Titel: Frauenwahlrecht
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: 1911
Bemerkungen: Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S.166-179. (Mother Earth Publication | 2 nd Ed. 1911)

Wir brüsten uns damit, in einem Zeitalter der Verbesserungen, der Wissenschaft und des Fortschritts zu leben. Wie kommt es dann, dass wir noch immer Fetische verehren? Sicher haben sich unsere Fetische in Form und Charakter verändert, aber ihre Macht über den menschlichen Geist ist auch heute noch so verheerend wie eh und je.

Unser moderner Fetisch ist das allgemeine Wahlrecht. Wo es noch nicht durchgesetzt wurde, werden blutige Revolutionen dafür ausgefochten, und wo es durchgesetzt werden konnte, bringen die Menschen dieser allmächtigen Gottheit große Opfer an den Altar. Und wehe den KetzerInnen, die diese Gottheit in Frage stellen!

Frauen verehren Fetische noch viel mehr als Männer, und auch wenn ihre Idole vielleicht wechseln, bleiben sie stets auf den Knien, die Hände erhoben und die Augen verschlossen vor der Tatsache, dass ihre Gottheit nicht ohne Makel ist. So ist die Frau seit Urzeiten die größte Unterstützerin aller Gottheiten. Und so hat sie auch den Preis zahlen müssen, den nur Gottheiten einfordern können – ihre Freiheit, ihr Herzblut, ihr Leben.

Nietzsches denkwürdige Maxime »Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht« wird gemeinhin als äußerst brutal interpretiert, dabei drückte Nietzsche damit in einem Satz die Einstellung der Frau zu ihren Gottheiten aus.

Die Religion, insbesondere die christliche, hat die Frau zu einem Leben in Unterdrückung und Sklaverei verdammt. Ihre Natur wurde entstellt, ihre Seele gefesselt, und dennoch gibt es keine eifrigere, ergebenere Unterstützerin der christlichen Religion als die Frau. Tatsächlich lässt sich sicher sagen, dass Religion im Leben der Menschen schon längst keine Rolle mehr spielen würde, wenn sie nicht auf die Unterstützung der Frau zählen könnte. Die leidenschaftlichsten Mitarbeiterinnen der Kirche, die unermüdlichsten Missionarinnen der ganzen Welt sind Frauen, die sich stets am Alter jener Gottheiten opfern, die ihren Geist in Ketten gelegt und ihren Körper versklavt haben.

Der Krieg, dieses unersättliche Monster, beraubt die Frau aller, die ihr lieb und teuer sind. Er nimmt ihre Brüder, ihre Liebhaber, ihre Söhne, und gibt ihr dafür ein Leben in Einsamkeit und Verzweiflung. Und trotzdem ist die Frau die eifrigste Unterstützerin und Verfechterin des Krieges. Sie ist es, die ihren Kindern mit ihren Erzählungen die Vorliebe für Eroberung und Macht einflößt, die ihnen Geschichten vom glorreichen Krieg ins Ohr flüstert, die ihr Baby mit Trompetenklang und Gewehrsalven in den Schlaf wiegt. Und es ist auch die Frau, die den Sieger bei seiner Heimkehr vom Schlachtfeld krönt. Ja, es ist die Frau, die den höchsten Preis an dieses unersättliche Monster Krieg zahlt.

Und dann ist da das Zuhause. Was für ein schrecklicher Fetisch das ist! Wie es sämtliche Lebensenergie aus der Frau saugt – dieses moderne Gefängnis mit Gitterstäben aus Gold. Sein Glanz macht die Frauen blind für den Preis, den sie als Ehegattin, Mutter und Hausfrau zahlen. Dennoch hängt die Frau hartnäckig an ihrem Zuhause, an der Macht, die sie in ihrer Hörigkeit hält.

Man könnte sagen, dass die Frau im allgemeinen Wahlrecht die Möglichkeit zu ihrer eigenen Befreiung sieht, weil sie den schrecklichen Tribut, den sie an Kirche, Staat und Zuhause zahlen muss, erkennt. Das mag auf einige Wenige zutreffen; die meisten Verfechterinnen des allgemeinen Wahlrechts weisen eine solche Blasphemie strikt zurück. Im Gegenteil, sie bestehen stets darauf, dass das allgemeine Wahlrecht die Frau zu einer besseren Christin und Hausfrau machen wird, zu einer zuverlässigen Staatsbürgerin. Das allgemeine Wahlrecht ist also nur ein Mittel, um die Allmacht genau jener Gottheiten zu stärken, denen die Frau schon seit Menschengedenken dient.

