Emma Goldman
Ehe und Liebe
Ehe und Liebe werden gemeinhin als gleichbedeutend angesehen. Es wird davon ausgegangen, dass ihnen die gleichen Ursachen zugrunde liegen und dass sie die gleichen Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Wie die meisten weit verbreiteten Ansichten basiert auch diese nicht auf Tatsachen, sondern auf Aberglauben.
Ehe und Liebe haben nichts gemeinsam; sie liegen so weit voneinander entfernt wie Nord- und Südpol; in Wirklichkeit sind sie sogar miteinander verfeindet. Ohne Zweifel mögen einige Ehen das Resultat einer Liebe sein – nicht aber, weil sich Liebe nur in einer Ehe verwirklichen könnte, sondern vielmehr, weil es den wenigsten Menschen gelingt, eine Konvention ganz abzulegen. Heutzutage gibt es zahlreiche Männer und Frauen, für die die Ehe nichts als eine Farce ist, die sich aber wegen der öffentlichen Meinung darauf einlassen. Obgleich es stimmt, dass einige Ehen auf Liebe beruhen, und obgleich es ebenfalls stimmt, dass in einigen Fällen die Liebe auch während der Ehe weiterlebt, bin ich jedenfalls der Meinung, dass dies unabhängig von der Ehe geschieht und nicht wegen ihr.
Andererseits ist es völlig falsch, zu glauben, dass Liebe aus der Ehe entstehen kann. Sehr selten hört man von einem wunderbaren Fall, dass sich ein verheiratetes Paar nach der Eheschließung ineinander verliebt hat. Bei näherer Betrachtung solcher Fälle wird man jedoch feststellen, dass es sich hier um die bloße Adaptation an das Unvermeidliche handelt. Ganz bestimmt liegt das Sich-Aneinander-Gewöhnen weit von der Spontaneität, der Intensität und der Schönheit der Liebe entfernt, ohne die sich die Intimität der Ehe sowohl für die Frau als auch für den Mann als erniedrigend erweisen muss.
Die Ehe ist in erster Linie ein wirtschaftliches Arrangement, eine Art Versicherungspakt. Sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Lebensversicherung nur darin, dass sie verbindlicher, strenger ist. Man muss deutlich mehr in sie investieren, als man zurückbekommt. Wenn man einen normalen Versicherungsvertrag abschließt, zahlt man in Dollar und Cent dafür und hat stets die Freiheit, die Zahlungen einzustellen. Wenn aber die Prämie einer Frau ein Ehemann ist, zahlt sie dafür mit ihrem Namen, ihrer Privatsphäre, ihrer Selbstachtung, ja, mit ihrem Leben, ›bis dass der Tod uns scheidet‹. Außerdem verdammt die Eheversicherung sie zu lebenslanger Abhängigkeit, zum Parasitismus, zur völligen individuellen und gesellschaftlichen Nutzlosigkeit. Auch der Mann zahlt seinen Preis, aber seine Bewegungsfreiheit ist größer und die Ehe schränkt ihn nicht so ein wie die Frau. Er spürt seine Ketten mehr im Geldbeutel.
Dantes Motto über die Hölle trifft also gleichermaßen auf die Ehe zu: »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fähren!«
Dass die Ehe ein Fehlschlag ist, können nur die Ignorantesten leugnen. Ein Blick in die Scheidungsstatistiken genügt, um zu sehen, was für ein bitterer Fehlschlag die Ehe in Wirklichkeit ist. Auch das typische Argument der SpießbürgerInnen, das sei auf die laxen Scheidungsgesetze und die wachsende Freiheit der Frauen zurückzuführen, berücksichtigt nicht die Tatsache, dass erstens jede zwölfte Ehe in einer Scheidung endet; zweitens seit 1870 die Zahl der Scheidungen von 28 auf 73 pro 100.000 Einwohner gestiegen ist; drittens, dass seit 1867 Ehebruch als Scheidungsgrund um 270,8 Prozent angestiegen ist; viertens das Verlassen des Gatten beziehungsweise der Gattin um 369,8 % gestiegen ist.
