Emma Goldman
Die Psychologie politischer Gewalt
Das Verständnis der Psychologie politischer Gewalt ist nicht nur äußerst schwierig, sondern auch sehr gefährlich. Begegnet man solchen Taten mit Verständnis, wird man sogleich ihrer Huldigung bezichtigt. Bringt man andererseits menschliche Sympathie mit dem Attentäter[1] zum Ausdruck, riskiert man, möglicherweise als Komplizin betrachtet zu werden. Dabei können uns nur Verständnis und Sympathie der Ursache des menschlichen Leidens näherbringen und den endgültigen Ausweg daraus lehren.
Der primitive Mensch, der die Naturkräfte nicht kannte, fürchtete sie und versteckte sich vor den Gefahren, die mit ihm drohten. Als der Mensch lernte, Naturphänomene zu verstehen, merkte er, dass diese zwar Leben zerstören und große Verluste nach sich ziehen können, aber gleichzeitig auch Erleichterung bringen. Wer den Dingen ernsthaft auf den Grund geht, wird erkennen, dass die akkumulierten Kräfte in unserem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, die in einem politischen Gewaltakt gipfeln, den Schrecken der Atmosphäre ähneln, die sich in Sturm und Blitz manifestieren.
Um der Wahrheit dieser Ansicht ganz und gar auf die Spur zu kommen, muss man sich intensiv in die Erniedrigung durch unsere gesellschaftlichen Missstände einfühlen; das eigene Selbst muss pulsieren von dem Schmerz, dem Leid, der Verzweiflung, die Millionen Menschen tagtäglich ertragen müssen. Tatsächlich können wir nicht einmal annähernd die gerechtfertigte Empörung verstehen, die sich in einer menschlichen Seele sammelt, jene brennende, hervordrängende Leidenschaft, die den Sturm unvermeidbar macht, wenn wir nicht Teil der Menschheit geworden sind.
Die ignorante Masse sieht den Menschen, der gewaltsam gegen unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten protestiert, wie ein wildes Tier, ein grausames, herzloses Monster, das Freude daran hat, Leben zu zerstören und in Blut zu baden, oder vielleicht auch als verantwortungslosen Wahnsinnigen. Nichts könnte der Wahrheit fernerliegen. Tatsächlich sind sich jene, die den Charakter und die Persönlichkeit dieser Menschen studiert haben oder engeren Kontakt mit ihnen hatten, darüber einig, dass es deren extreme Sensibilität gegenüber den sie umgebenden Missständen und Ungerechtigkeiten ist, die sie dazu treibt, den Tribut für unsere gesellschaftlichen Verbrechen zu zahlen. Die berühmtesten Autorinnen und Dichterinnen, die sich mit der Psychologie politischer Straftäterinnen beschäftigt haben, mussten dafür den höchsten Preis zahlen. Kann jemand wirklich annehmen, dass diese Menschen zu Gewalt aufgefordert haben oder dass sie gar die Handlungen gutgeheißen haben? Ganz sicher nicht. Sie wollten die Gesellschaft analysieren, sie wussten, dass sich hinter jeder Gewalthandlung eine grundlegende Ursache verbirgt.
Bjørnstjerne Bjørnson betont im zweiten Teil von Over Ævne[2] die Tatsache, dass wir unter den Anarchistinnen die modernen Märtyrerinnen suchen müssen, die ihre Ansichten mit dem eigenen Blut bezahlen und den Tod mit einem Lächeln willkommen heißen, weil sie so sehr wie Christus selbst glauben, dass ihr Märtyrertum die Menschheit erlösen wird.
Der französische Schriftsteller François Coppée schreibt über die Psychologie des Attentäters:
»Als ich die Einzelheiten über die Hinrichtung Vaillants las, wurde ich nachdenklich. Ich stellte mir vor, wie er seinen Körper unter den Fesseln streckte, mit entschlossenem Schritt voranging, mit festem Willen, der Konzentration all seiner Energie, und den Blick auf die Klinge gerichtet schließlich der Gesellschaft seine letzte Verwünschung ins Gesicht schrie. Und ungewollt erschien plötzlich ein weiteres Bild vor meinem inneren Auge. Ich sah eine Gruppe von Männern und Frauen, die sich unter den starrenden Blicken Tausender Zuschauerinnen inmitten einer länglichen Zirkusarena eng aneinanderpressten, während sich von allen Stufen des riesigen Amphitheaters ein schrecklicher Schrei erhob: Ad leones![3], und unten öffneten sich die Käfige der wilden Bestien. Ich glaubte nicht daran, dass die Hinrichtung wirklich stattfinden würde. Zum einen hatte es kein Todesopfer gegeben, und schon seit langer Zeit war es Sitte, ein fehlgeschlagenes Verbrechen nicht mit der Höchststrafe zu belegen. Weiterhin war dieses Delikt, so schlimm auch sein Vorsatz gewesen war, selbstlos, einer abstrakten Idee entsprungen. Ebenfalls für den Mann sprachen seine Vergangenheit, seine schwere Kindheit, sein hartes Leben. In der unabhängigen Presse wurden großzügige Stimmen laut, die ihn eloquent und entschlossen verteidigten. ›Eine rein literarische Meinungswelle‹, sagten manche voller Verachtung. Im Gegenteil es ist eine Ehrerbietung für den Menschen der Kunst und des Denkens, die wieder einmal ihre Empörung am Schafott zum Ausdruck gebracht haben.«
Und Zola beschreibt in Germinal (1885) und Paris (1895) die Zärtlichkeit und Freundlichkeit, die tiefe Sympathie mit dem menschlichen Leiden dieser Menschen, die das Kapitel ihres Lebens mit einem gewaltsamen Ausbruch gegen unser System abschließen.
Der Mann, der die Psychologie des Attentäters wahrscheinlich besser als jeder andere versteht, ist nicht zuletzt M. Hamon, Autor des brillanten Werks Une Psychologie du Militaire Professionnel, der zu den folgenden vielsagenden Schlussfolgerungen kommt:
»Mit der positiven Methode, bestätigt durch die rationale Methode, können wir uns einen prototypischen Anarchisten vorstellen, dessen Mentalität die Gesamtmenge allgemeiner psychischer Charakteristika ist. Jeder Anarchist hat mit diesem Prototyp ausreichend Merkmale gemein, dass es möglich ist, ihn von anderen Menschen zu unterscheiden. Der typische Anarchist kann also wie folgt definiert werden: Ein Mensch, der für den Geist der Revolte in einer oder mehrerer ihrer Erscheinungsformen – Opposition, Recherche, Kritik, Innovation – empfänglich ist, eine große Liebe zur Freiheit verspürt, egoistisch oder individualistisch und von einer großen Neugier geprägt ist, einer leidenschaftlichen Gier nach Wissen. Diese Charakterzüge werden ergänzt durch überschwängliche Liebe zu anderen, hochentwickelte moralische Sensibilität, starkes Gerechtigkeitsempfinden und das Verspüren von missionarischem Eifer.«
Alvan F. Sanborn ergänzt die oben genannten Charakteristika noch durch folgende edle Eigenschaften: eine außerordentliche Tierliebe, liebliche Ausstrahlung in allen gewöhnlichen Beziehungen des Lebens, außergewöhnliche Ernsthaftigkeit im Auftreten, Bescheidenheit und Zuverlässigkeit, Enthaltsamkeit, sogar vom Leben, und unvergleichlicher Mut.[4]
Es gibt eine Binsenweisheit, die der Mensch auf der Straße stets zu vergessen scheint, wenn er die Anarchistinnen – oder wer auch immer gerade sein schwarzes Schaf ist – zum Sündenbock für irgendein gerade begangenes Verbrechen macht. Diese unstrittige Tatsache ist jene, dass Tötungsdelikte schon seit Menschengedenken die Antwort der angestachelten und verzweifelten Klassen auf durch ihre Mitmenschen verübtes Unrecht sind, das sie als unerträglich empfanden. Solche Taten sind lediglich die gewaltsame Antwort auf Gewalt, sei sie aggressiv oder repressiv; sie stellen den letzten verzweifelten Kampf der empörten und aufgebrachten menschlichen Natur um einen Raum zum Atmen und Leben dar. Und ihre Ursache ist nicht in irgendeiner bestimmten Überzeugung begründet, sondern in den Tiefen der menschlichen Natur selbst. Der komplette Verlauf der Geschichte von Politik und Gesellschaft ist mit Beweisen dafür übersät. Um einige naheliegende Beispiele zu nennen, nehmen wir die drei bekanntesten politischen Parteien, die in den letzten 50 Jahren zu gewaltsamen Mitteln griffen: die Partei Mazzinis in Italien, die Fenier in Irland und die TerroristInnen in Russland. Waren diese Menschen Anarchistlnnen? Nein. Vertraten sie wenigstens alle ein und dieselbe politische Meinung? Nein. Die AnhängerInnen Mazzinis waren RepublikanerInnen, die Fenier politische SeparatistInnen und die RussInnen SozialdemokratInnen oder Konstitutionalistlnnen. Aber allesamt wurden sie durch hoffnungslose Umstände zu dieser schrecklichen Form der Revolte bewegt. Und wenn wir uns von den Parteien abwenden und stattdessen die Individuen betrachten, die in ähnlicher Weise gehandelt haben, sind wir entsetzt über die große Anzahl von Menschen, die aus schierer Verzweiflung zu einem Verhalten angestachelt und gebracht wurden, das ihren sozialen Impulsen auf offensichtlich heftigste Weise konträr entgegenstand.
