Titel: Die Scheinheiligkeit des Puritanismus
AutorIn: Goldman, Emma
Datum: 1911
Bemerkungen: Aus: Goldman – Anarchismus und andere Essays. 1. Auflage, Dezember 2013. Band 22 der Reihe »Klassiker der Sozialrevolte«. hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. ISBN 978-3-89771-920-0. UNRAST-Verlag, Münster. S.141–149. (Mother Earth Publication | 2 nd Ed. 1911)

Gutzon Børglum äußerte sich zum Puritanismus[1] in Bezug auf die US-amerikanische Kunst folgendermaßen: »Der Puritanismus hat uns so lange egozentrisch und scheinheilig gemacht, dass uns Ehrlichkeit und die Verehrung dessen, was in unseren Impulsen natürlich ist, inzwischen so ziemlich verloren gegangen sind, was zur Folge hat, dass unsere Kunst weder authentisch noch individuell sein kann.«

Børglum hätte noch hinzufügen können, dass uns der Puritanismus das Leben an sich unmöglich gemacht hat. Mehr als die Kunst, mehr als der Ästhetizismus repräsentiert das Leben selbst die Schönheit in tausend Variationen; es ist ein gigantisches Panorama ewiger Veränderung. Der Puritanismus basiert auf einer starren und unbeweglichen Lebensauffassung; er entspringt der calvinistischen Idee, die das Leben als Fluch versteht, den Gott in seinem Zorn dem Menschen auferlegt hat. Erlösung ist nur durch andauernde Buße möglich und der Mensch muss jeden natürlichen und gesunden Trieb unterdrücken und der Freude und Schönheit den Rücken kehren.

Der Puritanismus übte seine Schreckensherrschaft im 16. und 17. Jahrhundert in England aus. Jegliche Erscheinungsformen von Kunst und Kultur wurden zerstört und zerschlagen. Es war der Geist des Puritanismus, der Shelley seiner Kinder beraubte, weil dieser sich dem Diktat der Religion nicht beugen wollte. Es war der gleiche engstirnige Geist, der Byron dem Land seiner Geburt entriss, weil dieses großartige Genie gegen dessen Monotonie, Langeweile und Engstirnigkeit rebelliert hatte. Der Puritanismus war es auch, der einige der Frauen, die sich in England die meiste Freiheit nahmen, in die konventionelle Lüge der Ehe zwang: Mary Wollstonecraft und später George Eliot. Und erst vor Kurzem hat er einen weiteren Tribut gefordert: das Leben Oscar Wildes. Tatsächlich ist der Puritanismus stets der schädlichste Aspekt von John Bulls1 Herrschaft geblieben; er ist als Zensor des künstlerischen Ausdrucks der Menschen aufgetreten und hat einzig und allein der stumpfen Ehrbarkeit der Mittelklasse Beifall gezollt.

Daher ist es reiner britischer Chauvinismus, wenn die USA dort als Land des puritanischen Provinzialismus bezeichnet werden. Es stimmt wohl, dass unser Leben vom Puritanismus eingeschränkt wird und dieser alles Natürliche und Gesunde unserer Impulse tötet. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass wir die Verpflanzung dieses Geistes auf US-amerikanischen Boden allein England zu verdanken haben. Die Pilgrim Fathers[2] haben ihn uns vermacht. Jene Pilgerväter waren auf der Mayflower vor Verfolgung und Unterdrückung geflohen und errichteten in der Neuen Welt ein Reich puritanischer Tyrannei und Kriminalität. Die Geschichte Neuenglands und insbesondere Massachusetts« zeugt von den Schrecken, die das Leben in Dunkelheit, Freude in Verzweiflung, Natürlichkeit in Krankheit, Ehrlichkeit und Wahrheit in abscheuliche Lügen und Scheinheiligkeit verwandelt haben. Foltergeräte wie der Tauchstuhl und der Pfahl zum Auspeitschen waren, neben vielen anderen ihrer Art, die beliebtesten englischen Methoden zur Purifikation der US-AmerikanerInnen.