Ist es dann verwunderlich, dass sie sich diesem neuen Idol, dem Frauenwahlrecht, ebenso innig, ebenso eifrig, ebenso ehrerbietig widmet? Wie seit Urzeiten erträgt sie Verfolgung, Haft, Folter und alle Arten der Verurteilung mit einem Lächeln auf den Lippen. Wie seit Urzeiten hoffen selbst die aufgeklärtesten Frauen auf das Wunder einer Gottheit des 20. Jahrhunderts: das allgemeine Wahlrecht. Davon versprechen sie sich Leben, Glück, Freude, Freiheit, Unabhängigkeit – all das und noch mehr. In ihrer blinden Ergebenheit bemerkt die Frau nicht, was intelligente Menschen schon vor 50 Jahren gesehen haben: dass das allgemeine Wahlrecht ein Übel ist, das einzig und allein zur Versklavung der Menschen beigetragen hat; dass es ihre Augen verschlossen hat, damit sie nicht sehen, wie geschickt sie zur Unterwerfung gezwungen wurden.

Die Forderung der Frau nach dem gleichen Stimmrecht beruht größtenteils auf der Ansicht, dass ihr in allen gesellschaftlichen Aspekten gleiche Rechte zustehen. Dem wäre auch nicht zu widersprechen, wenn das Wahlrecht denn tatsächlich ein Recht wäre. Aber ach, wie Ignorant ist doch der menschliche Geist, wenn er in etwas Aufgezwungenem ein Recht erkennt. Oder ist es etwa nicht etwas brutal Aufgezwungenes, wenn ein Teil der Menschen Gesetze macht, die zu befolgen der andere Teil dann gezwungen wird? Und trotzdem schreit die Frau nach dieser ›goldenen Möglichkeit‹, die der Welt so viel Elend gebracht und die Menschen ihrer Integrität und Eigenständigkeit beraubt hat; nach einem Zwang, der sie durch und durch korrumpiert und komplett zur Beute von skrupellosen Politikern gemacht hat.

Die armen, dummen, freien Bürgerinnen der USA! Frei zu hungern, frei, auf den Straßen dieses großen Landes zu wandern, so genießen sie ihr allgemeines Wahlrecht und haben ihren Körper damit selbst in Ketten gelegt. Als Belohnung bekommen sie strenge Arbeitsgesetze, die das Recht auf Boykott, auf Streik, eigentlich auf alles abschaffen, nur nicht das Recht, der Früchte ihrer Arbeit beraubt zu werden. Aus all den desaströsen Folgen dieses Fetischs des 20. Jahrhunderts hat die Frau jedoch nichts gelernt. Aber schließlich wird sie die Politik bereinigen, wird uns versichert.

Es versteht sich von selbst, dass ich nicht gegen das Frauenwahlrecht bin, weil ich generell gleiche Rechte für die Frau einfordere. Ich sehe weder physische noch psychische und auch keine intellektuellen Gründe, warum eine Frau nicht das gleiche Stimmrecht haben sollte wie ein Mann. Aber das kann mich nicht im Geringsten zu der lächerlichen Vorstellung verleiten, dass die Frau nun all das richten wird, worin der Mann versagt hat. Wenn sie auch nichts schlechter machen würde, so könnte sie ganz sicher auch nichts verbessern. Daher spricht man ihr mit der Annahme, sie könne etwas bereinigen, das nicht bereinigt werden kann, übernatürliche Kräfte zu. Und, da das größte Unglück der Frau stets war, entweder als Engel oder als Teufel betrachtet zu werden, besteht ihre eigentliche Rettung darin, ihren wahren Platz auf der Erde zu finden, sprich als Mensch betrachtet zu werden und somit auch menschliche Torheiten und Fehler begehen zu dürfen. Sollen wir also glauben, dass zwei Fehler zusammen etwas Richtiges ergeben? Sollen wir glauben, dass das Gift, von dem die Politik bereits durchsetzt ist, in seiner Wirkung nachlässt, wenn die Frau die politische Arena betritt? Nicht einmal die eifrigsten Verfechterinnen des allgemeinen Wahlrechts können ernsthaft eine solche Torheit behaupten.