Zu diesen alarmierenden Zahlen kommt eine große Menge von Material, sei es aus dem Bereich des Theaters oder der Literatur, das weiteres Licht in diese Angelegenheit bringt. Robert Flerrick mit Together; Pinero mit Mid-Channel; Eugene Walter mit Paid in Full und viele andere Schriftstellerinnen thematisieren das Öde, die Monotonie, die Schäbigkeit, die Unangemessenheit der Ehe als Faktor für Harmonie und Verständnis.
Wer aufmerksam die Gesellschaft beobachtet, wird sich nicht mit der in der Bevölkerung verbreiteten oberflächlichen Ausrede für dieses Phänomen zufriedengeben, sondern wird sich weiter in das wahre Leben der Geschlechter vorarbeiten müssen, um herauszufinden, warum die Ehe derart verheerend ist.
Edward Carpenter sagt, dass hinter jeder Ehe das lebenslange Umfeld der beiden Geschlechter steht; zwei Umfelder also, die sich derart voneinander unterscheiden, dass sich Mann und Frau fremd bleiben müssen. Zwischen ihnen steht eine unüberwindbare Mauer des Aberglaubens, der Gebräuche und Gewohnheiten, und die Ehe hat nicht das Potenzial, die notwendige Kenntnis voneinander und den Respekt füreinander zu entwickeln, ohne die jede Vereinigung zum Scheitern verurteilt ist.
Henrik Ibsen, der alle gesellschaftlichen Heucheleien hasste, war wahrscheinlich der Erste, der diese große Wahrheit verstand. Nora verlässt ihren Ehemann, und zwar nicht, wie dumme Kritikerinnen meinen, weil sie ihre Pflichten satt hat oder sich getrieben fühlt, für Frauenrechte zu kämpfen, sondern weil sie erkannt hat, dass sie acht Jahre lang mit einem Fremden gelebt und ihm Kinder geboren hat. Kann es etwas Demütigenderes, Erniedrigenderes geben als die lebenslange Nähe zweier Fremder? Die Frau braucht nichts von ihrem Mann zu wissen, sie muss nur sein Einkommen kennen. Und was muss der Mann schon von der Frau wissen, außer dass sie gut aussieht? Wir haben den theologischen Mythos noch nicht überwunden, dass die Frau keine Seele habe, dass sie einfach nur ein Anhängsel des Mannes sei, aus seiner Rippe geformt für die Annehmlichkeit des Herrn, der so stark war, dass er seinen eigenen Schatten fürchtete.
Vielleicht ist die schlechte Qualität des Ausgangsmaterials für die Unterlegenheit der Frau verantwortlich. Jedenfalls hat die Frau keine Seele – was muss man schon über sie wissen? Je weniger Seele außerdem eine Frau hat, desto größer ihr Ertrag als Ehefrau, desto bereitwilliger wird sie sich ganz ihrem Ehemann hingeben. Es ist dieses sklavische Eingeständnis der Überlegenheit des Mannes, das die Institution Ehe über einen so langen Zeitraum scheinbar intakt gehalten hat. Nun, da die Frau zu sich selbst findet, nun, da ihr wirklich bewusst wird, dass sie ein Wesen ist, das auch unabhängig von der Gnade des Herrn existiert, wird die heilige Institution der Ehe nach und nach untergraben, und kein sentimentales Bedauern, so groß es auch sein mag, kann das aufhalten.