Boston, die Stadt der Kultur, ist als ›Blutige Stadt‹ in die Annalen des Puritanismus eingegangen. Damit macht sie bei der Verfolgung nicht genehmigter religiöser Anschauungen sogar Salem[3] Konkurrenz. Im inzwischen berühmt gewordenen Bostoner Park Common wurde eine halbnackte Frau, die ihr Baby auf dem Arm trug, öffentlich ausgepeitscht, weil sie sich des Verbrechens der freien Meinungsäußerung schuldig gemacht hatte; und am gleichen Ort wurde 1659 eine weitere Quäkerin, Mary Dyer, gehängt. Tatsächlich ist Boston Schauplatz für mehr als ein vorsätzliches Verbrechen des Puritanismus gewesen. Im Sommer 1692 wurden in Salem 18 Personen als Hexen getötet. Und Massachusetts war auch nicht der einzige Ort, an dem versucht wurde, den Teufel mit Feuer und Schwefel auszutreiben. So sagte Canning zu Recht: »Die Pilgrim Fathers haben die Neue Welt verseucht, um das Gleichgewicht der Alten Welt auszuhebeln.« Die Schrecken jener Zeit fanden ihren höchsten Ausdruck im US-amerikanischen Klassiker The Scarlet Letter[4].

Der Puritanismus arbeitet heute nicht mehr mit Daumenschraube und Peitsche; trotzdem ist er noch immer auf bösartige Weise in den Gedanken und Gefühlen der US-Bevölkerung verankert. Anders lässt sich die Macht eines Comstock nicht erklären. Wie die Torquemadas der Vorkriegstage ist Anthony Comstock der Autokrat der US-amerikanischen Moral; er diktiert die Standards von Gut und Böse, von Reinheit und Laster. Wie ein Dieb in der Nacht schleicht er sich in das Privatleben der Menschen ein, in ihre intimsten Beziehungen. Das Spionagesystem, das von diesem Comstock entwickelt wurde, stellt die berüchtigte Dritte Division der russischen Geheimpolizei weit in den Schatten. Warum toleriert die Öffentlichkeit einen solchen Angriff auf ihre Freiheiten? Ganz einfach, weil Comstock lediglich die puritanische Brut im Blut des Angelsachsen verkörpert, von deren Knechtschaft sich noch nicht einmal Liberale völlig haben emanzipieren können. Die visionslosen und bleiernen Elemente der alten Young Mens and Women’s Christian Temperance Unions, Purity Leagues, American Sabbath Unions und der Prohibition Party schaufeln unter der Schirmherrschaft von Anthony Comstock das Grab für die Kunst und Kultur der USA.

Europa kann sich wenigstens einer dreisten Kunst und Literatur brüsten, die sich begierig der gesellschaftlichen und sexuellen Probleme unserer Zeit annimmt und all unsere Heucheleien scharf kritisiert. Jeder puritanische Kadaver wird wie mit dem Skalpell seziert, um so den Weg für die Befreiung des Menschen von den toten Gewichten der Vergangenheit zu bereiten. In den USA aber, wo der Puritanismus stets die Kontrolle über das Leben behält, sind weder Wahrheit noch Aufrichtigkeit möglich. Nichts als Dunkelheit und Kleingeist bestimmen das menschliche Verhalten, schränken den natürlichen Ausdruck ein und unterdrücken unsere wertvollsten Impulse. Puritanismus ist in unserem 20. Jahrhundert immer noch gleichermaßen Feind der Freiheit und Schönheit wie zu der Zeit, als er am Plymouth Rock[5] ankam. Er negiert unsere innersten Gefühle als niederträchtig und sündig; aber da ihm die wahre Bestimmung menschlicher Emotionen völlig fremd ist, kreiert der Puritanismus selbst die unaussprechlichsten Laster.

Die gesamte Geschichte des Asketismus zeigt, dass dies nur zu wahr ist. Die Kirche hat, ebenso wie der Puritanismus, das Fleisch als etwas Böses bekämpft; es musste um jeden Preis bezwungen und versteckt werden. Das Ergebnis dieser grausamen Einstellung wird erst jetzt allmählich von modernen Denkerinnen und Lehrerinnen erfasst. Sie erkennen, dass »Nacktheit ebenso einen hygienischen Wert wie eine spirituelle Bedeutung hat, die weit darüber hinausgeht, die natürliche Neugier der Jugend zu stillen oder der Vorbeugung morbider Emotionen zu dienen. Sie inspiriert Erwachsene, die jeglicher jugendlicher Neugier längst entwachsen sind. Der Anblick der wesentlichen und ewigen menschlichen Form, dessen, was uns überall auf der Welt am nächsten ist, ist einer der wichtigsten Grundtöne des Lebens.«[6] Aber der Geist des Purismus hat das menschliche Denken derart pervertiert, dass es die Kraft verloren hat, das Schöne der Nacktheit zu bewundern, und uns stattdessen zwingt, den natürlichen Körper unter dem Deckmantel der Keuschheit zu verstecken. Aber auch die Keuschheit selbst ist nur etwas Künstliches, das der Natur aufgezwungen wird und eine falsche Scham für den menschlichen Körper ausdrückt. Die moderne Idee der Keuschheit ist, insbesondere in Bezug auf die Frau, die ihr wichtigstes Opfer ist, nichts als die sinnliche Übertreibung unserer natürlichen Impulse. »Keuschheit variiert entsprechend der Menge der Kleidung«, und so haben es ChristInnen und PuristInnen stets eilig, »HeidInnen« in Lumpen zu hüllen und so zum Guten und zur Keuschheit zu bekehren.