Tatsächlich ist den fortschrittlichsten Menschen, die sich mit dem allgemeinen Wahlrecht beschäftigen, inzwischen klar geworden, dass sämtliche existierenden Systeme politischer Macht absurd und absolut ungeeignet sind, um die dringlichen Angelegenheiten des Lebens zu regeln. Diese Ansicht stützt auch eine Äußerung einer glühenden Verfechterin des Frauenwahlrechts, Dr. Helen L. Sumner. In ihrem klugen Werk über Equal Suffrage äußert sie sich folgendermaßen: »In Colorado zeigt das allgemeine Wahlrecht am deutlichsten, wie verrottet und demütigend das vorherrschende System in seinem Wesen ist.« Natürlich denkt Dr. Sumner dabei an ein ganz bestimmtes Wahlsystem, aber Gleiches gilt ebenso für die gesamte Maschinerie des repräsentativen Systems. Auf dieser Grundlage ist es schwer nachzuvollziehen, wie die Frau als politische Kraft selbst einen Nutzen davon haben oder dem Rest der Menschheit von Nutzen sein können soll.

Aber, geehrte Verfechterinnen des allgemeinen Wahlrechts, werfen Sie doch einmal einen Blick auf die Länder und Staaten, in denen das Frauenwahlrecht existiert. Schauen Sie, was die Frau dort erreicht hat – in Australien, Neuseeland, Finnland, den skandinavischen Ländern und in den vier Bundesstaaten der USA: Idaho, Colorado, Wyoming und Utah. Die Entfernung verzerrt die Wahrnehmung – oder um eine polnische Weisheit zu zitieren: »Dort, wo wir nicht sind, ist es gut.« So müsste man meinen, dass diese Länder und Staaten anders sind als andere Länder oder Staaten, dass dort größere Freiheit herrscht, größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Gerechtigkeit, dass das menschliche Leben dort mehr geachtet wird, der große gesellschaftliche Kampf dort besser verstanden wird — mit all den grundlegenden Fragen, die das für die Menschheit einschließt.

In Australien und Neuseeland können Frauen wählen und auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen. Sind die Arbeitsbedingungen dort besser als in England, wo sich die Frauen so heldenhaft für ihr Wahlrecht einsetzen? Ist die Mutterschaft dort großartiger, sind die Kinder glücklicher und freier? Wird die Frau dort nicht mehr als Sexualobjekt angesehen? Hat sie sich von der puritanischen Doppelmoral für Männer und Frauen befreit? Nur die gewöhnlichen grobschlächtigen Politikerinnen werden so unverfroren sein, diese Fragen zu bejahen. Angesichts dessen scheint es lächerlich, Australien und Neuseeland mit dem Mekka der Errungenschaften des allgemeinen Wahlrechts gleichzusetzen.

Andererseits wissen jene, die die wahren politischen Bedingungen Australiens kennen, dass die Politik dort die Arbeiterinnen mit den strengsten Arbeitsgesetzen knebelt und Streiks, die der Billigung eines Schiedsgerichts entbehren, zu einem Verbrechen macht, das dem Verrat gleichgestellt ist.

Damit möchte ich keinesfalls das Frauenwahlrecht für diese Situation verantwortlich machen. Aber ich bin dennoch der Ansicht, dass es keinen Grund gibt, Australien als Paradies der weiblichen Mitbestimmung zu feiern, da auch der Einfluss der Frau die Arbeitswelt nicht aus der Knechtschaft der politischen Bosse hat befreien können.

Finnland hat den Frauen gleiches Stimmrecht eingeräumt und nicht nur das: Frauen dürfen auch im Parlament sitzen. Hat das dazu beigetragen, dass sich dort ein größeres Heldentum entwickelt hat, ein intensiverer Eifer als bei den Frauen in Russland? Finnland leidet wie Russland unter der schrecklichen Peitsche des verfluchten Zaren. Wo sind die finnischen Perovskayas, Spiridonowas, Figners, Breshkovskayas? Wo sind die zahllosen finnischen jungen Mädchen, die für ihre Sache frohen Herzens nach Sibirien gehen? Finnland braucht dringend heldenhafte Befreierinnen. Warum hat das Frauenstimmrecht diese nicht generiert? Der einzige Rächer der Finnen war ein Mann, keine Frau, und er benutzte eine wirksamere Waffe als einen Stimmzettel.

