäherte. 1907 wurde er zum Tode verurteilt, nachdem er den Leiter einer Eisenbahnwerkstatt erschossen hatte, der hunderte von Arbeiter*innen wegen der Beteiligung an einem Streik denunziert hatte. Im gleichen Jahr gelang es einer Gruppe seiner Genoss*innen das Gefängnis zu besetzen und alle Insass*innen zu befreien. 1909 wurde er erneut verhaftet und kam ind das Butyrka-Gefängnis in Moskau. Dort lernte er 1910 Nestor Machno kennen. Er teilte mit ihm seine anarchokommunistischen Ideen und die beiden freundeten sich an. 1917 wurden beide im Zuge der Februar-Revolution befreit. Machno ging in die Ukraine, während Arschinow in Moskau blieb und dort in der Föderation anarchistischer Gruppen tätig wurde. 1918 überzeugte ihn Machno, in die Ukraine zu kommen. Dort gehörte er bald zum inneren Führungskreis der Machnowtschina. Er gab in der Zeit verschiedene Zeitschriften heraus, sammelte Dokumente über die Bewegung und schrieb erste Anfänge einer Geschichte über die Machnowtschina, die immer wieder durch Überfälle verloren gingen, bis 1921 die Bewegung von den Bolschewiki zerschlagen wurde. Zunächst floh er nach Berlin und gab von dort aus die Geschichte der Machnowtschina heraus. Von 1925 an lebte er in Paris, wo er auch Machno wieder traf. Er entfernte sich von tradierten anarchistischen Ansichten und setzte sich für die Gründung einer anarchistischen Partei ein. Er war einer der Autoren des breit rezipierten Texts »Die Organisationsplattform der allgemeinen anarchistischen Union« von 1926, der die Strömung des Plattformismus – eine bolschewisierte, direktdemokratrische, auf Selbstdisziplin basierende, angeblich anarchistische Organisationsform – schuf und ihm scharfe Kritik einbrachte. Nach Veröffentlichung zweier antianarchistischer Publikationen, die zum öffentlichen Bruch mit seinem Weggefährten Nestor Machno führten, kehrte er 1934 in die UdSSR zurück. Anfang 1938 wurde er während des stalinistischen Großen Terrors verhaftet. Ihm wurde die Bildung und Leitung einer anarchistischen Untergrundorganisation vorgeworfen, daraufhin wurde er zum Tode verurteilt und erschossen.

[182] Karelien ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa, aufgeteilt zwischen Russland und Finnland. Nach der Oktoberrevolution und der finnischen Unabhängigkeitserklärung 1917 – vorher gehörte Finnland zum russischen Zarenreich – war Karelien Schauplatz blutiger Kämpfe des Finnischen Bürgerkriegs. Zudem kämpften finnische Truppen gegen das bolschewistische Russland. Im Olonez-Feldzug versuchte Finnland vergebens, auch Teile Ostkareliens seinem Staatsgebiet hinzuzufügen. 1920 erkannte Russland die Unabhängigkeit Finnlands in den Grenzen des ehemaligen Großfürstentums an. Aus dem Russischen Karelien wurde 1923 die Karelische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.

[183] Mark Mratschni war ein tatkräftiges Mitglied der anarchistischen Student*innenbewegung in Charkiw. Er schloss sich der Nabat kurz nach deren Gründung an und wurde beauftragt eine klandestine Druckerei in Sibirien einzurichten, was ihm auch gelang. Er wurde 1921 in Charkiw bei einer anarchistischen Konferenz verhaftet und nach Taganka gebracht. Dort trat er gemeinsam mit anderen anarchistischen Gefangenen in einen elftägigen Hungerstreik. Im Januar 1922 wurde er mit anderen Anarchist*innen nach Berlin abgeschoben. Gemeinsam mit den anderen abgeschobenen Anarchist*innen, Emma Goldman und Alexander Berkman organisierte Mratschni Hilfsorganisationen für gefangene russische Anarchist*innen oder Revolutionär*innen.

[184] Pawlo Skoropadskyj (1873-1945) war kaiserlich-russischer General, Großgrundbesitzer und ukrainischer Politiker. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war er als vom Deutschen Kaiserreich gestützter Hetman (Hauptmann) das Staatsoberhaupt des Ukrainischen Staates.

[185] Die Raswjorstka bzw. Prodraswjorstka bezeichnet die Konfiszierung von Getreide und anderen Erzeugnissen der Bäuer*innen, eine Praktik, die die Bolschewiki in der Zeit des Russischen Bürger*innenkriegs durchführten. Dabei mussten die Bäuer*innen ihre Ernte zu vom Staat festgelegten Preisen verkaufen und durften nur einen geringen Teil, manchmal sogar keinen für sich behalten. Dabei wurde sogar das Saatgut für die nächste Ernte beschlagnahmt, was mit Auslöser für die Hungersnot von 1921 und 1922 war.

[186] Ca. 107 km. (Anm. d. Übers.)

[187] Felix Edmundowitsch Dserschinski (1877-1926) war ein polnisch-russischer »Berufsrevolutionär«. Nach dem Sieg der Bolschewiki Ende 1917 schuf Dserschinski auf Veranlassung Lenins die Geheimpolizei Tscheka, deren Leiter er bis zu seinem Tod blieb. Am 5. September 1918 erhielt er nach dem fehlgeschlagenen Attentat Fanny Kaplans auf Lenin von diesem die Order, mit dem Roten Terror zu beginnen. Bis zu seinem Tode hatte Dserschinski verschiedene hohe Funktionen. Er blieb Chef der Tscheka, die nunmehr GPU genannt wurde, war bis 1921 Volkskommissar (Minister) für Innere Angelegenheiten, dann bis 1923 Verkehrsminister. Als Vorsitzender des Obersten Wirtschaftssowjets leitete er seit 1924 den Aufbau vieler Wirtschaftsregionen der Sowjetunion. Dserschinski starb 1926 unmittelbar nach einer von ihm gehaltenen Rede vor dem Zentralkomitee an einem Herzinfarkt.

[188] Moissei Solomonowitsch Urizki (1873-1918) war ein russischer Revolutionär und Politiker. Er schloss sich wenige Monate vor der Oktoberrevolution den Bolschewiki an. Im Juli 1917 wurde Irizki in das Zentralkomitee der Bolschewiki gewählt. Während der Oktoberrevolution spielte er dann eine wichtige Rolle bei der Machtübernahme durch die Bolschewiki. Später wurde er zum Leiter der Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiki, in Petrograd ernannt. Am 30. August 1918 wurde Urizki von Leonid Kannegiesser, einem jungen Kadetten, der sich für die Hinrichtung einiger Freunde und anderer Offiziere durch die Tscheka rächen wollte, in Petrograd erschossen.