Nun, da der Anarchismus eine lebendige Kraft in der Gesellschaft geworden ist, sind solche Taten manchmal von AnarchistInnen begangen worden, ebenso wie von anderen auch. Denn kein neuer Glaube, auch nicht der zutiefst friedlichste und menschlichste, der vom Geist des Menschen inzwischen akzeptiert wurde, hat bei seinem ersten Erscheinen auf der Welt Frieden gebracht, sondern das Gegenteil war der Fall; nicht weil in seiner Doktrin etwas gewaltsames oder antisoziales liegt; einfach aufgrund der Entwicklung, die jede neue und kreative Idee in den Köpfen der Menschen in Gang setzt, ob sie das nun akzeptieren oder ablehnen. Und die Wahrnehmung des Anarchismus, der einerseits sämtliche erworbenen Interessen bedroht und andererseits im Ergebnis des Kampfes gegen die bestehenden Missstände die Vision eines freien und ehrbaren Lebens verspricht, muss zwangsläufig erbitterten Widerstand hervorrufen und die ganze repressive Macht des alten Übels in gewaltsamen Kontakt mit dem stürmischen Ausbruch einer neuen Hoffnung bringen.
»Unter elenden Lebensbedingungen lässt jegliche Aussicht auf die Möglichkeit, etwas zu verbessern, die andauernde Misere nur noch unerträglicher erscheinen und spornt die Leidenden zu den aufopferndsten Kämpfen für die Verbesserung ihres Schicksals an. Wenn diese Kämpfe dann unmittelbar noch schlimmeres Elend mit sich bringen, entsteht daraus schiere Verzweiflung. In unserer heutigen Gesellschaft finden beispielsweise ausgebeutete Lohnarbeiterinnen, die eine Ahnung davon bekommen, wie Arbeit und Leben aussehen könnten und sollten, die mühselige Routine und das Elend ihrer Existenz nahezu unerträglich; und selbst wenn sie entschlossen und mutig genug sind, ruhig weiter ihr Bestes auf der Arbeit zu geben und zu warten, bis neue Ideen die Gesellschaft derart durchdrungen haben, dass der Weg für bessere Zeiten geebnet ist, bringt sie die schlichte Tatsache, dass sie diese Ideen haben und zu verbreiten versuchen, in Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgebern. Wie viele Tausende Sozialistinnen und vor allem AnarchistInnen haben aufgrund ihrer Meinung ihre Arbeit verloren und sogar die Chance, einen neuen Job zu finden. Allein besonders begabte Handwerker können selbst als eifrige Propagandisten darauf hoffen, ihre unbefristete Anstellung zu behalten. Und was geschieht mit einem Menschen, dessen Gehirn aktiv neue Ideen ausbrütet, der die Vision einer neuen, aufkeimenden Hoffnung für die schuftenden, gequälten Menschen vor Augen hat, der weiß, dass sein Leiden und das seiner Mitmenschen nicht von einem grausamen Schicksal bestimmt ist, sondern auf die Ungerechtigkeit anderer Menschen zurückzuführen ist – was geschieht mit einem solchen Menschen, wenn er seine Liebsten hungern sieht, wenn er selbst Hunger leidet? Einige, die sich in einer solchen Notlage befinden und keinesfalls unsozial oder unsensibel sind, werden zu gewaltsamen Mitteln greifen und dabei sogar fühlen, dass ihre Gewalt sozialer und nicht antisozialer Natur ist, dass sie, wenn sie zuschlagen, wann und wie sie können, nicht für sich selbst zuschlagen, sondern für die menschliche Natur, verletzt und beraubt in ihrer eigenen Person und der seiner Mitleidenden. Und sollen wir, die wir uns selbst nicht in dieser schrecklichen Zwangslage befinden, diese kläglichen Opfer der Furien und Parzen eiskalt verurteilen? Sollen wir diese Menschen, die mit heldenhafter Hingabe handeln, ihr Leben dem Protest opfern, wo sich weniger soziale und weniger energische Menschen kriecherisch zurückziehen und erbärmlich den herrschenden Ungerechtigkeiten und Missständen unterwerfen, als Missetäter verschreien? Sollen wir in den ignoranten und brutalen Aufschrei einstimmen, der solche Menschen als niederträchtige Monster stigmatisiert, die aus freien Stücken inmitten einer harmonischen und auf unschuldige Weise friedlichen Gesellschaft Amok laufen? Nein! Wir hassen Mord in einer Weise, dass es den Verteidigerinnen der Matabele-Massaker[5], den gefühllosen BefürworterInnen von Hinrichtungen und Bombardierungen eine absurde Übertreibung scheinen mag, aber in solchen Fällen von Mord oder versuchtem Mord, um die es hier geht, lehnen wir es ab, uns der grausamen Ungerechtigkeit schuldig zu machen und die alleinige Verantwortung für die Tat dem unmittelbaren Täter zuzusprechen. Die Schuld für diese Morde liegt bei jedem Mann und jeder Frau, die – bewusst oder aus kalter Gleichgültigkeit – dazu beitragen, die gesellschaftlichen Bedingungen aufrechtzuerhalten, die Menschen in die Verzweiflung treiben. Wer unter Einsatz des eigenen Lebens all seine Kraft dem Versuch widmet, gegen die Missstände seiner Mitmenschen zu protestieren, ist im Vergleich zu den aktiven und passiven UnterstützerInnen von Grausamkeit und Ungerechtigkeit ein Heiliger, selbst wenn sein Leben noch andere Leben neben seinem zerstört. Wer in der Gesellschaft ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn.«[6]
Es überrascht nicht, dass heutzutage jeder Akt politischer Gewalt den AnarchistInnen zugeschrieben wird. Dennoch sind sich fast alle mit der anarchistischen Bewegung vertrauten Menschen der Tatsache bewusst, dass eine große Anzahl von Taten, für die AnarchistInnen zur Rechenschaft gezogen wurden, entweder von der kapitalistischen Presse erfunden oder von der Polizei angestiftet, wenn nicht sogar direkt verübt wurden.