Nahezu von Kindesbeinen an hört fast jedes Mädchen, dass die Ehe ihr Ziel ist; deshalb wird sie zu diesem Zweck ausgebildet und unterrichtet. Wie das stumme Tier auf den Schlachthof vorbereitet wird, so wird sie auf die Ehe vorbereitet. Dennoch, so eigenartig das auch sein mag, erfahrt sie dabei viel weniger über ihre Funktion als Ehefrau und Mutter als der gemeine Handwerker über sein Handwerk. Für ein ehrbares Mädchen ist es unanständig und schmutzig, etwas über die Ehebeziehung zu wissen. Oh, was den Widerspruch zur Ehrbarkeit angeht, bedarf es des ehelichen Schwurs, um etwas Besudeltes in die reinste und heiligste Angelegenheit zu verwandeln, die von keinem hinterfragt oder kritisiert werden darf. Dennoch ist genau das die Einstellung der durchschnittlichen Verfechterinnen der Ehe. Die zukünftige Ehefrau und Mutter bleibt in dem Bereich, in dem sie am meisten einbringen muss, völliger Unwissenheit überlassen: Sex. Folglich geht sie eine lebenslange Beziehung mit einem Mann ein und ist völlig schockiert, abgestoßen, über alle Maßen empört über den natürlichsten und gesündesten Instinkt: Sex. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ein großer Anteil des Unglücks, Elends, Kummers und physischen Leidens der Ehe der kriminellen Unkenntnis in Sexualfragen zuzuschreiben ist, die als große Tugend gepriesen wird. Noch ist es keinesfalls eine Übertreibung, wenn ich sage, dass aufgrund dieser bedauernswerten Tatsache schon mehr als ein Zuhause zerbrochen ist.
Wenn jedoch die Frau so frei geworden und derart gewachsen ist, dass sie das Mysterium Sexualität ohne Sanktion von Staat oder Kirche versteht, wird sie als ungeeignet für die Ehe mit einem ›guten‹ Mann befunden, wobei dieses ›gut‹ bedeutet, dass er einen leeren Kopf und viel Geld hat. Kann es etwas Empörenderes geben als den Gedanken, dass eine gesunde, erwachsene Frau, die voller Leben und Leidenschaft ist, dem Drängen der Natur nachgeben muss, ihr innerstes Verlangen unterdrücken muss, ihre Gesundheit untergraben und ihren Geist brechen muss, ihre Vision einschränken muss, sich der Intensität und Herrlichkeit der sexuellen Erfahrung enthalten muss, bis ein ›guter‹ Mann daherkommt, um sie als seine Frau zu sich zu nehmen? Genau das ist es, was Ehe bedeutet. Wie kann eine solche Angelegenheit anders enden als im Scheitern? Das ist einer der Faktoren – und nicht der unbedeutendste – die Ehe und Liebe voneinander unterscheiden.
Wir leben in einer praktischen Epoche. Die Zeiten, als Romeo und Julia wegen der Liebe den Zorn ihrer Väter riskierten, als sich Gretchen wegen der Liebe dem Geschwätz der Nachbarinnen aussetzte, sind vorbei. In jenen seltenen Fällen, wenn sich junge Leute den Luxus erlauben, romantisch zu sein, werden sie von den Älteren in Obhut genommen, gedrillt und bearbeitet, bis sie ›vernünftig‹ werden.
Bei der moralischen Lektion, die dem Mädchen eingeimpft wird, geht es nicht darum, ob der Mann ihre Liebe geweckt hat, sondern um das ›Wie viel?‹ Das ist der wichtige und einzige Gott des praktischen Lebens in den USA: Kann der Mann seinen Lebensunterhalt verdienen? Kann er sich eine Frau leisten? Nur so ist eine Eheschließung zu rechtfertigen. Das durchtränkt nach und nach das ganze Denken des Mädchens; sie träumt nicht mehr von Küssen im Mondschein, vom Lachen und von Tränen; sie träumt von Einkaufsbummel und Schnäppchenjagd. Diese seelische Armut und Schäbigkeit sind die Elemente, die der Institution Ehe innewohnen. Staat und Kirche sind mit keinem anderen Ideal einverstanden, da es das einzige ist, das die staatliche und kirchliche Kontrolle über Männer und Frauen verlangt.