Was unsere eigenen Bundesstaaten mit Frauenwahlrecht angeht, die stets als Wunderbeispiele angeführt werden: Was ist dort durch den Stimmzettel erreicht worden, was die Frauen nicht größtenteils auch in anderen Staaten haben oder was sie nicht auch ohne die Wahl hätten erreichen können?

Es stimmt zwar, dass den Frauen in den Staaten, in denen sie wählen können, gleiche Besitzrechte garantiert werden; aber was nützt das der Masse der besitzlosen Frauen, den Tausenden Lohnarbeiterinnen, die von der Hand in den Mund leben? Dass das gleiche Stimmrecht keinerlei Auswirkung auf ihre Bedingungen hatte und haben kann, gibt selbst Dr. Sumner zu, die es wirklich wissen muss. Als eifrige Verfechterin des allgemeinen Wahlrechts, die von der Collegiate Equal Suffrage League of New York State nach Colorado entsandt wurde, um Material zur Unterstützung des allgemeinen Wahlrechts zu sammeln, wäre sie die Letzte, die sich zu einer negativen Äußerung hinreißen lassen würde; dennoch erfahren wir von ihr, dass »das allgemeine Wahlrecht nur einen geringen Einfluss auf die allgemeinen Lebensumstände der Frau gehabt hat. Dass die Frau nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhält und dass, obgleich Frauen seit 1876 an Schulen tätig sein dürfen, die Lehrerinnen dort weniger verdienen als in Kalifornien.« Andererseits vergisst Frau Sumner zu erwähnen, dass allein in einer Erhebung vor ein paar Monaten in Denver von 15.000 vernachlässigten Schulkindern die Rede war, obwohl die Frauen dort seit 34 Jahren ein Mitspracherecht an den Schulen ausüben und seit 1894 auch wählen können. Dabei setzt sich die Bildungsabteilung größtenteils aus Frauen zusammen, und außerdem haben die Frauen in Colorado die »strengsten Gesetze zum Schutz für Kinder und Tiere« verabschiedet. Die Frauen von Colorado »haben sich in den staatlichen Institutionen sehr für die Betreuung abhängiger, vernachlässigter und straffälliger Kinder eingesetzt.« Was für ein vernichtendes Zeugnis für die Sorgen und Mühen der Frauen, wenn es in einer Stadt 15.000 vernachlässigte Kinder gibt. Wo bleibt da der Segen des Frauenwahlrechts, wenn es im wichtigsten Bereich der Gesellschaft, bei den Kindern, kläglich versagt? Und wo ist dieser höhere Gerechtigkeitssinn, den die Frau in die Politik einbringen sollte? Wo war er 1903, als die Minenbesitzer einen Guerillakrieg gegen die Western Miners' Union führten; als General Bell ein Reich des Terrors etablierte, wo Männer nachts aus den Betten gerissen und über die Grenze entführt wurden, wo man sie in Kuhställen zusammenpferchte und dabei erklärte: »Zur Hölle mit der Verfassung, der Club ist die Verfassung«? Wo waren da die Politikerinnen, und warum haben sie nicht von der Macht ihres Stimmrechts Gebrauch gemacht? Doch, sie haben davon Gebrauch gemacht. Sie haben zum Sturz des gerechtesten und liberalsten Menschen, Gouverneur Waite, beigetragen. Dieser musste den Weg freimachen für Gouverneur Peabody, den Handlanger des Minenkönigs, den Feind der Arbeiterrechte, den Zar von Colorado. »Das alleinige Wahlrecht für Männer hätte nichts Schlimmeres anrichten können.« Wie wahr. Worin bestehen also dann die Vorteile, die das Frauenwahlrecht den Frauen und der Gesellschaft bringt? Die so oft zitierte Behauptung, die Frau würde die Politik bereinigen, ist nichts als ein Mythos. Die Menschen, die mit den politischen Bedingungen in Idaho, Colorado, Wyoming und Utah vertraut sind, bestätigen ihn nicht.

Die Frau – insbesondere die Puristin – ist auf natürliche Weise voreingenommen und unbarmherzig in ihren Bemühungen, andere so gut zu machen, wie sie meint, dass diese sein müssten. In Idaho hat sie so ihrer Schwester auf der Straße das Wahlrecht wieder genommen und erklärt, Frauen »unzüchtigen Charakters« seien für die Wahl ungeeignet. »Unzüchtig« gilt dabei natürlich nicht für die Prostitution in der Ehe. Selbstverständlich wurden illegale Prostitution und Glücksspiel verboten. In dieser Hinsicht scheint das Gesetz weiblich zu sein: Stets verbietet es. Alle Gesetze sind in dieser Hinsicht wunderbar. Sie sind nicht konsequent, aber schon allein ihre Tendenzen öffnen alle Schleusen zur Hölle. Prostitution und Glückspiel haben mit dem Erlass der Gesetze, die sie verbieten, einen nie dagewesenen Aufschwung erlebt.