Einige Jahre lang waren zahlreiche Gewaltakte in Spanien begangen worden, für die Anarchistinnen verantwortlich gemacht, wie wilde Tiere gejagt und ins Gefängnis gesteckt wurden. Später kam heraus, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen nicht die AnarchistInnen waren, sondern Angehörige der Polizeikräfte. Der Skandal wurde derart bekannt, dass die konservativen spanischen Zeitungen die Festnahme und Bestrafung des Verantwortlichen, Juan Rull, forderten, der daraufhin zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die sensationellen Beweise, die während des Gerichtsverfahrens ans Licht kamen, zwangen Polizeiinspektor Momento dazu, die AnarchistInnen komplett von jeder Verbindung mit den über einen langen Zeitraum verübten Gewalttaten freizusprechen. Daraufhin wurden etliche Polizisten entlassen, darunter Inspektor Tressols, der aus Rache daraufhin die Tatsache aufdeckte, dass hinter der Bande bombenwerfender Polizisten wiederum andere in weit höheren Positionen standen, die ihnen Mittel zur Verfügung gestellt und für ihren Schutz gesorgt hatten. Das ist eines der zahlreichen verblüffenden Beispiele, wie anarchistische Konspirationen inszeniert werden.
Dass die US-Polizei ebenso leicht einen Meineid leisten kann, dass sie ebenso gnadenlos, ebenso brutal und gerissen vorgeht wie ihre europäischen Kollegen, hat sich schon zu mehreren Anlässen gezeigt. Denken wir nur an die Tragödie vom 11. November 1887 in Chicago, die als Haymarket Riot[7] bekannt wurde. Keiner, der den Fall kennt, kann auch nur den geringsten Zweifel daran hegen, dass die Anarchisten, die von der Justiz in Chicago ermordet wurden, einer Lügen verbreitenden, blutdurstigen Presse und einer grausamen Polizeiverschwörung zum Opfer fielen. Sagte nicht sogar Richter Gary selbst: »Nicht wegen der Bombe vom Haymarket steht ihr vor Gericht, sondern weil ihr Anarchisten seid.«
Die unparteiische und gründliche Analyse dieses Schandflecks auf dem Wappen der USA durch Gouverneur Altgeld bestätigte die brutale Offenheit von Richter Gary. Das war es, was Altgeld dazu brachte, die drei Anarchisten zu begnadigen, womit er sich die bleibende Hochachtung jedes freiheitsliebenden Menschen auf der Welt sicherte.
Wenn wir uns die Tragödie vom 6. September 1901[8] vor Augen fuhren, betrachten wir eines der verblüffendsten Beispiele dafür, wie wenig Gesellschaftstheorien für einen Akt politischer Gewalt verantwortlich sind. »Leon Czolgosz, ein Anarchist, zur Tat angestiftet von Emma Goldman.« Hat sie denn nicht schon vor ihrer Geburt zur Gewalt angestiftet und wird sie das nicht auch über ihren Tod hinaus weiter tun? Bei diesen Anarchistinnen ist alles möglich.
Selbst heute noch, neun Jahre nach der Tragödie, nachdem Hunderte Male bewiesen wurde, dass Emma Goldman nichts mit der Sache zu tun hatte, dass keinerlei Beweise dafür existierten, dass sich Czolgosz jemals als Anarchist bezeichnet hatte, treffen wir auf dieselbe Lüge, von der Polizei in die Welt gesetzt und von der Presse verbreitet. Kein Lebewesen hat jemals gehört, dass Czolgosz diese Aussage gemacht hätte, und es gibt kein einziges geschriebenes Wort, das beweist, dass der Junge die Anschuldigung jemals zugegeben hätte. Nichts als Ignoranz und wahnsinnige Hysterie, mit denen noch nie das simpelste Problem von Ursache und Wirkung gelöst werden konnte.
Der Präsident einer freien Republik, getötet! Da kann es keine andere Ursache geben als die, dass der Attentäter entweder geisteskrank ist oder zu der Tat angestiftet wurde. Eine freie Republik! Wie sich ein Mythos doch aufrecht erhalten kann, wie er immer wieder selbst vergleichsweise intelligente Menschen mit seinen monströsen Absurditäten zu täuschen, zu betrügen, zu blenden vermag. Eine freie Republik! Und dennoch ist es in etwas mehr als 30 Jahren einer kleinen parasitären Bande gelungen, das US-amerikanische Volk erfolgreich zu bestehlen und auf den grundlegenden Prinzipien herumzutrampeln, die von den Vätern dieses Landes festgeschrieben wurden und jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind »Leben, Freiheit und andauerndes Glück« garantieren. Mehr als 30 Jahre lang haben sie auf Kosten einer riesigen Masse von Arbeiterinnen ihren Reichtum und ihre Macht vermehrt und gleichzeitig die Armee der Arbeitslosen, der Hungrigen, der Obdachlosen, des freundlosen Anteils der Menschen erhöht, die das Land von Ost nach West, von Nord nach Süd auf der vergeblichen Suche nach Arbeit durchstreifen. Viele Jahre lang blieb das Zuhause den Kleinen überlassen, während die Eltern gegen einen Hungerlohn ihr Leben und ihre Kräfte aufbrauchten. Mehr als 30 Jahre lang sind die unbeugsamen Söhne Amerikas auf dem Schlachtfeld des industriellen Krieges geopfert worden und seine Töchter wurden in pervertierten Fabrikumgebungen misshandelt. Lange, erschöpfende Jahre hat dieser Prozess angedauert, im Zuge dessen die Gesundheit, die Kraft und der Stolz des Landes untergraben wurden, ohne dass die Entrechteten und Unterdrückten großartig dagegen protestiert hätten. Rasend vom Erfolg und siegestrunken wurden die Mächte des Geldes ›unseres freien Landes‹ immer dreister in ihren herzlosen, grausamen Anstrengungen, um mit den miesen und heruntergekommenen europäischen Tyranneien im Wettbewerb um die Vorherrschaft der Macht mithalten zu können.
Vergeblich versuchte die verlogene Presse Leon Czolgosz zum Ausländer zu machen. Der Junge war ein Produkt unseres eigenen freien US-amerikanischen Bodens, der ihn in den Schlaf gesungen hat mit den Worten:
»My country, ‚tis of thee,
Sweet land of liberty.«
Wer kann sagen, wie oft dieser Junge der USA am 4. Juli[9] oder am Memorial Day[10] gejubelt hat, wenn er treuherzig den Toten des Landes seine Ehre erwies? Wer weiß schon, dass auch er selbst bereit war, »für sein Land zu kämpfen und für dessen Freiheit zu sterben«, bis ihm eines Tages bewusst wurde, dass die Seinen kein Land haben, da sie all dessen beraubt wurden, was sie produziert hatten; bis er bemerkte, dass die Freiheit und Unabhängigkeit seiner jugendlichen Träume nichts als eine Farce waren. Armer Leon Czolgosz, dein Verbrechen bestand darin, dass dein soziales Gewissen zu empfindsam war. Anders als bei deinen Landsleuten, denen es an Idealen und Gehirn mangelt, ragten deine Ideale über deinen Magen und dein Bankkonto hinaus. Kein Wunder, dass du inmitten des wütenden Mobs bei deiner Verhandlung einen Menschen – die Journalistin – tief beeindruckt hast als Visionär, der seine Umgebung komplett auszublenden verstand. Deine großen, verträumten Augen müssen einen neuen, glorreichen Morgen gesehen haben.