Ohne Zweifel gibt es noch immer Menschen, für die Liebe jenseits des Geldes zählt. Das trifft besonders auf jene Klasse zu, die durch wirtschaftliche Notwendigkeiten zur finanziellen Selbstversorgung gezwungen wird. Die durch diesen einflussreichen Faktor herbeigeführte enorme Veränderung der Situation der Frau ist wirklich unglaublich, wenn wir die kurze Zeit in Betracht ziehen, die vergangen ist, seit sie die industrielle Arena betreten hat. Sechs Millionen Lohnarbeiterinnen; sechs Millionen Frauen, die das gleiche Recht wie Männer haben, ausgebeutet und beraubt zu werden, zu streiken; ja sogar zu hungern. Sonst noch etwas, mein Herr? Ja, sechs Millionen Arbeitskräfte allen Alters in sämtlichen Lebensbereichen, von der anspruchsvollsten intellektuellen Arbeit bis zur schwierigsten niederen Arbeit in den Minen und an den Eisenbahnstrecken; ja selbst als Detektivinnen und Polizistinnen. Die Emanzipation hat sich wahrhaft erfüllt.
Dennoch betrachtet trotz alledem nur eine kleine Anzahl der riesigen Armee von Lohnarbeiterinnen die Arbeit als permanente Angelegenheit, wie es der Mann tut. Ganz gleich, wie heruntergekommen dieser auch sein mag, so hat er doch gelernt, unabhängig zu sein und für sich selbst zu sorgen. Oh, ich weiß, in unserer ökonomischen Tretmühle ist niemand wirklich unabhängig; aber selbst der ärmlichste Mann hasst es, auf Kosten anderer zu leben oder zumindest als jemand angesehen zu werden, der das tut. Die Frau betrachtet ihre Arbeitssituation als vorübergehend und entledigt sich dieser für den erstbesten Bittsteller. Darum ist es ungleich schwerer, Frauen zu organisieren als Männer. »Warum sollte ich in eine Gewerkschaft eintreten? Ich werde heiraten, ein Zuhause haben.« Hat sie nicht von klein auf gelernt, dies als ihre letztendliche Berufung anzusehen? Früh genug wird sie begreifen, dass ihr Zuhause ein engeres Gefängnis ist als die Fabrik und stärkere Türen und festere Gitter hat. Sein Wächter ist so ergeben, dass ihm kein Mensch entkommen kann. Am schlimmsten ist jedoch, dass sie das Zuhause nicht von ihrer Lohnsklaverei befreit; ihre Aufgaben werden nur mehr.
Gemäß der jüngsten Statistik, die vor einem Komitee »über Arbeit und Löhne und die Übervölkerung« präsentiert wurde, sind zehn Prozent der Lohnarbeiterinnen allein in New York City verheiratet, müssen aber weiter in den am schlechtesten bezahlten Jobs der Welt arbeiten. Zählt man dazu noch den Aspekt der quälenden Hausarbeit, was bleibt dann vom Schutz und der Herrlichkeit des trauten Heims? Tatsache ist, dass selbst das Mädchen aus der Mittelklasse nicht von ihrem Zuhause sprechen kann, da es der Mann ist, der ihren Raum gestaltet. Dabei ist es gleich, ob der Mann ein Scheusal oder ein Schatz ist. Ich möchte damit zeigen, dass die Ehe der Frau nur aufgrund der Gnade ihres Ehemannes ein Zuhause garantiert. Sie bewegt sich dort in seinem Haus, Jahr für Jahr, bis ihr Anteil am Leben und an den menschlichen Angelegenheiten so flach, eng und düster wie ihre Umgebung sein wird. Kein Wunder, wenn dann aus ihr ein nörgelndes, borniertes, streitsüchtiges, tratschendes, unerträgliches Wesen wird, das so den Mann aus dem Haus treibt. Sie könnte nicht gehen, selbst wenn sie es wollte; sie hat keinen Ort, an den sie gehen kann. Außerdem macht selbst schon eine kurze Zeit des Ehelebens, in der sie all ihren Fähigkeiten entsagt, die durchschnittliche Frau absolut unfähig, in der Welt draußen zu bestehen. Sie wird in ihrer Erscheinung nachlässig, in ihren Bewegungen unbeholfen, in ihren Entscheidungen abhängig, in ihrem Urteil feige, sie wird zu einer Last und Langweilerin, von den meisten Männern gehasst und verachtet. Was für eine wunderbar inspirierende Atmosphäre, um neues Leben zu erzeugen, nicht wahr?