Puritanismus und seine Perversion der Bedeutung und Funktionen des menschlichen Körpers hat insbesondere die Frau zur Ehelosigkeit, zur wahllosen Vermehrung eines kranken Menschengeschlechts oder zur Prostitution verdammt. Das Ausmaß dieses Verbrechens gegen die Menschheit wird deutlich, wenn wir uns die Ergebnisse genauer anschauen. Unverheiratete Frauen müssen sexuell absolut enthaltsam leben und wenn sie das nicht tun, werden sie als unmoralisch oder gefallen betrachtet, was wiederum zu Nervenschwäche, Impotenz, Depression und einer Reihe nervlicher Erkrankungen führt, darunter verminderte Schaffenskraft, geringere Lebensfreude, Schlaflosigkeit und Besessenheit mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen. Das willkürliche und bösartige Diktat völliger Enthaltsamkeit erklärt wahrscheinlich auch die mentale Ungleichheit der Geschlechter. So glaubt Freud, dass die intellektuelle Unterlegenheit so vieler Frauen durch die ihnen zum Zweck sexueller Unterdrückung auferlegte Hemmung von Gedanken entsteht. Während der Puritanismus einerseits die natürlichen sexuellen Bedürfnisse der unverheirateten Frau unterdrückt, segnet er andererseits ihre verheiratete Schwester mit zügelloser Fruchtbarkeit in der Ehe. Nein, er segnet sie nicht nur damit, sondern zwingt die aufgrund der vorangegangenen Unterdrückung sexbesessene Frau sogar dazu, Kinder zu bekommen, ganz gleich, ob ihre schwache körperliche Verfassung oder die wirtschaftliche Lage eine große Familie hergeben. Verhütung ist strengstens verboten, auch durch Methoden, deren Sicherheit wissenschaftlich erwiesen ist; ja sogar schon über das Thema zu sprechen, wird als kriminell angesehen.

Aufgrund dieser puritanischen Tyrannei nehmen die körperlichen Kräfte der Mehrheit der Frauen schnell ab. Krank und ausgelaugt sind sie dann schlicht nicht in der Lage, sich auch nur annähernd um ihre Kinder zu kümmern. Das und der ökonomische Druck zwingt viele Frauen dazu, große Risiken auf sich zu nehmen, um nicht noch mehr Leben hervorzubringen. Die Sitte der Abtreibung hat in den USA derartige Ausmaße angenommen, dass es fast nicht zu glauben ist. Jüngsten Untersuchungen zufolge kommen auf 100 Schwangerschaften 17 Abtreibungen. Dieser schreckliche Prozentsatz umfasst allerdings nur die Fälle, die den Ärzten bekannt sind. Denken wir aber an die Verschwiegenheit, die dieses Thema notwendigerweise erfordert, und die daraus resultierenden beruflichen Ineffizienzen und Nachlässigkeiten, dann fordert der Puritanismus ununterbrochen tausende Opfer, die ihrer eigenen Dummheit und Scheinheiligkeit erliegen.