Nun zu einem jüngeren Beispiel für durch die Polizei inszenierte anarchistische Verschwörungen. In jener blutbefleckten Stadt Chicago verübte ein junger Mann namens Averbuch ein Attentat auf Polizeichef Shippy. Sofort wurde in alle Richtungen der Welt ausgerufen, dass Averbuch ein Anarchist war und die Anarchistinnen somit für die Tat verantwortlich seien. Jeder, der für seine anarchistische Gesinnung bekannt war, wurde strengstens beobachtet, es gab eine Reihe von Festnahmen, die Bibliothek einer anarchistischen Gruppe wurde konfisziert und jegliche Versammlungen unmöglich gemacht. Selbstverständlich wurde ich, wie schon zu anderen Anlässen zuvor, für die Tat verantwortlich gemacht. Offenbar glaubt die US-Polizei, dass ich über geheime Kräfte verfüge. Dabei kannte ich Averbuch gar nicht; tatsächlich hatte ich seinen Namen noch nie zuvor gehört und die einzige Art und Weise, wie ich mit ihm einen ›Komplott‹ hätte schmieden können, wäre mit meinem Astralkörper gewesen. Aber die Polizei interessiert sich nicht für Logik oder Gerechtigkeit. Sie sucht nach einer Zielscheibe, um dahinter ihre Unwissenheit bezüglich der Ursache, der Psychologie einer politischen Tat, zu verstecken. War Averbuch Anarchist? Es gibt keinerlei Hinweise darauf. Er war erst seit drei Monaten im Land, war der englischen Sprache nicht mächtig und, soweit ich das nachprüfen konnte, den Anarchistinnen von Chicago weitgehend unbekannt.[11]
Was trieb ihn zu seiner Tat? Wie die meisten jungen russischen Einwanderer und Einwanderinnen glaubte Averbuch ohne Zweifel an die mythische Freiheit Amerikas. Seine erste Taufe erhielt er, als der Polizeiclub brutal eine Demonstration von Arbeitslosen zerschlug. Dann konnte er den amerikanischen Traum von Gleichheit und unbegrenzten Möglichkeiten am eigenen Leibe erfahren, als er sich auf die vergebliche Suche nach einer Anstellung machte. Kurz gesagt, der dreimonatige Aufenthalt im glorreichen Land konfrontierte ihn von Angesicht zu Angesicht mit der Tatsache, dass die Entrechteten auf der ganzen Welt in der gleichen Lage sind. In seiner Heimat hatte er wahrscheinlich gelernt, dass Not kein Gesetz kennt – zwischen einem russischen und einem amerikanischen Polizisten gab es keinen Unterschied.
Die Frage, die sich intelligenten BeobachterInnen der Gesellschaft stellt, ist nicht die, ob Czolgoszs oder Averbuchs Handlungen praktisch waren, wie man auch nicht fragt, ob ein Gewitter praktisch ist. Was sich aber unmittelbar im Denken und Fühlen von Männern und Frauen manifestiert, ist die Tatsache, dass das Miterleben des brutalen Niederknüppeln unschuldiger Opfer in einer sogenannten freien Republik und der erniedrigende, zehrende Kampf um das wirtschaftliche Überleben den Funken nährt, der die dynamische Kraft in den überreizten, empörten Seelen von Menschen wie Czolgosz oder Averbuch entzündet. Dieses gesellschaftliche Phänomen lässt sich durch keinerlei Verfolgung, Hetzjagd, Unterdrückung aufhalten.
Aber, so wird häufig gefragt, haben nicht anerkannte AnarchistInnen Gewalt angewendet? Natürlich haben sie das, jedoch stets bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ich bin der Meinung, dass sie nicht von den Lehren des Anarchismus angetrieben wurden, sondern durch den enormen Druck der herrschenden Bedingungen, die das Leben für ihr sensibles Wesen unerträglich machten. Natürlich ist der Anarchismus, ebenso wie jede andere Gesellschaftstheorie, die den Menschen zur bewussten gesellschaftlichen Einheit ernennt, ein Nährboden für Rebellion. Das ist keine bloße Behauptung, sondern eine Tatsache, die sich durch Erfahrungen belegen lässt. Eine gründliche Untersuchung der Umstände bezüglich dieser Frage soll der näheren Erläuterung meiner Einstellung dienen.
Nehmen wir einige der wichtigsten anarchistischen Taten der letzten zwei Jahrzehnte. So verwunderlich es auch scheinen mag, so steht eine der bedeutendsten politisch motivierten Gewalttaten, die hier in den USA stattfand, in Verbindung mit dem Homestead-Streik[12].
In dieser denkwürdigen Zeit wurde im Carnegie-Stahlwerk ein Komplott ausgeheckt, um den Zusammenschluss der Eisen- und Stahlwerker zu zerschlagen. Henry Clay Frick, damals Direktor des Unternehmens, wurde mit dieser demokratischen Aufgabe betraut. Er setzte seine Politik zur Zerschlagung der Gewerkschaft durch, ohne Zeit zu verlieren – eine Politik, die er schon während seiner Terrorherrschaft in den Koksregionen äußerst erfolgreich praktiziert hatte. Während die Friedensverhandlungen künstlich in die Länge gezogen wurden, traf Frick im Verborgenen militärische Vorbereitungen, baute das Stahlwerk von Homestead zu einer Art Festung um, ließ einen hohen Bretterzaun mit Stacheldraht und Schießscharten für Scharfschützen errichten. Und dann, mitten in der Nacht, versuchte er, seine Armee angeheuerter bewaffneter Hundertschaften der Pinkerton-Agentur[13] in die Homestead-Fabrik einzuschleusen, die sogleich ein schreckliches Blutbad unter den Stahlarbeitern anrichtete. Aber der Tod der elf Opfer des Pinkerton-Gemetzels befriedigte Henry Clay Frick, den guten Christen und freien Amerikaner, noch nicht. Unmittelbar nach dem Massaker begann er eine Hetzjagd auf ihre hilflosen Frauen und Waisenkinder und zwang sie zum Verlassen der heruntergekommenen Behausungen, die zur Fabrik gehörten. Das ganze Land erregte sich über diese unmenschlichen Verbrechen. Hunderte protestierende Stimmen wurden laut, forderten Frick zur Mäßigung auf, dazu, nicht zu weit zu gehen. Ja, hunderte Menschen protestierten – so wie jemand gegen nervende Fliegen protestiert. Nur einer war unter ihnen, der aktiv etwas gegen das Unrecht von Homestead unternahm – Alexander Berkman. Ja, er ist Anarchist. Er hielt diese Tatsache hoch, denn es war die einzige Kraft, die die Differenz zwischen der Sehnsucht seines Geistes und der wirklichen Welt überhaupt erträglich machte. Dennoch war es nicht der Anarchismus als solcher, sondern das brutale Abschlachten der elf Stahlarbeiter, das Alexander Berkman zu dem Attentat gegen Henry Clay Frick trieb.
In Europa finden sich auf der Liste der politischen Gewaltakte zahlreiche bemerkenswerte Beispiele für den Einfluss der Umwelt auf empfindsame Menschen.
Auguste Vaillant, der 1894 einen Bombenanschlag auf die Französische Nationalversammlung verübte, hielt bei seiner Gerichtsverhandlung eine Rede, die die wahre Essenz der Psychologie solcher Handlungen unterstreicht:
»Meine Herren, in wenigen Minuten werden Sie mir den Schlag ihres Urteils versetzen, aber indem ich ihren Urteilsspruch erhalte, soll mir wenigstens die Befriedigung bleiben, dass ich die existierende Gesellschaft verletzt habe, jene verfluchte Gesellschaft, in der ein einzelner Mensch eine Geldmenge sinnlos ausgeben kann, von der Tausende Familien ernährt werden könnten; eine schändliche Gesellschaft, die es einigen wenigen Individuen erlaubt, sämtlichen Reichtum der Gesellschaft zu monopolisieren, während Hunderttausende Unglückliche weniger zu essen haben als Hunde und während sich ganze Familien das Leben nehmen, weil sie ihre Bedürfnisse im Leben nicht erfüllen können.