Aber das Kind, wie soll es denn beschützt werden, wenn nicht durch die Ehe? Ist das nicht letztendlich die wichtigste Überlegung? Was für eine Farce, was für eine Heuchelei das ist! Die Ehe soll das Kind schützen und trotzdem sind tausende Kinder mittel- und obdachlos. Die Ehe soll das Kind schützen und dennoch sind die Waisenhäuser und Besserungsanstalten überfüllt und die Gesellschaft zum Schutz der Kinder (Society for the Prevention of Cruelty to Children, auch Gerry-Society genannt) hat alle Hände voll damit zu tun, kleine Opfer vor ihren ›liebenden‹ Eltern zu retten und in liebevollerer Obhut unterzubringen, bei der Gerry-Society selbst. Wie lächerlich das doch ist!
Die Ehe mag in der Lage sein, ›das Pferd zum Wasser zu tragen‹[1], aber hat sie es jemals zum Trinken gebracht? Das Gesetz bringt den Vater hinter Gitter und zieht ihm die Gefängnistracht an; aber hat es jemals den Hunger des Kindes gestillt? Wenn der Vater keine Arbeit hat oder seine Identität verbirgt, was tut die Ehe dann? Sie ruft das Gesetz, um den Mann der Justiz zuzuführen und hinter verschlossenen Türen sicher zu verstauen; aber seine Arbeitskraft dient dann nicht dem Kind, sondern dem Staat. Dem Kind bleibt nur eine schwache Erinnerung an die Streifen seines Vaters.
Was den Schutz der Frau angeht – genau darin liegt der Fluch der Ehe. Nicht, dass sie wirklich geschützt würde, aber die Idee an sich ist so abstoßend, ein solches Verbrechen und eine solche Beleidigung des Lebens, eine solche Erniedrigung für die menschliche Würde, dass diese parasitäre Institution ein für allemal zu verdammen ist.
Sie ist genau wie jene andere paternalistische Einrichtung – der Kapitalismus. Er nimmt dem Menschen sein Geburtsrecht, hemmt sein Wachstum, vergiftet seinen Körper, verdammt ihn zu Dummheit, Armut und Abhängigkeit und richtet dann Wohlfahrtsorganisationen ein, die mit dem letzten Rest von Selbstachtung des Menschen ein Geschäft machen.
Die Institution Ehe macht aus der Frau einen Parasiten, der in absoluter Abhängigkeit lebt. Sie wird für den Lebenskampf untauglich gemacht, ihr soziales Gewissen wird abgetötet, ihre Vorstellungskraft gelähmt, und dann kommt ihr gnädiger Schutz ins Spiel, der in Wirklichkeit eine Falle darstellt, eine Verzerrung des menschlichen Charakters.