In Colorado hat sich der Puritanismus der Frau noch drastischer manifestiert. »Männer, die für ihren schmutzigen Lebenswandel berüchtigt sind, und Männer, die in Saloons verkehren, sind aus der Politik verbannt worden, seit die Frauen Wahlrecht haben.«[1] Hätte Bruder Comstock mehr erreichen können? Hätten all die Puritanischen Fathers mehr erreichen können? Ich frage mich, wie viele Frauen begreifen, wie gravierend diese Möchtegern-Heldentat in Wirklichkeit ist. Ich frage mich, ob sie verstehen, dass genau das die Frauen nicht erhöht, sondern in die Position politischer Spioninnen erniedrigt hat, verachtenswerte Schnüfflerinnen, die ihre Nase in das Privatleben anderer Menschen stecken, nicht so sehr für das Gute der Sache, sondern, wie es eine Frau in Colorado formulierte, weil »Frauen gern in Häuser gehen, in denen sie noch nie waren, und alles herausfinden, was sie können, politisch gesehen und auch sonst.«[2] Ja, und alles über die menschliche Seele und ihre kleinsten Winkel und Ecken. Denn nichts befriedigt das Verlangen der meisten Frauen so sehr wie ein Skandal. Und wann hat sie je dazu mehr Gelegenheit gefunden als in der Politik?

»Männer, die für ihren schmutzigen Lebenswandel berüchtigt sind, und Männer, die in Saloons verkehren.« Offensichtlich zeigen die Verfechterinnen des Lady-Stimmrechts nicht allzu viel Sinn für Proportionen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Wichtigtuerinnen entscheiden könnten, wessen Leben sauber genug für diese äußerst saubere Atmosphäre ist, die in der Politik herrscht, müssen dann auch Saloon-Besitzer in die gleiche Kategorie fallen? Es ist die US-amerikanische Heuchelei und Engstirnigkeit, die sich derart im Prinzip der Prohibition manifestiert, dass Alkoholismus unter den Männern und Frauen der reichen Klasse erlaubt ist, während der einzige Platz, der dem Armen bleibt, streng überwacht wird. Wenn nicht ein anderer Grund dafür vorliegt, dann ist es die eingeschränkte und puristische Einstellung der Frau zum Leben, die sie zu einer noch größeren Gefahr für die Freiheit macht, wenn sie politische Macht erlangt. Der Mann hat den Aberglauben, dem die Frau noch anhängt, schon längst überwunden. Im wirtschaftlichen Wettbewerb wurden dem Mann Leistungsfähigkeit, Urteilsvermögen, Fähigkeit, Kompetenz abverlangt. Daher fehlten ihm Zeit und Lust, der Moral anderer Menschen einen puritanischen Maßstab anzulegen. Auch in seinen politischen Tätigkeiten ist er nicht blind vorgegangen. Er weiß, dass Quantität, nicht Qualität, das Material für die politische Mühle ist, und wenn er nicht ein sentimentaler Reformer oder ein altes Fossil ist, weiß er auch, dass Politik nie etwas anderes sein kann als ein Sumpf.

Frauen, die ganz und gar mit dem politischen Prozess vertraut sind, kennen das Wesen der Bestie, aber in ihrer Selbstgefälligkeit und ihrem Egoismus reden sie sich ein, dass sie die Bestie nur zähmen müssten, und dann würde sie sanft wie ein Lamm, süß und rein. Als hätten nicht auch Frauen ihre Stimmen verkauft, als wären Politikerinnen nicht käuflich! Wenn ihr Körper für materielle Gegenleistungen käuflich ist, warum nicht auch ihre Stimme? Dass dies in Colorado und anderen Staaten der Fall ist, streiten nicht einmal die Befürworterinnen des Frauenwahlrechts ab.