Ach, meine Herren, wenn die regierende Klasse sich doch zu den Unglücklichen herabneigen könnte! Aber nein, sie zieht es vor, die Ohren vor deren Beschwerden zu verschließen. Das Verhängnis scheint sie, wie das Königtum des 18. Jahrhunderts, auf den Abgrund zuzutreiben, der sie verschlingen wird, denn Leid wird über jene kommen, die die Ohren vor den Schreien der Hungernden verschließen, Leid über jene, die sich für etwas Besseres halten und sich das Recht herausnehmen, die unter ihnen auszubeuten! Es wird eine Zeit kommen, in der die Menschen nicht mehr nachdenken; sie erheben sich wie ein Sturm und ziehen vorbei wie ein reißender Strom. Dann werden wir blutige Köpfe auf Pfählen aufgespießt sehen.
Unter den Ausgebeuteten, meine Herren, gibt es zwei Klassen von Individuen. Die der einen Klasse wissen nicht, was sie sind und was sie sein können, sie nehmen das Leben, wie es kommt, glauben daran, dass sie zur Sklaverei geboren wurden und geben sich mit dem Wenigen zufrieden, das sie im Austausch für ihre Arbeitskraft bekommen. Aber es gibt andere, die im Gegensatz dazu denken, sich bilden und, wenn sie ihre Lage betrachten, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten entdecken. Ist es ihre Schuld, wenn sie einen klaren Blick haben und leiden, wenn sie andere leiden sehen? Dann ziehen sie in den Kampf und werden zu UberbringerInnen der Forderungen der Menschen.
Meine Herren, ich gehöre zu letzteren. Wo ich auch hingegangen bin, habe ich die Unglücklichen gesehen, die das Joch des Kapitals gebeugt hat. Überall habe ich die gleichen Wunden gesehen, aus denen Blut wie Tränen rann, selbst in den abgelegenen Gegenden der unbewohnten Bezirke Südamerikas, wo ich das Recht zur Annahme hatte, dass der Mensch, des Schmerzes der Zivilisation überdrüssig, im Schatten von Palmen ruhe und die Natur studiere. Doch gerade dort, mehr als anderswo, habe ich gesehen wie das Kapital, einem Vampir gleich, den letzten Blutstropfen aus den unglücklichen Ausgestoßenen saugte.
Dann kam ich nach Frankreich zurück, wo es mir bestimmt war, das furchtbare Leiden meiner Familie zu sehen. Das war der Tropfen, der das Fass meines Schmerzes zum Überlaufen brachte. Dieses Lebens voller Leid und Feigheit überdrüssig, brachte ich diese Bombe zu jenen, die hauptsächlich für das gesellschaftliche Elend verantwortlich sind.
Man wirft mir die Wunden derer vor, die durch mein Geschoss verletzt wurden. Gestatten Sie mir die beiläufige Bemerkung, dass die Bourgeoisie, wenn sie während der Revolution nicht Massaker durchgeführt oder veranlasst hätte, wahrscheinlich noch immer unter dem Joch des Adels leiden würde. Zählen Sie andererseits die Toten und Verwundeten auf der Tonquin oder der Madagaskar und addieren Sie dazu die Tausenden, ja die Millionen Unglücklichen, die in den Fabriken, den Minen und überall, wo die zermahlende Kraft des Kapitals zu spüren ist, sterben. Addieren Sie außerdem diejenigen zu, die verhungern, und all das mit Zustimmung unserer Abgeordneten. Wie unbedeutend ist doch angesichts all dessen das, was Sie mir vorwerfen!
Es ist wahr, dass das eine nicht das andere auslöscht; aber ist es nicht schließlich ein Akt der Verteidigung, wenn wir auf die Hiebe antworten, die wir von oben bekommen? Ich weiß sehr wohl, dass man mir sagen wird, ich hätte mich auf das Reden beschränken sollen, um die Forderungen der Menschen zu vertreten. Aber was erwarten Sie! Um von Tauben gehört zu werden, braucht man eine laute Stimme. Zu lange schon sind unsere Stimmen mit Gefängnis, dem Strang, Gewehrsalven beantwortet worden. Machen Sie keinen Fehler; die Explosion meiner Bombe ist nicht nur der Aufschrei des Rebellen Vaillant, sondern der Aufschrei einer ganzen Klasse, die ihre Rechte einfordert und ihren Worten bald Taten folgen lassen wird. Denn, seien Sie sich dessen sicher, Gesetze werden umsonst erlassen. Die Ideen der DenkerInnen sind nicht aufzuhalten; so wie im letzten Jahrhundert sämtliche Regierungskräfte nicht die Diderots und Voltaires daran hindern konnten, emanzipatorische Ideen unter die Menschen zu bringen, werden sämtliche existierenden Regierungskräfte nicht die Reclus, die Darwins, die Spencers, die Ibsens, die Mirbeaus daran hindern können, ihre Ideen von Gerechtigkeit und Freiheit zu verbreiten, die mit den Vorurteilen aufräumen werden, mit denen die Masse unwissend gehalten wird. Und diese Ideen, von den Unglücklichen mit Hurra begrüßt, werden in Akten der Revolte Früchte tragen, wie sie es in mir getan haben, bis zu dem Tag, wenn das Verschwinden der Autorität allen Menschen ermöglichen wird, sich frei nach ihrer eigenen Wahl zu organisieren, wenn jeder Mensch in der Lage sein wird, sich am Produkt seiner Arbeit zu erfreuen, und wenn jene moralischen Übel, die Vorurteile genannt werden, verschwunden sein werden und den Menschen ein Leben in Harmonie ermöglichen, in dem sie keinen anderen Wunsch haben, als sich den Wissenschaften zu widmen und ihre Mitmenschen zu lieben.
Ich schließe, meine Herren, mit den Worten, dass eine Gesellschaft, in der solche sozialen Ungleichheiten sichtbar sind, wie wir hier überall um uns herum sehen, in der sich jeden Tag Menschen aus Armut das Leben nehmen, an jeder Straßenecke Prostituierte stehen – eine Gesellschaft, deren wichtigste Denkmäler Baracken und Gefängnisse sind – dass eine solche Gesellschaft so schnell wie möglich verändert werden muss, auf die Gefahr hin, dass sie von der Menschheit abgeschafft wird, und das schnell. Wohl dem, der für diesen Wandel arbeitet, egal mit welchen Mitteln. Es ist diese Idee, die mich in meinem Duell mit der Autorität geleitet hat, aber da ich in diesem Duell meinen Gegner nur verwundet habe, ist es nun an ihm, den Schlag gegen mich auszuführen.
Nun, meine Herren, mir bedeutet es wenig, welche Strafe Sie mir auferlegen, denn wenn ich mit den Augen des Verstandes in diese Versammlung schaue, kann ich ein Lächeln nicht unterdrücken, weil ich Sie sehe, in der Materie verlorene Atome, und ich kann nur denken, dass Sie sich, nur weil Sie ein verlängertes Rückenmark haben, das Recht herausnehmen, einen Ihrer Mitmenschen zu verurteilen.
Oh, meine Herren, wie wenig bedeuten doch Ihre Versammlung und Ihr Urteil in der Geschichte der Menschheit; und diese Geschichte ist wiederum selbst nur ein Staubkorn in jenem Wirbelsturm, der sie durch die Unermesslichkeit trägt und zum Verschwinden bestimmt ist, oder wenigstens zum Wandel, um die gleiche Geschichte und die gleichen Tatsachen noch einmal zu beginnen, ein wahrhaft ewiges Spiel kosmischer Kräfte, die sich selbst fortwährend erneuern und verändern.«
Kann jemand behaupten, Vaillant sei ein Ignorant, ein bösartiger Mensch oder ein Geistesgestörter gewesen? War sein Geist nicht einzigartig klar und analytisch? Kein Wunder, dass sich die wichtigsten intellektuellen Kräfte Frankreichs zu seiner Verteidigung aussprachen und die Petition an Präsident Carnot unterzeichneten, in der sie ihn zur Umwandlung von Vaillants Todesurteil aufforderten.