Wenn die Mutterschaft die höchste Erfüllung der Natur der Frau ist, welch anderen Schutz braucht sie dann außer Liebe und Freiheit? Die Ehe tut nichts anderes, als ihre Erfüllung zu beschmutzen, zu beschädigen und zu verderben. Sagt sie nicht zur Frau: Nur wenn du mir folgst, sollst du Leben erzeugen können? Bringt sie die Frau nicht aufs Schafott, erniedrigt und beschämt sie, wenn sie sich weigert, ihr Recht auf Mutterschaft zu erkaufen, indem sie sich selbst verkauft? Billigt nicht die Ehe allein die Mutterschaft, selbst wenn die Empfängnis voller Hass, voller Ablehnung ist? Wenn aber Mutterschaft frei gewählt sein soll, ein Ergebnis von Liebe, von Ekstase, von herausfordernder Leidenschaft sein soll, setzt sie dann nicht eine Dornenkrone auf ein unschuldiges Haupt und meißelt in blutigen Buchstaben den abscheulichen Zweitnamen ›Bastard‹? Selbst wenn sich die Ehe durch all die Tugenden auszeichnen würde, die ihr zugeschrieben werden, dann müssten allein ihre Verbrechen an der Mutterschaft sie für immer aus dem Reich der Liebe verbannen.
Liebe, das stärkste und größte Element allen Lebens, Vorbotin der Hoffnung, Freude, Ekstase; Liebe, die alle Gesetze und Konventionen herausfordert; Liebe, die freiste, mächtigste Formerin menschlichen Schicksals; wie kann eine so allumfassende Macht in gleicher Bedeutung verwendet werden mit jenem kleinen, armseligen Unkraut, das Staat und Kirche ausgesät haben, der Ehe? Freie Liebe? Als wenn Liebe etwas anderes wäre als frei! Der Mensch kann Gehirne kaufen, aber nicht für alles Geld der Welt ist Liebe käuflich. Der Mensch hat Körper unterworfen, aber keine Macht der Welt kann die Liebe unterwerfen. Der Mensch hat ganze Nationen erobert, aber keine Armee konnte die Liebe erobern. Der Mensch hat den Geist in Ketten und Fesseln gelegt, aber angesichts der Liebe ist er schlichtweg hilflos. Auch wenn er hoch auf einem Thron sitzt mit all der Pracht und Herrlichkeit seines Goldes, so ist er doch arm und einsam, wenn die Liebe an ihm vorüberzieht. Und wenn sie bleibt, dann wird auch die ärmlichste Hütte von Liebe, von Leben und Farben erfüllt. Die Liebe hat also die magische Kraft, einen Bettelmann zum König zu machen. Ja, Liebe ist frei; anders kann sie nicht existieren. In der Freiheit zeigt sie sich uneingeschränkt, reichlich und in ihrer ganzen Schönheit. Keine Gesetze, keine Vorschriften, keine Gerichte im ganzen Universum können die Liebe aus der Erde reißen, wenn sie einmal Wurzeln geschlagen hat. Wenn aber der Boden steril ist, wie kann die Ehe dann Früchte tragen? Das ist wie der letzte verzweifelte Kampf des flüchtigen Lebens gegen den Tod.
Liebe braucht keinen Schutz; sie schützt sich selbst. Solange es die Liebe ist, die Leben erzeugt, wird kein Kind verlassen werden oder Hunger leiden oder nach Zuneigung lechzen müssen. Ich weiß, dass das wahr ist. Ich kenne Frauen, die in Freiheit Mütter geworden sind durch die Männer, die sie liebten. Nur wenige ehelich geborene Kinder genießen die Pflege, den Schutz und die Hingabe, zu der freie Mutterschaft in der Lage ist.