Wie ich bereits sagte, ist die eingeschränkte Sichtweise der Frau auf die menschlichen Angelegenheiten nicht das einzige Argument, das gegen ihre politische Überlegenheit über den Mann spricht. Es gibt noch mehr. Ihr lebenslanges wirtschaftliches Schmarotzertum hat ihren Begriff von Gerechtigkeit völlig verwischt. Sie schreit nach Gleichberechtigung, aber dann erfahren wir, dass »sich nur wenige Frauen für die unerwünschten Distrikte interessieren.«[3] Wie wenig bedeutet ihnen doch die Gleichberechtigung im Vergleich zu den russischen Frauen, die für ihr Ideal durch die Hölle gehen!

Die Frau möchte die gleichen Rechte haben wie der Mann, aber sie ist entrüstet, dass er in ihrer Gegenwart nicht tot umfällt: Er raucht, behält den Hut auf dem Kopf springt nicht gleich von seinem Platz auf wie ein Lakai. Das mag trivial erscheinen, ist aber der Schlüssel zum Wesen der US-amerikanischen Verfechterinnen des Frauenwahlrechts. Solcherlei dumme Ideen haben ihre englischen Schwestern bereits überwunden. Sie haben gezeigt, dass sie den größten Anforderungen an ihren Charakter und ihr Durchhaltevermögen gewachsen sind. Ehre dem Heldentum und der Stärke der englischen Frauenrechtlerinnen. Dank ihrer energischen, aggressiven Methoden sind sie für unsere leb- und rückgratlosen Damen eine wahre Inspiration. Aber trotz allem fehlt auch den Frauenrechtlerinnen noch immer die wahre Fähigkeit zur Anerkennung wahrer Gleichberechtigung. Wie sonst lässt sich die gewaltige, wirklich enorme Anstrengung dieser mutigen Kämpferinnen für ein elendes kleines Gesetz erklären, das am Ende nur einer Handvoll wohlhabender Damen zugutekommen wird und der große Masse der arbeitenden Frauen absolut nichts bringt? Sicher müssen Politikerinnen auch opportunistisch sein, sie müssen auch halbherzige Maßnahmen annehmen, wenn das Ganze nicht zu haben ist. Aber als intelligente und liberale Frauen sollten sie merken, dass das Wahlrecht, sollte es denn eine Waffe sein, von den Enterbten mehr gebraucht wird als von der wirtschaftlich überlegenen Klasse, und dass letztere dank ihrer wirtschaftlichen Überlegenheit schon viel zu viel Macht genießt. Mrs. Emmeline Pankhurst, die hervorragende Anführerin der englischen Frauenrechtlerinnen, hat auf ihrer Lesereise in den USA selbst zugegeben, dass es zwischen politisch Überlegenen und Unterlegenen keine Gleichberechtigung geben kann. Wenn das stimmt, wie soll dann die englische Arbeiterin, die schon allein wirtschaftlich den Damen unterlegen ist, die von der Shackleton-Bill[4] profitieren, mit den ihr politisch Überlegenen zusammenarbeiten können, wenn das Gesetz durchkommt? Ist es nicht wahrscheinlich, dass die Klasse der Annie Keeney, so fleißig, ergeben und aufopfernd, dazu gezwungen sein wird, ihre weiblichen politischen Vorgesetzten auf dem Rücken zu tragen, wie sie schon ihre Vorgesetzten in der Wirtschaft tragen? Sie müssten das auch tun, wenn das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen in England durchgesetzt würde. Egal, was die Arbeiterinnen tun, sie müssen bezahlen, immer. Aber jene, die an die Macht des Stimmrechts glauben, zeigen wenig Gerechtigkeitssinn, wenn sie jene völlig außer Acht lassen, die es, wie sie behaupten, am meisten nötig hätten.

Die Frauenrechtsbewegung in den USA war bis vor Kurzem eine Angelegenheit, die man im Salon beim Kaffeekränzchen besprach, völlig losgelöst von den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Menschen. So war Susan B. Anthony – ohne Zweifel eine außergewöhnliche Frau – die Arbeiterinnenfrage nicht nur egal, sondern sie war der Arbeiterinnenklasse gegenüber sogar feindlich eingestellt und scheute sich auch nicht, diese Feinschaft offen zu zeigen, als sie 1869 Frauen dazu aufforderte, die Stellen der streikenden Drucker in New York zu besetzen.[5] Ich weiß nicht, ob sich ihre Einstellung vor ihrem Tod geändert hat.