Carnot aber hörte auf kein inständiges Bitten; er kannte keine Gnade, er wollte Vaillants Leben, und dann – geschah das Unvermeidliche: Präsident Carnot wurde getötet. Auf dem Griff des Dolches, den der Attentäter verwendete, stand deutlich geschrieben:
VAILLANT!
Sante Caserio war Anarchist. Er hätte flüchten, sich retten können; aber er blieb und stellte sich den Konsequenzen.
Er begründete seine Tat mit der Unschuld eines Kindes auf so einfache, würdige Weise, dass man an die bewegende Hommage erinnert wird, die Ada Negri, die italienische Dichterin und Caserios Lehrerin an der kleinen Dorfschule, ihm widmete. Sie nannte ihn eine schöne, zarte Pflanze, zu fein und empfindsam beschaffen, als dass er die Grausamkeit der Welt hätte aushalten können.
»Hohes Gericht! Ich habe nicht vor, mich zu verteidigen, aber ich möchte meine Tat erklären.
Seit meiner frühen Jugend habe ich gelernt, dass die Gesellschaft von heute schlecht organisiert ist, so schlecht, dass sich tagtäglich viele verzweifelte Männer das Leben nehmen und Frauen und Kinder in unbeschreiblichem Leid zurücklassen. Arbeiterinnen suchen zu Tausenden nach Arbeit und finden keine. Arme Familien betteln um Nahrung und zittern vor Kälte; sie erleiden das größte Elend; die kleinen Kinder bitten ihre unglücklichen Mütter um Essen und die Mütter können es ihnen nicht geben, weil sie nichts haben. Die wenigen Dinge im Haushalt, die noch da waren, sind nun verkauft oder verpfändet. Alles, was ihnen bleibt, ist, um Almosen zu betteln; oft werden sie als VagabundInnen verhaftet.
Ich verließ den Ort meiner Geburt, weil ich dort unter Tränen litt, wenn ich sah, wie kleine Mädchen im Alter von acht oder zehn Jahren dazu gezwungen wurden, 15 Stunden am Tag für einen Witz von Lohn zu arbeiten. Und dieses Schicksal ist nicht allein meinen Landsleuten vorbehalten, sondern allen Arbeiterinnen, die den ganzen Tag lang schwitzen, um sich einen Brotkanten zu verdienen, während sie mit ihrer Arbeitskraft Reichtum im Überfluss produzieren. Die Arbeiterinnen sind gezwungen, unter schlimmsten Bedingungen zu leben, und ihre Nahrung besteht aus einem bisschen Brot, ein paar Löffeln voll Reis und Wasser; im Alter von 30 oder 40 Jahren sind sie dann aufgebraucht und gehen in die Krankenhäuser, um zu sterben. Außerdem leiden diese unglücklichen Kreaturen aufgrund der schlechten Nahrung und der Überarbeitung zu Hunderten an Pellagra – einer Krankheit, die, so sagen die Ärzte, in meinem Land jene befällt, die schlecht ernährt sind und ein Leben voller Mühen und Entbehrung führen.
Ich habe beobachtet, dass sehr viele Menschen hungrig sind und viele Kinder leiden, während es in den Städten Brot und Kleidung im Überfluss gibt. Ich habe viele große Geschäfte gesehen, die voller Stoffe und Wollsachen waren, und ich habe auch Lagerhäuser voller Weizen und Mais gesehen, die den Bedürftigen gerade recht kämen. Und auf der anderen Seite habe ich Tausende Menschen gesehen, die nicht arbeiten, die nichts produzieren und von der Arbeitskraft der anderen leben; die jeden Tag Tausende Franc zu ihrem Vergnügen ausgeben; die die Töchter der Arbeiterinnen verführen; deren Wohnungen 40 oder 50 Zimmer haben; die 20 oder 30 Pferde besitzen, eine große Dienerschaft – kurz gesagt, denen alle Vergnügen des Lebens offen stehen.
Ich glaubte einmal an Gott; aber als ich eine solch große Ungleichheit zwischen den Menschen sah, erkannte ich, dass nicht Gott die Menschen erschaffen hatte, sondern der Mensch Gott. Und ich erkannte, dass jene, die ihren Besitz anerkannt wissen wollen, ein Interesse daran haben, die Existenz von Paradies und Hölle zu predigen und die Menschen unwissend zu halten.
Vor nicht allzu langer Zeit warf Vaillant im Abgeordnetenhaus eine Bombe, um so gegen das derzeitige Gesellschaftssystem zu protestieren. Er tötete keinen, nur einige wurden verletzt; doch die bourgeoise Justiz verurteilte ihn zum Tode. Und mit der Verurteilung des Schuldigen noch nicht zufrieden, begann man mit der Verfolgung der Anarchisten und verhaftete nicht nur jene, die Vaillant gekannt hatten, sondern auch alle, die jemals bei einem anarchistischen Vortrag gewesen waren.
Die Regierung dachte nicht an deren Frauen und Kinder. Ihr war es gleich, dass die Männer in Gefangenschaft nicht die einzigen waren, die litten, und dass ihre kleinen Kinder vor Hunger weinten. Die bourgeoise Justiz kümmerte sich nicht um diese Unschuldigen, die noch nicht einmal wissen, was Gesellschaft ist. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihre Väter im Gefängnis sitzen; sie haben einfach nur Hunger.
Dann durchsuchte die Regierung Privatwohnungen, öffnete persönliche Briefe, verbot Vorträge und Versammlungen und unterdrückte uns in den schändlichsten Formen. Selbst jetzt sitzen Hunderte Anarchistinnen in Haft, weil sie einen Artikel in einer Zeitung geschrieben oder ihre Meinung öffentlich geäußert haben.
Hohes Gericht, Sie repräsentieren die bourgeoise Gesellschaft. Wenn Sie meinen Kopf wollen, können Sie ihn haben; aber glauben Sie nicht, dass Sie auf diese Weise die anarchistische Propaganda stoppen können. Geben Sie acht, denn die Menschen werden ernten, was sie gesät haben.«
Bei einer religiösen Prozession in Barcelona im Jahr 1896 wurde eine Bombe geworfen. Sofort verhaftete man 300 Männer und Frauen. Einige waren Anarchistinnen, die meisten jedoch waren GewerkschafterInnen und SozialistInnen. Sie wurden in jener schrecklichen Bastille Montjuich inhaftiert und auf schlimmste Weise gefoltert. Nachdem eine Anzahl von ihnen getötet wurde und andere wahnsinnig geworden waren, wurden ihre Fälle von der liberalen Presse Europas aufgerollt, was die Freilassung einiger weniger Überlebender zur Folge hatte.
Der Hauptverantwortliche für diese Wiedergeburt der Inquisition war Canovas del Castillo, der spanische Premierminister. Er war es, der anordnete, die Opfer zu foltern, ihr Fleisch zu verbrennen, ihre Knochen zu zerbrechen, ihre Zungen herauszuschneiden. Canovas, der sich während seines Regimes in Kuba in der Kunst der Brutalität geschult hatte, blieb gegenüber den Apellen und Protesten des erwachten Gewissens der Bevölkerung absolut taub.