Der größte Triumph des Puritanismus jedoch ist die Prostitution – wenn auch verfolgt, mit Gefängnis bestraft und in Ketten gelegt. Sie ist sein liebstes Kind, ungeachtet all der heuchlerischen Scheinheiligkeit. Prostitution ist der Zorn unseres Jahrhunderts und durchzieht die »zivilisierten« Länder wie ein Hurrikan, wobei sie eine Spur von Krankheit und Unheil hinterlässt. Das einzige Heilmittel, das der Puritanismus für dieses illegale Kind bereithält, ist noch größere Unterdrückung und erbarmungslosere Verfolgung. Die jüngste Ungeheuerlichkeit ist das Page-Gesetz, das dem Bundesstaat New York das schreckliche Versagen und die Kriminalität Europas aufbürdet, indem die unglückseligen Opfer des Puritanismus registriert und identifiziert werden.[7] Eine weitere schreckliche Geißel, die er selbst geschaffen hat, versucht der Purismus auf ähnlich dumme Weise aufzuhalten – Geschlechtskrankheiten. Besonders entmutigend ist die Tatsache, dass dieser Geist stumpfer Engstirnigkeit sogar auf unsere sogenannten Liberalen übergegriffen und sie in einem Maße geblendet hat, dass auch sie mit in den Kreuzzug gegen genau das ziehen, was aus der Scheinheiligkeit des Puritanismus selbst entstanden ist – die Prostitution und ihre Folgen. Absichtlich verschließt der Puritanismus die Augen davor, dass es am wirksamsten wäre, allen Menschen deutlich zu machen, dass »Geschlechtskrankheiten nichts Mysteriöses oder Schreckliches haben, nicht die Strafe für die Sünde des Fleisches sind und auch nichts Beschämendes, das durch einen puristischen Fluch geprägt ist, sondern dass es gewöhnliche Krankheiten sind, die behandelt und geheilt werden können.« Durch seine Methoden der Verdunklung, Verschleierung und Verheimlichung hat der Puritanismus günstige Bedingungen für eine weitere Ausbreitung dieser Art von Krankheiten geschaffen. Seine Scheinheiligkeit zeigte sich wieder einmal deutlich in der unsinnigen Einstellung gegenüber der großartigen Entdeckung von Prof. Ehrlich[8], als das wichtige Heilmittel gegen Syphilis heuchlerisch mit vagen Anspielungen als Mittel gegen »ein bestimmtes Gift« verschleiert wurde.

Die nahezu grenzenlose Bösartigkeit des Puritanismus ist darauf zurückzuführen, dass er sich hinter Staat und Gesetz verschanzt. Indem er vorgibt, die Menschen vor der »Sittenlosigkeit« zu schützen, hat er die Regierungsmaschmerie durchsetzt, versteht sich als moralische Führung und unterwirft nun auch noch unsere Ansichten, Gefühle und selbst unser Verhalten einer Zensur durch das Gesetz.

Kunst, Literatur, Theater, der private Briefverkehr, ja selbst unsere intimsten Vorlieben sind diesem unerbittlichen Tyrannen ausgeliefert. Anthony Comstock oder anderen gleichsam ignoranten Moralaposteln wurde die Macht übertragen, das Genie zu entweihen und die grandioseste Schöpfung der Natur zu beschmutzen und zu verstümmeln – den menschlichen Körper. Bücher, in denen es um die wichtigsten Dinge in unserem Leben geht und die Licht in gefährlich verdunkelte Probleme bringen könnten, werden vom Gesetz als kriminell abgestempelt, ihre hiergegen ohnmächtigen AutorInnen landen im Gefängnis oder werden in Zerstörung und Tod getrieben.

Nicht einmal im Reich des Zaren wird die persönliche Freiheit tagtäglich derart angegriffen wie in den USA, der Hochburg der puritanischen Eunuchen. Der einzige Tag, der den Massen noch zur Erholung vorbehalten ist – der Sonntag – wurde hier verunstaltet und schlichtweg unmöglich gemacht. Alle jene, die über die Sitten der Primitiven und frühe Zivilisationen schreiben, sind sich darüber einig, dass der Sabbat stets ein Festtag war, frei von Arbeit und Verpflichtungen, ein Tag allgemeiner Freude und Belustigung. In jedem europäischen Land bringt diese Tradition den Menschen auch heute noch etwas Erleichterung von der Eintönigkeit und Stupidität unserer christlichen Zeit. Überall füllen sich die Konzertsäle, Theater, Museen und Gärten mit Männern, Frauen und Kindern, insbesondere mit ArbeiterInnenfamilien, die voller Lebensfreude die banalen Zwänge und Konventionen ihrer alltäglichen Existenz vergessen. An diesem Tag zeigen die Massen, wie das Leben in einer gesunden Gesellschaft aussehen könnte, wenn die Arbeit nicht mehr profitorientiert wäre und die Seelen nicht mehr zerstört würden.