Natürlich gibt es auch einige Frauenrechtlerinnen, die den Arbeiterinnen verbunden sind – beispielsweise die Women's Trade Union League; aber sie stellen noch immer eine Minderheit dar und engagieren sich hauptsächlich wirtschaftlich. Alle anderen betrachten harte Arbeit als gerechte Bestimmung der Vorsehung. Was würde nur aus den Reichen werden, gäbe es die Armen nicht? Was würde aus diesen faulen, schmarotzenden Ladies, die in einer Woche mehr Geld verprassen, als ihre Opfer in einem Jahr verdienen, wenn es die 80 Millionen Lohnarbeiterinnen nicht gäbe? Gleichberechtigung – wer hat von so etwas je gehört?

Wenige Länder haben so viel Arroganz und Snobismus hervorgebracht wie die USA. Das gilt insbesondere für die US-amerikanische Frau der Mittelschicht. Sie betrachtet sich nicht nur dem Mann gegenüber als gleichberechtigt, sondern fühlt sich ihm sogar überlegen, insbesondere was ihre Reinheit, Güte und Moral angeht. Kein Wunder, dass die US-amerikanische Frauenrechtlerin von ihrem Stimmrecht wahre Wunder erwartet. In ihrer überschwänglichen Einbildung sieht sie selbst nicht, wie versklavt sie in Wirklichkeit ist, nicht so sehr durch den Mann, sondern durch ihre eigenen dummen Ideen und Traditionen. Das Wahlrecht kann an dieser traurigen Tatsache nichts ändern; es kann sie nur noch betonen, und das tut es tatsächlich.

Eine der großen US-amerikanischen Frauenrechtlerinnen fordert, dass der Frau nicht nur die gleiche Bezahlung zustehen, sondern sogar per Gesetz das Recht am Einkommen ihres Mannes zugesprochen werden soll. Wenn er sie nicht unterstützt, soll ihm Gefängnisstrafe drohen, und was er im Gefängnis verdient, geht an seine gleichberechtigte Frau. Ist das nicht ein weiteres brillantes Beispiel dafür, dass die Frau mit ihrem Stimmrecht das gesellschaftliche Übel abschaffen wird, gegen das die berühmtesten Köpfe weltweit in gemeinsamer Anstrengung vergeblich gekämpft haben? Es ist wahrhaft bedauerlich, dass uns der angebliche Schöpfer des Universums seinen wunderbaren Plan der Dinge bereits präsentiert hat, ansonsten würde das Frauenwahlrecht der Frau die Möglichkeit geben, ihn in jeder Hinsicht zu übertreffen.

Nichts ist so gefährlich, wie einen Fetisch kritisch zu hinterffagen. Zwar haben wir die Zeit überwunden, als derartige Ketzerei mit dem Pfahl bestraft wurde; was uns aber noch immer erhalten ist, ist das beschränkte Wesen, das jene verurteilt, die es wagen, von den akzeptierten Ideen abzuweichen. Daher werde ich wahrscheinlich als Gegnerin der Frau verschrien werden. Aber das kann mich nicht davon abhalten, die Problematik gründlich zu hinterfragen. Ich wiederhole, was ich anfangs sagte: Ich glaube nicht, dass die Frau die Politik schlechter machen wird; aber ich kann auch nicht glauben, dass sie sie verbessern kann. Warum also auf einer solchen Gesetzgebung bestehen, wenn die Frau die Fehler des Mannes ohnehin nicht korrigieren kann?

Die Geschichte mag eine Sammlung von Lügen sein, aber sie enthält auch einige Wahrheiten, und das sind die einzigen Richtlinien, an denen wir uns für die Zukunft orientieren können. Die Geschichte der Bemühungen des Menschen in der Politik zeigt, dass ihm diese überhaupt nichts gebracht haben, was er nicht auch auf direkterem Wege, zu einem geringeren Preis und für einen längeren Zeitraum hätte erreichen können. Tatsache ist, dass er sich jeden Zentimeter Boden hart und ausdauernd erkämpfen musste, und zwar durch einen endlosen Kampf für die Selbstbehauptung, nicht durch das Wahlrecht. Es gibt keinerlei Grund zu der Annahme, dass die Frau in ihrem Aufstieg zur Emanzipation Hilfe vom Stimmzettel bekommen hat oder wird.