1897 wurde Canovas del Castillo von einem jungen Italiener namens Michele Angiolillo Lombardi erschossen. Letzterer war in seinem Heimatland Verleger gewesen und hatte mit seinen kühnen Äußerungen bald die Aufmerksamkeit der Autoritäten auf sich gezogen. Seine Verfolgung begann, und Angiolillo floh aus Italien nach Spanien, dann nach Frankreich und Belgien, um sich schließlich in England niederzulassen. Als er dort eine Anstellung als Schriftsetzer fand, freundete er sich sogleich mit all seinen Kolleginnen an. Einer davon beschrieb später Angiolillo folgendermaßen: »In seiner Erscheinung erinnerte er mehr an einen Journalisten als an einen Jünger Guttenbergs. Auch seine zarten Hände verrieten, dass er nicht in der ›Kaste‹ groß geworden war. Mit seinem hübschen, ehrlichen Gesicht, dem weichen, dunklen Haar und seiner wachsamen Mimik wirkte er wie der Inbegriff des temperamentvollen Südländers. Angiolillo sprach Italienisch, Spanisch und Französisch, aber kein Englisch; das bisschen Französisch, das ich sprechen konnte, reichte nicht für eine längere Konversation. Trotzdem eignete sich Angiolillo rasch die englische Sprache an; er lernte schnell, verspielt, und es dauerte nicht lange, dass er bei seinen Kollegen sehr beliebt wurde. Seine kultivierte und gleichzeitig bescheidene Art und die Achtung, die er ihnen entgegenbrachte, ließen ihn schnell die Herzen der Jungs gewinnen.«
Angiolillo machte sich nach kurzer Zeit mit detaillierten Presseberichten vertraut. Er las über die große Welle der Sympathie mit den hilflosen Opfern im Montjuich. Auf dem Trafalger Square sah er mit eigenen Augen die Spuren jener Grausamkeiten, als die wenigen Spanier, die den Klauen Castillos entkommen konnten, nach England kamen, um Asyl zu suchen. Dort öffneten diese Männer mitten in der großen Versammlung ihre Hemden und zeigten die schrecklichen Narben ihres verbrannten Fleisches. Angiolillo sah das und die Wirkung war stärker als tausend Theorien; der Impuls stärker als Worte, als Argumente, sogar stärker als er selbst.
Señor Antonio Canovas del Castillo, der spanische Premierminister, weilte gerade in Santa Agueda. Wie stets zu solchen Gelegenheiten wurden alle Fremden von seiner erhabenen Gegenwart ferngehalten. Im Falle des vornehm aussehenden, elegant gekleideten Italieners – des Repräsentanten einer wichtigen Zeitschrift, versteht sich – machte man jedoch eine Ausnahme. Der vornehme Herr war – Angiolillo.
Señor Canovas, der gerade sein Haus verlassen wollte, trat auf die Veranda. Plötzlich griff ihn Angiolillo an. Ein kurzer Kampf und Canovas war tot.
Die Frau des Premierministers erschien am Tatort. »Mörder! Mörder!«, schrie sie und zeigte auf Angiolillo. Der verbeugte sich. »Pardon, Madame«, sagte er, »ich respektiere Sie als Frau, aber ich bedaure, dass Sie die Frau dieses Mannes waren.«
Ruhig sah Angiolillo dem Tod entgegen. Tod in seiner schrecklichsten Form, denn die Seele dieses Mannes war wie die eines Kindes.
Er wurde durch die Garotte getötet. Sein Körper lag da, von der Sonne geküsst, bis sich der Tag zur Dämmerung neigte, und die Menschen kamen, zeigten voller Schrecken und Angst mit dem Finger auf ihn und sagten: »Da – der Verbrecher – der furchtbare Mörder.«
Wie dumm, wie grausam ist doch die Ignoranz! Stets missversteht sie, stets verurteilt sie.
Eine bemerkenswerte Parallele zu Angiolillos Fall findet sich in der Tat von Gaetano Bresci, dessen Attentat auf König Umberto eine Stadt in den USA berühmt machte.
Bresci kam in die USA, dieses Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo der Mensch nicht anders kann, als sein Glück zu finden. Ja, auch er würde es versuchen. Er würde hart und treu arbeiten. Arbeit schreckte ihn nicht, wenn sie ihm nur zu Unabhängigkeit, Manneskraft und Selbstachtung verhelfen würde. Und so ließ er sich voller Hoffnung und Enthusiasmus in Paterson, New Jersey, nieder, wo er in einer der Fabriken der Stadt eine ganz gut bezahlte Stelle als Weber fand, mit der er sechs Dollar die Woche verdiente. Sechs ganze Dollar pro Woche, das war ohne Zweifel ein Vermögen für einen Italiener, aber zum Leben in dem neuen Land reichte es leider nicht. Er liebte sein kleines Zuhause. Er war ein guter Ehemann und seiner Bambina Bianca, die er vergötterte, ein hingebungsvoller Vater. Er arbeitete und arbeitete mehrere Jahre lang. Tatsächlich gelang es ihm sogar, von seinem Wochenlohn von sechs Dollar eine Summe von 100 Dollar anzusparen.
Bresci hatte ein Ideal. Ich weiß, für einen Arbeiter ist es närrisch, ein Ideal zu haben. Sein Ideal war La Questione Sociale, eine anarchistische Zeitung, die in Paterson erschien. Trotz der Erschöpfung von der Arbeit half er Woche für Woche, die Zeitung vorzubereiten. Bis in die späten Abendstunden hielt er durch, und als der kleine Wegbereiter all seine Reserven aufgebraucht hatte, brachte Bresci Freude und Hoffnung, 100 Dollar, die Ersparnisse eines ganzen Jahres. Das würde die Zeitung am Leben erhalten.
In seinem Heimatland hungerten die Menschen. Die Ernten waren schlecht gewesen und die Bauern sahen sich einer Hungersnot gegenüber. Sie wandten sich an ihren guten König Umberto; er würde ihnen helfen. Und das tat er. Die Frauen der Bauern, die zum Palast des Königs gegangen waren, hielten stumm ihre ausgemergelten Kinder in die Höhe. Das würde sein Herz sicher erweichen. Und dann schossen die Soldaten und töteten jene armen Narren.
Bresci las auf der Arbeit in der Weberei in Paterson über das schreckliche Massaker. Vor seinem geistigen Auge sah er die wehrlosen Frauen und unschuldigen Kinder seiner Heimat, die unter den Blicken des guten Königs abgeschlachtet worden waren. Seine Seele wand sich vor Schrecken. Nachts verfolgte ihn das Stöhnen der Verwundeten. Seine eigenen Mitstreiterinnen mögen darunter gewesen sein, seine eigenen Familienangehörigen. Warum, warum diese widerlichen Morde?
Die kleine Versammlung der italienischen Anarchistengruppe in Paterson endete fast in einer Schlägerei. Bresci hatte seine 100 Dollar zurückgefordert. Die anderen baten, ja sie flehten ihn an, ihnen Aufschub zu gewähren. Die Zeitung würde eingehen, wenn sie ihm sein Darlehen zurückzahlen müssten. Aber Bresci bestand darauf.
Wie grausam und dumm ist die Ignoranz. Bresci bekam das Geld, verlor aber das Wohlwollen und Vertrauen seiner MitstreiterInnen. Sie wollten nichts mehr mit einem zu tun haben, da in ihren Augen seine Gier größer als seine Ideale schien.
Am 29. Juli 1900 wurde König Umberto in Monzo getötet. Gaetano Bresci, der junge italienische Weber aus Paterson, hatte dem Leben des guten Königs ein Ende bereitet.
Paterson wurde unter polizeiliche Beobachtung gestellt, alle, die als AnarchistInnen bekannt war, gejagt und verfolgt und Brescis Tat wurde auf die Lehren des Anarchismus zurückgeführt. Als ob die Lehren des Anarchismus in ihrer extremsten Form mit der Kraft dieser ermordeten Frauen und Kinder, die sich mit der Bitte um Hilfe zum König begeben hatten, vergleichbar sein könnte. Als ob ein gesprochenes Wort, so treffend es auch sein möge, sich mit so greller Hitze in eine menschliche Seele einbrennen könnte, wenn das Blut des Lebens Tropfen für Tropfen aus jenen sterbenden Gestalten rinnt. Der durchschnittliche Mensch wird nur selten von Worten oder Taten bewegt; und jene, deren Verbindung zur Gesellschaft die größte lebende Kraft ist, müssen nicht um eine Reaktion auf Missstände und Schrecken gebeten werden – sie verhalten sich wie der Stahl zum Magneten.