Der Puritanismus hat die Menschen selbst dieses einen Tages beraubt. Natürlich betrifft das nur die ArbeiterInnen: Unsere Millionärsfamilien dagegen haben ihre luxuriösen Häuser und ihre ausgewählten Clubs. Die Armen aber sind zur Monotonie und Stumpfsinnigkeit des amerikanischen Sonntags verdammt. Die Geselligkeit und der Spaß des Lebens, das sich in Europa vor den Türen abspielt, wird hier durch die Düsterkeit der Kirche, die stickige, bazillendurchsetzte Landstube oder die brutale Stimmung des Hinterzimmer-Saloons ersetzt. In den Prohibition States, den Bundesstaaten, in denen Herstellung, Transport und Verkauf von Alkohol verboten ist, fällt sogar die letztgenannte Möglichkeit weg, es sei denn, die Menschen können ihr mageres Einkommen in Unmengen gepanschter Spirituosen investieren. Was die Prohibition angeht, so weiß jeder, welche Farce sich dahinter verbirgt. Wie alle anderen Errungenschaften des Puritanismus hat auch dieses Verbot lediglich dazu geführt, den ›Teufel‹ noch tiefer im menschlichen System zu verankern. An keinem anderen Ort trifft man auf so viele Betrunkene wie in unseren Städten mit Alkoholverbot. Aber solange es duftende Süßigkeiten gibt, um den faulen Atem der Scheinheiligkeit abzumildern, so lange wird der Puritanismus triumphieren. Angeblich wurde das Alkoholverbot aus gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gründen erlassen, aber da das Wesen der Prohibition selbst abartig ist, kann sie nur abartiges Leben erschaffen.

Wir brauchen im Leben jeden Reiz zur Anregung von Phantasie und Geist so sehr wie die Luft zum Atmen. Er stärkt den Körper und schärft unsere Vision menschlicher Gemeinschaft. Ohne Reize, in welcher Form auch immer, ist kreative Arbeit nicht möglich, ebenso wenig wie ein Geist der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Die Tatsache, dass einige herausragende Genies ihr Spiegelbild allzu oft im Kelch erblickt haben, rechtfertigt nicht die Versuche des Puritanismus, die ganze Skala menschlicher Emotionen in Fesseln zu legen. Ein Byron und ein Poe haben die Menschheit tiefer bewegt, als es sämtlichen PuritanerInnen jemals möglich sein wird. Erstere haben dem Leben Bedeutung und Farbe gegeben; letztere verwandeln rotes Blut in Wasser, Schönes in Hässliches, Vielfalt in Gleichheit und Zerfall. Der Puritanismus ist in all seinen Ausdrucksformen ein giftiger Keim. Auf der Oberfläche mag alles stark und kräftig erscheinen; aber das Gift wirkt in der Tiefe, bis das ganze Gewebe zersetzt ist. Mit Hippolyte Taine ist allen frei denkenden Menschen klar geworden, dass »Puritanismus das Ende von Kultur, Philosophie, Humor und guter Gemeinschaft bedeutet; er zeichnet sich durch Dumpfheit, Monotonie und Düsterkeit aus.«

[1] Nationale Personifikation des Königreichs Großbritannien, 1712 von John Arbuthnot geschaffen, zunächst durch britische Verlage publiziert und später durch den US-amerikanischen Karikaturisten Thomas Nast fortgeführt

[2] Die sog. Pilgerväter waren die ersten englischen Siedlerinnen in Neuengland ab 1620

[3] 1626 von puritanischen Fischern gegründet, wurde die Stadt 1692 durch die Hexenprozesse von Salem bekannt.

[4] Der scharlachrote Buchstabe (1850), Roman von Nathaniel Hawthorne, gilt als eines der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur. Er erzählt die Geschichte der psychischen Terrorisierung einer Ehebrecherin durch ein ganzes streng-puritanisch gläubiges Dorf in Neu-England im 17. Jh.

[5] Die Stelle (in Plymouth, Massachusetts), an der angeblich die Pilgrimväter erstmals amerikanischen Boden betraten.

[6] Havelock Ellis: Studies in the Psychology of Sex (6 Bde. 1897–1928).

[7] Page Act (auch: Page Law), US-amerikanisches Bundesgesetz von 1875 über das Einreiseverbot für Prostituierte und verurteilte Straftäter in die USA.

[8] Paul Ehrlich (1854–1915), deutscher Arzt, entwickelte als Erster eine medikamentöse Behandlung gegen Syphilis