In Russland, dem finstersten aller Länder mit dem absoluten Tyrannen, ist die Frau dem Mann gleichgestellt worden, nicht durch das Wahlrecht, sondern aufgrund ihres Existenzwillens und ihrer Schaffenskraft. Sie hat sich nicht nur jeden Weg des Lernens und der Berufung selbst erobert, sondern auch die Achtung des Mannes gewonnen, seinen Respekt, seine Kameradschaft; ja sogar noch mehr: Die ganze Welt bewundert und respektiert sie. Und auch das nicht aufgrund des allgemeinen Wahlrechts, sondern durch ihren wunderbaren Heldinnenmut, ihre Stärke, ihre Fähigkeiten, ihre Willenskraft und ihr Durchhaltevermögen im Kampf für die Freiheit. Wo sind die Frauen in den Ländern oder Bundesstaaten, in denen allgemeines Wahlrecht herrscht, die einen solchen Sieg vorweisen können? Wenn wir uns anschauen, was die Frauen in den USA erreicht haben, dann wird uns auch bewusst, dass der russischen Frau etwas viel Bedeutenderes und Mächtigeres als das allgemeine Wahlrecht auf dem Weg zur Emanzipation geholfen hat.

Vor nur 62 Jahren formulierten ein paar Frauen in der Seneca Falls Convention einige Forderungen wie das Recht auf gleiche Bildung und den freien Zugang zu verschiedenen Berufen, Handwerken usw. Was für wunderbare Errungenschaften, was für wundervolle Triumphe! Wer, wenn nicht der schlimmste Ignorant, kann die Frau auf die Rolle der Haushaltssklavin reduzieren? Wer kann bestimmen, dass ihr der eine oder andere Beruf nicht zugänglich sein soll? Seit 60 Jahren erschafft sie für sich selbst eine neue Umgebung und ein neues Leben. In jedem Bereich menschlichen Denkens und Handelns ist sie eine Weltmacht geworden. Und all das auch ohne Wahlrecht, ohne das Recht, Gesetze zu machen, ohne das ›Privilegs‹ Richterin zu werden, Gefängnisaufseherin oder Henkerin.

Ja, man mag mich zur Feindin der Frau erklären; aber wenn ich ihr so zur Erleuchtung verhelfen kann, soll mir das gleich sein. Das Unglück der Frau ist nicht, dass sie nicht die Arbeit eines Mannes tun kann, sondern dass sie ihre Lebenskraft damit vergeudet, ihn überbieten zu wollen, wo die Tradition von Jahrhunderten sie doch physisch unfähig gemacht haben, mit ihm Schritt zu halten. Oh ja, ich weiß, einigen Frauen ist es gelungen, aber zu welchem Preis, zu welch schrecklichem Preis! Wichtig ist nicht die Art der Arbeit, die eine Frau macht, sondern es ist eher die Qualität der Arbeit, die sie leistet. Sie kann dem Wahlrecht oder dem Stimmzettel keine neue Qualität geben und auch nichts daraus gewinnen, das ihre eigene Qualität verbessert. Ihre Entwicklung, ihre Freiheit, ihre Unabhängigkeit müssen von ihr und durch sie selbst kommen: einmal, indem sie sich als Persönlichkeit durchsetzt und nicht als Sexualobjekt, und zum Zweiten, indem sie keinem das Recht über ihren Körper überlässt; indem sie sich weigert, Kinder auszutragen, die sie nicht haben möchte; indem sie sich weigert, Gott, dem Staat, der Gesellschaft, dem Ehemann, der Familie usw. zu dienen, indem sie ihr Leben einfacher macht, aber intensiver und reicher; das heißt, indem sie versucht, die Bedeutung und Substanz des Lebens in all seiner Komplexität zu erlernen, indem sie sich von der Angst vor der öffentlichen Meinung und der öffentlichen Verurteilung befreit. Das allein, nicht das Wahlrecht, wird die Frau befreien und sie zu einer Kraft machen, wie sie die Welt noch nicht kannte – zu einer Kraft für die wahre Liebe, für Frieden, für Harmonie; zu einer Kraft des ewigen Feuers, einer Schenkerin des Lebens; einer Schöpferin freier Männer und Frauen.

[1] Dr. Helen L. Sumner: Equal Suffrage. The results of an investigation league in Colorado made for the Collegiate equal suffrage league of New York state, New York / London 1909.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Fußnote im Original: Mr. Shackleton war ein Arbeiterinnenführer. Daher ist offensichtlich, dass er ein Gesetz einführte, das seine eigenen Wähler ausschloss. Das britische Parlament ist voller solcher Verräter.

[5] Dr. Helen L. Sumner: Equal Suffrage.