Wenn eine Gesellschaftstheorie ein so starker Faktor ist, um Akte politischer Gewalt anzustiften, wie erklären wir dann die gewaltsamen Ausschreitungen, die vor Kurzem in Indien stattgefunden haben, wo der Anarchismus noch kaum Wurzeln geschlagen hat. Mehr als jede andere alte Philosophie haben die Hindu-Lehren den passiven Widerstand gepredigt, das Dahintreiben des Lebens, das Nirvana als höchstes spirituelles Ideal. Aber die gesellschaftlichen Unruhen in Indien werden Tag für Tag heftiger und gipfelten erst vor Kurzem in einem politischen Gewaltakt, dem Mord an Sir Curzon Wyllie durch den Hindu Madan Lal Dhingra.
Wenn ein solches Phänomen in einem Land auftreten kann, das jahrhundertelang gesellschaftlich wie individuell vom Geist der Passivität durchdrungen war, kann man dann die gewaltige, revolutionäre Wirkung anzweifeln, die große soziale Ungerechtigkeiten auf den menschlichen Charakter haben? Logik und Wahrheitsgehalt der folgenden Worte sind wohl nur schwer in Frage zu stellen:
»Repression, Tyrannei und die wahllose Bestrafung unschuldiger Menschen waren die Schlagworte der von Fremdherrschaft bestimmten Regierung in Indien, seit wir mit dem kommerziellen Boykott britischer Güter begannen. Die britische Imperialmacht zeigt sich sich in Indien nun deutlich. Sie glaubt, Indien könne durch die Kraft des Schwertes am Boden gehalten werden! Es ist genau diese Arroganz, die die Bombe provozierte, und je mehr sie ein hilfloses und unbewaffnetes Volk tyrannisieren, desto mehr wird der Terrorismus wachsen. Wir mögen den Terrorismus als sonderbar empfinden, als etwas, das unserer Kultur fremd ist, aber solange diese Tyrannei andauert, wird er sich nicht vermeiden lassen, weshalb nicht die TerroristInnen angeklagt werden müssen, sondern die Tyrannen, die dafür verantwortlich sind. Es ist das einzige Mittel, das den hilflosen, unbewaffneten Menschen am Rande der Verzweiflung bleibt. Das kriminelle Element liegt niemals bei ihnen, sondern der wahre Verbrecher ist der Tyrann.«[14]
Selbst konservative WissenschaftlerInnen beginnen zu erkennen, dass das Erbe nicht der einzige Faktor ist, der den menschlichen Charakter formt. Klima, Ernährung, Beschäftigung; ja sogar Farbe, Licht und Klang müssen beim Studium der menschlichen Psychologie Berücksichtigung finden.
Wenn das stimmt, dann muss es auch wahr sein, dass großer Missbrauch auf gesellschaftlicher Ebene verschiedene Denkweisen und Temperamente auf unterschiedliche Weise beeinflussen wird und muss. Und wie komplett trügerisch ist die stereotype Auffassung, dass die Lehren des Anarchismus oder bestimmte Ausschnitte dieser Lehren für politische Gewaltakte verantwortlich seien.
Der Anarchismus erhebt, mehr als jede andere Gesellschaftstheorie, das Leben über alles. Sämtliche Anarchistinnen sind sich mit Tolstoi in dieser grundlegenden Wahrheit einig: Wenn die Produktion irgendeiner Ware auf Kosten menschlichen Lebens geht, dann sollte die Gesellschaft auf diese Ware verzichten, nicht aber auf dieses Leben. Das impliziert aber auf keinen Fall, dass Anarchismus Unterwerfung lehrt. Wie sollte er auch, wohl wissend, dass alles Leid und Elend und Übel aus der Last der Unterwerfung entsteht?
Sagte nicht ein früher US-Amerikaner vor vielen Jahren, der Widerstand gegen die Tyrannei sei Gottes Wille? Und das war noch nicht einmal ein Anarchist. Der Widerstand gegen die Tyrannei ist also das höchste Ideal des Menschen. Solange Tyrannei existiert, in welcher Form auch immer, muss es des Menschen innigster, nicht zu unterdrückender Wunsch sein, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Verglichen mit der Gewalt im großen Stil, wie sie Kapital und Regierung ausüben, sind also politisch motivierte Gewaltakte nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass nur so wenige Widerstand leisten, ist der beste Beweis dafür, wie erbittert der Konflikt zwischen ihren Seelen und den unerträglichen sozialen Ungerechtigkeiten sein muss.
Hoch aufgezogen wie die Saite einer Violine weinen sie und stöhnen über das Leben, so unbarmherzig, so grausam, so schrecklich unmenschlich. Ohren, die nicht darauf eingestimmt sind, hören nichts als Missklang. Aber jene, die den gequälten Schrei fühlen, erfassen seine Harmonie; sie hören darin die Erfüllung des unwiderstehlichsten Moments der menschlichen Natur. Das ist die Psychologie der politischen Gewalt.
[1] Im Original deutsch mit folgender Fußnote: Revolutionär, der einen politisch motivierten Gewaltakt begeht.
[2] Über unsere Kraft – Schauspiel von 1895
[3] Christianos ad leones! – »Die Christen vor die Löwen!« Slogan während der Christenverfolgungen im Römischen Reich
[4] Alvan Francis Sanborn: Paris and the Social Revolution. A study of the revolutionary elements in the various classes of Parisian society (1905)
[5] Niederschlagung des Matabele-Aufstandes 1896 durch die Einnahme und Vernichtung von Bulawayo, der Hauptstadt des letzten verbliebenen schwarzafrikanischen Königreiches, durch brit. Kolonialtruppen und darauffolgende Gründung Rhodesiens.
[6] Fußnote im Original: Aus einem von der Freedom Group of London herausgegebenen Pamphlet.
[7] Nach einem Bombenanschlag am Haymarket Square im Zuge eines mehrtägigen, von Gewerkschaften organisierten Streiks im Mai 1886 wurden acht Anarchisten festgenommen. Vier wurden zum Tode verurteilt und am 11. November 1887 hingerichtet, einer nahm sich im Zuchthaus das Leben. Die drei Verbliebenen wurden nach einigen Jahren begnadigt.
[8] Tag des tödlichen Attentats auf den US-Präsidenten McKinley durch Leon Czolgosz.
[9] Unabhängigkeitstag
[10] Ursprünglich Gedenktag zu Ehren der im US-amerikanischen Bürgerkrieg Gefallenen; heute: allgemeiner Feiertag zum Gedenken an alle in Kriegen ›für das Vaterland‹ gefallene US-Soldaten.
[11] Neuere Forschungen der Chicago Jewish Historical Society kommen zu dem Schluss, dass der von Polizeichef George Shippy mit sechs Schüssen getötete Lazarus Averbuch wahrscheinlich gar kein Attantat auf Shippy versuchte, es zumindest völlig offen ist, warum Averbuch den Chicagoer Polizeichef am 2. März 1908 zuhause aufgesucht hatte. Roth und Kraus vermuten aufgrund verschiedener Hinweise, dass Averbuch eine erweiterte Arbeltserlaubnis einfordern wollte, es zum Streit kam, der für den 19-jährigen russisch-jüdischen Immigranten tödlich endete. Zum Anarchisten wurde er durch die Presse gemacht, da Shippy in der Presse verlautbarte, er sei von Averbuch mit einem Messer angegriffen worden. Eine polizeiliche Untersuchung der Tötung Averbuchs fand nie statt, was nahelegt, dass es etwas zu vertuschen gab (Walter Roth / Joe Kraus: An Accidental Anarchist. San Francisco, 1998).
[12] 1892 besetzten Streikende ein Stahlwerk in Homestead. Beim Versuch mithilfe einer von Manager Frick engagierten Privatarmee Streikbrecher einzusetzen, wurden elf Streikende getötet und weitere 60 zum Teil schwer verletzt.
[13] 1850 gegründete Chicagoer Detektei
[14] Fußnote im Original: The Free Hindustan