Die Autoritätsgläubigen fürchten eine weitere Verbreitung der freien Mutterschaft, weil sie das ihrer Beute beraubt. Wer würde noch in den Krieg ziehen? Wer würde Wohlstand anhäufen? Wer würde Polizist werden, wer Gefängniswärter, wenn die Frau in der Lage wäre, ihre Mutterschaft frei zu wählen? Die Menschheit, die Menschheit!, rufen König, Präsident, Kapitalist und Priester. Das Menschengeschlecht muss erhalten werden, auch wenn das bedeutet, die Frau zu einer bloßen Maschine zu degradieren – und die Institution Ehe ist unser einziges Sicherheitsventil, das uns vor dem verderblichen Erwachen der sexuellen Instinkte der Frau schützt. Aber diese verzweifelten Versuche, den Status der Hörigkeit aufrechtzuerhalten, sind ebenso vergeblich wie die Erlässe der Kirche, die wilden Angriffe der Mächtigen, ja selbst der Arm des Gesetzes. Die Frau ist nicht länger gewillt, sich für die Produktion eines Geschlechts kranker, schwächlicher, matter, elender Menschen herzugeben, die weder die Kraft noch die Moral oder den Mut haben, das Joch der Armut und Sklaverei zu überwinden. Sie wünscht sich dagegen weniger und bessere Kinder, die in einer Umgebung voller Liebe und aus freiem Willen gezeugt und großgezogen werden; nicht durch Zwang, wie es die Ehe vorschreibt. Unsere Pseudo-Moralistlnnen müssen noch den tieferen Sinn der Verantwortung gegenüber dem Kind begreifen, die die Liebe in Freiheit in der Brust der Frau geweckt hat. Lieber würde sie für immer auf den Segen der Mutterschaft verzichten, als weiter inmitten von Zerstörung und Tod Leben hervorzubringen. Und wenn sie eine Mutter wird, dann, um dem Kind das Größte und Beste zu geben, zu dem ihr Wesen fähig ist. Ihr geht es darum, mit dem Kind zu wachsen; sie weiß, dass es ihr nur so möglich sein wird, zu einer wahrhaftigen Gesellschaft von freien Männern und Frauen beizutragen.
Ibsen muss ein Bild von der freien Mutter vor Augen gehabt haben, als er meisterhaft Mrs. Alving portraitierte. Sie war die ideale Mutter, weil sie die Ehe mit all ihrem Schrecken überwunden hatte, weil sie ihre Ketten gesprengt und ihren Geist befreit hatte, der anschließend zu einer erneuerten und starken Persönlichkeit wachsen konnte. Leider war es zu spät, auch die Freude ihres Lebens, ihren Oswald, zu retten; aber es war nicht zu spät für die Erkenntnis, dass die Liebe in Freiheit die einzige Bedingung für ein schönes Leben ist. Jene, die wie Mrs. Alving mit Blut und Tränen für ihr spirituelles Erwachen bezahlt haben, lehnen die Ehe als Zwang, etwas Überflüssiges, ein leeres Gespött ab, Sie wissen, dass die Liebe – sei sie nur von kurzer Dauer oder für die Ewigkeit – der einzige kreative, inspirierende und erhebende Ursprung für eine neue Art Mensch, für eine neue Welt ist.
In unserem derzeitigen pygmäenhaften Zustand ist die Liebe tatsächlich den meisten Menschen fremd. Da sie nicht verstanden, sondern gemieden wird, kann sie nur selten Wurzeln schlagen; und wenn sie es doch einmal tut, geht sie rasch ein und stirbt. Sie besteht aus so zarten Fasern, dass sie dem Druck und den Anstrengungen der täglichen Schinderei nicht gewachsen ist. Ihre Seele ist zu komplex, als dass sie sich an die schleimigen Fäden unseres gesellschaftlichen Gewebes anpassen könnte. Sie weint und klagt und leidet mit denen, die sie brauchen, aber nicht in der Lage sind, sich zu ihren Höhen zu erheben.
Eines Tages werden sich die Männer und Frauen auf den Weg machen, sie werden eines Tages den Gipfel des Berges erreichen, sie werden sich treffen, groß und stark und frei, bereit, die goldenen Strahlen der Liebe zu empfangen, zu genießen und darin zu baden. Welche Idee, welche Vorstellungsgabe, welcher poetische Geist kann auch nur annähernd das Potenzial einer solchen Kraft im Leben der Männer und Frauen erahnen. Wenn es auf der Welt jemals wahre Gemeinschaft und Einheit geben sollte, wird sie nicht aus der Ehe, sondern aus der Liebe erwachsen.
[1] Nach einer englischen Redewendung: »Du kannst ein Pferd zum Wasser tragen, aber du kannst es nicht zum Trinken bringen.«